Fischgeflüster - Thomas L. Viernau - E-Book

Fischgeflüster E-Book

Thomas L. Viernau

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Beschreibung

Die »Lange Nacht der Wissenschaften« auf dem Telegraphenberg in Potsdam lockt jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit zahlreiche Besucher an. Doch in diesem Jahr störte den Ablauf der Langen Nacht etwas. Ein Toter trieb in dem großen Aquarium des Alfred-Wegener-Instituts für Klima-und Polarforschung. Der junge Mann, der mit weit aufgerissenen Augen im eiskalten Wasser zu schweben schien, war ein wissenschaftlicher Assistent. Linthdorf, der zufällig als Besucher mit seiner kleinen Familie auf dem Gelände weilte, sollte sich um die Aufklärung des Falls kümmern. Kein Problem für den Zweimetermann, wenn da nicht die seltsamen Umstände wären, die den Fall verzwickt machten. Verwirrung stifteten dabei die Phantome, bekannt auch als die »Riesen« vom Telegraphenberg, ein paar ebenfalls recht großgewachsene Männer, die als Entertainer und lesende Autoren zur Staffage der »Langen Nacht« gehörten. Sie verschwanden plötzlich. Das große Versteckspiel erreichte seinen Höhepunkt als weitere Tote auftauchen. Linthdorf muss alle Fäden noch fester in den Händen behalten, um die seltsamen Ereignisse endlich einordnen zu können. Am Ende der Suche muss er eine Entscheidung treffen…

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Seitenzahl: 611

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Fischgeflüster
Zum Autor:
Impressum
Zur Handlung:
Personenverzeichnis:
Anstelle eines Vorworts…
Prolog
Eine unerwartete Begegnung
Der Große Thurold
Wiedersehen mit alten Bekannten
Das seltsame Doppelleben eines Assistenten
Schlaflos in Potsdam
Visionen eines Unverstandenen
Irrtümer und kleine Wunder
Siebenaus geheime Passion
Erhellende Lektüre
Im Labyrinth des Großen Thurold
Auf der Suche nach den Riesen
Achsnagels wundersame Welt
Die Jagd nach F.
Frühstück bei Stefanie
Bekenntnisse eines Malers
Sonntagsbesuche
Tod und Kaffeeduft
Adventsintermezzo
Linthdorfs Ohnmacht
Überraschende Einsichten
Linthdorfs Bescherung
Stille Tage, laute Nächte
Zurück ins Chaos
Im Kosmos der Melanie Maibach
Begegnung im Dämmerlicht
Im Teeparadies
Rochade
Linthdorfs Zweifel
Silvesterknaller
Epilog – Dialog mit einem Autor
Abbildungsverzeichnis:
Die Eisermann Media GmbH

Fischgeflüster

Linthdorf ermittelt zwischen Aal und Zander

Band X

Ein etwas anderer Krimi

von Thomas L. Viernau

Zum Autor:

Thomas L. Viernau wurde 1963 in Suhl/Thüringen geboren. Nach einem Wirtschaftsstudium war er u.a. als Journalist, Maler und Graphiker tätig. Er lebte lange Zeit als selbständiger Kaufmann in Berlin.

Mit Brandenburg verbindet ihn eine langjährige Liebe. Zahlreiche Touren führten ihn in die verborgenen Winkel dieses Landstrichs. Nachdem er sieben Jahre in einem alten Feldsteinhaus mitten im Märkischen Oderland verbrachte, ist er inzwischen in der Lausitz angekommen. Heute lebt er als Lehrer in Cottbus.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-228-0

eBook-ISBN: 978-3-96752-599-1

Copyright (2024) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

Buchsatz, Bilder und Grafiken: Thomas Lünser

Hergestellt in Deutschland (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Zur Handlung:

Die »Lange Nacht der Wissenschaften« auf dem Telegraphenberg in Potsdam lockt jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit zahlreiche Besucher an. Doch in diesem Jahr störte den Ablauf der Langen Nacht etwas.

Ein Toter trieb in dem großen Aquarium des Alfred-Wegener-Instituts für Klima-und Polarforschung. Der junge Mann, der mit weit aufgerissenen Augen im eiskalten Wasser zu schweben schien, war ein wissenschaftlicher Assistent.

Linthdorf, der zufällig als Besucher mit seiner kleinen Familie auf dem Gelände weilte, wurde beinahe Zeuge und sollte sich deshalb um die Aufklärung des Falls kümmern. Kein Problem für den Zweimetermann, wenn da nicht die seltsamen Umstände wären, die den Fall verzwickt machten.

Verwirrung stifteten dabei die Phantome, bekannt auch als die »Riesen« vom Telegraphenberg, ein paar ebenfalls recht großgewachsene Männer, die als Entertainer und lesende Autoren zur Staffage der »Langen Nacht« gehörten. Sie verschwanden, tauchten wieder auf, veranstalteten dann auch noch ein verstörendes Versteckspiel mit dem Kommissar und seinen freiwilligen Helfern. Das große Versteckspiel erreichte seinen Höhepunkt in der Nacht zum Sonntag und auch der Todesfall schien kurz vor der Aufklärung zu stehen, als sich die Ereignisse zu überschlagen begannen.

Eine zweite Tote tauchte auf, dann sogar noch eine Dritte. Dazwischen passierten immer wieder Vorfälle, die dem Ermittler mehr zu schaffen machten als die eigentliche Mordermittlung. Personen tauchten auf, die ihm allesamt vertraut waren. Aber etwas stimmte hierbei nicht. Linthdorf hatte zu tun, die Fäden noch fest in den Händen zu behalten und die seltsamen Ereignisse endlich einordnen zu können. Am Ende der Suche muss er eine Entscheidung treffen…

Personenverzeichnis:

Ermittler :

Theo Linthdorf, Kriminalhauptkommissar beim LKA Potsdam

Bernd Voßwinkel, Kriminalhauptkommissar beim LKA Berlin

Dr. Nägelein, Kriminaloberrat, Dienststellenleiter beim LKA Potsdam

Regina Pepperkorn, Operative Fallanalytikerin beim LKA Potsdam

Petra Ladynski, Kriminaloberkommissarin beim LKA Potsdam

Grell-Hansen, Kriminalhauptkommissar bei der Potsdamer Kripo

Besucher der »Langen Nacht der Wissenschaften«:

Milena Dragovic, Linthdorfs Lebenspartnerin

Alfi und Jule, Linthdorfs Söhne

Angela Sonnenschein, Voßwinkels Lebenspartnerin

Wissenschaftliche Mitarbeiter auf dem Telegraphenberg :

Dr. Rudolf Kaltenstein, Wissenschaftler im PIK

Dr. Wilfried Stottinski, Wissenschaftler im AWI

Dr. Gregor Pallendorfer, Wissenschaftler im AWI

Dt. Arno Ziegelbach, Abteilungsleiter im AWI

Dr. Oslund Daltrop, Polararchäologe im AWI

Edwin Haspe, Meeresbiologe im AWI

Dr. Edna Finkbeiner, Hydrologin

Dr. Barbara Fuchsreuther, Mikrobiologin

Dr. Christian Forkenbeck, Polarmeeresbiologe

Fiona Mae-Brown, kanadische Austauschwissenschaftlerin

Frantisek Kurlik, tschechischer Austauschwissenschaftler

Dr. Almuth Pfeiffer, stellvertretende Leiterin des AIP

Studenten und Assistenten aus Potsdam:

Jean-Pierre Scholz-Heulbach, Assistent im AWI

Agnieszka Olivanska, Studentin der Astrophysik

Quentin Gurtmann, Sportstudent, Speerwerfer

Miranda, Assistentin im Paläomagnetischen Institut

Marlene Ohlsdorf, Assistentin im GFZ

Melanie Maibach, Assistentin im AIP

Alte Bekannte Linthdorfs, auch als Besucher unterwegs:

Baron Rochus v. Quappendorff, Leiter der Lankenhorster Kulturstiftung e.V.

Gunhild Praskowiak, Mitarbeiterin der Lankenhorst e.V.

Rolf-Bertram Leuchtenbein, Mitarbeiter der Lankenhorst e.V.

Mechthild u. Meinrad Zwiebel, Hausmeisterehepaar in Lankenhorst,

ebenfalls Mitarbeiter der Lankenhorst e.V.

Prof. Dr. Rudolf Diestelmeyer, Emeritus, Ornithologe u. Fischexperte

Roderich Boedefeldt, pensionierter Polizist aus Linum

Anton Ingolf Scholetzki, Archivar auf Schloss Lindstedt

Ina-Maria Seidelbast, Assistentin von Scholetzki

Edwina Blaurock, Leiterin der Stadtbibliothek Perleberg

Mira Knobloch, Rentnerin, früher Leiterin des Kreiskulturhauses Perleberg

Ilona Rohrwidder, früher Chefin der Schwarzadler-Apotheke Perleberg

Die »Riesen« vom Telegraphenberg:

Thorsten M. Siebenau, ein etwas scheuer Krimiautor

Thaddeus Achsnagel, ein extrovertierter Teemeister

Der Große Thurold, Wissenschaftsjournalist, auch Autor

Timo Lenz, Maler und Graphiker, eröffnet gerade eine Ausstellung

Weitere Personen auf dem Telegraphenberg:

Yvonne Krögelsack, Assistentin des Großen Thurold

Benno Streichbein, Nachtwächter auf dem Telegraphenberg

Stefanie Federowski, Betreiberin des Café Freundlich

Jophi, Rolle und Falki, ihre Söhne, ebenfalls im Café Freundlich beschäftigt

Charlie und Amelie, Freundinnen von Rolle und Falki, kellnern aushilfsweise im Café Freundlich

…Und im Teesalon Mitte:

Nairandorsh Guragtschaa, mongolische Verkäuferin im Teesalon Mitte, Berlin

Wissenschaftliche Institute auf dem Telegraphenberg in Potsdam:

AWI – Alfred-Wegener-Institut für Polar-und Meeresforschung

PIK – Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung

GFZ – Helmholtz-Zentrum Potsdam, Deutsches Geoforschungszentrum

DWD – Deutscher Wetterdienst

AIP – Leibniz-Zentrum, Astrophysikalisches Institut Potsdam

PMP – Helmholtz-Zentrum Potsdam, Paläomagnetisches Labor

Anstelle eines Vorworts…

Linthdorf mag Fisch

Ein Artikel im »Oranienburger Generalanzeiger«

Drei Fragen an:

Thomas L. Viernau (Autor)

Herr Viernau, muss man Sie kennen?

