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Eine Reihe grausamer Morde beschäftigt die Brandenburger Kripo um Kommissar Linthdorf. Vier brutal erschlagene Frauen, gefunden in vier Flüssen: Oder, Havel, Spree und Rhin. Alle nackt und ohne erkennbares Motiv umgebracht, man kann fast sagen, rituell geopfert. Die Lokalpresse spricht auch von Nixenmorden, da die Verbindung der umgebrachten Frauen zum Wasser die einzige Gemeinsamkeit zu sein scheint. Eine seltsame Häufung von Zufällen, die keine sind, eigenartige Verwicklungen eines Staatssekretärs und eines schwäbischen Professors, Gier und andere Obsessionen und mittendrin in all der Herzlosigkeit eine vorsichtig sich anbahnende Liebe. All das vereint »Nixentod« in sich.
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Seitenzahl: 791
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Thomas L. Viernau
Linthdorfs 1. Fall
Kriminalroman
XOXO Verlag
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-013-2
E-Book-ISBN: 978-3-96752-513-7
© 2020 XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter
Coverbild: Thomas L. Viernau
Buchsatz:
Alfons Th. Seeboth
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag ein IMPRINT
der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
Alle im Roman vorkommenden Personen sind rein fiktiv. Sollte es zufällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen geben, so ist das nicht beabsichtigt.
In Potsdam:
Theo Linthdorf, KHK beim LKA Potsdam
Dr. Nägelein, Kriminaloberrat, Dienststellenleiter im LKA Potsdam
Regina Pepperkorn, Profilerin (operative Fallanalytikerin)
Der junge Moser, Kriminalanwärter aus Schwaben
Dr. Eugen Wigbert Kupfer, Staatssekretär und Kunstsammler
An der Oder:
Hansi Kraeft, ein Oderdeichläufer
Herbert Wenske, der Wirt vom „Alten Oderschiffer“ in Kienitz
Kalle, ein Treckerfahrer im Oderbruch
Werner Cholynski, Feuerwehrmann aus Kienitz
Ronny Kraeft, ein alkoholabhängiger Fischer
Brunhild Kraeft, dessen Frau und Mutter von Hansi Kraeft
Der alte Cholynski und der alte Minckwitz, zwei Saufkumpane
An der Havel:
Louise Elverdink, KHK bei der Kripo in Brandenburg/Havel
Alfred Stahlmann, KHK bei der Kripo in Brandenburg/Havel
Dr. Haberer, Kriminalrat, Dienststellenleiter in Brandenburg/Havel
Das Wirtspaar vom Alten Fährhaus in Plaue/Havel
Minna Quittenburg und Alice Krapp, Witwen aus Plaue/Havel
An der Spree:
Jan Terpin, KHK bei der Kripo in Cottbus
Margret Alpan, KOK bei der Kripo in Cottbus
Der junge Pepusch, ein eifriger Polizist
Oksana Usumbayeva, eine Offizierstochter aus Adygien
Roger Fuhrmann, Geschäftsmann aus Cottbus
Am Rhin:
Roderich Boedefeldt, Dorfpolizist in Linum
Anne Hirschfänger, Gemeinderätin in Linum
Professor Dr. Horst Rudolf Diestelmeyer, Ornithologe
Kehl, KOK bei der Kripo in Neuruppin
In Berlin:
Bernd Voßwinkel, KHK bei der Berliner Kripo
Karolin Brakel, eine revoltierende Lebenskünstlerin
Arvid Zach, ein Berliner Kaufmann
Bärbel Zabelthau, Rentnerin, Mutter der Karolin Brakel
Dr. Wendelstein, Inhaber eines Berliner Auktionshauses
Griseldis Blofink, Sekretärin bei Wendelstein
Marek Kowalerowicz, Assistent von Prof. Reginald Kupfer
Bettina Khorff, Kunsthistorikerin und Karrierefrau
Diethart Kunze, Pensionär, Vater der Bettina Khorff
Freddy Krespel, Fotograf, Freund von Linthdorf
In Polen:
Frau Kwiatkowska, Rentnerin aus Dabroszyn
Jadwiga Olynska, Polizistin bei der Kripo in Gorzow
Weitere wichtige Personen (ortsungebunden):
Martin Peregrinus, Freischaffender
Daniel Peregrinus, dessen Bruder
Professor Reginald Kupfer, Koryphäe für Altslawistik
Alle im Roman vorkommenden Personen sind rein fiktiv. Sollte es zufällige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen geben, so ist das nicht beabsichtigt.
Nixen
... bringen den meisten Menschen Tod und Verderben. Der Name »Nixe« kann in zweierlei Hinsicht gedeutet werden. Zum einen gibt es im Althochdeutschen den »Niccus«, einen Wassergeist, der auf dem Grund von Flüssen und Seen lebt.
Eine weitere Deutung ist mit dem lateinischen »Necare« verbunden, das schlicht und einfach mit »Töten« übersetzt werden kann. Ihr meist schönes Äußeres kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Umgang mit diesen zwielichtigen Wesen für normal Sterbliche stets riskant ist.
Oftmals bezahlt man das Spiel mit den Nixen mit seinem Hab und Gut, nicht selten sogar mit dem Leben.
Samstag, 31. Dezember 2005
Berlin – Mitte
Die Frau lag reglos auf dem Bürgersteig. Die Arme waren weit ausgebreitet, als ob sie fliegen wollte. Das Gesicht zeigte nach unten, man konnte nur das braune, lockige Haar sehen. Ein paar Meter entfernt lag das Fahrrad, der hintere Reifen war stark ramponiert.
Das Auto, das direkt neben dem Fahrrad parkte, hatte inzwischen die Warnblinkanlage angemacht. Die nervös aufblinkenden Lichter warfen ein unwirkliches Licht auf die Szenerie. Erhellt von immer wieder aufblitzenden Silvesterraketen, konnte man ein gespenstisches Kabinettstück beobachten.
Der Fahrer stieg aus und lief zu der am Boden liegenden Frau. Die dunkle Gestalt blieb abrupt stehen, rannte wieder zurück zum Auto, machte die Blinker aus und fuhr in hohem Tempo davon.
Langsam kam Leben zurück in die Frau. Ein Bein bewegte sich, der Kopf wurde angehoben, das andere Bein wurde ebenfalls bewegt. Ein Stöhnen durchbebte den geschundenen Körper. Sie wollte sich auf ihren Armen abstützen, um aufzustehen. Die Arme hingen jedoch leblos an ihr herab. Vom Sturz waren ihre Hosen arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Die orangefarbene Thermojacke hatte ebenfalls gelitten. Der Boden war mit nassem Schneematsch bedeckt. Die Frau schien vollkommen durchnässt zu sein.
Vielleicht hatte sie schon über zehn Minuten dagelegen, vielleicht auch länger. Sie hatte kein Zeitgefühl mehr. Der Versuch, den gröbsten Schmutz abzuwischen, misslang. Die Arme gehorchten ihr nicht mehr. Hilflos schaute sie sich um. Aber auf dieser stillen Nebenstraße fuhr nur selten ein Auto entlang, vor allem in dieser Nacht.
Leute waren auch nicht zu sehen. Gleich neben dem Trottoir war eine alte Backsteinmauer, dahinter befand sich ein Friedhof. Jetzt, am späten Nachmittag der Silvesternacht waren da natürlich keine Menschen mehr. Weit weg knallten die ersten Böller.
Eine tiefe Niedergeschlagenheit ergriff sie. Sie spürte die Nässe und die aufsteigende Kälte. Der Schmerz in den Armen hatte bisher das Gefühl von Kälte überdeckt. Sie wusste, wenn sie hier liegen blieb, würde sie erfrieren. Egal wie, sie musste auf die Beine kommen.
Langsam robbte sie Richtung Backsteinmauer. Dort wollte sie sich mit dem Rücken abstützen, um aufzustehen. Der Weg bis zur Mauer war nicht weit. Vielleicht zwölf Meter. Alter Schnee, verharscht mit scharfkantigen Eiskrusten, türmte sich kurz vor der Mauer. Irgendwie musste sie da drüber hinweg. Vorsichtig begann sie, sich mit den Füßen abzustützen und am Boden entlang zu kriechen.
Sie spürte einen stechenden Schmerz in der Unterleibsregion. Irgendwas schien da auch von dem Sturz zerstört zu sein. Sie blickte an sich herab. Blut war nirgends zu sehen. Also konnte es nicht ganz so schlimm sein. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, sich in Richtung rettende Backsteinmauer zu bewegen.
Der stechende Schmerz im Unterleib schien ihr alle Sinne zu rauben. Halb ohnmächtig vor Schmerz hielt sie inne. Sie musste tief durchatmen, kalter Schweiß perlte auf der Stirn, sie spürte die Erschöpfung und die totale Hilflosigkeit. Langsam dämmerte ihr, dass ihre Lage ziemlich trostlos war.
Tränen schossen ihr in die Augen, verschleierten den Blick. Sollte so ihr Ende aussehen?
Oftmals hatte sie sich ausgemalt, wie das sein sollte. Alles hatte sie sich dabei vorstellen können, nur hilflos in einer kalten Winternacht mit gebrochenen Armen und anderen Blessuren auf einer einsamen Straße zu erfrieren, das hatte sie sich nicht einmal in ihren schlimmsten Alpträumen ausgemalt.
So lag sie frierend und zitternd vor Schmerz bestimmt noch ein paar Minuten. Dunkelheit umfing sie. Langsam spürte sie, wie die Wärme aus ihrem Körper entwich, die leblos an ihr herabhängenden Arme waren sowieso gefühllos, so lange sie nicht versuchte, sie zu bewegen. In der Ferne sah sie einen flackernden Lichtschein.