Nein, Viernau ist ein Pseudonym…

Schauplatz Brandenburg. Wie kommt es, dass Sie diese Gegend so gut kennen?

Ich bin zwar hier nicht geboren, liebe aber diesen Landstrich und bin, so oft es geht, auch in seinen verborgenen Winkeln unterwegs.

Gibt es bald das nächste Buch?

Warten wir erst einmal ab, wie das gegenwärtige Buch vom Publikum angenommen wird. Sollte es so sein, dann wird natürlich Kommissar Linthdorf wieder ermitteln.

… Der Klappentext verrät gerade so viel, um den Leser neugierig zu machen, und mehr will der Rezensent natürlich auch nicht verraten. Offen will er aber gestehen, selten einen so spannenden, genau recherchierten, anspruchsvollen und zugleich unterhaltsamen Kriminalroman gelesen zu haben.

Die Ermittlungen führt Theo Linthdorf, ein kluger, erfahrener und hartnäckiger Kriminalist der alten Schule des Landeskriminalamts Potsdam. Mit dem Zweimetermann und passionierten Fischesser und Kaffeetrinker ist dem Autor die Schilderung einer lebensprallen Figur gelungen, eines Beamten, den der Leser bei seinen Ermittlungen stets mit Sympathie begleitet und dem man unbedingt zutraut, jeden komplizierten Fall zu lösen.

Aber auch alle anderen Protagonisten – die Polizisten, die Opfer und ihre Angehörigen, die Zeugen, jede noch so kleine Randfigur und nicht zuletzt die Mörder, die stets zum Fürchten sind – sind plastisch und originell geschildert. Sie sprechen teilweise sogar den Dialekt der Gegend: »Ick weeß wer se sind. Sie sin der Kriminaler!«

Apropos komplizierter Fall. Natürlich steckt viel mehr dahinter als blanke Mordlust, es geht um Diebstahl, um Raffgier und Habsucht, um Neid und um sehr viel Geld…

Das ist stets historisch genau recherchiert und nicht nur deswegen lesenswert, weil es Leichen gibt ohne Ende, sondern weil er neben seinen erzählerischen Qualitäten kriminelle, gesellschaftliche Zusammenhänge aufdeckt, die dem Leser im Alltag gar nicht so bewusst sind. Die Figuren kommen aus den unterschiedlichsten Schichten, aus dem Ost- und dem Westteil des Landes – doch keine Bange - Viernau hält von Anfang bis zum Ende alle Fäden der Handlung fest in der Hand, nie verliert er seine Spannung. Im Gegenteil, je weiter die Handlung voranschreitet, desto spannender wird es. Und es gibt auch Phasen der Entspannung. Fischessen mit Linthdorf zum Beispiel, Hechtklößchensuppe und Zandervariationen…

Roland Lampe im Dezember 2004, Rezension zu einem Kriminalroman des Autors Thomas L. Viernau im »Oranienburger Generalanzeiger«

Kluge Sprüche über Zeit und ihre Vergänglichkeit:

Alles hat seine Zeit. Es gibt eine Zeit der Freude, eine Zeit der Stille, eine Zeit des Schmerzes, der Trauer und eine Zeit der dankbaren Erinnerung. Zeit… vergeht nicht einfach. Jede Stunde hat ihren eigenen Charakter, ihre eigene Qualität.

Jüdische Weisheit, aus dem »Buch der Prediger Salomo«

Dreifach ist der Schritt der Zeit:

Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,

pfeilschnell ist das Jetzt verflogen,

ewig still steht die Vergangenheit

Friedrich Schiller


So lange her und doch nicht vorbei

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, aus »Vorlesungen über die Geschichte«

Schwer zu sehen, die Zeit. In ständiger Bewegung die Zukunft ist…

Meister Yoda, aus »Star Wars – Die Rückkehr der Yedi-Ritter«

Fischgeflüster

Wenn Fische sprechen könnten, würden sie wahrscheinlich nur flüstern. Es sind diskrete Tiere, drängen sich nicht auf. Beklagen würden sie sich, wenn überhaupt, dann vielleicht über die Menschen, die ihren Lebensraum mit für sie vollkommen unbrauchbaren Dingen verschandeln. Vom Grunde der Flüsse werden immer wieder alte Fahrräder, Kinderwagen, ja, sogar ganze Karosserien alter Autos hochgeholt. Kopfschütteln. Absurde Dinge kommen da immer wieder zum Vorschein. Aber es gibt auch Lichtblicke. Immerhin sind die Wasserqualitäten gestiegen. Da merkt man den Fischen doch eine gewisse Zufriedenheit an.

Der große Thurold in einem Vortrag*…

*später auch in einem Sammelband mit Aufsätzen unter dem gleichen Namen »Fischgeflüster – Wissenswertes über Wasserbewohner« veröffentlicht

Prolog

Der Potsdamer Telegraphenberg

…verdankt seinen Namen einer Telegraphenstation, die zu Zeiten des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1832 errichtet wurde und Teil der »Preußischen Staatstelegrammlinie« zwischen Potsdam und Koblenz war. Der ehemalige »Hintere Brauhausberg« – so hieß der Hügel vor seiner Umbenennung – befindet sich im Südosten der Stadt und ist mit diversen Laubbäumen dicht bewaldet, so dass seine geheimnisvollen Bauten aus der Ferne gar nicht zu sehen sind.

Früher war das noch anders. Damals war auf seinem Gipfel alles abgeholzt worden, um die Telegraphenstation zu errichten.

Es handelte sich um sogenannte optische Zeigertelegraphen. Das waren hohe Masten mit hölzernen Flügelpaaren. Anhand der Stellung der Flügelpaare konnten so Zeichenkombinationen übermittelt werden, die ein Beobachter von der nächsten Station, die auf Sichtachse zu der eigenen Station lag, ablesen konnte. Ein zur damaligen Zeit recht populäres Mittel zur schnellen Nachrichtenübertragung, vor allem genutzt für militärische Zwecke. Bereits 1852 wurde der optische Telegraphendienst eingestellt. Die elektrische Telegraphie war einfach praktischer und schneller…

Der vierundneunzig Meter hohe Hügel wurde dennoch nicht vergessen. Erste wissenschaftliche Institute wurden bereits in den Gründerjahren des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Nach 1870 entstand auf dem Gelände der ehemaligen Telegraphenstation das erste astrophysikalische Observatorium Deutschlands.

Damals war das eine echte Sensation. Mit dem Bau des Großen Refraktors bekam der Hügel eine wirkliche Sehenswürdigkeit. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde mit dem Einsteinturm ein weiteres, prägnantes Bauwerk errichtet. Das Ausnahmegenie Albert Einstein forschte auf dem Berg zu seiner Relativitätstheorie und anderen physikalischen Phänomenen.

Inzwischen ist der Telegraphenberg ein wahrer Wissenschaftspark geworden. Das Alfred-Wegener-Institut betreibt auf dem Hügel eine Forschungsstelle für Polar- und Meeresforschung. Weitere namhafte Institute auf dem Telegraphenberg sind das Astrophysikalische Institut, das Geoforschungszentrum und das Institut für Klimafolgenforschung. Der Deutsche Wetterdienst betreibt das Meteorologische Institut Alle zusammen sorgen als »Wissenschaftspark Albert Einstein« für den guten Ruf Potsdams als Wissenschaftsstandort.

Telegraphenberg zu Potsdam

Samstag, 20. Dezember 2012

Jedes Jahr kurz vor Weihnachten luden die Stadtväter die Bürger Potsdams zu einem besinnlichen Zusammenkommen auf den Telegraphenberg. Einige der sonst dem Normalbürger verschlossenen Institute öffneten dann ihre Pforten zum »Tag der Offenen Tür« und boten neben kultureller Untermalung auch einen Einblick in ihre aktuellen Forschungen. Das Ereignis wurde bereits Wochen zuvor als »Lange Nacht der Wissenschaften« beworben.

Es war inzwischen bereits eine kleine Tradition, die sich stets an den weihnachtlichen Feiertagen orientierte, und neben den üblichen Weihnachtsmärkten etwas Besonderes bot. Jeder Wissensinteressierte konnte so einmal in den direkten Informationsaustausch mit den Forschenden treten. Auf den Podien wurden Vorträge angeboten, Diskussionsrunden zu aktuellen Themen fanden reichlich Zuhörer und die angebotenen Besichtigungen wurden gern genutzt, um in den Labors und Forschungseinrichtungen einmal Gast zu sein.

Der diesjährige frühe Wintereinbruch hatte zudem den Telegraphenberg in eine Winterwunderwelt verwandelt. Alle Gebäude erglänzten unter der Schneepracht wie verwandelt und verliehen dem Campus etwas Magisches.

Der Große Refraktor bekam eine Zuckerhaube verpasst, die Dächer der Institute waren mit reinweißen Decken verziert, die zahlreichen Bäume wirkten in ihrer weißen Tracht wie aus dem Zauberwald.

Es war später Nachmittag, die Blaue Stunde hatte bereits alles in ein mildes Dämmerlicht getaucht. Inmitten der Wissensdurstigen schritt ein Riese im schwarzen Mantel und mit einem ebenfalls schwarzen Borsalino-Hut auf dem Kopf. Er wurde begleitet von einer schönen Frau im Anorak, deren Kapuze übers dichte, blonde Haar gestülpt war, und zwei jungen Burschen, die mit tief ins Gesicht gezogenen Mützen dem leichten Schneetreiben trotzten.

Es war Theo Linthdorf mit seiner Partnerin Milena Dragovic, der Restauratorin aus Weimar, und den beiden Söhnen Alf und Jule aus seiner ersten Ehe, die das Wochenende bei ihm verbrachten. Linthdorf hatte die Idee geäußert, den Telegraphenberg zur »Langen Nacht« zu besuchen.

Die Söhne waren begeistert, zumal er versprochen hatte, dass ein paar Überraschungen zum Programm gehörten. Die beiden Jungs, der sechzehnjährige Alf und der zwölfjährige Jule, waren guter Dinge. Weihnachten stand vor der Tür, dazu zwei Wochen Ferien und eine Menge Geschenke, die zu erwarten waren.

Sie alberten herum, waren vollkommen zufrieden mit dem Verlauf des Wochenendes. Linthdorf hatte ihnen zugesagt, wenigstens eine große Mahlzeit auf dem kleinen Weihnachtsmarkt zu spendieren, dazu Punsch und diverse Naschereien. Milena freute sich bereits auf den Auftritt des Chores, der mit traditionellen Weihnachtsliedern punkten wollte.