Mit der letzten noch verbliebenen Kraftreserve hob sie den Kopf. Ein Auto, ja, wirklich, ein Auto kam langsam auf sie zu gefahren und hielt an ...
Sturmwarnung für die Region Berlin-Brandenburg
Der Deutsche Wetterdienst gibt für die Großregion Berlin-Brandenburg eine Unwetterwarnung. Für die Kreise Prignitz, Ostprignitz-Ruppin, Havelland, Potsdam-Mittelmark und für das gesamte Stadtgebiet von Berlin werden Windgeschwindigkeiten von über Neunzig Stundenkilometern erwartet. Begleitet wird der Wind von starken Niederschlägen.
In den späten Nachmittagsstunden sind sie noch als Regen möglich, später auch als Schnee. Es wird ein Temperatursturz für die Abendstunden von über 15° Celsius erwartet. Vereinzelt kann es daher auch zur Bildung von Glatteis auf den Straßen kommen. Es wird dringend davon abgeraten, mit dem eigenen Auto zu fahren, es besteht akute Unfallgefahr.
Soweit möglich, sollten öffentliche Verkehrsmittel benutzt werden. Der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg stellt für die betroffenen Regionen zusätzliche Kapazitäten zur Verfügung.
Anzeichen für das Sterben von Menschen auf unnatürlichem Wege - aus dem wendischen Zauberbuch »Koraktor«
Der Tod kündigt sich an, wenn:
nachts ein Käuzchen schreit,
ein Hund den ganzen Tag heult,
morgens auf dem Schornstein eine große Eule sitzt,
ein Maulwurf seinen Haufen direkt an der Hausmauer auswirft,
auf dem Grab eines nahen Angehörigen ein Maulwurf gräbt,
man nachts von schlechten Zähnen träumt,
nachts weiße Wäsche auf der Leine hängen geblieben ist,
wenn zwei Messer gekreuzt auf dem Tische liegen.
Freitag, 30. Dezember 2005
Berlin-Wedding
Wieder hatten sie gestritten. Immer machte ihr die Mutter Vorwürfe. Jetzt schon wieder! Als ob sie sich dauernd in ihr Leben einmischen dürfe. Jedes Mal begann sie mit dieser weinerlichen Stimme und dem vorwurfsvollen Blick auf sie einzureden.
Und sie wusste, dass sie davon nur noch eigensinniger wurde und alles ignorierte. Ihr ganzes Leben lief dieser Ritus nach demselben Muster ab. Mutter begann mit einem tiefen Seufzer ihr Lamento. Karolin hatte diesen Seufzer innerlich schon so oft verflucht und sich vorgestellt, ihrer Mutter einen Knebel in den Mund zu stecken, damit sie endlich schwieg.
Karolin wusste, dass ihre Mutter eine schwache Frau war, total überfordert mit der Aufgabe, eine große Familie zu organisieren und zu leiten.
Der Vater war nie da. Der musste das Geld heranschaffen, was für den Hausbau und den Unterhalt der fünf Töchter benötigt wurde. Er war ständig unterwegs, von Baustelle zu Baustelle. Manchmal kam er nur einmal im Monat nach Hause, manchmal, und das war selten, jedes Wochenende. Je nach dem, wie weit seine Baustelle vom Wohnort entfernt war.
Und wenn er dann da war, trank er. Mutter schloss sich dann in ihrem Zimmer ein, bis er wieder verschwunden war. Manchmal tat sie Karolin leid. Aber dann war da wieder dieser unterschwellige Hass. Sie sehnte sich so nach Normalität, bekam aber immer mehr Chaos.
Ihre vier Schwestern waren da irgendwie immun. Sie waren ja auch schon viel älter und verkrümelten sich, wenn dicke Luft war. Sie musste als Nesthäkchen dableiben und bekam die ganzen Spannungen natürlich mit.
Und jetzt waren Mutter und sie wieder eine Schicksalsgemeinschaft. Lange Zeit hatte Karolin ihre Mutter aus den Augen verloren gehabt. Die hatte nach der Flucht aus dem Hause wieder geheiratet. Aber auch diese Ehe hielt nicht lange. Wahrscheinlich lag es doch an ihrem etwas labilen Charakter.
Plötzlich war Karolin einfach bei ihr aufgetaucht. Nachdem auch ihr Versuch, eine Ehe zu führen, schon nach nur zwei Monaten gescheitert war, musste sie weg aus dieser heimeligen Welt in Bayern.
Onkel Georg gab ihr den Tipp, nach Berlin zu gehen. Dort würde sie auch ihre Mutter wiedersehen, die ihr vorerst unter die Arme greifen könne. Aus dem Provisorium war dann ein Dauerzustand geworden. Karolin teilte sich mit ihrer Mutter die Wohnung.
Jeder hatte zwei Zimmer, dazu eine gemeinsame Küche und ein gemeinsames Bad. Man ging sich so gut es ging aus dem Weg. Mutter ignorierte die Männerbekanntschaften von Karolin, diese war dafür ein dankbarer Kaffeekränzchen-Partner.
Dieses Ritual, in der kleinen Küche Kaffee zu schlürfen und dazu etwas Selbstgebackenes zu knabbern, war lebenswichtig geworden für sie. Wenn Karolin einmal den Zeitpunkt des Kaffeekränzchens verpasst hatte, war sie vollkommen niedergeschlagen und verzog sich für den Rest des Tages in ihr Schlafzimmer.
Karolin wiederum bekam jedes Mal schlechte Laune, wenn Mutter wieder mal »spann«. So nannte sie deren Zustand selbst gewählter Isolation.
Seitdem Karolin die Nachbarswohnung bezogen hatte, war das Verhältnis zu ihrer Mutter noch komplizierter geworden. Die lauerte ihr jetzt regelrecht auf, kam zu den unpassenden Zeiten einfach so vorbei, um irgendwelche banalen Dinge zu besprechen. Sie hatte Verlassensängste. Karolin fühlte sich regelrecht verfolgt von ihr. Jedes Mal, wenn sie sie darauf ansprach, kamen wieder dieser Seufzer und der mitleiderregende Blick.
Heute war wieder so ein Tag, an dem sie Mutter am liebsten gar nicht begegnet wäre. Sie wollte aus dem Haus, weg von Arvid. Draußen stürmte es. Schneematsch und Regen kamen gleichzeitig herunter.
Der Himmel war dunkelgrau, und man konnte vielleicht zehn Meter weit sehen. Genauso hatte sich Karolin das Wetter gewünscht für ihren theatralischen Auftritt. Da stand die Mutter an der Tür ... Ausweichen ging jetzt nicht, also kam sie mit in ihre Küche. Dort stand schon ein Pott Kaffee für sie bereit.
»Kindchen, was hast du wieder angestellt?«
Wieder diese weinerliche Stimme! Karolin schwieg. Dann antwortete sie: »Mama, lass mich in Ruh mit deinen nervigen Fragen.«
Sie wollte es nicht so barsch sagen, war aber erstaunt, wie ruppig ihre Stimme klang.
»Ach, Kindchen ...«
Karolin äffte diese beiden Worte nach, zunehmend gereizt. Die Mutter schwieg betreten. Jetzt war die Zeit gekommen, endlich auch hier einmal reinen Tisch zu machen. All die Wut, die Karolin über Jahre in sich angestaut hatte, brach nun aus ihr heraus.
»Immer hast du mir in mein Leben gepfuscht. Ständig dein Bemuttern und Getue! Es reicht ... Ich hab’s satt. Lass mich einfach in Ruhe! Ich will mir auch nicht länger deine schwachsinnigen Kommentare anhören, was mein Privatleben betrifft. Vielleicht denkst du mal nach, warum ich so geworden bin?«
Für einen langen Moment herrschte betretenes Schweigen. Nur das Pfeifen des Windes in den Hausecken war zu vernehmen.
Der Mutter ging durch den Kopf, was für ein Problemkind Karolin stets war. Sie war eigentlich nicht erwünscht gewesen. Als sie die Schwangerschaft bemerkt hatte, war es schon zu spät. Und Abtreiben im konservativen Bayern der Sechziger Jahre war undenkbar. Zwischen ihr und ihrem Mann war der letzte Funken Liebe schon längst zertreten, als es passierte.
Sie hatte sich gewehrt, aber er war stärker ...
Anschließend lag sie den Rest der Nacht wach und weinte, während er seinen Rausch ausschlief. Von diesem Zeitpunkt an hatten sie getrennte Schlafzimmer. Sie wollte nicht mehr mit so einem Tier ihr Bett teilen. Aber diese Nacht hatte Folgen.
Karolin kam zur Welt. Und von Stund an machte sie Probleme. Wie ein kleiner bösartiger Dämon, der in dem Mädchen zu leben schien, schlich sich der Unfriede in ihr Leben. Die Kleine war ein regelrechter Kobold. Im Gegensatz zu ihren vier größeren Geschwistern, die allesamt harmonisch miteinander umgingen und auch sonst schon ziemlich selbständig waren, schien sie es regelrecht auf Streit und Aufruhr abgesehen zu haben. Keiner kam klar mit ihr.
Die größeren Schwestern waren selten dazu zu bewegen, die Kleine mit in ihre Spiele einzubeziehen. Sie machte ihnen alles immer nur kaputt, riss den Püppchen die Arme aus oder zertrampelte einfach die mühsam aufgebaute Puppenstube.