Die Dämmerung war inzwischen in die Dunkelheit abgeglitten. Die Wege auf dem Telegraphenberg waren jedoch gut beleuchtet und die Schneedecke sorgte dafür, dass es nicht allzu finster wurde.

Milena hatte das Programm, ein dreiseitiges Faltblatt, sorgsam studiert und einen Plan gemacht. Zuerst wollten sie im Michelson-Haus eine Ausstellung zur Geschichte der Astrophysik besuchen, später den Großen Refraktor besichtigen, von da zum Einstein-Turm gehen, der extra für den heutigen Tag geöffnet wurde. Außerdem gab es einen Vortrag eines ihrer Lieblingsautoren, des Großen Thurold, dessen populärwissenschaftliche Bücher sie mochte.

Linthdorf hatte auf dem Veranstaltungsplan nur zwei Punkte angekreuzt, die ihn interessierten. Im Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung sollte eine Ausstellung zur arktischen Flora und Fauna eröffnet werden. Ein Höhepunkt der Ausstellung würde sicherlich das Große Aquarium mit den Fischen des Nordatlantiks und des Polarmeeres sein. Linthdorfs Vorliebe für Fische wurde nur noch von seiner Begeisterung für gefiederte Lebewesen übertroffen. Ein Vortrag über die arktische und subarktische Vogelwelt mit Dia-Show wäre für ihn das Nonplusultra.

Inwieweit er seine beiden Söhne und Milena von den beiden Programmpunkten überzeugen könnte, mochte er im Moment noch nicht abwägen. Immerhin hatten seine Begleiter ebenfalls ein Mitspracherecht.

Milena wollte auf alle Fälle das Weihnachtssingen nicht verpassen. Der Chor des Geodätischen Instituts wollte Weihnachtslieder aus aller Welt vorstellen. Im Anschluss daran war im Kleinen Refraktor eine Lesung mit einem Bran-denburger Krimiautor angekündigt worden. Der auf regionale Stoffe spezialisierte Autor Thorsten M. Siebenau wollte aus neuen, noch nicht veröffentlichten Manuskripten lesen und bei einer Signierstunde Fragen seiner Fans beantworten.

Milena war eine »Leseratte«, verschlang dicke Wälzer und liebte Krimis. Linthdorf konnte ihrer Begeisterung für solche Art trivialer Literatur nicht allzu viel abgewinnen, zumal die Krimis meist ein vollkommen unrealistisches Bild von der Arbeit eines Kriminalisten kultivierten. Milenas Einwurf, dass Literatur eine gewisse Freiheit habe, konnte er nur mit einem Kopfschütteln kontern.

Seine beiden Söhne hingegen hatten sich in den Kopf gesetzt, einer chinesischen Teezeremonie beizuwohnen, die neben einer Ausstellung zu globalen Wetterphänomenen im Gebäude des Deutschen Wetterdienstes stattfinden sollte. Neuerdings fanden sie Teetrinken cool, speziell die sündhaft teuren Sorten aus Fernost, die es in den trendigen Tee-Shops in Berlin-Mitte gab. Einer der trendigen Mitte-Teehändler, der bekannte Thaddeus Achsnagel, der persönlich die verborgenen Teegärten des Fernen Ostens bereist hatte, zeigte Teeraritäten aus den Geheimen Kaisergärten und zelebrierte dazu die berühmte Gongfu Cha, die traditionelle, chinesische Teezeremonie.

Linthdorfs Augenbrauen hoben sich gleich um einen ganzen Zentimeter, als er die Extrawünsche der beiden Jungs zur Kenntnis nahm. Nun, es würde ein aufregender Abend werden.

Am Eingang zum Wissenschaftspark hatten sich ein paar Turmbläser in historischen Bergmannskostümen aufgebaut und bliesen gerade die Sinfonia aus Bachs Weihnachtsoratorium.

Voller Vorfreude auf den Abend schritt die kleine Gesellschaft in das nächtliche Schneegestöber.

Eine unerwartete Begegnung

Fische sind …

ein universelles Symbol, das überall als ein Zeichen für Friedfertigkeit und Leben verstanden wird. In fast allen Kulturkreisen der Erde spielen Fische eine große Rolle, haben eine spezifische, symbolische Bedeutung, oftmals sogar religiös überhöht.

Fische gelten als Fruchtbarkeitssymbol, wahrscheinlich weil sie sich so exorbitant vermehren können. In manchen afrikanischen Ländern tragen die Menschen Amulette mit einem Fisch als Schutzsymbol zur Abwehr böser Geister. In China wird das gleiche Schriftzeichen für Fisch und für Überfluss benutzt.

In ganz Fernostasien gelten Fische als Glücksbringer, stehen für Reichtum und gute Ernten. Goldfische leben als beliebte Mitbewohner in den Wohnungen, die nicht nur den Besitzer, sondern das ganze Haus beschützen sollen.

Im frühen Christentum stand ein Fisch als Erkennungssymbol für die noch kleine Gemeinschaft der Gläubigen. Lange vor dem Kreuz wurde so der Fisch zum Symbol für die Christenheit.

Und natürlich galt der Fisch auch bei den alten Ägyptern als heiliges Tier, war deren Hauptgottheit Osiris gewidmet. Später übernahmen die Assyrer diesen Kult und ordneten ihrer eigenen Gottheit Astarte den Fisch als heiliges Tier zu.

In den nordischen Sagas der Wikinger kommen immer wieder Fische als Verkünder von Zukunftsvisionen vor. In den späteren Märchen wird das Motiv des Künders aufgegriffen, wie zum Beispiel im »Märchen vum Fischer un sin Fru«.

Wir benutzen Wortspiele, in denen der spezifische Charakter der Fische sich spiegelt: »Wohlfühlen, wie ein Fisch im Wasser«, »Munter sein wie ein Fischlein im Bach« oder »Einen großen Fisch ins Netz bekommen« sind schon längst geflügelte Wörter in unserer Alltagssprache geworden, obwohl wir größtenteils nichts mit den geheimnisvollen Wasserbewohnern zu tun haben.

Der Große Thurold in einem seiner Vorträge…

I

Alfred-Wegner-Institut auf dem Telegraphenberg, Potsdam

Samstagnachmittag, 20. Dezember 2012

Linthdorf lächelte selig. Er konnte sich dank Bestechung mit Glühwein durchsetzen und hatte die kleine Gruppe zu dem gelben Neubau geführt, in dem das AWI, also das Alfred-Wegner-Institut für Polar- und Meeresforschung, untergebracht war.

Im Gegensatz zu den meisten Gebäuden des Areals war das AWI noch sehr jung. Erst 1992 wurde es in den extra dafür errichteten Gebäuden untergebracht. Das AWI hatte 1990 seine erste Forschungsstelle in den neuen Bundesländern eröffnet. Der Standort auf dem Potsdamer Telegraphenberg mit seiner langen Geschichte bot sich dafür an. In den zahlreichen Abteilungen wurde speziell zu den Polarregionen geforscht. Die Permafrostregionen der Arktis, der Klimawandel in den Polargebieten und die Auswirkungen auf die Ökosysteme wurden hier akribisch analysiert, Ergebnisse der Polarexpeditionen archiviert und Prognosen erstellt, was mit der Erde passiert, wenn es mit der Erderwärmung weiter voranschreiten sollte.

Eigene Expeditionen führten die Wissenschaftler in die Polarregionen, speziell der Arktis und den Permafrostregionen im Norden Sibiriens und der Inselgruppe Spitzbergen. Sedimentschichten lieferten wertvolle Informationen über das Wettergeschehen In den unwegsamen Regionen des Hohen Nordens sollte sich der Schlüssel zum Verständnis des europäischen Klimas befinden.

Spezielle Untersuchungen der polaren Luft, paläontologischer Pflanzenreste und der alten, unter dem Eis verborgenen Erdschichten aus längst vergangenen Zeitaltern lieferten wichtige Hinweise auf den Verlauf der gegenwärtigen Klimaveränderung.

Große Infotafeln vermittelten den Besuchern einen Überblick. Linthdorf, dessen Ermittlungen ihn vor zwei Jahren in den hohen Norden, in die unwegsamen Weiten des Atlantiks verschlagen hatten, war höchst interessiert.

Er hatte diese wunderbare Welt direkt kennenlernen dürfen und war begeistert. Jetzt bekam er dazu noch das entsprechende Grundwissen geboten, um die sensible Tier- und Pflanzenwelt der nördlichen Inseln besser zu verstehen. Natürlich erinnerte er sich an seine Begegnung mit Blauschnabel, dem riesigen Basstölpel auf den Färöer-Inseln und die Beobachtung des Hochzeitstanzes der Heilbutte vor Islands Küste.

Fast anderthalb Jahre lag das außergewöhnliche Abenteuer nun schon wieder zurück. Immer noch bekam er ein leichtes Kribbeln in den Füßen, wenn er an die stürmischen Nächte auf der »Undine« dachte und sich vorstellte, was passiert wäre, wenn der perfide Plan des vermissten Staatssekretärs a.D., Herrn Dr. Kupfer und seiner Komplizen, aufgegangen wäre.[Fußnote 1]

Milena war sichtlich gelangweilt. Für sie waren der Norden und die eisigen Polarwelten ohne jegliche Anziehungskraft. Sie war schon mit den deutschen Wetterverhältnissen ziemlich bedient. Und zu Wasserbewohnern, egal ob mit Schuppen oder Federn, hatte sie stets ein distanziertes Verhältnis. Pelzträger, wie etwa Katzen, waren da doch schon etwas Freundlicheres. Auch die beiden Jungs waren mit den Schautafeln zur Polarforschung leicht gelangweilt.

Erst, als das große Meeresaquarium auftauchte, das den großen Saal dominierte, besserte sich ihre Stimmung zunehmend.

In dem türkisgrünen Wasser schwammen majestätische Fische. Linthdorf entdeckte die großköpfigen Kabeljaue, elegante, stromlinienförmige Köhler, die den meisten Menschen unter dem Handelsnamen »Seehecht« verkauft wurden, dazu graublaue, zahnbewehrte Wolfsbarsche und die an urzeitliche Seeschlangen erinnernden Lengfische. Am Boden glitten Steinbutte und Rochen entlang. Ein paar riesige, blauschwarz glänzende Hummer hatten ihre Tentakel aufgerichtet und zeigten als Zeichen ihrer Stärke beeindruckende Scheren. Kapitale Seesterne glitten auf ihren Stacheln über glatte Steinformationen, kamen ein paar leuchtend roten Knurrhähnen in die Quere, die sich von den gefräßigen Stachelhäutern jedoch nicht vertreiben ließen.

Zwischen kunstvoll aufgeschichteten Steinen bewegten sich ein paar Kraken, die Linthdorf und seine Begleiter aus ihren quadratischen Pupillen misstrauisch beobachteten. Kleine Schwärme mit Heringen und Makrelen flitzten wie silberne Glitzersteinchen schnell an den staunenden Besuchern vorbei. Inmitten der Glitzerfische schlängelten ein paar Brosmen, die auch als Lumbfische gehandelt wurden, wunderbar elegante Fische, die mit ihrer langgestreckten, schmalen Torpedoform an die im heimischen Süßwasser anzutreffenden Quappen erinnerten, nur eben viel größer wurden.

Ein paar Rotzungen und Schollen vergruben sich gerade im weichen Sand, die etwas plumpen Seehasen verharrten auf halber Höhe und starrten die vielen Beobachter an, als ob sie sich schämen würden, und ein riesiger Heilbutt glitt mit stoischer Ruhe dicht an ihnen vorüber.

Die meisten Leute starrten die Meeresbewohner ebenfalls an, als ob sie so etwas noch nie gesehen hätten. Natürlich, der einzige direkte Kontakt zu dieser eleganten und hochkomplexen Unterwasserwelt kam für die Beobachter erst dann zustande, wenn sie eine Konservendose öffneten.

Meerestiere hatten keine starke Lobby, sie galten nicht als süß und man konnte sie nicht streicheln.

Dabei hatten gerade diese Mitbewohner unseres Planeten es ganz besonders verdient, dass sie mit mehr Respekt und Achtung behandelt wurden. Ohne die intakte Wasserwelt war auch die Außenwelt nicht lebensfähig. Alles war aufeinander angewiesen.

Sind die Meere leergefischt, sterben auch alle anderen Lebewesen. Eine Erkenntnis, die von den Ausstellungsmachern übermittelt werden sollte, und bei vielen Besuchern noch auf Unverständnis stieß. Aber letztendlich war das Wohlergehen der Fische und sonstigen Meeresbewohner im Interesse aller Lebewesen.

Linthdorf hatte stets das Gefühl, dass die Fische mit ihm kommunizieren wollten. Ein leises Geraune, eher ein Flüstern war es, was er zu vernehmen glaubte. Ganz tief in seinem Innersten spürte er, dass da etwas war. Schon seit vielen Jahren war er der festen Meinung, dass die eleganten Wasserbewohner nicht stumm waren.

Meist wurde er belächelt, wenn er vom Flüstern der Fische sprach, selbst sein guter Freund Bernd Voßwinkel, ein passionierter Angler, bekam stets ein eigenartiges Lächeln, wenn Linthdorf über seine merkwürdigen Eingebungen sprach. Milena schaute ihn ebenso ungläubig an und seine Jungs kicherten, verglichen ihn sogar mit »Käpt’n Blaubär«, einer populären Figur des Kinderfernsehens, der vor allem durch seine Flunkereien und seltsamen Seemannsmärchen bekannt war.

Linthdorfs Visionen vom Fischgeflüster wurden jedenfalls nicht sehr ernst genommen und er selbst konnte auch nicht rational erklären, wie er dazu kam, den Flossentieren fast übernatürliche Fähigkeiten zuzuschreiben.

Aber vielleicht hing das auch nur mit seiner Kindheit zusammen. Er hatte schon als kleiner Junge andächtig vor Aquarien gesessen und den Fischen zugeschaut.

Seine Mutter arbeitete in Perleberg in einem Fischgeschäft. Als kleiner Junge durfte er öfters dabei sein, wenn lebende Frischfische angeliefert wurden, die in großen Becken munter herumschwimmen durften, bis sie ihr Schicksal ereilte. Nicht gerade zimperlich ging seine Mutter dabei vor, fischte mit einem Kescher geschickt das auserwählte Exemplar aus dem Becken, um es dann mit ein paar kurzen, aber heftigen Schlägen zu betäuben und mit scharfen Messern zu filetieren. Er hatte sich spätestens beim Herausfischen der Flossentiere schon abgewandt und floh dann jedes Mal aus dem Fischladen ins Freie. In seinem Kopf liefen verstörende Bilder ab, die er lange Monate nicht mehr wegbekam.

Natürlich, wusste er Bescheid, wer Fisch essen will, muss ihn auch töten. Aber der konkrete Akt des Tötens war ihm zuwider, auch wenn seine Mutter den Kopf schüttelte über so viel Sensibilität ihres Sprösslings. Linthdorfs Vater lachte immer laut, wenn er von seinen Fluchten aus dem Fischladen berichtet bekam.

Linthdorf musste unwillkürlich beim Betrachten der großen Meeresfische an seine Kindheitserlebnisse denken. Nein, diese Aquariumsbewohner hatten es besser, sie wurden nicht geschlachtet. Um sie kümmerten sich ein paar Experten, genauer Meeresbiologen, die wussten, was ihnen guttat.

Neben sich konnte er nur erahnen, was in Milenas Kopf vorging. Mit einem leichten Anflug von Abscheu und Ekel betrachtete sie das muntere Treiben im Aquarium. Ob sie an ihr unfreiwilliges Bad im Haifischbecken dachte?

Linthdorf konnte sich noch gut an die Minuten voller Angst und Panik erinnern. Es war alles gut gelaufen, hätte aber auch schief gehen können. Unversehrt konnte er seine Milena aus dem Becken holen und dabei gleich noch ein paar perfide Gestalten aus dem Verkehr ziehen. Das war immerhin schon wieder fast vier Jahre her.[Fußnote 2]

Seine beiden Söhne jedoch schienen ähnlich fasziniert von der Unterwasserwelt zu sein wie er selbst. Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten sie die Fische, waren begeistert von der unaufdringlichen Eleganz der Flossentiere und der Formenvielfalt, die das Leben unter Wasser ausmachte.

Irgendwer tippte Linthdorf auf die Schulter. Irritiert wandte sich der Riese um. Neben ihm stand plötzlich sein alter Freund und Kollege Bernd Voßwinkel, der in Berlin bei der Kripo arbeitete. Voßwinkel war passionierter Angler. Linthdorf durfte ihn manchmal begleiten, wenn er an einem Brandenburger Gewässer seine Ruten auswarf.

Einmal war er sogar bei einem Anglerwettbewerb dabei. Voßwinkel und er klärten damals den Tod des vermeintlichen Zanderkönigs auf, der heimtückisch kurz vor der Preisverleihung mit einem tiefgekühlten Zander erschlagen wurde. Was für eine Ironie! Der Zanderkönig starb durch einen Zander…[Fußnote 3]

Natürlich war das große Aquarium für den Fischliebhaber Voßwinkel auch ein Magnet.

»Wo sonst als hier…!«, begrüßte er ihn freudig strahlend.

»Tja, immer wieder kreuzen sich unsere Pfade auf der Suche nach dem Fisch. Wie kommt es? Hast du schon frei?«

Linthdorf stellte Voßwinkel seine Begleiter vor, die allesamt leutselig lächelten. Auch Voßwinkel war in Begleitung gekommen. An seiner Seite war eine zierliche Frau mit Pudelmütze und Wintermantel.

Sie wurde Linthdorf als seine Partnerin Angelika Sonnenschein aus Leipzig vorgestellt. Voßwinkel war endlich erfolgreich bei seiner nun schon viele Jahre dauernden Suche nach einer geeigneten Lebenspartnerin.

Viele Frauen kamen mit dem unregelmäßigen Leben eines Kriminalbeamten nicht klar, speziell bei Voßwinkel, der in einem der Brennpunkte des Landes tätig war. Als Mitarbeiter der Mordkommission in Berlin-Mitte war er ständig mit diversen Gewaltdelikten und Kapitalverbrechen beschäftigt, was sein Privatleben stark beeinträchtigte. Nicht jede Frau konnte sich damit abfinden, dass er ständig unter Strom stand und bei jedem Anruf losmusste.

»Habt ihr etwas Zeit für einen Glühwein?«, fragte Linthdorf.

»Aber klar… gleich draußen vor der Tür sind ein paar Buden aufgebaut. Musik gibt es auch.«

Milena war erleichtert, endlich von den Fischen wegzukommen und lächelte freudig erregt, Voßwinkels Begleiterin schien sich ebenfalls zu freuen, die Aussicht auf ein aromatisches Heißgetränk und Smalltalk wirkte jedenfalls stimmungshebend.

Grinsend folgten die beiden Söhne Alf und Jule mit nach draußen. Punsch oder Glühwein, das war egal, Hauptsache, es gab dazu noch etwas Schmackhaftes zu beißen.

Fische sind soziale Lebewesen

Viele Menschen haben sich nie die Mühe gemacht, einmal darüber nachzudenken, aber Fische sind ziemlich clevere, interessante Tiere mit einzigartigen Persönlichkeiten, ähnlich den uns vertrauteren Katzen und Hunden.

Wer weiß denn schon, dass Fische lernfähig sind. Sie beobachten andere Mitbewohner ihres Schwarms und informieren diese auch, wann es gefährlich wird, zum Beispiel, wenn es gilt, einem Fangnetz auszuweichen.Das setzt voraus, dass sie einzelne Mitglieder des Schwarms erkennen und mit ihnen kommunizieren. Wie genau das funktioniert, ist im Moment ein großes Forschungsgebiet der Meeresbiologen. Fische benutzen sogar Werkzeuge. Sie bauen Nester, um ihre Brut zu verstecken und lenken die potenziellen Fressfeinde von ihrem Nachwuchs bewusst ab, so dass deren Aufwachsen ungestörtverläuft.

Fische sind nicht dumm!

Sie tauschen sich untereinander mit Quietsch- und Qieklautenaus, machen des weiteren Geräusche im Niederfrequenzbereich, die wir Menschen erst seit kurzer Zeit überhaupt wahrnehmen können. Fische mögen Nähe von anderen Artgenossen. Sie lieben es, berührt zu werden und reiben sich oft aneinander, ähnlich einer Katze, die um unsere Beine streicht und dabei schnurrt.

Einige Fische pflegen eigene Gärten, in denen wohlschmeckendeAlgen gedeihen. Dabei achten sie darauf, dass keine Fremdpflanzen in ihren »Gärten« wachsen. Es wird gejätet und sorgsam darauf geachtet, dass die Pflanzungen gut gedeihen.