Selbst die Großmutter, zu der alle gern gingen, war mit dem Mädchen überfordert. Die Oma galt als grundgütige Frau, die den Kindern Märchen vorlas, ihnen ein Kasperletheater bastelte und sie in die nahen Berge zum Wandern mitnahm. Karolin schaffte es aber, dass die alte Frau ausrastete und ihr eine Tracht Prügel verabreichte. Etwas, was sie bei keinem ihrer anderen Enkelkinder jemals auch nur ansatzweise gemacht hatte. Karolin hatte die Katze der Großmutter in einen Schrank gesperrt und sie einfach darin vergessen. Als man nach langer Suche endlich das arme Tier gefunden hatte, war es jämmerlich erstickt und lag mit ausgestreckten Pfötchen auf dem Boden des Schrankes.
Später dann in der Schule ging der Stress mit Karolin weiter. Sie musste sieben Mal in acht Jahren die Schule wechseln. Immer galt sie als verhaltensauffällig.
Einmal hatte sie die Lehrerin mit ihren spitzen Fingernägeln so zerkratzt, dass die Polizei gekommen war. Ein anderes Mal provozierte sie, indem sie vor versammelter Klasse in den Schulraum pinkelte, oder sie schwänzte die Schule und verschwand einfach so für ein paar Tage. Ihrer Mutter erzählte sie stets neue Lügengeschichten. Das Klassenzimmer werde renoviert oder es sei Wandertag und sie fühle sich nicht wohl und bräuchte daher nicht mit.
Als sie vierzehn wurde, wusste sich die Mutter nicht mehr anders zu helfen und meldete Karolin in einer Katholischen Internatsschule mit Ganztagsbetreuung an. Doch sie schaffte es, drei Mal von dort auszureißen. Entnervt gab die Mutter auf, schickte sie zur Großmutter nach München in der Hoffnung, dass sie das Mädchen halbwegs zur Vernunft bringen würde.
Die letzten Schuljahre quälte sich Karolin auf einer Haushaltsschule durch den Stoff. Lernen war nicht ihr Ding. Obwohl sie einen intelligenten Eindruck machte, war ihr das gesamte Schulsystem suspekt. Sich einbringen in eine existierende Struktur, Hierarchien akzeptieren und eine gewisse Disziplin im Umgang mit anderen Menschen – all das war für sie ein rotes Tuch.
Karolin wurde immer rebellischer. Ihre Haare hatte sie zu Dreadlocks gedrillt, sie rauchte knapp zwei Schachteln Zigaretten am Tag und trieb sich auf Partys herum, auf denen gekifft wurde und oft auch härtere Drogen mit im Spiel waren.
Ihre Aggressionen lebte sie nun vor allem auf Demos aus. Sie gehörte mit zum harten Kern der linken Szene, marschierte gegen alles, warf Molotow-Cocktails, ließ sich mit anderen Aktivisten an Eisentore anketten, die den Zugang zum AKW Wackersdorf versperrten, sägte Bahnschienen an, auf denen Castor-Transporte rollten, und hatte ständig wechselnde Liebschaften.
Die eigentlichen Inhalte dieser Demos und Protestaktionen waren ihr nicht wichtig, die Hauptsache war dieser kribbelnde Spaß am Abenteuer. Sie betrachtete die Welt wie einen großen Spielplatz, den man nur entsprechend nutzen musste. Mit ihrer beruflichen Entwicklung ging es daher nicht so recht voran. Sie war jung, wollte etwas erleben und nicht schon wieder eine Schulbank drücken. Wenn sie Geld brauchte, jobbte sie stundenweise in Kneipen oder ging auch mal auf den Amateurstrich.
Und jetzt stand sie mit Mitte Vierzig vor ihr. Die Dreadlocks waren verschwunden, die etwas gammeligen Klamotten hatte sie abgelegt und sich ein halbwegs bürgerliches Outfit gegeben, aber noch immer besaß sie diese unterschwellige Aggressivität. Gerade konnte man das in ihrem Gesicht wiedererkennen. Sie schien alles um sich herum vergessen zu haben, stierte ihre Mutter an und schwieg immer weiter.
»Ach Kindchen...«, weiter kam sie nicht mehr.
Karolin hatte sich die schwere Schöpfkelle geschnappt und diese mit einer immensen Kraft auf den Kopf ihrer Mutter gehauen.
Diese fiel sofort um.
Kein Klageton war zu vernehmen.
Wahrscheinlich war sie ohnmächtig geworden.
Karolin beugte sich hinab.
»Mama, so war das nicht gemeint! Mama, komm sag doch was ... Mama!«
Die Frau am Boden antwortete nicht. Ihre Augen standen offen, und es schien, als ob sie sich wundere über diesen so plötzlichen Schlag.
Karolin begriff, dass sie tot war. Sie war von ihrem eigenen Jähzorn überrascht. Dann setzte sie sich an den Küchentisch. In ihr arbeitete es. Sie knabberte an ihren Fingernägeln. Das machte sie immer, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Etwas war jetzt in diesem Moment zerbrochen, etwas, dass sie mit der normalen Welt verband.
Die leblose Person am Boden schien das Ende einer wild sich drehenden Spirale zu sein, die sich seit dem Bruch mit Arvid vor drei Tagen zu drehen begonnen hatte. Karolin bezeichnete solche Phasen, die sie immer wieder durchlebte, mit »am Rad drehen«.
Tief in ihrem Innersten wusste sie, dass sie selbst diejenige war, die »am Rad drehte«. Aber sie gestand sich das nie so richtig ein. Immer drehten andere am Rad, welches ihr Schicksal in immer verhängnisvollere Situationen verschlug. Die jetzige Situation schien eine bisher noch nie da gewesene Qualität erreicht zu haben.
Sie war allein mit einer Toten, die noch dazu ihre Mutter war. Dass sie die Frau mit dem Schlag getötet hatte, verdrängte sie. Es war ein Unfall, ein unglücklicher Ausrutscher, der ihr da im Zorn passiert war. Man nannte so etwas Affekt ...
Innerlich kam sie langsam wieder zur Ruhe. Nein, wegen dieser Affekthandlung würde sie sich nicht verantworten müssen, das war ihr klar. Aber sie musste etwas machen mit der Leiche.
Eine dunkle Blutlache hatte sich inzwischen auf dem Fußboden breitgemacht. Es wurde immer offensichtlicher, was gerade passiert war. Die leblose Frau konnte nicht so liegen bleiben. Ob sie den Notdienst vom nahen Virchow-Klinikum anrufen sollte? Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Mehr als den Tod feststellen, konnten die auch nicht.
Es würden wohl eine ganze Menge lästiger Fragen auf sie zukommen, auf die zu antworten sie absolut keine Lust hatte. Aus diesem Grunde fiel auch ein Anruf bei der Polizei aus.
Sie war stark und der Körper ihrer Mutter wog vielleicht mal gerade sechzig Kilo. Das Auto von Arvid stand unten vor dem Haus.
Arvid war in seinem Laden, machte Inventur. Der Schlüssel war drüben in ihrer Wohnung. Karolin wartete, bis es draußen dunkel wurde. Der Sturm hatte etwas abgeflaut. Dann schlich sie hinaus mit der schweren Last auf den Schultern …
Der Landwehrkanal in Berlin
... ist ein nur zehn Kilometer langer Schifffahrtsweg, der sich als Spreeseitenkanal zwischen dem Charlottenburger Spreekreuz und dem Osthafen erstreckt. Auf seiner vollen Länge ist er schiffbar für alle Arten von Flusskähnen. Zwei Schleusen, die Ober- und die Unterschleuse, regulieren den Verkehr.
Im Mittelalter gab es vor der Stadtmauer mal einen Landwehrgraben, der die Stadt vor Reiterangriffen schützen sollte. Als dieser nicht mehr gebraucht wurde, nutzten die Berliner ihn zur Entwässerung der Sumpfwiesen vor den Toren der Stadt. Nun konnten sie ihre Schafe, Ziegen und Kühe dort weiden lassen. Der Landwehrgraben wurde so zum Schafgraben. Wieder später nutzten die Holzfäller ihn zum Holztransport.
Aus dem Schafgraben wurde der Floßgraben. Die Stadt wuchs rasant. Plötzlich war der alte Floßgraben mitten in der Stadt. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. erteilte seinem Gartenbaumeister Lenné den Auftrag, den alten Floßgraben zu einer Wasserstraße auszubauen. Aber erst nach dem Tode des Königs wurde dieser Schifffahrtsweg im Jahre 1850 eingeweiht. Kaum jemand nahm Notiz davon, denn die Gegend, durch die er sich schlängelte, war für die meisten Berliner noch »janz weit draußen«.
Berühmtheit erlangte der Kanal durch den spektakulären Mord an der kommunistischen Politikerin Rosa Luxemburg, die im Januar 1919 von zwei Reichswehrsoldaten ins Wasser geworfen wurde. Auch die ominöse Zarentochter Anastasia soll angeblich im Jahre 1920 im Kanal ertränkt worden sein ...
Der Wassermann
Er galt als männliches Pendant zu den Nixen, und ihm wurden ähnliche Eigenschaften wie den Nixen zugeschrieben. Er galt lange Zeit als der uneingeschränkte Herrscher über Flüsse, Seen und Brunnen.
Meistens wurde er als grünhäutiger Riese mit verfilztem Haar und einem langen Haken, der manchmal auch ein Triton – also ein Dreizack – sein konnte, dargestellt. Damit zog er die Leute von den Schiffen in sein unterirdisches Reich hinab.
Den meisten Menschen zeigte er sich in vielfältiger Gestalt, mal als kapitaler Hecht oder dämonisch grinsender Wels, mal als kleines Männchen mit rotem Spitzhut und grünem Wams, ganz selten zeigte er sich auch als Fischwesen, halb Mensch, halb Schuppentier.