Der Große Thurold in einem seiner Vorträge …

II

Alfred-Wegner-Institut auf dem Telegraphenberg, Potsdam

Später Samstagnachmittag, 20. Dezember 2012

Gerade hatten sich Theo Linthdorf und Bernd Voßwinkel entspannt zurückgelehnt und dem Glühwein in dem hohen, etwas robust gearbeitetem Glas eifrig zugesprochen, als eine Unruhe um sie herum zu beobachten war. Die Besucher waren plötzlich verstört, ein Raunen war zu vernehmen und ein paar verschreckte Ordnungskräfte in orangefarbenen Westen versuchten, die Leute zu beruhigen. Linthdorf sah kurz zu Milena und seinen Söhnen.

Sie ahnten es schon, es war vorbei mit der beschaulichen Ausflugszeit. Etwas war passiert, etwas Unerhörtes, beunruhigend und möglicherweise sogar gefährlich.

Linthdorf war zu sehr Profi, um diese feinen Schwingungen zu ignorieren, die von den Menschen ausgingen, wenn eine Panik sich breit machte. Er nahm sie auf wie die Witterung nach Beute, nickte kurz Voßwinkel zu, der ebenfalls die atmosphärische Veränderung gespürt hatte.

»Wir schauen mal kurz, was da los ist. Bleibt bitte hier!«, Linthdorf hatte bereits Voßwinkel angestoßen, die beiden Männer trabten los, bahnten sich einen Weg durch die verstörten Besuchermassen und bewegten sich Richtung Foyer des Alfred-Wegener-Instituts.

Seltsam, der große Saal war wie leergefegt. Zwei Ordnungskräfte hatten sich am Eingang postiert und verwiesen die Leute, das Gebäude zu verlassen.

Endlich hatten sie es geschafft, vor den beiden Ordnungsmännern zu stehen, ihre Ausweise hervorgekramt und um Zutritt gebeten. Der ältere der beiden Ordnungsmänner war erstaunt. »Det ging ja mang schnell…«

Linthdorf reagierte nicht darauf, durchschritt so schnell er konnte den Saal, der ohne Besucher geisterhaft wirkte. Voßwinkel war bereits vor ihm am Aquarium angekommen. Linthdorf warf einen Blick auf die Fische, die still und unauffällig ihre Runden schwammen. Alles sah aus wie zuvor.

Ein kurzer Zwischenruf Voßwinkels riss Linthdorf aus seiner Beobachtung. Voßwinkel war auf der anderen Seite des Aquariums, die von hier aus nicht einsehbar war, da ein paar große Wasserpflanzen in der Mitte des Beckens den direkten Blick verwehrten.

Er lief um das fast zehn Meter lange Becken herum, sah Voßwinkel, der überlegte, seine Jacke auszuziehen. Ein Blick genügte, um zu verstehen, was passiert war.

Im Becken trieb eine leblose Person. Linthdorf war geschockt.

Der Mensch war in voller Winterbekleidung mit Mütze, Schal, Handschuhen und Anorak im Wasser, die Arme waren weit ausgebreitet, die Beine waren angezogen, so als ob er zu einem Sprung ansetzen wollte und mitten in der Sprungvorbereitung schien er erstarrt zu sein. bewegte sich nicht mehr. Die Augen des hilflos Treibenden waren weit aufgerissen, ebenso sein Mund.

Er schien vor etwas große Angst gehabt zu haben. Wahrscheinlich stand er unter starkem Stress, als er ins Wasser fiel. Möglicherweise ereilte ihn da ein Infarkt oder ein Schock. Vielleicht wurde er auch schon vor seinem Eintauchen ins Aquarium einer Gewalt ausgesetzt. Auf alle Fälle war die im Wasser treibende Person tot.

Das erkannte Linthdorf sofort und auch Voßwinkel war sich inzwischen sicher, dass jede Hilfe zu spät kam. Was denn das Wasser für eine Temperatur habe, fragte Linthdorf einen der Mitarbeiter. Ein kleiner Mann mit orangener Ordnerweste sagte ihm, dass es eiskalt sei. Man brauche bloß die Hände ans Aquarium zu halten. Voßwinkel hatte es bereits getan und nach wenigen Sekunden die Hände zurückgezogen. Mehr als sechs bis sieben Grad wären das nicht, erklärte er.

Automatisch fingerte Linthdorf aus den Tiefen seiner Manteltasche nach seinem Handy. Auf der Wahlwiederholtaste brauchte er nicht lange zu suchen, sein kurzes Statement reichte aus, die Abteilung III im Landeskriminalamt zu aktivieren.

Er spürte, wie der Boden unter ihm etwas zu schwanken anfing. Mühsam wankte er zu einer Bank und ließ sich fallen. Die Toten verfolgten ihn, selbst in seiner spärlich bemessenen Freizeit ließen sie nicht locker.

III

Kleiner Refraktor auf dem Telegraphenberg, Potsdam

Samstagnachmittag, 20. Dezember 2012

Linthdorf war noch damit beschäftigt, das Gesehene zu verarbeiten, als sein Handy klingelte. Erschrocken über die Lautstärke, die in dem fast menschenleeren Saal besonders schrill den Äther erfüllte, suchte er in seinen Manteltaschen das flache Teil.

Es war die Stimme von Dr. Nägelein, die sich wie immer leicht gequält und genervt anhörte, so als ob alle Welt es darauf abgesehen hatte, seine wohlverdiente Freizeit zu stören.

Ob er denn auf dem Telegraphenberg noch anzutreffen sei, wollte er wissen. Natürlich, er warte doch hier auf die Kriminaltechniker und die Gerichtsmedizin. Wieso das denn, wollte Nägelein wissen.

Linthdorf ging in dem Moment ein Licht auf. Als er mit der Abteilung vor zehn Minuten telefoniert hatte, war nur die Stimme der diensthabenden Mitarbeiterin dran. Nägelein konnte also noch gar nichts von dem gruseligen Fund im Aquarium wissen.

Er setzte ihn mit wenigen Worten davon in Kenntnis, auch, dass Voßwinkel mit hier war. Nägelein war sichtlich bestürzt.

Ob man sehen könne, wer der leblose Mann im Aquarium sei. Linthdorf verneinte. Nägelein seufzte.

Er habe eine Nachricht erhalten, dass die Lesung im Kleinen Refraktor nicht stattfinden könne, da wohl der Vorleser, ein bekannter Autor, abhanden gekommen war. Vor anderthalb Stunden sei er noch quicklebendig gewesen und habe sich auf die Lesung eingestimmt und plötzlich war er weg. Die Organisatoren - gute Bekannte von ihm übrigens - hätten sich in ihrer Not an ihn persönlich gewandt und um Hilfe gebeten. Er habe spontan zugesagt, da er ja wusste, dass Linthdorf dort zugange sei.

Der musste tief Luft holen. Sein Chef ignorierte vollkommen, dass er Freizeit hatte. Ein Wort, was er für sich selbst sehr wohl zur Anwendung brachte, aber bei seinen Untergebenen stets ignorierte.

Nun, Linthdorf war nicht zimperlich im Nehmen. Er blieb ruhig und fragte nach, was er tun sollte. Nägelein wand sich wie ein Aal. Ob er Voßwinkel allein lassen könnte mit dem Toten im Aquarium, fragte er etwas unwirsch.

Linthdorf seufzte. Er sollte also im Kleinen Refraktor nach dem verschwundenen Autor suchen. Wie der den heiße, wollte er wissen. Nägelein wusste das auch nicht, nur, dass er sich bei seinem guten Bekannten, Dr. Kaltenstein, melden sollte. Der wüsste Bescheid und würde ihn auch mit Details versorgen. Linthdorf schwante da bereits, dass es wohl der Krimiautor Siebenau sein müsste, zu dem auch Milena ursprünglich wollte.

Er informierte kurz Voßwinkel, der belustigt mit dem Kopf schüttelte. Die Kriminaltechniker und Forensiker waren bereits auf dem Weg, für den Mann im Aquarium konnte er nichts mehr tun. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu warten.

Linthdorf nickte nur zerstreut. Dann stürmte er los.

Der Kleine Refraktor stand etwas abseits im Schatten des Michelson-Hauses, eines prächtigen gelben Klinkerbaus, der als Astrophysikalisches Observatorium genutzt wurde. Der erst vor kurzem renovierte Rundbau mit der graublauen Kuppel wurde nur noch für Veranstaltungen genutzt. Im kleinen Kreis konnte man darin Seminare, Meetings und auch kleine Ausstellungen veranstalten. Es gab genügend Plätze für Zuhörer und auch ein Rednerpult. Linthdorf war das Gebäude bisher nicht aufgefallen, was wahrscheinlich daran lag, dass der größere Bruder, der Große Refraktor, stets alle Aufmerksamkeit auf sich zog.

Als Linthdorf ankam, hatten sich die Leute, die eigentlich der Lesung lauschen wollten, bereits vor dem Gebäude versammelt und etwas unwillig ihrem Frust Luft gemacht. Was das denn sollte, erst sei zugesagt worden, dass der Autor Siebenau kommen würde, und dann gab es wieder einen Rückzieher.

Ein Mann im hellgrauen Anzug sprach beruhigend auf die Leute ein. Linthdorf trat zu ihm, holte seinen Ausweis hervor und fragte, ob er Dr. Kaltenstein wäre.

Der Mann, ein ergrauter Eierkopp, so nannte Linthdorf die Profis aus der Wissenschaftsszene heimlich, blinzelte ihn aus dicken Brillengläsern an.

»Unser gemeinsamer Bekannter, Dr. Nägelein, schickt mich zu Ihnen. Ein Mann soll ihnen abhanden gekommen sein.«

Kaltenstein nickte bekümmert. Dabei habe er noch vor zwanzig Minuten mit dem Autor gesprochen. Linthdorfs Kehle schnürte sich zu. Sollte etwa der Tote im Aquarium…?

Aber der war ja in voller Wintermontur, schien außerdem noch ziemlich jung zu sein. Kaltenstein hatte ein Buch hervorgekramt, auf dessen Rückseite ein Foto des Autors zu sehen war. Thorsten M. Siebenau war bereits ein etwas älteres Semester. Er trug eine modische, schmale Brille, hatte einen Dreitagebart und eine kräftige Statur. »Was schreibt denn der Herr Siebenau?«

Kaltenstein schnäuzte sich geräuschvoll, dazwischen war etwas zu hören von regionalen Krimis.

Linthdorf musste grinsen. Ein Krimiautor war abhanden gekommen. Was für eine Ironie lag denn darin verborgen?

Wurde der Krimiautor zum Opfer seiner eigenen Obsessionen?