In der slawischen Mythologie wurde er als Vodyanoj bezeichnet, in den alten märkischen Sagen geisterte er als Neck oder auch als Nickert durch die Sagenwelt. Begegnungen mit ihm können gut oder auch böse ausgehen, je nach Gemütslage des Wassermannes.
Berlin-Tiergarten
Dienstag, 27. Dezember 2005
Die Fahrt im abendlichen Dämmerlicht war anstrengend. Schemenhaft rauschten Häuser, Bäume und Menschen an ihm vorbei. Im Autoradio dudelte Jazz. Eine Musik, die weder vordergründig störte noch sein angespanntes Gemüt provozierte.
Ziellos fuhr er nun schon seit fast zwei Stunden durch die immer dunkler werdende Stadt. Der Berufsverkehr begann abzuebben. In diesen Tagen waren ohnehin nur wenige Menschen auf Arbeit. Die meisten hatten frei. Die Zeit zwischen den Jahren war eine Zeit voller Müßiggang.
Nervös fingerte der Mann an seinem Jackett herum, suchte sein Handy. Wählte, fluchte, warf das Handy ungestüm auf den Beifahrersitz. Sein Blick war unstet. Dauernd blickte er auf die schwach leuchtenden Armaturen, schaute dann sofort wieder nach vorne.
Sein Tankfüllstand zeigte bedrohlich nach unten: fast leer. Die kleine gelbe Leuchtanzeige für die Tankreserve flackerte auch schon auf. Er suchte eine Tankstelle, fuhr ins gleißende Neonlicht hinein und stellte den Motor ab.
Wie ein Film liefen noch einmal die Ereignisse der letzten Tage vor seinem inneren Auge ab.
Der aus dem Nichts kommende Streit mit Karolin. Ihr lapidares »Es ist aus«. Sein Zusammenbruch. Die absurde Tristesse des Weihnachtsfestes als Rahmen für diese Tragödie. Der dramatische Auftritt von Karolins Mutter und ihr Tränen überströmtes Gesicht. Dazu das Jammern und Weinen, welches ihm eigentlich zugestanden hätte. Seine stundenlange Irrfahrt durch die Stadt. Die ersten Anzeichen von Wahnvorstellungen.
Berlin-Wedding
Nacht, 27. zum 28. Dezember 2005
Erschöpft lag er auf seinem Bett. Die abendliche Irrfahrt durch die Stadt hatte seine letzten Reserven aufgebraucht, innerlich fühlte er sich leer. Eine absolute Hoffnungslosigkeit hatte ihn befallen. Die große Wohnung wirkte öde. Auf dem Boden lagen achtlos ein paar Klamotten herum, ein paar Schuhe verteilten sich im Flur.
Was da in den letzten Stunden passiert war, konnte Zach nicht glauben. Innerhalb von nur einem Augenblick war er aus seinem gewohnten Leben gerissen worden.
Am frühen Morgen stand sie weinend vor ihm, in der Hand einen Brief, den sie ihm wortlos unter Tränen überreichte. Er konnte es zuerst gar nicht glauben, was sich in ihrer schwer leserlichen Handschrift zur Gewissheit formte, die ihm die Luft zum Atmen nahm.
Sie wollte nicht mehr weiter mit ihm leben, seine Prinzessin, die er abgöttisch liebte, für die er alles in Bewegung setzte, damit sie sich glücklich fühlte. Sie schien ein völlig anderer Mensch geworden zu sein. Was da im Brief stand, war ungeheuerlich.
Wochenlang soll sie heimlich auf ihrem Bett gesessen und still vor sich hin geweint haben?
Er hatte davon nie etwas bemerkt, genauso wenig von ihren dauernden Ohnmachtsanfällen und ihrer Schlaflosigkeit. Sie musste eine total unglückliche Frau sein, die ihr Leben mit ihm nur unter großem Widerwillen ertragen hatte. Was für eine Täuschung!
Am Heiligabend früh hatten sie noch Sex wie immer. Die vertraute Stimmung des freien Morgens hatte auf ihn stets eine stimulierende Wirkung. Er wühlte sich dann immer unter der Decke an sie heran, sog mit gierigen Zügen ihren Duft ein, um sie dann mit seinen Küssen und Liebkosungen zu bedecken. Willig wie immer ging sie auf das sich stets wiederholende Spiel von Annäherung und Entdeckerfreude ein. Nichts deutete auf ein Zerwürfnis. Nach dem Akt der Vereinigung lagen sie wie immer völlig ausgepumpt, aber zufrieden eng aneinandergeschmiegt, genossen diesen Moment der totalen Zweisamkeit.
Dann begann der Tag, erst duschen, dann Frühstück machen – alles wurde zelebriert. Für das Frühstück wurde der runde Tisch unter dem flämischen Leuchter im großen Esszimmer gedeckt. Wochentags saß man am kleinen Küchentisch. Frühstück am Wochenende war ein stundenlang sich hinziehendes Ritual mit klassischer Musikuntermalung, frisch gekochten Eiern, aufgebackenen Brötchen und diversen Leckereien, die speziell für dieses morgendliche Fest eingekauft worden waren.
Er genoss diese Zeit. Ein Bekannter hatte ihm einmal gesagt, dass beim Frühstück die Menschen ihr wahres Wesen zeigen würden. Ob sie glücklich seien oder nicht, würde diese Stunde offenbaren. Anfangs hatte er diese kryptischen Worte abgetan als eine dumme Redensart, aber mit der Zeit hatte er den wirklichen Sinn der Worte für sich erkannt. Es war ein totaler Luxus, sich diese Zeit zu gönnen und solch ein königliches Frühstück zu zelebrieren. Eigentlich kannte er nur wenige Menschen, die es ähnlich taten. Es war zutiefst spießig, aber es gefiel ihm. Und ihr auch, dachte er jedenfalls bisher.
Heute Morgen, ein freier Tag war dieser Dienstag auch, war alles anders. Sie war schon ungewöhnlich früh aufgestanden, huschte auf leisen Sohlen aus dem Schlafzimmer. Zach döste noch, nahm ihr Aufstehen nur im Halbschlaf wahr.
Sie musste öfters mal raus, war eben eine Frau. Irgendwann um kurz nach Neun stand er auch auf. Nichts war in der Wohnung anders, aber irgendetwas stimmte nicht mit diesem Tag. Wo war sie?
Er schlurfte in die Küche, setzte Kaffeewasser im Wasserkocher auf und knipste das Radio an, um diese ungewöhnliche Stille zu durchbrechen und das Gefühl der Irritation zu verdrängen.
Dann stand sie da. Heulend und irgendwie völlig verloren. Sie kam auf ihn zu, umarmte ihn, stammelte etwas Unverständliches, als ob sie es selbst nicht glauben könnte, dass sie jetzt hier so vor ihm stand, um diese Botschaft zu verkünden.
Zach wurde schwindelig. Er saß auf seinem Stuhl, erstarrt, unfähig, irgendetwas zu erwidern oder zu tun. In seinem Hirn hämmerte dauernd ein Satz durch die Windungen: Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr, das kann nur ein böser Traum sein ...
Aber die Wirklichkeit blieb, so wie soeben erlebt. Alles wurde schlagartig grau um ihn. Er nahm alles durch einen Filter wahr, der die Wohnung und ihn in die farblose Welt der Tristesse tauchte.
In ihm wehrte sich alles gegen diese große Traurigkeit, aber es nützte nichts. Körperlich konnte er es spüren, wie jede einzelne Region seines Körpers von ihr befallen wurde. Seine Arme und Beine wurden wie Gummi, die Knie versagten ihren Dienst, er knickte einfach in sich zusammen. Die Kühle des Wintertags, die eigentlich draußen vor dem Fenster herrschte, breitete sich langsam in ihm aus.
Was da mit ihm passierte, konnte er rational nicht fassen, eine tiefe Verunsicherung hatte ihn erfasst. Karolin war aus der Küche gegangen und hatte ihn mit dem Brief allein zurückgelassen. Er versuchte sich zu sammeln, unmöglich überhaupt der Versuch, etwas Klarheit zu bekommen.
Warum nur?
Was hatte er getan?
Diese Fragen kreisten wie ein ständig sich wiederholendes Signal in Sekundenbruchteilen durch sein Hirn. Er konnte nichts Anderes denken, nur diese Worte erhoben sich aus dem Nichts der inneren Leere zu bedrohlich großen Riesenlettern, die in tiefstem Rot sich auf seine Netzhaut brannten und alles andere verdrängten.
Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Brustkorb. Er rang um Luft, konnte die Katastrophe nun körperlich spüren.
So etwas musste also das »gebrochene Herz« sein. In den romantischen Gedichten seiner Jugend wurde es oft beschworen, er hatte damals immer darüber gelächelt. Eine schöne Metapher für einen Seelenzustand des Verlassenwerdens, gern genutzt von allen jugendlichen Schwärmern. Das ihm so etwas zustoßen würde, hatte er nie zu träumen gewagt.
Er saß wohl eine Stunde, vielleicht auch länger, so erstarrt in der Küche. Kein Geräusch war mehr zu hören, das Radio war aus, von Karolin war nichts zu merken. War sie überhaupt noch in der Wohnung? Zach erhob sich langsam, der Schmerz im Brustkorb war deutlich spürbar beim Aufstehen. Er schlich den langen Flur entlang, spähte in die Zimmer, sah sie endlich hinter ihrem Computer sitzen und intensiv auf den Monitor schauen. »Karolin, was hast du nur getan?«
»Lass mich, ich kann jetzt nicht mit dir sprechen. Alles ist aus, es ist aus! Lass mich allein!«
Zach wandte sich ab, schlug die Tür in einer wilden Aufwallung von Wut zu. Ein lautes Krachen begleitete das Zuschlagen. Im Flur fiel eine kleine Statue vom Regal und zerbrach auf dem Boden. Zach suchte den Autoschlüssel und rannte dann die Treppen runter.