»Wissen Sie, wie groß Siebenau ist?«

Kaltenstein schaute Linthdorf an. »Na sehr viel kleiner als Sie ist er nicht, vielleicht fünf Zentimeter weniger, ähnliche Statur wie Sie…«

Linthdorf war beruhigt.

Die Person im Wasser war eher ein Leichtgewicht, vielleicht Eins Siebzig, maximal Eins Fünfundsiebzig.

Die Chance, den Krimiautor schnell lebend aufzufinden war dadurch erheblich gestiegen. »Können Sie mir etwas erzählen, was er heute Abend vorhatte? Gab es etwas, was ihn beunruhigte? Hatte er jemanden treffen wollen?«

Kaltenstein kam ins Grübeln.

»Also, Siebenau gilt als ausgesprochen scheu und sensibel, er meidet eigentlich die Öffentlichkeit. Deshalb waren wir so froh, ihn für die Veranstaltung heute gewonnen zu haben. Es war nicht leicht, ihn zu überzeugen. Er wollte auch nur vor kleinem Publikum lesen. Große Menschenmengen waren ihm wohl ein Gräuel. Wir hatten eigentlich vor, ihn in der Bibliothek des Geodätischen Instituts lesen zu lasen. Da hätten zweihundert Leute Platz gefunden. Um Gottes Willen, habe Siebenau gesagt, gehe es auch eine Nummer kleiner. Und dann kamen wir auf die Idee mit dem Kleinen Refraktor, der gerade mal für fünfzig Leute Platz bietet.«

Linthdorf lauschte. Seltsamer Vogel, dieser Siebenau. Sollte sich doch freuen, wenn er so viel Fans hatte…

Kaltenstein fuhr fort. Siebenau war bereits gegen Mittag angekommen und hatte sich von ihm das Gelände zeigen lassen. Er war sehr interessiert und musste wirklich in jedes Gebäude kurz hineingehen. Dann hatten sie zusammen etwas gegessen und sich über den Ablauf der Lesung unterhalten.

Siebenau wollte aus seinen neu erschienen Kriminalromanen lesen. »Askanierblut« und »Quittengelee«, dazu noch zwei unveröffentlichte Manuskripte vorstellen, die demnächst erscheinen sollten und bereits von seinem Verlag beworben wurden. »Schlangenprinz« und »Blauauge« wären wohl die Titel, aber dazu hatte Siebenau noch nicht viel verlautbaren lassen, sollte wohl so eine Art Preview werden. Linthdorf stolperte über das Wort.

Eine Preview?

Wäre denn der Roman schon verfilmt?

Kaltenstein schüttelte den Kopf, ein Missverständnis sei das Wort. Er meinte natürlich eine akustische Vorablesung.

Linthdorf nickte nur.

Also Siebenau war ein scheuer Mensch, der trotz seiner Aversion vor Menschenmassen gewillt war, etwas aus seinen noch nicht veröffentlichten Manuskripten zum Besten zu geben. Hinterher sollten sich noch eine Diskussionsrunde und eine Signierstunde anschließen.

Und dann habe Siebenau den Veranstaltungsplan studiert und war blass geworden. Wo denn die Teeverkostung stattfinden sollte, habe er ihn gefragt. Kaltenstein wusste es auch nicht so genau, musste erst nachfragen. Als er ihm sagte, dass im Süring-Haus beim Deutschen Wetterdienst eine solche Veranstaltung geplant sei, wurde er unruhig und wollte unbedingt noch einmal dahin.

Die Teeverkostung sollte bereits eine Stunde vor der Lesung stattfinden. Ein gewisser Thaddeus Achsnagel, eine Koryphäe wohl auf seinem Gebiet, hatte einen Vortrag unter dem Titel »Reisen zum Tee« mit anschließender Verkostung geplant.

Die Veranstaltung war restlos ausverkauft. Was nun Siebenau dort wollte, war ihm unklar. Auf alle Fälle wurde er seitdem vermisst. Und nun wartete sein Publikum ungehalten und er wüsste nicht mehr, was er noch machen könnte.

Linthdorf bedankte sich bei Kaltenstein für seine ausführlichen Informationen. Er musste unbedingt ins Süring-Haus, dort verlief sich wahrscheinlich die Spur Siebenaus.

Linthdorf rief noch einmal kurz bei Voßwinkel an, der ihm berichtete, dass die Kriminaltechniker inzwischen eigetrudelt waren und auch die Gerichtsmedizin. Als vorläufige Todesursache wurde plötzlicher Herzstillstand diagnostiziert, Weiteres würde folgen, wenn der Tote auf dem Seziertisch lag. Verwertbare Spuren habe man nicht gefunden. Voßwinkel wollte sich um seine Angelika kümmern und verabschiedete sich.

Linthdorf lief es siedend heiß den Rücken runter. Er hatte Milena und die beiden Jungs vergessen!

Schnell drückte er erneut die Tastatur. Milena ging ran. Sie erzählte ihm, dass sie auf Drängen der beiden Jungs zum Großen Refraktor gegangen seien, wo eine dreidimensionale Show zum Sonnensystem gezeigt werden sollte. Außerdem hatte sie mit den Jungs noch einen Imbiss eingenommen und er brauche sich keine Sorgen zu machen, sie habe alles im Griff.

Wann er denn zurückzuerwarten sei, wollte sie noch wissen.

Linthdorf schilderte ihr kurz die Ereignisse und dass er noch ins Süring-Haus müsse, um den verschwundenen Autor zu suchen.

Milena war zufrieden mit der Antwort. Er könne ja nachkommen zum Großen Refraktor. Mit einem Stoßseufzer legte Linthdorf auf. So hatte er sich seinen freien Tag nicht vorgestellt.

Die Eleganz der Fische …

Wohlschmeckend weißes Fleisch, das sich leicht von Gräten löst, der feuchte Duft nach Seen – so kennt man Fische. Zander, Wels, Maräne, Hecht, Plötze, Rotfeder, Quappe und Aal, nicht zu vergessen Karpfen und Forelle, Barsch und Blei. Erstaunt schau‘ ich ins Wasser, stromlinienförmig gleiten sie, still, elegant, mühelos – Fische sind einfach schön. Jetzt am Malertisch erinnere ich mich an die Eleganz der Fische, zeichne kühne Schwünge, Flossen und setze Silberglanz aufs Papier.

Der Maler Timo Lenz in seiner Rede bei der letzten Vernissage »Fischportraits«

IV

Süring-Haus auf dem Telegraphenberg, Potsdam

Samstagabend, 20. Dezember 2012

Das Süring-Haus auf dem Telegraphenberg gehörte mit zu den architektonischen Highlights. Es glich eher einer italienischen Villa, denn einem wissenschaftlichen Gebäude, war bereits 1899 aus gelben Klinkersteinen errichtet worden und besaß auch einen eleganten Turm. Auf dem knapp zweiunddreißig Meter hohen Turm drehten sich diverse Windmesser, die für die genaue Wetteraufzeichnung wichtig waren. Der Deutsche Wetterdienst hatte im Süring-Haus sein Meteorologisches Institut untergebracht.

Vor drei Jahren kam das PIK noch hinzu. Hinter den drei Buchstaben verbarg sich das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung. Dessen Forschungsschwerpunkt wurde mit den zunehmend spürbarer werdenden Folgen des Klimawandels immer wichtiger.

Die Vorführung des Tee-Experten Thaddeus Achsnagel sollte dazu dienen, Menschen anzulocken, die sonst mit dem Thema Klima und Wetter nicht so viel am Hut hatten. Tee als ein alternatives Genussmittel zum herkömmlichen Kaffee schien bestens geeignet, potentielle Interessenten zu akquirieren.

Achsnagel galt als Koryphäe, war weit gereist und verpackte seine Teeverkostungen immer in wissenswerte Vorträge, in denen er sich auch für mehr Verständnis globaler Probleme stark machte.

Linthdorf hatte zwar schon von ihm gehört, wahrscheinlich war es Milena oder einer seiner beiden Söhne, die ihn als leidenschaftliche Teetrinker sensibilisiert hatten, dass er aber so viele Menschen für die Teekultur aktivieren konnte, war für Linthdorf doch eine kleine Überraschung. Der Saal im Süring-Haus war brechend voll.

Überall waren kleine Tischchen aufgebaut, auf denen kunstvoll Teeschälchen, kleine Kännchen und diverse Döschen mit den getrockneten Blättern angeordnet waren. Über einen Beamer wurden exotische Bilder von Teegärten und fernöstlichen Metropolen gezeigt. Dezente chinesische Teehausmusik erklang aus dem Off.

Vorn auf dem Podium agierte ein Riese in einem dunklen Anzug als Showmaster. Er trug ein weitgeschnittenes Jackett aus einem seidig glänzenden Material. Auf dem Kopf hatte er einen Strohhut, wie ihn die chinesischen Teebauern auf den Fotos trugen. Aus mehreren Kesseln dampfte und blubberte es. Mit dem heißen Wasser befüllte er diverse Kännchen, erzählte dabei ohne Unterbrechung über die Sorten, die er gerade zum Aufgießen vorbereitet hatte und wie sie am besten zuzubereiten wären.

Linthdorf war beeindruckt. Etwas seltsam kam ihm Achsnagel schon vor. Fast als ob ein Klon von ihm auf der Bühne agieren würde. Achsnagel war mindestens Eins fünfundneunzig, möglicherweise sogar noch größer. Er ähnelte Linthdorf auch von der Statur, trug eine schmale Brille und einen gepflegten Fünftage-Bart.

Der Kriminalist stutzte. War das nicht auch die Beschreibung für den verschwundenen Autor Siebenau? Seltsam…

Er musste unbedingt mit Achsnagel sprechen. Doch der war im Augenblick unabkömmlich, dass sah Linthdorf ein. Er schaute auf die Uhr, es war kurz vor halb Sieben. Um sieben sollte die Lesung beginnen. Also nicht mehr viel Zeit für die Suche nach Siebenau. Achsnagels Vortrag ging bis dreiviertel Sieben, dann würde Linthdorf eine Chance haben, ihn zu sprechen.

Die Stimmung im Saal stieg von Teeschälchen zu Teeschälchen merklich an. Sollte Tee wirklich eine euphorisierende Wirkung haben?

Die Menschen hatten glänzende Augen bekommen und rote Gesichter, Schweißperlen standen ihnen auf der Stirn, obwohl es eigentlich angenehm kühl im Saal war.

Dazu hatte ein Geflüster und Geraune eingesetzt, so dass sich Linthdorf wie in einer Gaststätte vorkam. Tee schien die Zungen zu lösen. Achsnagel war schon eine Art Magier, der mit seinen duftenden Blättchen für gute Laune sorgte. Das war sicherlich das Geheimnis seiner Verkostungen.

Tee als stimmungsaufhellende Droge, vollkommen legal und preiswert. Er pfiff leise, vielleicht sollte er auch einmal so etwas ausprobieren. Milena würde sich bestimmt freuen über seinen plötzlichen Sinneswandel.

Thaddeus Achsnagel war inzwischen am Ende seines Vortrags angelangt, verabschiedete sich unter Applaus von seinen Fans und verschwand hinter der Bühne.

Linthdorf versuchte sich einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, kam aber nur langsam voran. Endlich hatte er den Saal durchquert und verschwand hinter der Bühne, aber von dem Teemeister war nichts zu sehen.

Wo war er hin?

Etwas ratlos stand Linthdorf inmitten von Teedosen, Kännchen und Porzellanschälchen, die fein säuberlich auf einem großen Sideboard aufgeschichtet waren. Der Strohhut des Meisters lag zusammen mit seinem Seidenjackett zusammengefaltet am Rand. Doch von Thaddeus Achsnagel fehlte jede Spur.

Linthdorf schnaufte kurz und rief Dr. Kaltenstein an.

Leider hatte sich die Spur als falsch erwiesen. Kaltenstein jedoch war hocherfreut und bedankte sich bei Linthdorf überschwänglich. Siebenau war rechtzeitig zu seiner Lesung eingetroffen. Alles war gut. Linthdorf wollte noch nachfragen, wo er denn die ganze Zeit gesteckt hatte, da hatte Kaltenstein jedoch schon wieder aufgelegt.

Linthdorf zuckte mit den Schultern, rief kurz noch bei Dr. Nägelein an, um einen kurzen Bericht zu geben, wandte sich dann wieder seinem eigentlichen Ziel zu. Milena und die beiden Jungs warteten im Großen Refraktor.

Der Große Thurold

Die Rückkehr der Störe

Dieser seltsame Fisch sieht archaisch aus. Man spürt beim Ansehen, dass der Stör schon sehr lange genauso durch die Gewässer zieht wie vor vielen Millionen Jahren. Entwicklungsgeschichtlich ging an ihm vieles vorbei. Er ist ein Relikt aus der Urzeit. Störe können ziemlich groß werden, allerdings in unseren Gewässern sind Störe jenseits der Läge von einem Meter noch eine Seltenheit. Sie wachsen recht langsam. Begehrt ist er nicht nur wegen seines Rogens, des berühmten Kaviars, sondern auch wegen seines sehr wohlschmeckenden Fleisches, das an Jungkarpfen erinnert. Lange Zeit galt er als ausgerottet in unseren Gewässern.

Schade eigentlich. Seit ein paar Jahren gibt es jedoch Bestrebungen, den Stör wieder heimisch zu machen in unseren Flüssen und Seen. Störzucht ist eine rentable Angelegenheit. Und einen solchen Kollegen mal aus einem Wildgewässer zu ziehen, naja, das ist für viele Anglerfreunde ein besonderes Erlebnis.

Der Große Thurold in einem seiner Vorträge …

I

Großer Saal des Alfred-Wegener-Instituts, Telegraphenberg zu Potsdam

Samstagabend, 20. Dezember 2012

Ein Blick auf die Uhr verriet Linthdorf, dass er es noch rechtzeitig zum Beginn des Vortrags zum Sonnensystem schaffen würde. Ihm knurrte ein bisschen der Magen. Eigentlich wollte er ja mit Milena und den Jungs die Köstlichkeiten des kleinen Weihnachtsmarktes auf dem Gelände ausprobieren, aber die Ereignisse überschlugen sich schon wieder.

Erst der Tote im Aquarium, dann der verschwundene Autor, der plötzlich wieder auftauchte, dafür aber einen verschwundenen Teemeister hinterließ.

Linthdorf war froh, dass Voßwinkel ihm aushalf. Dessen Freundin Angelika würde zwar auch sauer sein, dass er den Abend mit ersten Zeugenbefragungen und Berichteschreiben verbringen würde, aber das war Linthdorf im Moment egal. Sein Zeitplan war schon wieder völlig aus den Fugen.

Er musste sich um seine Familie kümmern, spürte, dass das wirklich wichtig war. Den Mordfall, falls es denn einer gewesen sein sollte, was er im Moment noch bezweifelte, würde er früh genug noch auf seinen Tisch bekommen.

Nägelein war im Übrigen sein Alibi, sich nicht um die Leiche kümmern zu müssen. Und den verschwundenen Autor hatte er ja schließlich wieder aufgefunden, auch wenn er selbst keine Aktie an dessen Wiederauftauchen hatte. Aber er war aktiv tätig geworden, und das war, was zählte.

Tief in seinem Innersten regte sich jedoch ein wenig Unwille über diese Herangehensweise. Natürlich, es war ja alles richtig, was er da für sich selbst als Begründung auffuhr, um nicht noch einmal ins Aquarium zu schauen. Er war sich sogar sicher, dass sie heute Abend sowieso nichts mehr dazu ermitteln konnten. Unmöglich, die gesamten Besucher des Aquariums zu erfassen, geschweige denn zu befragen, ob etwas Ungewöhnliches aufgefallen war.

Linthdorf spürte, wie ihn seine Beine automatisch Richtung Alfred-Wegener-Institut lenkten. Er versuchte noch einmal Voßwinkel zu erwischen und tippte seine Nummer ins Handy. Doch Voßwinkel schien beschäftigt zu sein, jedenfalls ging er nicht ran.

Im Foyer des AWI-Gebäudes war es still und dunkel. Flatterband sperrte alle Zugänge ab. Die Menschen machten einen Bogen um das Gebäude. Ein paar Ordnungskräfte erklärten den Neugierigen, dass es einen Unfall gegeben habe. Linthdorf kramte seinen Ausweis hervor und stieg mit seinen langen Beinen einfach über das gespannte Flatterband.

Er betrat das Foyer. Alles war still und dunkel. Am Aquarium waren noch ein paar große Wasserpfützen am Boden zu sehen, das war alles. Der Tote war herausgefischt und zur Gerichtsmedizin geschafft worden. Die Kriminaltechniker hatten versucht, Spuren zu sichern, aber nichts gefunden. Nirgends war ein Hinweis auf den Toten zu sehen. Was sollte auch zu sehen sein, nachdem alle Beteiligten ihren Job gemacht hatten?

Der Tatort war ausgesprochen schwierig zu untersuchen. Ein Großaquarium galt nicht als ideales Untersuchungsobjekt. Schwer vorstellbar, wie der Tote überhaupt da hineingekommen war. In knapp drei Meter Höhe befand sich ein schmaler Umlauf, von wo wahrscheinlich die Meeresbiologen ihre kleinen »Lieblinge« fütterten oder sogar dem Aquarium entnehmen konnten. Wie man da hinauf gelangte, war ihm im Moment noch unklar. Es musste schon etwas Insiderwissen vorhanden sein, um diesen Umlauf zu erklimmen. Linthdorf schüttelte den Kopf und schlenderte noch einmal langsam an dem Aquarium vorbei. Bei seiner ersten Runde achtete er darauf, ob es Zugänge zu dem Umlauf am Aquarium gab. Er konnte jedoch nichts entdecken.

Das Aquarium war diskret beleuchtet und der einzige Lichtquell in dem großen Raum. Nur die Notausgänge waren mit einem grünen Lichtpunkt ausgestattet. Beim Herumgehen entdeckte er am Boden des Aquariums einen Gegenstand, der dort nicht hingehörte.

Ein dicker, knallroter Seestern hatte zur Hälfte den Gegenstand bedeckt, aber Linthdorf war sich sicher, dass dieser Gegenstand da nicht lag, als er vor zwei Stunden mit seinen Leuten hier war.

Ihm wäre diese silbern schimmernde Dose doch aufgefallen. Er grübelte, wo er ähnliche Dosen dieser Machart gesehen hatte, und ihm fiel es auch gleich wieder ein. Auf dem Sideboard hinter der Bühne im Süring-Haus gab es ganz viele dieser Dosen.

Es war eine Teedose aus dem Bestand des Teemeisters Thaddeus Achsnagel.

Wie kam die denn hierher ins Aquarium?

War deshalb der Teemeister so plötzlich verschwunden?

Hatte Achsnagel etwas mit dem Toten zu tun?

Linthdorf kritzelte etwas in sein Notizheft, dann wandte er sich ab und ging mit zügigen Schritten Richtung Großer Refraktor. Milena und die Jungs warteten.

II

Großer Refraktor, Telegraphenberg zu Potsdam

Samstagabend, 20. Dezember 2012

Ein paar Scheinwerfer beleuchteten den Großen Refraktor, der an diesem verschneiten Winterabend mit seiner weiß bepuderten Haube besonders geheimnisvoll aussah. Die gelben Klinker leuchteten wie von selbst, die dunklen Fenster erschienen ihm wie unzählige Augen, die unablässig sein Tun beobachteten, als er sich dem Rundbau näherte. Es war einfach ein beeindruckendes Bauwerk.

Linthdorf war schon einmal darin gewesen, allerdings lag das viele Jahre zurück. Bei einem Klassenausflug zum Abitur-Abschluss war er bereits auf dem Telegraphenberg gewesen. Das war allerdings noch vor der Wende. Damals kümmerten sich die wissenschaftlichen Behörden der DDR um die denkmalgeschützten Gebäude auf dem Telegraphenberg.

Die Akademie der Wissenschaften hatte ein paar Institute hier oben und der Große Refraktor war als Museum nur für auserwählte Besuchergruppen zugänglich.

Linthdorfs Physiklehrer, ein von Astronomie begeisterter Mann, hatte es möglich gemacht, dass sie in den Großen Refraktor kamen. Linthdorf bestaunte schon damals das gewaltige Linsenfernrohr, dass seit Kaisers Zeiten Richtung Himmel gerichtet war. Dem Vortrag des Astrophysikers hatte er intensiv gelauscht.

Es war der Beginn seiner eigenen Leidenschaft für den Kosmos und allem, was mit Astronomie zu tun hatte. Linthdorf hatte zahlreiche Bücher über die neuesten Entdeckungen im Weltall zu Hause stehen und war auf zahlreichen Astro-Portalen im Internet zu Gast. Er musste an den stillen Hobbyastronomen Herbert Golm denken, der in seiner einsamen Siedlung Krähwinkel, inmitten der Ruppiner Heide, eine kleine Sternwarte auf seinem Dachboden eingerichtet hatte und dem Lauf der Planeten folgte. Was der Mann wohl machte, nachdem so viel Schreckliches in Krähwinkel passiert war?[Fußnote 4]

Linthdorf schüttelte leicht den Kopf. Er war jetzt hier in der Gegenwart und konnte nicht schon wieder in der Vergangenheit herumstöbern und grübeln.