Nur weg, raus hier, er schien die Luft in der Wohnung nicht mehr atmen zu können. Quietschend setzte sich der Kombi in Bewegung, Zach raste durch die stille Nebenstraße, die an diesem Wintermorgen menschenleer war, bog auf die nächste Magistrale, ohne auf die Ampelschaltung zu achten. Alles drehte sich vor seinen Augen, er hatte Mühe, das Auto in der Spur zu halten. Was nur hatte er getan? Warum!? Warum!? Warum!?
Tief in seiner Seele suchte er nach Gründen für Karolins Entschluss. Sie war doch so glücklich gewesen, tanzte durch die großen Räume, leise vor sich hin trällernd, kam immer wieder zu ihm, umarmte ihn und strahlte ihn aus ihren rehbraunen Augen an. War das alles nicht wahr, war es nur ein Trugbild gewesen?
Sie hatten intensiv miteinander gelebt, vieles gemeinsam gemacht, waren alltagstauglich – so hatte Zach die Beziehung mit ihr immer eingeschätzt. Und nun?
Wieder schoben sich die roten Buchstaben bedrohlich vor sein inneres Auge. Warum? Warum? Warum? Ratlos kreuzte er durch die leeren Straßen Berlins.
Am Abend kam er zurück in die Wohnung. Das erste, was er spürte, war die Leere. Sie war nicht da. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.
»Bin bei Freunden«, stand da geschrieben. Zach saß im Wohnzimmer etwas verloren auf dem Sofa. Im Flur rumorten die beiden Katzen. Hatten wohl Hunger. Automatisch holte er zwei Dosen Futter, öffnete sie und schüttete den streng riechenden Inhalt in die beiden Näpfe. Die Katzen, ein bunt geschecktes Kätzchen und ein großer, grauer Tiger schnurrten schon in Erwartung der Leckerbissen. Karolin hing an den Katzen, egal wie sie sich benahmen und was sie anstellten.
Oft saß sie im Sessel und streichelte stundenlang den Katzen das Fell und flüsterte ihnen irgendwelche Geschichten ins Ohr oder kümmerte sich um die langen Krallen. Die Tiere ließen diese Prozedur mit stoischer Ruhe über sich ergehen.
Wenn Zach kam, stoben sie meist auf und davon. Das hing mit einigen unschönen Zusammenstössen zwischen ihm und den beiden Fellträgern zusammen.
In der Küche hatte er sie schon beim Räubern ertappt und entsprechend reagiert. Karolin schritt sofort ein: »Was können die armen Tiere dafür, wenn wir die Sachen liegenlassen!« Zach schüttelte den Kopf über diese Art von Tierliebe. Ihm ging das eindeutig zu weit. Aber letztendlich ließ er sie gewähren. Es war ja nicht lebenswichtig.
Er schnappte mit der Fernbedienung den Fernseher an. Klickte sich durch die Programme, nichts konnte ihn ablenken. Irgendwo blieb er bei einer Talkrunde hängen. Dem Gespräch konnte er nicht so richtig folgen, mit einem Ohr lauschte er immer Richtung Tür, doch nichts passierte. Sie kam die ganze Nacht nicht. Irgendwann dämmerte er für ein paar Minuten weg.
Berlin-Wedding
Donnerstag, 29. Dezember 2005
Übermüdet und vollkommen trostlos stand Zach am Fenster und beobachtete das Treiben der Flocken, die an diesem Dezembertag erste weiße Teppiche in der Stadt bildeten.
Eigentlich hatte er ja eine große Silvesterparty mit vielen Freunden geplant, aber irgendwie hatte er nicht den Mut, allen abzusagen. Karolin war heute früh zurückgekommen. Sie wich ihm aus, huschte nur durch die Zimmer wie eine Schattengestalt. Wortlos hatte sie ihm wieder einen mehrseitigen Brief in die Hand gedrückt, in dem sie ihm ihre Gründe für den plötzlichen Bruch noch einmal aufgeschrieben hatte.
Der etwas verworren gehaltene Text hatte für Zach nichts Neues gebracht, nur noch mehr Rätsel bauten sich vor ihm auf. Er zweifelte daran, dass diese Frau hier seine Lebensgefährtin war. Wie ausgewechselt erschien sie, als ob jemand einen Schalter in ihrem Kopf umgelegt habe. Er versuchte erneut, mit ihr ins Gespräch zu kommen. In der Küche saßen sie sich am Tisch gegenüber.
Er hatte Tee zubereitet. Jeder hielt sich an seiner Tasse fest, als ob es sonst keinen Halt mehr gäbe. Zach spürte, dass ein Bruch durch die Beziehung ging, der nicht mehr zu kitten war, aber er wollte sich diese bittere Erkenntnis nicht eingestehen.
Zu sehr hing er noch dieser Illusion einer glücklichen Zeit zu zweit nach. Er schaute ihr in die Augen, die sonst immer seinen Blick erwidert hatten und ihn mit einem wohligen Schauer in die Gewissheit versetzt hatten, grenzenlos geliebt zu werden.
Jetzt war der Blick verhuscht, etwas war erloschen. Er spürte auch, dass Karolin ihm etwas verheimlichte. Ein Gespräch wollte nicht so recht zustande kommen. Seine Kehle schnürte sich immer mehr zu, je länger er so saß und sie beobachtete. Ihr schien dieses Sitzen am gemeinsamen Tisch sichtliches Unbehagen zu bereiten.
Die Unruhe, die von ihr ausging, übertrug sich auch auf Zach. Er sprang schließlich auf, konnte sich nicht mehr beherrschen.
»Was hast du gemacht! Bist du dir sicher, dass du das so willst?« Sie schwieg, schaute kurz mit einem seltsamen Blick zu ihm auf und zog sich innerhalb eines Sekundenbruchteils noch weiter in sich selbst zurück.
Etwas schien von ihr Besitz ergriffen zu haben, dessen sie sich selber noch gar nicht so richtig bewusstgeworden war. Sie wirkte wie ein gehetztes Tier, welches in die Ecke getrieben worden war.
Zach merkte, dass er mit seinen lauten Vorwürfen nichts bewirkte, schüttelte den Kopf und verließ die Küche.
Er musste raus aus der Wohnung, er brauchte andere Luft und andere Gedanken. Innerhalb weniger Stunden war sein persönliches Glück in sich zusammengefallen wie ein marodes Haus. Und er saß mitten drin, ohne eine Möglichkeit, den Zusammenbruch aufhalten zu können.
Wortlos schnappte er sich seine karierte Winterjacke, knallte die Tür hinter sich zu und stürmte die Treppenstufen hinab. Im Kopf drehte es sich bloß noch.
Dauernd erschien das »Warum?« vor seinem inneren Auge. Er suchte sein Auto, einen großen, dunkelblauen Kombiwagen. Etwas Vertrautes ging für ihn von seinem Wagen aus. Er fuhr oft damit durch die Stadt, wenn er seinen Kunden Ware auslieferte oder selber Waren abholte von den Speditionslagern. Hier drinnen fühlte er sich stets geborgen. Wenn die Wagentür ins Schloss fiel und der Stadtlärm schlagartig abebbte, atmete er stets tief durch. Der Stress baute sich automatisch ab. Auf diesen Effekt hoffte Zach auch jetzt wieder. Just in dem Augenblick, als er einsteigen wollte, klingelte in seiner Jackentasche das Handy. Etwas unwillig kramte er es hervor.
Eine helle Kinderstimme ertönte: »Papa, wann kommst du? Ich warte schon auf dich ...«
Natürlich, Adrian, sein kleiner Sohn wartete auf ihn. Heute sollte er ihn bei seiner Exfrau abholen, um die restlichen Ferientage bei ihm und Karolin zu verbringen, auch Silvester wollte er mitfeiern.
»Ich bin schon auf dem Weg zu dir. Mach dich schon mal fertig und pack deine Sachen zusammen...«, antwortete er betont fröhlich.
Er startete seinen Wagen und fuhr los Richtung Ostteil der Stadt, wo er früher gelebt hatte und wo jetzt noch seine Exfrau mit dem Jungen lebte. Sieben Jahre war diese Trennung nun schon wieder her. Damals brach für Zach ebenfalls eine Welt zusammen. Die Frau, die er liebte, mit der er den mühsamen Weg der Nachwendezeit bewältigt hatte und mit der er einen Sohn hatte, den er abgöttisch liebte, wandte sich ab von ihm.
Ihr war die Karriere wichtiger geworden als die Familie. Zach hatte damals hilflos mit ansehen müssen, wie die Beziehung nach und nach zerbröckelte. Er war unfähig, der Erosion etwas entgegenzusetzen, verfiel in ein depressives Grübeln. Es wurde kaum noch mit einander geredet. Er war jedes Mal froh, wenn er die Wohnung verlassen konnte, und gruselte sich schon vor dem Abend, wenn er in die Welt des Schweigens zurückkehren musste. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und lief davon. Er begann dann wieder beim Punkt Null und baute sich ein neues Leben auf.
Anfangs war es schwierig, das Leben so allein zu meistern. Hinzu kam, dass der Kleine damals erst zwei Jahre alt war. Sonntagnachmittags holte er ihn ab und brachte ihn, kaum ein Wort mit seiner Exfrau wechselnd, abends wieder zurück. Meist ging er mit dem Kleinen auf einen Spielplatz oder, wenn das Wetter schön war, in den Zoo.