Jetzt stand er vor dem Großen Refraktor und würde dessen Innenleben gleich kennenlernen. Er hatte Respekt vor dem Gebäude und spürte eine große Neugier auf die astronomischen Geräte. Er liebte die Sendereihe des Münchener Astrophysikers Dr. Harald Lesch, dessen Sendung »Alpha Centauri« er nie verpasste, obwohl sie immer nur sehr spät Sonntagnachts ausgestrahlt wurde.

Manchmal wurde die Sendung sogar aus dem Innern des Refraktors aufgezeichnet. Leschs Sendung nutzte den Großen Refraktor auch als Abspann. Er musste lächeln bei dem Gedanken daran.

Der Kreis schloss sich. Schon lange hatte er vor, dem Telegraphenberg wieder einen Besuch abzustatten. Endlich hatte es funktioniert.

Er war begeistert, trotz der Störungen durch einen Todesfall und der Suche nach dem seltsamen Krimiautor.

Jetzt war Erholung angesagt. Er folgte den vielen Besuchern, die den Rundweg nutzten, um zu den Veranstaltungsorten zu gelangen, bog dann ab, um in den Rundbau zu gehen. Sphärische Klänge empfingen ihn.

Über ihm schwebten die Planeten des Sonnensystems, gestochen scharf und dreidimensional. Linthdorf war begeistert. Jemand zupfte an seinem Mantel. Milena stand neben ihm und lächelte ihn an.

Seine beiden Söhne hatten es sich auf der Galerie des Refraktors gemütlich gemacht, konnten von dort oben den Lauf der Planeten noch besser beobachten. In der Mitte des großen Raums, der von der Kuppel überdacht wurde, glänze eine große gelbe Kugel. Es war die Sonne mit ihren Protuberanzen, Plasmaausbrüchen und brodelnden Miasmen, die ihre Oberfläche zu einem Inferno der Hölle verwandelten. Voller Faszination für den gelb glänzenden Stern blickte Linthdorf auf die große Kugel. Milena schien ebenfalls tief beeindruckt von der 3D-Projektion zu sein.

Linthdorf winkte den beiden Jungs kurz zu, die sich freuten, ihn wieder zu sehen. Auf einem Podium direkt vor dem großen Linsenfernrohr stand ein Mann, der ab und zu etwas über ein Mikro erklärte. Er nutzte dabei geschickt die Passagen der Sphärenmusik, die leiser waren. Jedes Mal, wenn die Klänge etwas abebbten, ließ er seine sonore, wohlklingende Stimme vernehmen und stellte einen neuen Planeten vor.

Gerade hatte er sich die Venus auserkoren und berichtete von der außer Kontrolle geratenen »Schwester« der Erde, die wahrscheinlich dank des Treibhauseffekts zu einer wahren Hölle mutiert war. Fast fünfhundert Grad Celsius Oberflächentemperatur, dazu eine dichte Atmosphäre aus Kohlendioxid mit einem Druck von knapp Neunzig Atü, schwefelsäuregetränkte Wolken und ein aktiver Vulkanismus machten die am Himmel so schön leuchtende Venus zum unwirtlichsten Ort im ganzen Sonnensystem. Alle Versuche, eine Sonde auf der Venus zu landen, waren bisher nicht sehr erfolgreich. Innerhalb weniger Stunden waren die Sonden verschmort und unter dem großen Druck kaputt gegangen.

Linthdorf fragte Milena leise, wer denn der Experte sei. Sie antwortete flüsternd: »Das ist der Große Thurold! Ein Universalgenie…«

Er hatte von einem Thurold noch nie etwas gehört, nickte aber verständnisvoll. Dann lauschten sie dem Großen Thurold, der sich inzwischen dem Saturn zugewandt hatte.

Linthdorf war leicht genervt von den Ausführungen des Mannes, den Milena als den Großen Thurold bezeichnete. Natürlich wusste er all das schon, was Thurold dem staunenden Publikum als die neuesten Erkenntnisse der Planetenforschung verkaufte. Er hatte am Rande einen kleinen Stand entdeckt, an dem Snacks und Getränke angeboten wurden. Sein Magen meldete sich unmissverständlich und er lenkte Milena Richtung Snackbar. Eine junge, freundliche Dame verkaufte ihm die Leckereien, fragte, ob er zufrieden sei. Linthdorf nickte begeistert. Sie wünschte ihm noch einen schönen Abend. Erstaunt über so viel Höflichkeit wandte sich Linthdorf wieder seinen Leuten zu. Erst als er ein paar belegte Brötchen, heiße Wiener und einen großen Becher schwedischen Glimtweins in der Hand hielt, fühlte er sich wirklich wohl. Mit großem Appetit biss er in die Brötchen, schlürfte dazu den Glögg, so die offizielle Bezeichnung des Heißgetränks und umarmte seine Milena.

Hechte und Zander aus der Havel

Natürlich, jeder kennt Havelzander. Der Name ist inzwischen schon eine Art Markenzeichen des Flusses geworden. Kein Restaurant an der Havel, das ohne den berühmten Havelzander noch auskommt. Das feste, weiße Fleisch und der feine Geschmack machen ihn zu einem Favoriten der Fischgourmets.

Zander sind auch optisch echte Hingucker. Mit ihrer Doppelflosse auf dem Rücken, die sie bei Gefahr aufstellen können, sehen sie wie echte Fisch-Punks aus und ihr stromlinienförmiger, dezent gestreifter Körper ist perfekt an ein Leben als Jäger unter Wasser angepasst.

Ebenfalls in den letzten Jahren stark im Ansehen gestiegen ist der Hecht. Der Raubfisch mit dem charakteristischen Schnabelgesicht erinnert an urzeitliche Monster und ist ebenfalls bestens an seine Lebensweise als blitzschnell zuschnappender Räuber angepasst. Lange Zeit galt er als grätenreicher Problemfisch.

Der einzigartige Geschmack des Hechtfilets straft die ganzen Grätennörgler jedoch ab. Mit der richtigen Technik übrigens ist das Zerlegen eines Hechtfilets kinderleicht. Und wer das nicht mag, kann ja immer noch Hechtklößchen essen, da ist dann garantiert keine Gräte mehr drin.

Diese beiden Fische werden vor allem in der Havelmündung und deren stillen Seitenarmen gefangen. Zander lieben die etwas trüben Wasser, die durch das Aufwirbeln von Schlamm entstehen und der Hecht, der alte Räuber, steht gern im Uferbereich zwischen den Schilfrohren, vollkommen reglos. Jedem unvorsichtigen Fisch, der vorbeischwimmt, wird er zum Verhängnis. Oft wird ihm aber seine Gier selbst zum Verhängnis. Dann hängt er nämlich an der Angel. Er war zu gierig und schnappte etwas voreilig einen Wobbler …

Der Große Thurold in einem seiner Vorträge…

III

Großer Refraktor, Telegraphenberg zu Potsdam

Samstagabend, 20. Dezember 2012

Die letzten Klänge der sphärischen Planetenmusik waren verklungen, das Licht ging an und die Projektion verschwand. Der Große Thurold begab sich von seinem Podium unters Volk. Jetzt verstand auch Linthdorf, warum der Große Thurold so genannt wurde. Der Mann überragte seine Mitmenschen um mindestens einen Kopf.

Er konnte ihm auf Augenhöhe begegnen. Linthdorf grüßte über die Köpfe hinweg den Maestro, der mit einem freundlichen Nicken den Gruß erwiderte. Vorsichtig bahnte sich der Große Thurold einen Weg durch die Menge, steuerte mit zielsicheren Schritten ebenfalls den kleinen Stand am Rande an. Beladen mit diversen Leckereien stand er plötzlich vor Linthdorf und Milena.

»Na, auch Riese?«

Linthdorf musste lächeln, von Riesen hatte er heute genug zu sehen bekommen. Sowohl der seltsame Krimiautor als auch der Teemeister waren Riesen.

»Auch Riese, mit all den damit verbundenen Vor- und Nachteilen.«

Der Große Thurold musste grinsen. »Fliegen ist ein Gräuel, ebenso Busfahren und das Schlafen in einem Hotelbett. Alles nur für kleine Leute gemacht.«

Linthdorf nickte, er spürte ebenso oft, wie wenig an die Bedürfnisse größerer Menschen im Alltagsleben gedacht wurde. Wenn er in Berlin mit der U-Bahn unterwegs war, hieß das immer, den Kopf einzuziehen und aufzupassen, nicht mit den vielen Haltestangen an der Waggondecke zu kollidieren. Ebenso unangenehm waren Kino- und Theaterbesuche. Niemals wusste er, wohin mit seinen langen Beinen.

Aber darüber wollte er mit dem Großen Thurold nicht sprechen. Milena hatte sich in das Gespräch der beiden Riesen eingemischt. Ob der Große Thurold ihr sein aktuelles Buch signieren würde. Dabei holte sie aus ihrer Handtasche ein noch in Folie verpacktes Taschenbuch hervor. »Außerirdische Phänomene« war es betitelt und enthielt eine Reihe von bisher noch nicht veröffentlichten Aufsätzen des Universalgenies.

Carlos Stavros Thurold war als Wissenschaftsjournalist eine Koryphäe. Auf vielen wissenschaftlichen Gebieten schien er sich bestens auszukennen, ob nun Quantenphysik oder Kosmologie, ob Botanik oder Zoologie, dazu wusste er über Geschichte und Geographie Bescheid und konnte sich auch zu philosophischen Grundfragen und zur aktuellen Politik mit klugen Artikeln äußern. Besonders die Meeresbiologie hatte es ihm angetan. Zahlreiche Publikationen zu Phänomenen unter Wasser waren von ihm erschienen. In Brandenburg würde er demnächst mit seinem neuen Bestseller »Fischgeflüster« durchs Land ziehen. Außerdem war er gern gesehener Gast sowohl bei Anglern als auch bei Umweltschützern. Eben ein echtes Universalgenie.

Linthdorf war es peinlich, noch nichts vom Großen Thurold gelesen zu haben. Er wollte sich mit ihm über eines seiner Lieblingsthemen gerade unterhalten, als sein Handy klingelte. Es war Dr. Nägelein.