Er sehnte diese Sonntagnachmittage herbei, freute sich die ganze Woche darauf. Dann überschüttete er den Kleinen mit Spielsachen und anderen kleinen Geschenken. Irgendwie hatte er dem Jungen gegenüber stets ein schlechtes Gewissen. Er war ja schließlich davongelaufen.
Es hatte lange gedauert, bis er sich aus diesem Tal herausgearbeitet hatte. Dann hatte er vor drei Jahren diese Begegnung, die sein Leben auf einem Schlag veränderte. Er glaubte bis dahin nicht an Liebe auf den ersten Blick, aber als er diese Frau dann sah, war es um ihn geschehen.
Sie strahlte ihn an und er lächelte scheu zurück. Das war der Beginn einer wunderbaren Liebe. Zach fühlte sich plötzlich wieder auf der Sonnenseite. Schnell waren er und Karolin sich einig.
Man zog zusammen. Sie lebte damals mit ihrer Mutter zusammen. Es war eine recht eigenartige Wohngemeinschaft, die sie damals hatte. Die Mutter, eine etwas wunderliche, aber herzensgute Frau, bekochte ihre Tochter, kümmerte sich um die Wäsche, half ihr bei finanziellen Engpässen und fütterte die beiden Katzen, die eigentlich Karolin gehörten.
Als Gegenleistung ließ Karolin ihre Mutter an ihrem Leben teilhaben, indem sie ihr jeden Abend ausführlich berichtete, was so alles passiert war. Diese Abendgespräche waren das Lebenselixier für die Mutter. Tagsüber, wenn Karolin in der Stadt unterwegs war, traf sie sich mit anderen älteren Damen zum Kaffee oder sie frönte ihrer Leidenschaft, nähte aus allen möglichen Stoffresten Taschen und bastelte Püppchen. Eigentlich auf den ersten Blick ein harmonisches Miteinander.
Aber Karolin fühlte sich unglücklich in dieser Wohngemeinschaft. Sie wollte hinaus ins Leben und nicht versauern in der etwas plüschigen Welt ihrer Mutter. Es kam daher auch immer wieder zu Auseinandersetzungen. Meistens jedoch musste sie einlenken, denn wirtschaftlich war sie eben von ihrer Mutter abhängig. Aus dieser Ohnmacht wurde sie erst durch Zach befreit.
Jetzt hatte sie endlich einen triftigen Grund, diese eigentümliche Wohngemeinschaft auflösen zu können. Ihrem persönlichen Glück konnte sich ihre Mutter nicht entgegenstellen, dass wusste sie. Innerhalb von nur zwei Monaten hatte sich alles geregelt.
Durch einen Zufall war die Nachbarwohnung frei geworden. So blieb Karolin noch in unmittelbarer Nähe zur Mutter, konnte aber endlich in einer eigenen Wohnung leben. Die große Altbauwohnung wurde in kurzer Zeit von den beiden renoviert und eingerichtet. Zach war glücklich. Auch sein kleiner Sohn Adrian kam wunderbar mit Karolin zurecht. Sie hatte keine eigenen Kinder.
Irgendetwas schien bei ihr nicht zu funktionieren. Sie schob es auf ihre wilde Zeit als anarchistische Weltverbesserin. Damals hatte sie in München jede Demo mitgemacht, war bei den AKW-Gegnern engagiert und kettete sich an Schienen bei Castor-Transporten. Die bayrische Polizei war in den Achtziger Jahren rigoros gegen solche Störenfriede vorgegangen.
Sie erzählte etwas von Reizgas und anderen chemischen Keulen, die da zum Einsatz gekommen sein sollten und wovon sie letztendlich unfruchtbar geworden sei. Zach staunte nur, konnte aber mit all diesen Dingen nicht viel anfangen. Er war im Osten aufgewachsen und damit abgeschirmt von all diesen Kämpfen, welche die Bundesrepublik damals erschütterten. Zumal er sich seine Karolin nur schwer als anarchistische Barrikadenkämpferin vorstellen konnte.
Endlich hatte sein Traum von einer intakten und glücklichen Familie sich verwirklicht. Dafür hatte er vieles getan.
Auf den Straßen von Berlin
Samstagnacht, 31. Dezember 2005
Zach fuhr nun schon seit drei Stunden durch die Stadt. Irgendwie wurde seine Situation immer trostloser und verworrener. Er wusste sich einfach nicht weiter zu helfen und sah nur einen Ausweg aus seinem Dilemma.
Es war stockfinster draußen. In der Ferne waren erste Böller zu hören. Auch ein paar Raketen zischten immer wieder durch den dunklen Himmel und hinterließen farbige Spuren.
Er hatte schon längst die Orientierung verloren, steuerte mechanisch den Wagen durch ein dünnbesiedeltes Viertel hinter dem Nordbahnhof. Tagsüber war hier schon wenig los, aber nachts war die Gegend wie ausgestorben. Eine dichte Baumreihe filterte das Licht der trüben Straßenbeleuchtung durchs Geäst. Die dunkle Straße schluckte das Licht förmlich, ebenso die ewig lange Friedhofsmauer aus ergrauten Klinkern. Er fuhr hier öfters entlang, wenn er dem Stau in der Chausseestraße entgehen wollte und kannte die vielen kleinen Abkürzungen in der Innenstadt.
Vor sich sah er plötzlich ein rotes Licht. Es gehörte zu einem Fahrrad. Darauf eine seltsam vertraute Person. Zach erkannte sie sofort.
Es war Karolin, seine Karolin!
Was hatte die jetzt in der Nacht hier zu suchen? Wohin fuhr sie? Auf alle Fälle nicht nach Hause, denn das wäre die entgegengesetzte Richtung. In Zach stieg die Wut wie eine heiße Hitzewelle hoch. Der gesamte Frust der letzten Tage und Stunden kochte zu einem einzigen kompakten Gefühl zusammen: zu reiner Wut. Zach trat das Gaspedal durch und steuerte auf das rote Licht zu ...
Auf den Straßen von Berlin
Sonntag früh, 1. Januar 2006
Die letzte Nacht hatte Zach als Alptraum erlebt. Er versuchte seine Gedanken zu ordnen. Immer wieder sah er die Frau im hohen Bogen über den Lenker stürzen und sah das kaputte Fahrrad im Schneematsch liegen. Und immer wieder schoss ihm durch den Kopf: Du hast sie umgebracht!
Das Geräusch des Auftreffens der Stoßstange auf das Fahrrad, der schrille Schrei der Frau auf dem Rad und das harte Aufschlagen ihres Körpers auf dem Straßenboden – alles war der Ablauf von gerade einmal ein bis zwei Sekunden, die für Zach unendlich langsam waren. In einer Art Zeitschleife liefen diese beiden Sekunden immer wieder in Slow-Motion vor seinem inneren Auge ab. Er sah sich selbst aus dem Auto steigen und zu der reglos am Boden liegenden Gestalt hinlaufen.
Sie lag vor ihm im Schneematsch und bewegte sich nicht mehr. Ihr Gesicht war merkwürdig bleich. Angst erfüllte in diesem Moment Zachs Innerstes und ließ ihn davonlaufen. Er setzte sich ins Auto und fuhr mit laut aufheulendem Motor los. Nur weg!
Erst nach einer halben Stunde hatte er sich wieder soweit im Griff, bis er ein paar klare Gedanken fassen konnte. Der erste Gedanke war zu helfen.
Sie konnte da nicht den Rest der Nacht über liegen bleiben, sie musste in ein Krankenhaus. Und zwar so schnell wie möglich. Zach drehte seinen Kombi und fuhr mit stark überhöhter Geschwindigkeit zurück. Er bog mit einem lauten Quietschen in die stille Straße am Friedhof ein. Die Stelle, wo sie lag, musste gleich kommen ...
Er erstarrte. Dort, wo eigentlich Karolin am Boden liegen musste, war nichts, absolut gar nichts. Nur das Fahrrad lag noch einsam herum. Der Schneematsch war vollkommen zertreten, als ob sie einen Tanz im Schnee gemacht hätte.
Unmöglich!
Er hatte es doch mit eigenen Augen gesehen: Sie lag ohnmächtig am Boden. Und jetzt war sie weg!
Zutiefst verunsichert stand Zach herum. Was sollte er nur machen?
Wenigstens das Fahrrad konnte er mitnehmen. Vielleicht war Karolin ja auch zu Hause oder im Krankenhaus? Er musste es herausfinden. Schnell legte er das Fahrrad zusammen und packte es in den geräumigen Frachtraum seines Kombis. Dann fuhr er los Richtung Wedding. Durch seinen Kopf jagten wirre Gedanken, die sich allesamt um den Unfall drehten. Irgendetwas stimmte jedoch nicht, und Zach hatte ein ungutes Gefühl.
Am Landwehrkanal
Montag früh, 2. Januar 2006
Irgendwie steuerte das Auto von selbst das Ufer des Landwehrkanals an. Zach war die Gegend vertraut. Hier war er mit seiner Karolin oft spazieren gegangen.
Im Sommer hatte das Ufer etwas Verträumtes. Die Bäume spendeten Schatten, unzählige Insekten schwirrten in der Luft und im Wasser gluckste es ab und an, so als ob ein Wassermann vom Grunde des Kanals ihnen einen Gruß heraufschickte.
Doch jetzt war es hier trist und grau.
Der Mann mit dem grauen Mantel trottete am Ufer entlang und schien gar nicht zu bemerken, was um ihn herum passierte. Er hatte alles verloren, was ihm wichtig gewesen war. Das war ihm inzwischen klargeworden. Karolin war verschwunden.
Er hatte alle Krankenhäuser nach ihr abgefragt. An Schlimmeres wagte er gar nicht zu denken. Es hatte ja sowieso keinen Sinn mehr. Seinem kleinen Sohn hatte er gestern noch einmal versichert, dass er ihn immer liebhabe. Der Junge hatte ihn etwas verstört angeschaut. Ein Blick, der Zach innerlich vollkommen aus der Balance gebracht hatte.
Er war sich nicht mehr sicher, was er machen sollte. Aber wenn er an die Ereignisse dieser Dezembernacht zurückdachte, wurde ihm immer mehr bewusst, dass er nur eine wirkliche Lösung seines Problems noch hatte.
Jetzt lag der Kanal als trübgraues Gewässer vor ihm. Keine Wasserbewegung war festzustellen. Zach stand am Ufer. Alles in seinem Kopf begann sich zu drehen. Bilder aus seinem Leben rollten in erstaunlicher Detailtreue und Genauigkeit noch einmal vor ihm ab.
Er hatte keine Angst mehr. Alles war so gekommen, wie es kommen sollte. Noch einmal schaute er nach oben und sog tief die kalte Winterluft in sich ein. Mit einem Lächeln verabschiedete er sich von der Welt und sprang.
Die Oder
... ist ein träger Strom. Abseits des großen Verkehrs zieht sie dahin. Sie entspringt im Mährischen Hochland, windet sich quer durch die Sudeten, nimmt die Wasser vieler kleiner Gebirgsbäche auf, um sich dann mit der Warthe und der Neiße zu vereinen. Ab Ratzdorf ist die Oder die natürliche Grenze zwischen Deutschland und Polen.
Sie passiert zahlreiche Industriestädte: Forst, Guben, Eisenhüttenstadt, Frankfurt, Schwedt, und ergießt sich bei Stettin in einen großen Binnensee: das Haff. Am nördlichen Ufer hat das Haff einen Zugang zur Ostsee. Dort werden die Wassermassen der Oder ins Meer geleitet.
Steht man am Ufer dieses Flusses, dann fallen einem die vielen Untiefen und Sandbänke auf, die tückische Strudel bilden. Der an seiner Oberfläche so ruhig und schläfrig wirkende Strom verbirgt seine immense Kraft geschickt.
Erst wenn man es einmal versucht hat, in der Oder zu schwimmen, weiß man über die
Schrecken ...
Melusine war eine echte Nixe. Im Altfranzösischen wird sie als »Schlangenweib« bezeichnet. Der Sage nach soll Melusine den Herrn von Lusignan verhext haben. Die wasserlastige Dämonin, deren Reizen niemand widerstehen konnte, habe den Herrn von Lusignan, so bezirzt, dass er ihr restlos verfiel und sie heiratete. Als er sie heimlich beim Bade beobachtete, verwandelte sie sich in eine Seeschlange und verschwand im Wasser auf Nimmerwiedersehen. Der Ritter wurde darüber unglücklich, verlor sein Vermögen und starb einsam und verlassen.
Melusine
Oderufer bei Kienitz
Sonntag, 1. Januar 2006
Was da im Eis trieb war nur schwer zu erkennen. Etwas Dunkles schien es zu sein, was da ab und an zwischen den Eisschollen hervorkam. Schwer zu sagen, ob es noch brauchbares Treibgut abgeben würde.
Die Gestalt am Ufer der Oder stand etwas unschlüssig und blickte zweifelnd aufs Eis. Eisnebel ließ die andere Uferlinie nur erahnen. Unheimliche Geräusche kamen vom Fluss.
Jedes Mal, wenn die brechenden Schollen aneinander krachten, erklang ein markerschütterndes Ächzen, als ob der Fluss unter der Last des Eises stöhne. Das dunkle Etwas inmitten der Eiswelt verschwand und tauchte an einer anderen Stelle wieder auf.
Irritiert trabte der kleine Mann neben den Schollen her und versuchte dem Eisstrom zu folgen. Hier auf dem Oderdeich ließ es sich gut laufen. Die Luft war trotz der Frosttemperaturen angenehm zu atmen. Man konnte schon etwas vom Ende des Winters spüren.
Jede Zeit hatte ihren speziellen Geruch in der Luft. Das Nahen des Winters kündigte sich durch einen Hauch von Rauch im Äther an. Sein Verschwinden und der diskrete Duft vermoderter Blätter deuteten die Ankunft des Frühlings an.
Der einsame Läufer starrte auf den dunklen Fleck inmitten des Eischaos. Irgendetwas störte den Beobachter an diesem Ding. Es schien sich zu bewegen ...
Oder täuschte nur das Eisflimmern eine Bewegung vor? Endlich schien der dunkle Fleck näher zu kommen. Die Oder hatte hier bei Kienitz viele Sandbänke, die den Fluss beschleunigten. An der Strömungsseite der einen großen Sandbank, kurz vor dem alten Heizkraftwerk, türmten sich die Eisschollen zu bizarren Eisbergen auf. Eingekeilt zwischen zwei großen Bruchschollen blieb das dunkle Etwas hängen.
Der Deichläufer erklomm vorsichtig das kleine Gebirge aus Eiskanten und Schneeresten. Je näher er sich heranarbeitete, desto mulmiger wurde ihm. Der ganze Eisberg schien recht instabil zu sein. Vor ihm wuchs das Bündel an. Ein größerer Körper schien es zu sein.
Eigentlich wollte er sich schon wieder davonmachen, aber etwas ließ ihn plötzlich erstarren. Winkte da nicht ein Arm aus dem Eis?
Dieser grünlich bläuliche Stecken hatte jedenfalls verblüffende Ähnlichkeit mit einem menschlichen Arm und einer Hand, deren Finger starr in alle Richtungen abstanden. Etwas ungläubig näherte sich der Flussläufer dem Ding. Aus dem mulmigen Gefühl wurde Gewissheit - im Eis vor ihm erblickte er die grünlich grau verfärbte Leiche einer nackten Frau.
Das Eis hatte ganze Arbeit geleistet. Der Körper war stark zerschunden. Überall waren große Schnittwunden zu sehen, die, inzwischen blutleer, weit auseinanderklafften. Auch das Gesicht war stark entstellt.
Da, wo eigentlich die Augen sein sollten, waren leere Höhlen, von der Nase war nicht mehr viel zu erkennen und auch die Ohren waren nur noch als Ansätze zu erahnen. Verfilztes langes Haar bedeckte den Kopf gnädigerweise so, dass die Wunden nur beim genauen Hinsehen zu entdecken waren.
Der ganze Torso hing fast vollständig im Eiswasser zwischen den Eisschollen, die hier an der Sandbank einen kleinen schützenden Freiraum geschaffen hatten. Dem Entdecker des grausigen Fundes wurde spontan übel. Er erbrach sich direkt ins Wasser. Etwas benommen torkelte er zurück ans sichere Ufer.
Er hatte den Damm noch nicht wieder erklommen, als er etwas sah, was ihn zutiefst verstörte. Er sah einen Mann die Deichkrone herabrennen Richtung Sandbank. Auch er schien die merkwürdige Frauengestalt im Eis entdeckt zu haben. Aber nicht das irritierte den kleinen Mann. Das Gesicht des ihm entgegenkommenden Mannes war ihm merkwürdig vertraut und gleichzeitig auch vollkommen fremd.
Ein Spuk am helllichten Tage. Vielleicht hing es ja mit der Frau im Eis zusammen. Vielleicht war sie ja gar kein menschliches Wesen, sondern eine Nixe. Ihm fielen all die wunderlichen Geschichten ein, die seine Mutter abends immer vor dem Einschlafen erzählt hatte.
Später hatte sie zwar stets gesagt, dass es alles Märchen seien, aber offensichtlich schienen sie doch viel mehr Wirklichkeit zu sein, als er zu glauben wagte.
Unschlüssig darüber, was er nun machen sollte, lief er auf und ab. Sprach mit sich selbst, schlug sich mit beiden Fäusten auf die Oberschenkel, um zu spüren, dass das alles kein Traum sei.
Die Eisluft begann schon ihr helles Flirren zu verlieren. Ein Hauch Dämmerung zog heran, tauchte die Uferwelt ins matte Blau der Winternacht. In der Ferne erklang das Läuten einer Kirchenglocke. Viermal schlug es an. Nervös blickte der Uferläufer Richtung Kienitz. Zögernd lief er Richtung Dorf davon.
Eine Meldung in der Märkischen Oderzeitung vom 3. Januar 2006
Am Morgen des 2. Januar wurde in der Nähe des Ortes Kienitz eine weibliche Leiche aus der Oder geborgen. Die Örtliche Freiwillige Feuerwehr hatte bei einer Übung die Tote am Ufer der Oder inmitten von Treibeis entdeckt, wie eine Polizeisprecherin mitteilte.
Hinweise auf ein Fremdverschulden für den Tod konnten zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht bestätigt werden, da die Leiche durch das Einwirken des Treibeises stark in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Näheres über die Todesursache wird erst eine Obduktion ergeben, fuhr die Polizeisprecherin fort. Auch Angaben über Herkunft und Alter der Person sind bisher nicht möglich.
Und ein Bericht ...
Übungsausfahrt der Freiwilligen Feuerwehr Kienitz am 2.1.2006
Am Morgen des 2.1.2006 trafen sich die Mitglieder der FFW Kienitz zum traditionellen Jahresauftakt am Spritzenhaus. Pünktlich um 9.30 Uhr erfolgte die Ausfahrt mit den beiden Löschfahrzeugen Richtung Oderufer. Auf dem Übungsplan stand Bergung einer Person aus dem Eis. Hierzu waren speziell Leitern und Stangen mitgeführt worden. Beim Annähern der Fahrzeuge an die Oder konnten keinerlei Auffälligkeiten beobachtet werden. Die Übung verlief reibungslos. Beim Verstauen der Geräte wurde die Mannschaft des Kameraden Kohlgruber vom Löschfahrzeug II auf einen im Uferwasser schwimmenden Gegenstand aufmerksam. Nachdem sich Kamerad Kohlgruber vergewissert hatte, dass der Gegenstand eine Leiche weiblichen Geschlechts war, alarmierte er mich umgehend. Ich ordnete eine sofortige Absperrung des Uferabschnitts an und informierte die zuständigen Behörden der örtlichen Polizei per Telefon. Um 12.25 Uhr trafen die beiden ersten Streifenwagen aus Frankfurt/Oder am Fundort ein. Ich erstattete einen kurzen Bericht und ordnete dann den Rückzug der beiden Löschfahrzeuge ins Objekt an. Um 14.45 Uhr waren die beiden Fahrzeuge wieder im Standort. Die Übung wurde mit einem kurzen Auswertungsgespräch abgeschlossen.
Werner Cholynski
Wehrführer, FFW Kienitz
Nachtrag:
Diverse Reifenspuren sind von uns am Fundort der Leiche sichergestellt worden. Auch Fußspuren, die mindestens zu acht verschiedenen Personen gehören müssen, konnten eindeutig identifiziert werden. Ein Zusammenhang zwischen der Spurensicherung und der gefundenen Leiche kann nicht ausgeschlossen werden.
Im Dorfkrug von Kienitz
Montag, 2. Januar 2006
Am Abend ging es im Dorfkrug hoch her. Stimmengewirr, Zigarettenqualm und Bierdunst erzeugten eine eigenartig dichte Atmosphäre in dem sonst eher stillen Schankraum. Die Leute von der Freiwilligen Feuerwehr gaben den Ton an. Schon etwas benebelt vom Alkohol drängten sich die jungen Burschen nach vorne und gestikulierten wild herum.
»Ick hab ja noch jesacht, det is ne Tote da, was da im Wassa liecht, hab ick, doch ... Un plötzlich waren da alle um mich herumjestanden und hamse ooch jesehn. Janz blau war se un entstellt von dit Eis un janz nackelig lag se da so im Wassa. Muss ma ne schöne Frau jewesen sein. Noch jar nich so alt. Aba det kann man bei so ne Wassaleiche jar nich sachen.«
Ein rotblonder Hüne mit wettergegerbtem Gesicht und einer halbvollen Tulpe Bier in der Hand überschlug sich beim Erzählen im breiten Dialekt der Ostbrandenburger fast vor Eifer.
Ein solch gruseliger Fund gehörte nicht zum Alltag am Fluss. Eigentlich hatte sich hier seit dem letzten Hochwasser nichts Aufregendes mehr ereignet. Die Leute in den Orten am Oderufer führten ein zurückgezogenes, unspektakuläres Leben.
Im Sommer zog es immer mehr Städter aus dem nahen Frankfurt oder sogar aus dem fernen Berlin hierher zum Radwandern oder zum Paddeln auf dem Fluss. In der dunklen Jahreszeit verirrte sich nur selten ein Fremder ins Dorf.
Man war unter sich, genoss die intime Stimmung. Viel war sowieso nicht zu verdienen hier am äußersten Rande Deutschlands. Jobs waren rar, junge Leute zog es hinüber gen Westen.
Zurück blieben die älteren und die Hausbesitzer, die an ihrem Grund und Boden hingen und dafür einiges an Unannehmlichkeiten auf sich nahmen.
Die einzige Kneipe im Ort war der alte Dorfkrug. Ein eher nüchterner Zweckbau aus den Sechziger Jahren, ehemals als HO-Gaststätte erbaut mit Tanzsaal und Kegelbahn, inzwischen erfolgreich privatisiert. Der Inhaber, der ehemalige Leiter der HOG, hatte den Sprung in die neue Welt des Unternehmertums geschafft; er kaufte den etwas heruntergekommenen Rauputzbau für eine symbolische Summe, strich sie weiß an und brachte eine kleine Leuchtreklame über der Eingangstür an: »Zum Alten Oderschiffer« strahlte nun im neongrünen Licht in die Nacht.
Im Sommer stellte er Tische und Stühle raus, dazu ein paar Sonnenschirme mit bunter Werbung für diverse Biersorten. Dann war das Haus gut besucht. Im Winter allerdings lebte man auf bescheidenem Fuße.
Vielleicht dreißig Leute drängten sich in der Schankstube. Doch dem Stimmengewirr nach zu urteilen würde man eine ganze Hundertschaft hier vermuten.
Jeder glaubte, seine Stimme zum Thema erheben zu müssen. Rings um den Tresen ging es am hitzigsten zu. Wortführer war Kohlgruber, der Finder der Leiche.
Er genoss es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. In immer monströseren Farben schilderte er seinen Fund. Die meisten nickten eifrig und pflichteten ihm bei.
»Ja ja, sah janz schlimm aus ...«
Der Wirt schenkte eine Runde Klaren aus: »Geht aufs Haus!«
Soviel Umsatz wie an diesem Abend hatte die Kneipe sonst den ganzen Winter nicht. Zustimmendes Gegröle. Kohlgruber prostete den anderen zu.
Alle waren sichtlich damit beschäftigt, den Doppelten hinunterzustürzen.
Etwas abseits stand ein etwas kleinerer Mann, der sich aus der Zecherei heraushielt. Etwas verlegen verfolgte er die Gespräche, stierte dabei in sein Glas, welches bereits zu zwei Dritteln geleert war. Ein kollegialer Knuff ins Kreuz sollte ihn animieren, auch etwas mehr mitzutun beim Umtrunk. Unwirsch wehrte er die Einladung ab, legte einen Fünfeuroschein auf den Tresen und verschwand.
Kaum einer nahm Notiz vom Weggang des kleinen Mannes. Erst spät nach Mitternacht torkelten die letzten Besucher aus dem Dorfkrug. Die Leuchtreklame war längst schon erloschen, als ein Trupp Unverzagter noch lauthals schwadronierend durchs Dorf zog. Die Lichter in den Häusern waren aus, alles schlief bereits. Nur im Nachbarhaus, gleich neben der Kneipe, brannte ein schwaches Licht, vielleicht eine Fernsehleuchte. Aber darauf achtete niemand mehr.
Kienitz
Donnerstag, 5. Januar 2006
Zwei Tage waren vergangen. Das Dorf schien wieder zu seinem gewohnten Rhythmus zurückgekehrt zu sein. Ein dunkelgrauer Kombi mit Frankfurter Nummer parkte vor dem Gemeindehaus.
Er gehörte der Kripo aus Frankfurt. Die beiden Insassen waren bereits im Gemeindehaus verschwunden. Der Bürgermeister hatte die beiden Kripobeamten in sein Zimmer gebeten. Kaffeeduft lag im Raum. Ein paar Kekse waren auf einem Teller dekorativ aufgeschichtet. Etwas ratlos erwartete der Bürgermeister die Fragen der Beamten.
Nein, er kenne die gefundene Person nicht, auch seien bisher keinerlei Hinweise auf vermisste Personen eingegangen und im Dorf wisse auch keiner etwas über die geheimnisvolle Leiche. Er könne ausschließen, dass die Frau aus dem Ort oder aus den Nachbardörfern im Oderbruch komme.
Vielleicht sei sie ja aus dem benachbarten Polen, schließlich ist die Grenze ja direkt im Fluss. Ob die Polizei denn schon mal die Behörden im benachbarten Küstrin, das jetzt Kostrzyn hieß, befragt habe, die verständen auch ganz gut deutsch?
Die beiden Beamten machten sich missmutig ein paar Notizen. Routinearbeit, diese Befragungen, die meist nichts erbrachte, aber dennoch durchgeführt werden musste. Natürlich waren die Kripoleute schon auf die Idee gekommen, im benachbarten Polen nachzufragen, ob dort eine weibliche Person vermisst wurde.
Allerdings war bisher noch nichts Brauchbares gemeldet worden. Man tat sich schwer mit dem Amtshilfeersuchen. Es gab genügend Arbeit mit Schmuggel und Menschenhandel.
Um eine ominöse Fremde, die nirgends als vermisst gemeldet worden war, konnte man sich daher nicht auch noch kümmern. Zumal sie schon tot war und bisher nichts auf ein gewaltsames Ende hindeutete.
Die Leiche war bereits abtransportiert in die Gerichtsmedizin ins ferne Potsdam. Die Kripo aus Frankfurt verfasste einen abschließenden Bericht über die Umstände des Auffindens und den Stand der Bearbeitung bei der Klärung der Identität. Etwas dünn war der Bericht schon.
Aber mit der Leiche sollten sich die Kollegen vom LKA in Potsdam herumärgern. Die zogen solche Fälle sowieso an sich. Wozu soviel Aufwand mit einer Person, die sowieso keiner in der Gegend kannte!
Die Dienststelle in Frankfurt/Oder hatte genug mit Grenzdelikten zu tun. Für ominöse Todesfälle war da eigentlich keine Zeit, und erst recht hatte keiner der Beamten Lust auf mühselige Detektivarbeit.
Auszug aus einem Artikel in der Wochenendbeilage der »Potsdamer Neuesten Nachrichten« über die Entwicklung der Vermisstenzahlen im Lande Brandenburg: