Fjorde, Fähren, Fußballzauber - Volker Mayer - E-Book

Fjorde, Fähren, Fußballzauber E-Book

Volker Mayer

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Beschreibung

Bericht über die Nordlandtour eines Senioren mit dem Fahrrad in Tagebuchform. Ausführlich geschildert werden seine teils abenteuerlichen Erlebnisse, seine detaillierte Route und sein Kampf mit Wetter und Topografie Norwegens. Unterhaltsame und höchstinformative Lektüre als Anregung zum Nachmachen.

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Volker Mayer

Fjorde, Fähren,Fußballzauber

Tagebuch einer abenteuerlichenRadreise zum Nordkap 2010

© 2021 Volker Mayer

Umschlag, Illustration: tredition/ Volker Mayer

Fotos: Volker Mayer

Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40 – 44, 22359 Hamburg

Paperback

ISBN 978-3-347-24797-0

Hardcover

ISBN 978-3-347-24798-7

e-Book

ISBN 978-3-347-24799-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

Über den Autor:

Der Autor ist Jahrgang 1943, lebt in Landau in der Pfalz sowie in Mühlbach am Hochkönig/Österreich. Nach Ende seiner Berufstätigkeit als Experte der Abwasserwirtschaft und leitenden Tätigkeiten im Beratenden Ingenieurwesen und im Anlagenbau hat er sich vorgenommen, die Welt durch individuelle Reisen kennenzulernen und darüber zu schreiben. Dabei durchquert er im Sommer mit Touren über 3000 bis 7000 km den europäischen Kontinent mit dem Fahrrad, und im Winter besucht er die wärmeren Länder im Süden der Erde mit Flugzeug, Zug und Bus. Dazu kommen Einsätze als ehrenamtlicher Experte für den Senioren-Experten-Service (SES) in China, Honduras, Bulgarien, Mexiko und Uganda. Seine Erlebnisse möchte er gerne mit Interessierten teilen, hält sie in Tagebüchern fest und verfasst jeweils nach seiner Rückkehr Bücher, die bislang überwiegend unveröffentlicht sind. Über seine Radtour im Jahr 2010 legt er jetzt seine vierte Buchveröffentlichung vor.

Über die Tour:

Der Traum vieler Radfernreisender ist es, einmal vor dem weltberühmten Metallgitterglobus auf dem Nordkap in Nordnorwegen am gefühlten Ende der Welt zu stehen. Obwohl der Autor in den Jahren 2004 – 2009 mit viel Vergnügen große Fahrradtouren in Europa unternommen hatte, war dieser Gedanke für einen 67-Jährigen zunächst ziemlich absurd, und doch ließ er ihn nicht mehr los. Schlecht vorbereitet, miserabel ausgestattet und mit schmalem Budget machte er sich im Jahr der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika 2010 auf den Weg und erreichte tatsächlich sein Ziel. Zehn Jahre später sind seine Erinnerungen an seine Fahrt durch die norwegische Zauberlandschaft, durch unglaubliche Wetterkapriolen mit zuvor unerwarteten Strapazen unverändert stark und emotional. Zudem war Ende 2020 und Anfang 2021 das Reisen wegen der Corona-Pandemie nahezu unmöglich. Für ihn Grund und Zeit genug, diese Tour noch einmal zu durchleben und sein bereits in den Jahren 2010 und 2011 verfasstes „Tagebuch einer abenteuerlichen Radreise zum Nordkap 2010“ zu überarbeiten und zu veröffentlichen.

Inhaltsverzeichnis

I. Vorbetrachtungen

II. Kalter Sommer in Deutschland und Dänemark:Von Landau nach Frederikshavn

III. Erste Strapazen in Südnorwegen:Von Oslo nach Trondheim

IV. Traumlandschaften und Wetterkapriolen in Nordnorwegen:Von Trondheim zum Nordkap

V. Flucht aus schlechtem Wetter durch Finnland:Vom Nordkap nach Turku

VI. Schwierige Fahrt durch Schweden:Von Stockholm nach Landau

VII. Nachbetrachtungen

Tourübersicht

I. Vorbetrachtungen

Die Schwelle in das Neue Jahr 2010 war gleichzeitig der Eintritt in das zweite Jahrzehnt eines noch jungen Jahrtausends. Ich hatte das erste Jahrzehnt mit aufregenden Reisen ausgefüllt und nach meiner festen Überzeugung hervorragend genutzt. Am ersten Tag dieses Neuen Jahres erfüllte ich mir einen weiteren Lebenstraum. Nachdem der Pulverdampf der nächtlichen Silvesterfeuerwerke in der kambodschanischen Stadt Siem Reap verzogen war, besichtigte ich die Tempelanlagen von Angkor Wat. Ich wähnte mich auf den Fersen der schönen Angelina Jolie alias Lara Croft, als ich über unendliche Trümmerfelder mit den noch erhaltenen Tempelstrukturen stieg, ausdrucksvollen, überdimensionalen Steinreliefs ins Gesicht schaute und vor allem die Bäume des Dschungels bewunderte, wie sie sich verlorenes Terrain zurückerobert hatten. Als ich Mitte Februar von meiner ausgedehnten Indochinareise zurückkehrte, war der härteste Teil des Winters in Deutschland bereits vorüber, und ich blickte auf ein tolles Abenteuer zurück, das meinen früheren Reisen durch Mexiko, Indien, Marokko und Brasilien an neuen, sensationellen Eindrücken in nichts nachstand. Ihre literarische Aufarbeitung wurde von mir sofort angegangen, allerdings ohne Aussicht auf schnelle Vollendung, da das Frühjahr 2010 weiterhin mit Reisen und Erlebnissen ausgefüllt sein würde.

Da ich dringend Unterlagen aus den Akten in meiner Ferienwohnung besorgen musste, konnte ich damit einen knapp zweiwöchigen Aufenthalt zum Ski laufen in Mühlbach verknüpfen. Ich hatte bei meiner Alleinfahrt durch Frankreich im letzten Jahr 11 kg abgenommen und mein „Traumgewicht“ durch Strandläufe und ausgewogene, asiatische Ernährung während meiner Winterreise noch weiter gesenkt. So erlebte ich einige Tage auf den vertrauten Hängen auf Skiern, die mir bei wesentlich verbesserter Kondition großes Vergnügen bereiteten. Es war einfach herrlich.

Ein sehr kurzfristig anberaumter Einsatz als Senior-Experte in Bulgarien sollte mein Jahr 2010 noch weiter bereichern. Als es Mitte April losgehen sollte, hatte die Aschewolke eines isländischen Vulkans den Flugverkehr über Europa lahmgelegt. Drei Tage saß ich auf gepackten Koffern, bis ich nach Südbulgarien ins Land der Wölfe und Bären reisen konnte. Ein toller Gastgeber, dessen zupackende Unternehmungslust, Tatkraft und Entschlossenheit, ein gemeinnütziges Projekt umzusetzen, mich beeindruckte, ließ meinen Aufenthalt dort zu Lehrstunden über den Aufbruch in einem ehemals kommunistischen Land und über die Improvisationskunst mit bescheidenen Mitteln werden. Mitten in den Bergen der Rhodopen möchte er ein heruntergekommenes, ehemaliges Pionierlager in ein Freizeit- und Ausbildungszentrum für Umweltschutz und erneuerbare Energien für Jugendliche ausbauen. Selten hielt ich meine ehrenamtliche Arbeit für sinnvoller als bei diesem engagierten Projekt.

Aber auch danach konnte ich mich nicht voll auf meine literarische Arbeit konzentrieren, da der unvermeidliche Pauschalurlaub mit meiner Lebensgefährtin anstand. Angesichts meiner abenteuerlichen Individualreisen auf alle Kontinente dieser Erde, hatte ich diese Urlaube seit langem für verzichtbar gehalten. Wenn schon, wollten wir die romantische Zweisamkeit in einer auch für mich unbekannten, möglichst spektakulären Umgebung verbringen. Als wir uns in diesem Frühjahr für die Kapverdeninsel Sal entschieden, war unsere Übereinstimmung so groß wie selten. In der Tat konnte man auf der touristisch schon sehr gut erschlossenen Insel nicht viel mehr tun, als sich zu entspannen, zu lesen und im „All Inclusive“-Programm zu viel zu essen. An den blendend weißen Stränden, beim authentischen Treiben der einheimischen Fischer und bei Streifzügen über die vulkanischen Gesteinslandschaften, bei herrlichem Wetter und stets erfrischendem, kräftigen Wind wurde es ein Wohlfühlurlaub in großer Harmonie wie selten zuvor.

Nachdem ich bereits im April von einer bulgarischen Superhausfrau köstlich bekocht worden war, führte auch der Urlaub auf Sal trotz regelmäßiger Strandläufe zur weiteren, unvermeidlichen Gewichtszunahme. Um 5 kg auf 87 kg hatte sich mein Körpergewicht wieder erhöht, was aber immer noch 9 kg weniger war als zur gleichen Zeit im letzten Jahr, mithin ein Gewicht, wie ich es bislang noch nie zu Beginn der großen Sommerradtour hatte, was mir bei der Findung des diesjährigen Tourziels sehr half.

Seit 2003 war die große Sommerradtour fester Bestandteil eines jeden Kalenderjahres geworden. Nach den bescheidenen Touren zum Bodensee, nach Köln 2003 und auf die Insel Rügen 2004 hatte ich mit meinem Teampartner Carlos in den Jahren 2005 und 2006 unglaublich anmutende Ziele erreicht. Mit den Fahrrädern waren wir in Budapest, Dresden und Köln, in Brügge, Ribe/Dänemark und Stettin, und wir hatten 2007 und 2008 die längsten Touren, meines Lebens nach Istanbul und nach Estland absolviert. Im Jahr 2009 hatte ich mich zur Alleinfahrt entschieden und umrundete in einer persönlichen „Tour de France“ unser Nachbarland Frankreich. Ich hatte also in den letzten Jahren den Südosten und den Nordosten Europas auf zwei Rädern ausgelotet. Meine vergleichsweise gute Form und mein niedriges Kampfgewicht ließen mich im Jahre 2010 von unglaublichen Zielen träumen. In meinem ganzen Leben war ich nur einmal sehr flüchtig in Dänemark und ein einziges Mal geschäftlich in Schweden. Sonst hatte ich von Skandinavien bisher noch nichts gesehen. Stets hatten mich die unvermeidlichen Berge dort, das wechselhafte Wetter und die hohen Lebenshaltungskosten davon abgehalten, diese Länder zu beradeln. Dabei war ich doch schon immer davon überzeugt, dass vor allem Norwegen landschaftlich eines der schönsten Länder der Welt ist.

Auch die bislang selbst auferlegte Beschränkung der Touren auf Flusstäler brachte eine Einengung der Ziele mit sich, die sich inzwischen längst überholt hatte, nachdem wir vor allem auf dem Weg in die Türkei mächtige Berge überquert hatten. Mit all diesen Überlegungen und Erfahrungen hatte sich Skandinavien als Tourziel für 2010 in meinem Kopf festgesetzt, und ich dachte, dass man es bei bescheidener Lebensführung auch finanziell akzeptabel gestalten könnte. Wenn schon, wollte ich alle skandinavischen Länder durchstreifen, und mir einen weiteren Lebenstraum erfüllen. Einmal im Leben wollte ich unbedingt auf dem Nordkap stehen. Aber ich als Senior und mit dem Fahrrad? Ich traute mir das eigentlich nicht zu, wollte einfach mal losfahren und sehen, wie es mir in Skandinavien und insbesondere in Norwegen ergehen würde. Klar war für mich indessen, dass ich von zu Hause mit dem Fahrrad starten würde, um bei der Fahrt durch Deutschland und Dänemark eine für die Berge in Norwegen hinreichende Form aufzubauen.

Wie immer hatte ich keine Geduld, die Tour in allen Einzelheiten vorzubereiten. Im Internet konnte ich zahlreiche Reiseberichte zum Nordkap nachlesen, aber kaum einer beschrieb die Route, die ich mir vorstellte. Zudem drohte ich die Lust zu verlieren, je mehr ich darüber las. Das Streckenprofil würde äußerst schwierig werden, und das Wetter ist in Norwegen ohnehin unkalkulierbar. Es kann schön sein im Sommer, aber jederzeit sehr schnell wechseln und unangenehm kalt werden. Ich suchte mir die Eurovelorouten für Skandinavien heraus und versuchte, sie in Google-Earth nachzuvollziehen. Ein aussichtsloses Unterfangen. Schließlich brach ich alle Recherchen ab, um mich nicht weiter zu verwirren. Fest stand, dass ich nach besten Kräften versuchen würde, das Nordkap zu erreichen. Dann aber musste ich eine einigermaßen schonende Route wählen, um meine Kräfte nicht vorschnell zu vergeuden.

Aus dem Internet kopierte ich einige Reiseberichte, was sich allerdings nicht bewährte, da ich unterwegs keine Geduld hatte, sie jeweils im Voraus nachzulesen. Schließlich kaufte ich einen Straßenatlas von Skandinavien im Maßstab 1: 250.000 und 1: 400.000 suchte die Blätter aus, die ich unterwegs brauchen würde, und legte mich vorläufig darauf fest, die berühmten und tiefen Fjorde in Südwestnorwegen zu umfahren, da sie mir mutmaßlich viel zu anstrengend wären. Vielmehr wollte ich auf dem schnellsten Weg nach Trondheim vorstoßen und von dort weiter auf dem Eurovelo 1 an der Westküste entlang möglichst weit nach Norden vordringen. Auf der Rückfahrt wollte ich sodann in jedem Fall durch Finnland fahren, wo ich bislang noch nie war, und weiter von Stockholm nach Südschweden radeln. Aber genau wollte ich mich auf keinen Fall festlegen sondern abwarten, wie sich das Wetter entwickeln, und wie ich mich in den Bergen von Norwegen fühlen würde.

Auf wetter.com studierte ich die Wetterprognosen für die fragliche Zeit und fand durchaus akzeptable Wetterlagen am Nordkap, die mich ermutigten, diese Tour anzugehen. Bald habe ich es jedoch aufgegeben, da das Wettergeschehen in Nordeuropa so turbulent ist, dass es unmöglich hinreichend genau vorherzusagen ist. Als ich startete, war mir dies gleichwohl nicht klar, und das Wetter wurde auf meiner Tour die mit Abstand abenteuerlichste Komponente. Mein verbohrter Optimismus verleitete mich überdies dazu, mich auf meine vorhandene, dürftige Regenausrüstung zu verlassen. So schlimm wird es schon nicht werden, dachte ich vor meiner Abfahrt, und verzichtete auf wasserdichte Handschuhe und Schuhe sowie auf professionelle Regenkleidung. Auch meine Regenhose ließ ich zu Hause, da ich in einem Bericht gelesen hatte, dass auch diese nichts nützt, wenn es erst einmal richtig dick kommt.

Mein Fahrrad war nach der Rückkehr aus Frankreich im letzten Jahr in der Werkstatt. Alle Verschleißteile waren im Wesentlichen erneuert, sodass ich auf weitere Inspektionen verzichtete. Auch mein Reparaturset hatte bislang meinen Ansprüchen genügt, sodass ich es nicht einmal durchsah. In Frankreich waren die Zeltstangen an ihren Muffen zerbrochen, und mein Transistorradio hatte seinen Geist aufgegeben. Also ließ ich mir zum Geburtstag ein McKinley-Rapido 2 schenken, das den Vorteil aufweist, Schlafzelt und Regendach in einem Arbeitsgang montieren zu können, und besorgte mir ein Grundig-Kofferradio. Ansonsten baute ich auf meine alten Packtaschen und auf meinen Plastikstopfsack, in dem ich neben Schlafsack und Zelt meine Pullis unterbrachte. Ich vertraute noch einmal auf meine selbstaufblasbare Luftmatratze, obwohl sie schon lange nicht mehr ganz dicht war. Da ich warme Sachen mitnehmen musste, war mein Gepäck schwerer als in den letzten Jahren. Mit Lenkertasche, Fotoausrüstung, zwei Werkzeugtäschchen, zwei Satteltaschen, Stopfsack mit Zelt und Schlafsack sowie der Luftmatratze hatte mein Gepäck ein Gewicht von rund 30 kg. Ich hatte inzwischen zwei Köcher für 1,5-l-Flaschen, sodass mit Getränken und Verpflegung, die ich in einer ans Lenkrad gehängten Tasche transportierte, insgesamt bis zu 35 kg zusammenkamen. Wie ich damit über die Berge in Norwegen kommen sollte, war mir vor meiner Abreise nicht klar.

Herausragendes Sportereignis im Sommer 2010 war das Endturnier der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Als unverbesserlicher Fußballfan wollte ich selbstverständlich alle Spiele der deutschen Nationalmannschaft im Fernsehen sehen. Ich erinnerte mich an das Jahr 2006, als ich zusammen mit Carlos durch Holland, Norddeutschland und Dänemark tourte. Wir konnten alle Spiele sehen und später jedes einzelne mit unserem jeweiligen Aufenthaltsort verbinden. Die schmerzliche Niederlage im Halbfinale gegen Italien beispielsweise erlebten wir auf der holländischen Insel Zeeland. Auch in diesem Jahr war ich mir sicher, alle Spiele unterwegs sehen zu können. Der Gedanke, mich von Spiel zu Spiel immer weiter nach Norden vorankämpfen und am Tag des Endspiels feststellen zu können, wie weit ich es in den etwa vier Wochen geschafft hatte, während andere vor dem Fernsehgerät ihre Bierchen schlürften und dabei Bauchspeck ansetzten, faszinierte mich. Aus dem Internet druckte ich einen Spielplan aus und klebte ihn in mein Tagebuch. Das erste Spiel fand am 11. 06., das Endspiel am 11. 07. statt. Würde meine Tour normal verlaufen, würde ich in dieser Zeit etwa 3.000 km zurücklegen. Ich traute mich noch nicht, mir auszumalen, wo ich das Endspiel sehen würde.

Die bundesdeutsche Tagespolitik war in diesen Tagen zum Haare raufen. Selten in meiner Lebenszeit hatte man sich so schlecht regiert gefühlt wie von der christlich-liberalen Koalition Merkel und Westerwelle im Frühjahr 2010. Sie war nicht in der Lage, auch nur die einfachsten Fragen zu entscheiden und verzettelte sich in einem unendlichen Streit um ideologischen Positionen, und der FDP von Westerwelle wird von nun an der Makel der Klientelpolitik anhängen. Starr verharrte sie der Landtagswahlergebnisse in Nordrhein-Westfalen, die im Mai das befürchtete Ergebnis – ein Patt zwischen SPD und CDU und später eine rot-grüne Minderheitsregierung unter der zupackenden Hannelore Kraft – zu Tage förderte. Damit war auch die Mehrheit im Bundesrat verloren, was das Regieren zusätzlich erschwerte. In wenigen Monaten hatte die Bundesregierung laut Umfrageergebnisse ihre Mehrheit verloren. Die stolzen und historischen15 % der Liberalen des letzten Herbstes waren auf etwa 5 % zusammengeschrumpft.

Der Finanzkrise folgte die Eurokrise. Mehreren Eurostaaten, zuallererst Griechenland, drohte der Staatsbankrott mit der Gefahr, den Euro in die Tiefe zu reißen. Um dies zu verhindern, wurde ein milliardenschweres Stützungspaket für Griechenland auf die Beine gestellt. Ungläubig starrte der Bürger auf die Milliardensummen und konnte sich nicht dagegen wehren, für die verschwenderische Haushaltspolitik und Betrügereien der Griechen haften zu müssen, nachdem bereits mehrere Banken mit Steuergeldern gerettet werden mussten. EU-Kommission und IWF auferlegten der griechischen Regierung einen harten Sparkurs, der chaotische Protestaktionen und Demonstrationen der griechischen Bevölkerung nach sich zog. Die griechische Haushaltspolitik wurde von nun an sorgfältig überwacht. Klar, wenn man schon für die Schulden der Griechen garantieren musste, wollte man sicher sein, dass die zugesagten Reformen auch tatsächlich erfolgten.

Das Frühjahr brachte weitere Schlagzeilen hervor. Die Ratspräsidentin der Evangelischen Kirche Deutschlands, Margot Käßmann wurde mit Alkohol am Steuer erwischt, was sie zum Rücktritt veranlasste, und ihr Buch „In der Mitte des Lebens“ noch einmal in die Bestsellerlisten katapultierte. Schwere Erdbeben vernichteten zunächst ganze Landstriche in Chile und später in China. In der fortschreitenden Enthüllung von meist lange zurückliegenden Kindesmissbräuchen an überwiegend katholischen Bildungsstätten taten sich ungeahnte Abgründe auf. Der beliebte Wettermoderator Jörg Kachelmann wurde wegen des Vorwurfs einer brutalen Vergewaltigung verhaftet. Wolfgang Wagner starb im Alter von 90 Jahren in Bayreuth, Elisabeth Noelle-Neumann mit 93 in Allensbach. Helmut Kohl und Martin Walser wurden 80, Richard von Weizsäcker und Marcel Reich-Ranicki 90. Ein Umsturz in Kirgisien erschütterte Zentralasien. Bei der Anreise zu Gedenkfeierlichkeiten in Katyn stürzte bei Smolensk eine polnische Regierungsmaschine mit dem Präsidenten Lech Kaczynski, dessen Ehefrau und weiteren polnischen Eliten ab. Unser grundsätzlich sehr beliebter aber manchmal etwas ungelenk auftretender Bundespräsident Horst Köhler schockierte mit seinem plötzlichen Rücktritt die Nation.

Der VfB Stuttgart avancierte nach dem Trainerwechsel im Dezember zur besten Mannschaft der Rückrunde und schaffte mit Platz 6 die Qualifikation für die Europaleague. Bayern München wurde souverän Deutscher Fußballmeister, und bei den Olympischen Winterspielen in Vancouver lieferten deutsche Athleten großartige Wettkämpfe und feierten schöne Erfolge.

Meinen 67. Geburtstag feierte ich in aller Stille mit einem vorzüglichen Essen bei Beat Lutz in Godramstein. Danach gönnte ich mir einen Tag für weitere Vorbereitungen und zum Packen und legte meine Abfahrt auf den 10. Juni. In der Nacht davor tobten brutale Gewitter über Deutschland, namentlich über der Pfalz. Aufgeschreckt blickten wir durch das Wohnzimmerfenster und beobachteten, wie taubeneigroße Hagelkörner auf den Asphalt purzelten. Das anhaltend schlechte Wetter löste bei uns kontroverse Diskussionen darüber aus, ob es nicht viel zu riskant wäre, bei diesem Scheißwetter zu starten. Ich ließ mich indes nicht beirren, analysierte sorgfältig die Wetterprognosen und kam zum Schluss, dass ich auf meiner Strecke am 10. 06. höchstwahrscheinlich trocken bleiben würde, und dachte, dass ich die in der folgenden Nacht drohenden Gewitter schon irgendwie überstehen würde.

Für mich stand klipp und klar fest, wollte ich ernsthaft das Nordkap erreichen, durfte ich auch nicht einen einzigen Tag verlieren. In meiner „Kultivierung des Unnützen“ war unverzüglich ein neues Kapitel aufzuschlagen, ein Kapital voller Abenteuer, Bedrohungen, Erfolgserlebnissen, Begegnungen und mitreißenden Spielen der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika.

****

II. Kalter Sommer in Deutschland und Dänemark: Von Landau nach Frederikshavn

1. Donnerstag, 10. 06. 2010:Von Landau in der Pfalz über Speyer, Ludwigshafen und Worms nach Oppenheim – Durch ein von Unwettern zerzaustes Land - 123,7 km

Der Tag meiner Abfahrt bricht an. Die Radionachrichten vermelden schlimme Unwetterschäden in der Pfalz und Rheinhessen. Namentlich in Guntersblum soll es besonders gewütet und schwere Zerstörungen angerichtet haben. Guntersblum? Das liegt doch genau auf meiner heutigen Route. Unbestechlich halte ich an meinen Plänen fest. Wer zum Nordkap will, darf sich nicht beirren lassen, zumal ich die Wetterprognosen für den heutigen Tag genau analysiert und festgestellt habe, dass es während des Tages auf meiner Strecke wahrscheinlich nicht regnen wird. Erst für die Nacht waren wieder Gewitter vorhergesagt. Außerdem kann man ja auch eine Pause einlegen und sich eine Weile unterstellen, bevor man richtig nass wird. Zum letzten Mal prüfe ich mein Kampfgewicht, 87 kg, noch immer zu viel, wenngleich so niedrig wie lange nicht mehr. Äußerst liebenswürdig verabschiedet mich meine Lebenspartnerin in eine abenteuerliche Zukunft, nachdem sie ihren Widerstand gegen meine Abfahrt wegen des Wetters aufgegeben hat.

Indes muss ich noch mein Routineprogramm abarbeiten, ein Frühstück mit einem feinen Erdbeermüsli und zwei Spiegeleiern, das Gepäck aus dem Keller heraufschleppen und aufladen, meinen Packplan durchsehen, mit dem ich mir merken will, wo ich was finde. Endlich bin ich startbereit und ziehe etwas unsicher die Wohnungstüre hinter mir zu, da ich den Schlüssel zurückgelassen habe. Wackelig, schwabbelig und schwer fühlt sich mein beladenes Fahrrad unter meinem Körper an, als ich vorsichtig die Lazarettstraße hinunterfahre und vorsichtig durch die engen Windungen im Goethepark manövriere. An der Tankstelle muss ich noch Bargeld abheben, dann rolle ich hinaus nach Landau-Nordost und unterquere Bahnlinie und Autobahn. Meine Routinestrecke hinüber zu den Rheinauen führt durch ein ausgedehntes Waldgebiet am Golfplatz vorbei nach Zeiskam. Hoffentlich werden mich auf meinem Drang nach Norden nicht umgestürzte Bäume aufhalten. Das wäre ja furchtbar. Es geht alles gut. Die Waldwege sind mit einem weichen, glitschigen Teppich abgeschlagenen Blattwerks bedeckt. Ohne Probleme erreiche ich Zeiskam und über das freie Feld an einer still gelegten Bahnlinie entlang Westheim und Lingenfeld. Sie ist vor wenigen Jahren zu neuem Leben erweckt worden, da man sie neuerdings mit Draisinen und Muskelkraft befahren kann. Ich wähle die guten Radwege entlang der Straße durch die Teilorte von Römerberg, Mechtersheim, Heiligenstein und Berghausen, um zügig nach Speyer hinüber zu kommen. In der Tat bleibt das Wetter trocken. Schwüle Luft steht schwer über dem Land. In der Pfalz ist es die Zeit der Spargelstecher. Obwohl ich mich im sehr vertrauten Terrain bewege, verwirren mich mehrere Baustellen und bremsen meinen Vorwärtsdrang. In Speyer fällt ein freundliches Sonnenlicht auf die berühmten Bauten an der Maximilianstraße.

Ich folge Radweghinweisen, lande ungewollt an den Rheinauen und nehme murrend den großen Umweg über Altrip in Kauf, wo ich einen schönen Platz im Grünen für die Mittagspause finde. Weiter radle ich über die Bodenteppiche der nächtlichen Verwüstungen und nähere mich der ungeliebten Durchfahrt der Industriestadt Ludwigshafen. Kommt man von den Rheinauen, ist sie immerhin gut ausgeschildert, aber jedes Mal komme ich mir aufs Neue verloren in ihr vor. Die Fahrt an der Konrad-Adenauer-Brücke nach Mannheim vorbei ist mir wieder vertraut. Zum ersten Mal springt mir das neue Einkaufszentrum „Rheingalerie“ wegen seiner modernistischen Segeldächer ins Auge. Ich brauche viel Geduld für die Strecke um die BASF, dem größten Chemiekonzern der Welt, herum, vorbei an den vielen Toren und hinaus nach Oppau und am Klärwerk vorbei zum Rheinufer. Endlich bin ich wieder auf freiem Feld und die Schilder führen mich zuverlässig. Schön das Hofgut Petersau mit seinen Pferden, bald werde ich in Worms sein. Dann sind die ersten 90 km geschafft, und in Worms fühle ich eine Erschöpfung, die mich etwas überrascht, bin ich doch mit 9 kg weniger Körpergewicht unterwegs als im letzten Jahr, was sich in meiner Wahrnehmung kaum auswirkt. Immerhin ein guter Grund für eine Pause und um den Kaiserdom, der unmittelbar an der Radroute liegt, wieder einmal in Augenschein zu nehmen.

Von 1130 bis 1182 wurde er erbaut. Von den drei Kaiserdomen gefällt er mir wegen seiner runden, auf mich sehr profan wirkenden Türme am wenigsten. Die hoch aufragenden Gewölbe im Inneren begeistern mich allerdings aufs Neue, und ich nehme zum ersten Mal den schmucken Hochaltar Balthasar Neumanns wahr. Historische Ereignisse wie die Papstwahl 1048, das Wormser Konkordat 1122 und der Wormser Reichstag 1421, auf dem sich Martin Luther vor Kaiser Karl V. zu verantworten hatte, stehen mit dem monumentalen Bauwerk in Verbindung. Oft schon bin ich hier vorbeigefahren. Heute spüre ich wieder einmal den Hauch der Geschichte, und auf dem Vorplatz erhebt der legendäre, für den Neubau stehende Bischof Burchard beschwörend seinen Bronzearm über mich, als ob er mich am Beginn meiner geplanten Extremtour durch halb Europa ein letztes Mal segnen wollte. Oft schon war Worms Ziel meiner ersten Tagesetappe, wenn ich nach Norden fuhr. Heute fühle ich mich in so guter Form, dass ich auf jeden Fall weiterfahren werde. Den nächsten halboffiziellen Zeltplatz werde ich in Oppenheim erreichen. Die gut 30 km werde ich trotz meiner Anfangsmüdigkeit schaffen, zumal sich das Wetter am Nachmittag sehr vorteilhaft entwickelt hat. Die Pause hat mir gut getan, und ich radle guten Mutes weiter nach Nordwesten aus der Stadt hinaus.

Die Route ist ordentlich ausgeschildert, und ich passiere Neuhausen und Herrnsheim. An der Kreisstraße am Fuß der Weinberge entlang weiter nach Osthofen. Ich wundere mich sehr, dass ich schon wieder einen Bärenhunger habe. Auf einer Parkbank lege ich deshalb eine neuerlich wohltuende Vesperpause ein und trinke das köstliche Bier dazu erst, als ich vor dem einladenden Biergarten des Gasthauses „Stadt Columbus“ in Mettenheim lande. Ein wenig staune ich über die Geschichte des Hauses, dessen Namen der Gründer bereits 1896 nach einem Besuch in Amerika festgelegt hat. Mit seinen hübschen Dörfern kommt mir die rheinhessische Weinstraße sehr vertraut vor. Über fruchtbares Ackerland komme ich nach Alsheim und Guntersblum. Über die intensiv kultivierten Felder der Rheinebene nähere ich mich immer weiter meinem Tagesziel und sehe bald, nachdem ich Ludwigshöhe und Dienheim passiert habe, die Türme der Basilika von Oppenheim drüben am Hang herausragen. Schon zwei Mal habe ich auf dem Zeltplatz in Oppenheim übernachtet und habe doch immer noch Schwierigkeiten, ihn zu finden. Ich unterquere die Bahnlinie und die B 9, komme zum Stadtbad und zur Kläranlage und kann mich endlich mit Hilfe eines Hinweisschildes auf das Rheinuferrestaurant orientieren.

Ein freundlicher junger Mann begrüßt mich. Die Übernachtung sei kostenlos, aber eine Spende für das integrierte Restaurant, in dem Behinderte beschäftigt werden, willkommen. In meiner Hartnäckigkeit fühle ich mich bestätigt, da das Wetter trocken geblieben ist, und ich meinem Ziel nähergekommen bin. Der Platz am Ufer gefällt mir. Wohlwollend schaue ich auf den träge fließenden Fluss und hinüber nach Hessen, wo sich bereits eine tiefhängende, schwarze Wolkenfront gebildet hat. Bald ziehe ich mich zum Abendessen ins Zelt zurück, höre Radio und muss mich dringend von der ersten Etappe erholen. Als ich das Donnergrollen der Gewitter in der Ferne vernehme, wirkt das zunächst noch recht friedlich auf mich. Bald werden mir jedoch Blitz und Donner gehörig Respekt einflößen.

Mitten in der Nacht kann ich nicht mehr ruhig liegen. Aufrecht sitze ich ängstlich in meinem Zelt. Draußen zucken Blitze, die es taghell erleuchten. Wolkenbruchartiger Regen prasselt heftig auf mein Regendach. Infernalisches Donnergrollen rollt durch das Rheintal. Argwöhnisch schätze ich die Zeit zwischen Blitz und Donner. Immer näher kommt das Donnerwetter und würde bald über dem Zeltplatz am Ufer des Rheins ankommen. Besorgt male ich mir aus, was bei einem Blitzeinschlag passieren würde. Vermutlich würde es in einem Feuerball in Kohlendioxid übergehen und seinen Insassen mitverbrennen.

Hätte ich doch auf meine Lebenspartnerin hören sollen, die fast wütend meinen Starrsinn geißelte, der mich am festgelegten Abfahrtsdatum festhalten ließ, obwohl die Gewitter vorhergesagt waren? Eine ganze Weile scheint sich das dramatische Wettergeschehen weiter zu verschärfen, bis sich bei mir endlich der Eindruck festigt, dass das Gewitter jetzt nicht mehr näherkommt. Ich entspanne mich, lege mich zurück auf meine selbstaufblasbare Luftmatratze, die nach mehreren Jahren des Gebrauchs schon ein wenig undicht geworden ist.

Das sich so fürchterlich anfühlende Unwetter verzieht sich in der Ferne. Fast gutmütig rollen die Donner über die Weinlandschaft der nördlichen, rheinhessischen Weinstraße und hallen von den gotischen Wänden der imposanten Basilika von Oppenheim wider. Ich beruhige mich und finde endlich ein wenig Schlaf in dieser ersten Nacht meiner großen Sommerradtour in meinem neuen Zelt, an das ich mich auch erst gewöhnen muss.

2. Freitag, 11. 06. 2010:Von Oppenheim über Mainz, Bingen und Boppard nach Spay – Ein wunderschöner Tag im Weltkulturerbe - 111,8 km

Viel unfreundlicher als er endet, beginnt dieser zweite Tag auf meiner großen Tour im rheinhessischen Oppenheim. Als ich starten will, prasselt unablässig Regen auf mein Zelt. In der Ferne grollen noch immer Donner übers Land. So nass will ich mein mobiles Haus auf keinen Fall einpacken. Also lasse ich mir Zeit, nehme ein erstes Frühstück, schreibe mein Tagebuch fort und höre Radio. Wieder werden schwere Unwetterschäden in der Nacht in der Region gemeldet. Der Wetterbericht ist nicht ermutigend. Auf meiner Strecke ist auch heute mit Regen zu rechnen. So entspannt bin ich, dass ich nicht sofort bemerke, als es aufhört zu regnen. In der Tat stammt der Tropfenschlag auf dem Zeltdach von der Baumkrone über mir. Ich schaue hinaus. Kann das sein? Mein Zeltnachbar ist weg. Notdürftig trockne ich die Zelthaut mit einem Schwamm ein wenig ab. Viel zu viel Wasser muss ich nun mitschleppen. Schnell ist gepackt. Jeder Kilometer, den ich schaffe, bevor es wieder regnet, ist kostbar. Weiter geht es aus den Rheinauen hinaus zurück ins Zentrum von Oppenheim. Heute kann ich die Ausschilderung leicht wieder aufnehmen, also weiter nach Norden. Meine Fahrt gewinnt an Dynamik. Für die schöne Altstadt und die bedeutendste gotische Kirche zwischen Straßburg und Köln, der Katharinenkirche, habe ich einmal mehr keine Geduld. Zudem fürchte ich, dass mich die Fahrt den Hang hinauf zu viel Kraft kosten würde. Kurz bevor man die Bahnlinie erreicht, muss man rechts auf den Radweg abbiegen und fährt am Sporthafen entlang zunächst durch das Gelände einer Maschinenbaufirma. Kaum habe ich den Sporthafen hinter mir gelassen, blitzt schon das Weiß der Autofähre auf dem Blau des Stromes vor mir auf. Schon nach 3 km bin ich im benachbarten Nierstein, wo die B 9 zu überqueren ist und der Radweg in das malerische und mit Hinweisen auf Fußballübertragungen drapierte Zentrum des Städtchens führt. Heute Nachmittag wird in Südafrika die Fußballweltmeisterschaft eröffnet.

Ein Sonderangebot der Bäckerei Reuther am Marktplatz kommt mir gerade recht. Hier nehme ich meinen Kaffee und das unvermeidliche Süße Stück am Morgen und kann mich zudem mit Brot für den Rest des Tages eindecken. Der Weg führt hinauf in die Weinberge. Ein Mülllaster blockiert meinen Weg, hier muss gewartet werden. Auf halber Höhe geht es durch die Weinberge auf und ab. Die Unwetterschäden machen mir zu schaffen. Ich fahre durch tiefe Schlammmulden. Dabei ist der Blick auf den Strom von hier oben einfach wunderschön. Auch die Brückenunterführungen sind voller Schlamm. Das ist nicht ungefährlich. Aber was ist das schon, wenn man zum Nordkap will. Eine Umleitung lenkt mich auf einer Autostraße leicht aufwärts weg vom Strom zunächst nach Nackenheim und dann nach Bodenheim. Ich bin etwas verwirrt und bin in Laubenheim zurück auf dem vertrauten Radweg. In engen Kurven führt er sodann durch Gartenanlagen, und als ich das Gelände der Heidelberg-Zement in Weisenau erreiche, weiß ich, dass ich bald in Mainz bin. Ans Ufer zurückgekehrt breitet sich das mir sehr vertraute städtische Flusspanorama mit den großen Hotels, der Rheingoldhalle und der Theodor-Heuss-Brücke vor mir aus. Heute werde ich einen Abstecher zum dritten Kaiserdom machen und ihn zumindest kurz besuchen. Er ist wunderbar renoviert und begleitet seit über 1.000 Jahren die Geschichte der Stadt Mainz. Sein Sandstein sieht aus wie neu und strahlt in der Sonne in einem attraktiven Rosa, als ich mich ihm auf dem Domplatz nähere, auf dem ein satter Wochenmarkt stattfindet und der vor Menschen überläuft. Die Straßencafés sind gut gefüllt. Vor mir breitet sich pralles, städtisches Leben aus. Mein Fahrrad lehnt am altehrwürdigen Gemäuer, als ich das Innere des Gotteshauses anschaue. Viele deutsche Kaiser haben den Bau gefördert. Heute erscheint er mit seinen beiden Vierungs- und seinen vier Treppentürmen wie ein kunstvoll errichtetes Steingebirge mit romanischen, gotischen und barocken Gestaltungselementen. Unter dem Patronat des Heiligen St. Martin aus Tour entwickelte er sich zu einem bedeutenden kirchlichen Zentrum nördlich der Alpen.

Eine ganze Weile lasse ich die Atmosphäre der historischen Mauern der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt auf mich wirken und vertilge ein ganzes Pfund Erdbeeren. Nicht nur der Dom beeindruckt mich, sondern das gesamte Gebäudeensemble, das um den Platz versammelt ist. Als ich am Gutenberg-Museum vorbeikomme, würdige ich still die Bedeutung des großen Mainzers. Wie kaum ein anderer Deutscher hat er mit seiner Erfindung die Welt verändert. Ich kehre zum Rhein zurück und passiere die Uferanlagen, lasse das Kurfürstliche Schloss links liegen und staune über den Brunnen mit der Frauenlobbarke, einem Denkmal für den im Mainzer Dom bestatteten Dichter der volksdeutschen Sprache, Frauenlob, aus dem 13. Jahrhundert.

Es ist schön am Ufer des Rheins, aber ich muss weiter. Ich weiß, dass der Radweg wegen der Hafenanlagen vom Ufer wegführt, und dass ich an einer breiten Ausfallstraße entlang nach Nordwesten hinaus aus der Stadt fahren muss. Ziemlich unbequem ist hier die Trasse, da man über viele Kreuzungen mit Bordsteinkanten und immer wieder über Straßenbahngleise radeln muss. Als die riesigen Einkaufszentren am Stadtrand auftauchen, habe ich es fast geschafft. Nach einigen eher verwirrenden Fußgängerkreuzungen bin ich zurück am Ufer, wo erneut herrlich radeln ist. 34 km sind es nach Bingen, was mir viel vorkommt, zumal mir ein giftiger Westwind entgegen bläst. Herrliche neue Radwege befahre ich auf meinem Weg durch die Rheinwiesen meist an Dammfüßen entlang. Als ich auf einer Bank esse, nähert sich ein Fernradler, den ich vorher überholt habe. Im Anhänger transportiert er seine Husky-Hündin. 30 bis 50 km würde er pro Tag zurücklegen. Seinem hohen Alter von 67 Jahren müsse er Tribut zollen, er lasse sich viel Zeit. Ich sage nur, dass ich bereits morgen Abend in Köln sein will und radle gestärkt weiter, komme zurück zum Ufer und habe einen herrlichen Blick hinüber auf das Rheingau mit seinen ausgedehnten, ebenmäßigen Weinbergen. Es ist einfach herrlich hier. Drüben liegen Schierstein und Eltville. Ich passiere Budenheim. Dass ich an Ingelheim vorbeikomme, merke ich nur an den informativen Schautafeln zu wasserwirtschaftlichen Themen. Vor Gaulsheim entscheide ich mich für den Radweg am Ufer entlang. Er ist grottenschlecht und eine veritable Schlammpiste, die schwer zu befahren ist. Immerhin entdecke ich etwas Neues, als ich die Reste der im Krieg zerstörten und nicht wieder aufgebauten Hindenburg-Eisenbahnbrücke unterquere und auf den im Strom zurückgebliebene Sandsteinpfeiler vor dem stattlichen Benediktinerinnenkloster St. Hildegard mitten in den Weinbergen drüben am Hang blicke.

Schnell bin ich in Bingen. Gepflegt ist am Ortsrand von Bingen das Ufer für Feriengäste hergerichtet. Auf herrlichem Rasen sind Stahlgitterliegen und Stühle zum Verweilen aufgestellt. Von hier genieße ich den unverstellten Blick hinüber auf die Weinberge mit dem Städtchen Rüdesheim am Ufer, mit dem Kloster und dem Niederwalddenkmal, das zur Glorifizierung der Gründung des Deutschen Reiches 1871 im Jahre 1883 eingeweiht wurde, heute Weltkulturerbe und eines der monumentalsten Gedenkbauwerke Deutschlands. Nimmermüde reckt die 12,5 m hohe Germania die Kaiserkrone in ihrer rechten Hand empor und erinnert an ein siegreiches, vor Stolz und Selbstbewusstsein strotzendes Deutschland. Ein herrlicher Platz, um einige Minuten lang die Beine hoch zu legen.

An schönen Hotels und ihren Parkanlagen vorbei gelange ich schnell zur Nahemündung. Vor einem Hotel ist ein Großbildschirm aufgebaut. In Kürze beginnt das erste Spiel der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Der anfänglich verregnete Tag hat sich zu einem Traumtag gemausert. Nur kurz halte ich mich am Fuß des Kongresszentrums auf und beobachte die Touristen am Ufer und die pittoresk im Wasser schwimmenden Schwäne. Hier erschweren unangenehme Stromschnellen die Schifffahrt. Rechts oben grüßt die Ruine der Burg Ehrenfels, mitten im Wasser steht der weiß-rote Mäuseturm. Nachdem ich den historischen Rheinkran aus dem Jahre 1487 passiert habe, nähere ich mich der Nahemündung und dem Binger Loch. Zum ersten Mal nehme ich eine Büste des großen französischen Schriftstellers Victor Hugo an dieser Stelle wahr, der sich als Besucher von diesem romantischen Ort und von der grausigen Legende um den Mäuseturm inspirieren ließ, nach der dort der Mainzer Bischof Hatto von Mäusen aufgefressen worden sein soll. Meine letztjährige Radtour hatte mich zu seinem Geburtsort, Besançon, geführt. Eine ganze Weile lasse ich die Magie dieses Platzes auf mich wirken, der nach der Landesgartenschau 2008 sicherlich noch an Attraktivität gewonnen hat. Schnell ist die Nahe auf einer neuen Radlerbrücke überquert, und man dringt in eine der schönsten und berühmtesten Landschaften Deutschlands vor, wo der romantischen Seele Nahrung im Übermaß zugeführt wird.

Nachdem der Regen aufgehört und der Gegenwind nachgelassen hat, fahre ich im Bilderbuchwetter durch eine Bilderbuchlandschaft. Hier durchbricht der Strom das rheinische Schiefergebirge und hat in einer genialen Geogenese eine romantische Landschaft erschaffen, die bereits die Römer aber auch die Baumeister des Mittelalters veranlasste, Bauten für die Ewigkeit zu errichten, und romantische Dichter dazu inspirierte, Liebeslieder zu verfassen. Alle Strapazen des Radelns und die kleinen Unpässlichkeiten sind vergessen. Das Auge will uneingeschränkt schauen und sich nicht mehr ablenken lassen. Wie in einer planvollen Theaterdramaturgie reihen sich die Kurven und Bögen des Stromes aneinander und bieten dem Radler eng am Ufer entlang rollend traumhafte Ansichten steil abfallender Hänge, die mit einem Flaum von Grün oder von Rebenzeilen der Weinberge überzogen sind. Wie Ausrufezeichen strahlen Burgen und Schlösser auf den ufernahen Bergen auf den Fluss herunter. Auge, was willst du mehr. Herz erfreue dich dieser malerischen Zeugen der Vergangenheit. Hat man erst die Radlerbrücke über die Nahe überquert, gelangt man in das enge Tal, und die romantischen Städtchen am Ufer sind wie an einer Perlenschnur hintereinander aufgereiht.

So oft schon war ich mit dem Fahrrad hier, und doch offenbaren sich jedes Mal neue und spektakuläre Perspektiven. Mein Vorwärtsdrang verhindert, dass ich an allen schönen Orten verweile. Ich dringe in das verengte Tal vor, und schon ist auf der gegenüberliegenden Seite das malerische Assmannshausen zu sehen. Links über mir schaut Burg Rheinstein aus dem dichten Grün auf dem Berg hervor. Trechtlingshausen lasse ich links liegen. In Oberdiebach beachte ich die Ruine Fürstenberg kaum und fahre ins Zentrum, um einzukaufen, da ich dringend Wasser brauche. Aber ich finde keinen Supermarkt. Auch eine nette, ältere Dame, die ich frage, kann mir nicht helfen. Schon bin ich unter der Burg Stahleck über dem schönen Bacharach, wo ich in einer Parktoilette meine Wasserflasche auffülle. In Bingen habe ich mir viel Zeit gelassen heute. Es ist schon spät, und ich will heute mindestens Boppard erreichen. Am Abend bekomme ich die zweite Luft und komme gut voran. Derweil hält mein visueller Genuss unvermindert an, da die Schönheit der Szene unvermindert ist. Wie ein Film laufen die Sehenswürdigkeiten vor mir ab. Unmöglich kann ich die Vielzahl der Burgen und Schlösser alle fotografieren. Schon taucht nach einer weiteren Biegung das mitten im Wasser stehende Schloss Pfalzgrafenstein bei Kaub hell in der Sonne leuchtend auf. Das muss ich in Ruhe betrachten und stelle mein Fahrrad ab. Wie schön ist dieser Anblick mit der Häuserzeile im Hintergrund und der Burg Gutenfels hoch oben auf der Spitze des Berges.

Auch Oberwesel hat viel an Romantik zu bieten und wird von seinem Schloss Schönburg überragt. Bald muss doch auch die Loreley auf der anderen Seite auftauchen. Nein, nicht dieser steil abfallende Felsen ist es. Das ist nur der Roßstein. Geduld mein Freund, noch eine weitere Biegung und schon taucht sie auf, ein Felsenberg wie viele andere und doch so berühmt und leidenschaftlich besungen. In ihrem Schatten folgen St. Goarshausen mit Burg Katz als Ausrufezeichen darüber und linksrheinisch St. Goar, wo die größte Attraktion der Loreleyblick ist. Der sehnsüchtige Ruf der Loreley erreicht mich nicht. Ich muss weiter und passiere mit wohlwollendem Blick Burg Maus über Wellmich. Ein freundliches Hundeherrchen fotografiert mich vor der spektakulären Kulisse und erzählt mir, dass das Spiel Südafrika gegen Mexiko mit 1: 1 endete.

Noch weitere Burgen fordern meine Aufmerksamkeit. Gegenüber von Bad Salzig erheben sich Sterrenberg mit dem blendend weißen Turm und Liebenfels, die feindlichen Brüder. Endlich Boppard. Der Uferradweg mündet in die Rheinterrassen, wo ein Lokal am anderen ist. Sie sind gut besucht, ich muss absteigen und mein Fahrrad zwischen den Tischen hindurch an den romantischen Urlaubern vorbei schieben. Klar, Boppard ist eines der schönsten Städtchen, die ich heute gesehen habe, eine Art Touristenzentrum des Mittelrheintales. Aber wo ist bitteschön der Zeltplatz? Mein Gedächtnis lässt mich im Stich. Ich setze mich auf eine Bank am Ufer und studiere die Karte.

In einigen Kilometern kommt der Zeltplatz bei Spay. Ich bin schon ziemlich erschöpft und mache mich widerwillig auf den Weg. Schon bald nach der engen Flussbiegung sehe ich ihn dort drüben am Fuß des Prallhangs liegen. Das sind vielleicht noch 4 km, die muss ich unbedingt schaffen. Dann bin ich am Ziel. Ich bin erleichtert, als ich am Abend den Zeltplatz „Sonneneck“ bei Spay unmittelbar am Rheinufer unterhalb der Straße erreiche. Ich lasse mein Fahrrad eine Rampe hinunterrollen, und alles kommt mir sehr vertraut vor. Es ist genau der Platz, auf dem ich vor vier Jahren schon einmal übernachtet habe. Er ist mir bestens in Erinnerung mit seiner perfekten Infrastruktur, seiner vorzüglichen Gastronomie und guten Organisation. Der einzige Wermutstropfen ist, dass die nächtens vorbeirollenden Güterzüge einen unerträglich höllischen Lärm verursachen. Die Rezeption ist geschlossen, ich muss sofort ganz dringend auf die Toilette. Schnell steht mein Zelt. Ich werfe mein Gepäck ins Vorzelt und setze mich auf die herrliche Restaurantterrasse, von wo ich es im Auge behalten kann. Erst will ich es trocknen lassen, bevor ich es einräume.

Im Restaurant läuft das Ende des Spiels Frankreich gegen Uruguay, das 0: 0 endet und ganz lausig gewesen sein muss. Es interessiert mich nicht besonders, da ich mich dringend erholen muss. Für das französische Team ist es der erste Akt einer Fußballtragödie sondergleichen. Aber das wird man erst in einigen Tagen feststellen können. Ich bescheide mich auf der Terrasse mit einer Bockwurst und Pommes Frites, lasse mir dabei die knackigen, frischen Salate von der Theke nicht entgehen, und jetzt ist die Zeit angebrochen, in der das frische, zischende Pils so gut schmeckt wie sonst nie im Leben. Ich lasse mir viel Zeit, und als ich in die Dusche will, ist das Sanitärhaus abgeschlossen. Trotz des Lärms schlafe ich immerhin einige wenige Stunden in der Nacht.

3. Samstag, 12. 06. 2010:Von Spay über Koblenz, Andernach und Bonn nach Köln-Rodenkirchen – Ein stürmischer Regen spült mich auf ein Rheinschiff – 97,0 km

Als ich am Morgen auf dem Zeltplatz Sonneneck bei Spay aus der Dusche komme, fängt es schon an zu nieseln. Das kann ja heiter werden, und ich packe hektisch meine Sachen zusammen, um sie möglichst trocken zu verstauen. Über dem so romantischen Mittelrheintal hängen grau in grau die Regenwolken. Hinaus aus dem Campingplatz, dicht am Ufer entlang geht es weiter. Da, die Bäckerei an den Gestaden des Flusses, wo ich schon zwei Mal gefrühstückt habe. Hier nehme ich meinen Kaffee und traue mich sogar hinaus auf den Sitzplatz auf der Kaimauer, obwohl schon wieder Tropfen vom Himmel fallen. Ich schaue hinauf zur stolzen Marksburg. Wie schön könnte es hier sein, wenn das Wetter mitspielen würde. Immerhin ist das Frühstück nach meinem Geschmack, ein Salami-Käsebrötchen und ein Käsekuchen. Frisch gestärkt passiere ich zügig Brey und bin schon in Rhens. Der Radweg entfernt sich vom Rheinufer und führt durch das Gelände der Rhenser Getränkefabrik. Bald entdecke ich links oben das zur Renovierung eingerüstete Märchenschloss Stolzenfels. Es ist nicht mehr weit nach Koblenz, schon fängt es an zu regnen. Unter einer Brücke stelle ich mich unter und kann bald weiterfahren.

Das Umfeld von Koblenz ist mir vertraut. Ich fahre durch Oberwerth, komme am Sporthafen, an den verwaisten Badeplätzen vorbei und durchquere den lauschigen Uferpark mit seinem Bestand alter Bäume. Als ich zum Deutschen Eck durchfahren will, ist die Zufahrt versperrt. In Koblenz ist 2011 Bundesgartenschau, und der gesamte Rheinpark mitsamt dem Deutschen Eck eine einzige unzugängliche Baustelle. Auf einer mir unbekannten Route taste ich mich vorwärts und komme an Gebäuden vorbei, die ich noch nie gesehen habe, auch nicht uninteressant. Das Kurfürstliche Schloss ist wunderbar renoviert, dann staune ich über die beiden wehrhaften Türme der St. Kastor-Basilika nahe dem Deutschen Eck. Ich schaffe es zum Moselufer, und kenne mich wieder aus. Erneut regnet es, und ich warte unter einer Brücke, bevor ich die Mosel überquere, nicht ohne die tollen Aussichten auf das Stadtpanorama und auf die Festung Ehrenbreitstein zu würdigen. Ich muss zurück zum Rheinufer und dort nach Norden durch die Vorstädte radeln. Ich erinnere mich, dass es hier einen Supermarkt gibt und lege eine kurze Einkaufspause ein. Durch enge Gassen im Vorort Neuendorf lasse ich jetzt mein Fahrrad rollen und sehe hier das am reichsten geschmückte schwarz-rot-goldene Fußballlokal auf der gesamten Tour. Die Fassade ist ein einziger Rausch der Farben. Auch an andere Nationen wird gedacht. Ich erkenne die Farben der USA, Griechenlands und der Schweiz. Hier sind die Menschen echte Patrioten, und ich denke an die wechselhafte Geschichte und die Wacht am Rhein.

Der Koblenzer Rheinhafen ist zu umfahren, und drüben liegt die Insel Niederwerth. Vor St. Sebastian bin ich zurück am Fluss und passiere die alte Stadtmauer dicht am Ufer. Drüben liegen Bendorf und dann Engers mit dem blendend weißen Kurfürstlichen Schloss als Blickfang. Schon kurz nach Urmitz erreiche ich das noch immer im Rückbau befindliche Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich. Viel zu sehr bin ich durch das sich verschlechternde Wetter abgelenkt, sodass ich das 162 m hohe Kühlturm-Ungetüm kaum wahrnehme. Wann wird es endlich verschwunden sein? Für mich gilt indes nur noch, Land zu gewinnen, bevor es anfängt zu regnen. Dennoch schiebe ich in Andernach mein Fahrrad durch das historische Rheintor ins stark belebte Zentrum und gönne mir ein Pfund Kirschen. Sehr flüchtig ist mein Aufenthalt in der schönen Stadt mit dem bedeutenden romanischen Mariendom, da ich starken Hunger bekomme. Hierfür muss Zeit sein, und ich setze mich auf eine Bank an der Uferpromenade und genieße beim essen den herrlichen Blick auf den Strom der Deutschen, der hier durch ein aufgeweitetes Tal fließt, aber noch immer zahlreiche Preziosen für den Romantiker bereithält. Am Nordende der Stadt fällt mir eines ihrer Wahrzeichen auf, der Wehrturm, als Rest der Befestigungsanlage. Eine weitere Fotopause lege ich am steinernen, historischen Turmdrehkran aus dem Jahre 1561 ein. Seit ich mich 2003 hier schlimm verfahren habe, achte ich nach Andernach besonders auf die Hinweisschilder.

Die Trasse entfernt sich vom Ufer und führt unter der Autobahnhangbrücke steil an einer Felswand hinauf. Ein schöner Radweg führt durch den Vorort Namedy mit seinem Schloss inmitten eines wunderschönen Parks. In Brohl-Lützing folgen zwei für den Radler schwierige Stellen. Die erste ist eine Bahnunterführung mit Pollern, die mich vom Rad zwingen, die zweite eine abenteuerlich steile Serpentinenabfahrt durch einen Park, über ein Brücklein zurück zum Rheinufer. Drüben auf der anderen Rheinseite springt bei Bad Hönningen das Schloss Arenfels ins Auge. Auch in Bad Breisig fahre ich kurz ins Zentrum und bewundere vor allem den wehrhaften Turm der Kirche St. Marien. Als ich zum Rheinufer zurückkomme, traue ich meinen Augen nicht. Das Rheintal im Norden hat sich weiter zugenebelt, die Regenwolken küssen bereits den Strom. Was tun? Ich fahre einfach weiter und sehenden Auges in das Unwetter. Schon fängt es an zu nieseln. Der Regen wird immer stärker. Verflixt, ich werde es doch noch bis Remagen schaffen, wo ich hoffe, einen Platz zum Unterstellen zu finden.

Der Nachmittag meines dritten Tourtages verläuft völlig atypisch. Schon seit Andernach habe ich die dunkelgraue, tiefhängende Wolkenfront über dem Rheintal vor mir argwöhnisch beobachtet. Als ich mich dem berühmten Remagen nähere, bricht das Unwetter schonungslos über mir herein. Immer stärker wird der Regen und immer kräftiger der Wind, eine fatale Kombination für den Radler. Die Böen klatschen mir das Regenwasser ins Gesicht. Vorne sehe ich die historischen Brückenwiderlager von Remagen stehen. Im März 1945 wurde die Ludendorff-Brücke nach dem gescheiterten Sprengungsversuch der Wehrmacht von den Alliierten als Rheinübergang genutzt und verkürzte so den Zweiten Weltkrieg, bis sie zehn Tage später zusammenbrach und dabei viele Todesopfer forderte. In höchster Not fliehe ich unter eine Brücke. Aber auch sie ist nicht dicht, und mächtige Wassertropfen platschen mir auf den Kopf. Immerhin bietet sie ein wenig Schutz für mehrere Radler.

Ein Leidensgenosse ohne jede Regenkleidung fragt mich, wo ich heute hin will. Nach Köln? Warum ich nicht das Schiff nehme? Er kennt sich zwar auch nicht so genau aus, aber dort vorne sind Anlegestellen für Rheinschiffe. Wie Schuppen fällt es mir von den Augen. Das ist eine tolle Idee, darauf wäre ich in meinem Radeldrang nicht von selbst gekommen. Im stürmischen Regen fahre ich vor und erkundige mich im Fahrkartenhäuschen. Von hier starten nur Schiffe nach Bonn und nicht nach Köln. Das nächste schon um 15: 30 Uhr, etwa in 20 Minuten, und das Ticket kostet 12,50 € mit Fahrrad. Unter dem Sonnenschirm eines Terrassenrestaurants suche ich Schutz während der Wartezeit. Etwa ein Dutzend Frauen mit Signalwesten kommt mit Fahrrädern an. Sie nehmen das Wetter mit Galgenhumor und quasseln laut und aufgedreht ohne Unterlass.

Endlich kommt das Schiff. Das Fahrrad muss ins Freie auf die Reling. Es ist eng dort und meine Sachen werden weiter nass. Ich bin im Trockenen und genieße, was ich mir schon mein ganzes Leben lang gewünscht aber nie ermöglicht habe, eine Rheinschifffahrt. Das Bordrestaurant ist schwarz-rot-gold dekoriert, ich genehmige mir einen Kaffee. Mit sonorer Stimme erläutert ein Führer die Sehenswürdigkeiten. Viele bekannte Orte säumen hier zwischen Remagen und Bonn die Ufer, die im Regendunst gleichwohl kaum zu sehen sind. Die Burg Drachenstein und der Petersberg tauchen auf, und wir nähern uns der Wiege der Bundesrepublik, dem beschaulichen Bonn, heute „Bundesstadt“ und nicht mehr Bundeshauptstadt. Bevor das Schiff um 180° dreht, defilieren wir am Langen Eugen, dem Wasserwerk, dem Bundeshaus und vielen anderen berühmten Gebäuden vorbei. Das Schiff legt an, und es hat aufgehört zu regnen. Zufrieden schiebe ich mein Fahrrad die Gangway hinauf. Das war eine tolle neue Erfahrung für mich. Ich werde mich gleich wieder auf meinen Drahtesel schwingen, um heute noch mein Tagesziel, den Zeltplatz Köln-Rodenkirchen, zu erreichen. Der Regen hat die Luft um mindestens 10°C abgekühlt. Es ist kaum zu glauben. Ich friere und muss mich erst wärmer anziehen.

Als ich das Schiff an der Anlegestelle in Bonn verlasse, hat es zum Glück aufgehört zu regnen. Welch wunderbare Fügung. Einige Passanten interessieren sich für meine Tour und können nicht fassen, was ich vorhabe. Eine Frau sagt immer nur „Wahnsinn“. Dabei habe ich bis zum dritten Tag meiner Tour noch nicht viel geleistet. Ich schätze, dass es zum Zeltplatz noch etwa 30 km sind. Jetzt freue ich mich auf den herrlichen Radweg auf der Uferpromenade an Bonn vorbei, weiß aber, dass ich bald durch das riesige Industriegebiet von Wesseling radeln muss, was mir stets recht unangenehm ist. Auch am Samstag qualmen hier die Schornsteine, und die Kühltürme lassen Dampf ab. Ich achte peinlich genau auf die Ausschilderung, damit ich mich nicht verfahre.

Ich blicke zurück auf das beeindruckende Panorama einer mächtigen deutschen Industrie und stelle fest, dass das Wetter schon wieder etwas freundlicher geworden ist. Nach dieser unangenehmen Strecke sehne ich mich zurück zu den Rheinauen, wo das Radeln auf schönen Wegen erneut zum Genuss wird. Bei der Fahrt durch das Unterholz muss man aufpassen, um nicht auf die getrennt geführten Fußwege zu geraten. Als ich an mehreren Kölner Vereinsheimen vorbeikomme, weiß ich, dass ich demnächst am Zeltplatz in Rodenkirchen bin. Hier hat es mir bisher bei jedem Besuch gut gefallen, nur finde ich es kleinlich, dass man für die Zeltmarke ein Pfand hinterlegen muss. Mit dem Hinweis, dass ich morgen sehr früh starten will, verzichtet die nette Angestellte heute darauf. Die Zeltwiesen sind nass, dennoch baue ich sofort auf und hole mir aus dem Shop erst das Ankunftsbier, bevor ich mich in die wunderbare Dusche begebe. Aus einer großflächigen Brause kommt ein herrlich sanfter, aber kräftiger und breiter Wasserstrahl, unter dem das Duschen ein großes Vergnügen ist.

Von der Gastronomie hier bin ich nicht so begeistert, also begnüge ich mich mit einem Imbiss in meinem Zelt. Auf dem Zeltplatz sind wie vor vier Jahren mehrere Großbildschirme für die Fußballübertragungen aufgestellt. Damals konnte ich hier das Viertelfinalspiel Deutschland gegen Argentinien mit dem legendären Elfmeterschießen anschauen. Ich erfahre, dass heute Argentinien gegen Nigeria 1: 0 und Griechenland gegen Südkorea 0: 2 gespielt haben. Als ich zur Dusche gehe, läuft gerade USA gegen England, das 1: 1 endet. Diese Spiele interessieren mich nicht sonderlich. Erst morgen wird die Spannung steigen, wenn am Abend Deutschland gegen Australien spielen wird. Ich bin heute 97,0 km geradelt und habe auf dem Schiff gut 20 km zurückgelegt. Auf dem Zeltplatz in Rodenkirchen habe ich mich stets recht wohl gefühlt, und ich schlafe bei angenehmer Kuschelmusik aus meinem neuen Radio nach dem zweiten Bier bald ein.

4. Sonntag, 13. 06 2010:Von Köln-Rodenkirchen über Düsseldorf und Duisburg nach Rheinberg – Durch die Werkbank Deutschlandsund ein tolles Fußballspiel - 119,3 km

Die zwitschernden Vögel rufen mich am frühen Morgen auf dem Zeltplatz von Rodenkirchen zurück ins Leben. Als ich zum Sanitärhaus zur Toilette haste, stelle ich fest, dass es saukalt ist. Der Himmel ist offen, und es könnte ein schöner Tag werden. Wieder einmal ist mein Zelt klatschnass. Dass Außen- und Innenzelt zusammenhängen, ist zwar praktisch bei der Montage, aber schlecht beim Trocknen. Ich verpacke es einfach nass und verlasse bereits um 7: 00 Uhr den Zeltplatz nachdem ich die leeren Bierflaschen und die Registriernummer im Empfangsgebäude deponiert habe. Erste kleinere Pannen machen sich in meiner Ausrüstung bemerkbar. Bei meiner linken Satteltasche lösen sich Schrauben, und ich muss sie mit einer Gummilitze stabilisieren. Bei meinem Brustbeutel reißt das Band, ich kann ihn deshalb nicht mehr benutzen.

Der Radweg führt unmittelbar vor dem Zeltplatz vorbei. Ich strample Richtung Köln, wo ich meinen Kaffee trinken und mein Frühstück nehmen will. Die kurze Fahrt in die Metropole ist mir vertraut, da ich sie schon oft gefahren bin. Aber erneut ist die Radroute umgeleitet, und ich komme stets dicht am Rheinufer radelnd an einer Stadtsilhouette vorbei, die mir größtenteils neu ist. Im herrlichen Licht des Morgens ist es heute ein besonderer Genuss, auf das atemberaubende Panorama der Weltstadt unter einem satt blauen Himmel zuzufahren. Ich habe den Eindruck, dass sie sich sehr effektiv herausgeputzt und am Rheinauhafen alte Speichergebäude und Neubauten mit Luxuswohnungen ausgestattet hat, was mich sehr an die teuren Wohnlagen an den Wasserläufen in Hamburg erinnert. Spektakulär vor allem die „Kranhäuser“. Am Sonntagmorgen ist es sehr ruhig am Stadtrand. Ein freundlicher Passant weist mich darauf hin, dass ich unmöglich auf der gepflasterten Uferpromenade fahren kann, da sie voller Glasscherben sei. Ich riskiere es, umfahre mühsam zerbrochene Flaschen, erlebe die Front der Häuser im warmen, hellen Licht der tief stehenden Sonne und gewinne unvergessliche Eindrücke.

Zum ersten Mal nehme ich das Deutsche Sport- und Olympiamuseum und das Schokolademuseum wahr. Bald erreiche ich die Altstadt mit der romanischen Kirche Groß St. Martin, die einen so wundervollen Kontrast zum gotischen Dom bildet. Dann die unendliche Kneipenvielfalt und die Ankunft am Dom mit der Radwegserpentine vorbei am Museum Ludwig und hinauf zur Domplatte, die am Sonntagmorgen angenehm leer ist und dem Radler erlaubt, kreuz und quer zu fahren und die Kulisse in Augenschein zu nehmen. Ich gehe auch kurz in den riesigen Dom, verbiete es mir aber wegen der Dunkelheit, Bilder zu schießen. Gleichwohl stehe ich in einem Bauwerk mit weltweiter Anziehungskraft mit den zweithöchsten Kirchentürmen Deutschlands und mit den Abmessungen einer der größten gotischen Kathedralen der Welt. Ich bin mir im Klaren darüber, dass sie weltweit zu den Höhepunkten in der allerersten Reihe historischer Gebäude zählt, und man kann die Arbeit der Domhütte beim Wideraufbau und der Restaurierung nicht genügend würdigen. Aber ich will doch zum Nordkap und kann mich nicht allzu lange von dieser monumentalen Wucht beeindrucken lassen, die in ihren Fassaden doch so filigran durchgearbeitet ist. Mit der attraktiven Millionenstadt Köln kann und will ich mich nicht detaillierter befassen, es würde mich von meinem Ziel ablenken. Ich umkurve mehrere Blöcke in den Fußgängerzonen und widerstehe meinem Impuls, in ein Café zum Frühstück zu gehen, bis ich eine offene Bäckerei finde. Ich fürchte, dass der heutige Sonntag ein schwerer Tag für mich werden wird. Also zurück zur Domplatte und die Serpentinen hinunter zum Rheinufer.

Das Tageslicht hat die Geister der Nacht noch nicht vertrieben, denke ich, als ich von weitem Jugendliche beobachte, die sich mit lautem Geschrei prügeln. Nichts wie weg, ich fliehe hinaus aus Köln am Ufer entlang nach Norden, über eine Brücke über die Einfahrt zum Niehler Hafen und weiter Richtung Niederrhein, wo die Landschaft ihren dramatischen Ausdruck verloren hat und ihren Charme erst auf den zweiten Blick in ihrer Ruhe und Weite offenbart. Die Fordwerke in Merkenich versperren das Ufer, also radle ich mitten durch das riesige Werksgelände, während sich drüben auf der anderen Rheinseite die Anlagen des Chemiekonzerns Bayer ausbreiten. Zurück in den Rheinauen führt der Radweg meist auf Dämmen mit guter Sicht und teils schlechtem Belag weiter nach Worringen und Dormagen, das man im Schatten des Bayer-Werks unmittelbar am Ufer passieren kann. Aufmerksam geworden durch eine Informationstafel besuche ich das kleine, historische Zons, „die rheinische Antwort auf Rothenburg an der Tauber“. Schon von Weitem sind die Stadtmauer, Kirch- und Wehrtürme zu sehen.

Es gefällt mir, was ich sehe, als ich durch das Rheintor mit dem Zollturm in das Gemäuer des Städtchens fahre, das seine Bedeutung und Befestigung im 14. Jahrhundert durch die Verlegung des Zollamts von Neuss hier her verdankt. Die Wehranlagen sind erstaunlich gut erhalten, und ich bestaune die Bronzeschweine des Schweinebrunnens. Weiter führt der Weg durch die Auen nach Stürzelberg, und ich weiß, dass ich vor Neuss die Rheinseite wechseln muss, um die ausgedehnten dortigen Hafenanlagen zu umfahren. Schon wenige Minuten später befinde ich mich auf einer Autobahnbrücke hoch über dem Niederrhein und erreiche bei Flehe das rechte Ufer. Die Fahrt auf dieser Seite nach Düsseldorf ist bei dem heutigen herrlichen Wetter besonders schön.

Abrupt weicht die ländliche Idylle einem urbanen Umfeld. Der Radweg führt durch Parkanlagen und an Badestränden, über eine spektakuläre Radler- und Fußgängerbrücke an den modernen Hafengebäuden mit Blick auf den Landtag und den Fernsehturm vorbei, bis man zu den Eventterrassen kommt, wo sich die Städter bei ihren Freizeitaktivitäten wie beispielsweise Boule vergnügen und viele Kneipen für die heutigen Spiele der Fußballweltmeisterschaft auffällig geschmückt sind. Zelte beherbergen Großbildschirme und laden zum ersten Spiel des Tages Algerien gegen Slowenien um 13: 30 Uhr ein. Alles scheint bestens vorbereitet, wenn am Abend die deutsche Mannschaft in das Geschehen eingreifen wird. Ich muss weiter und weiß noch nicht, wo, unter welchen Umständen und ob überhaupt ich das Spiel sehen kann. Die Terrassen sind schon so dicht bevölkert, dass ich mein Fahrrad schieben muss.

Hastig verlasse ich die mondäne Hauptstadt Nordrhein-Westfalens mit den berühmten Kneipen in der Altstadt, wo man nicht mehr „Kölsch“ sondern „Alt“ trinkt, und wo derzeit nach dem Patt bei den Wahlen heftig um die Bildung einer neuen Regierung gerungen wird. Erneut ist die Rheinseite zu wechseln, und ich lande nach Oberkassel in einem Naherholungsgebiet mit Freibad und vielen Vereinsheimen im Uferpark. Nach meinem Imbiss vor Düsseldorf habe ich schon wieder Hunger und denke an einen Kaffee mit Kuchen, finde jedoch keinen geeigneten Platz dafür. Links liegt Meerbusch mit seinen Teilorten. Ich unterquere die Autobahnbrücke im Zuge der A 44 und nähere mich Langst-Kierst, wo ich im Jahr 2006 bereits gezeltet habe, und wo eine Fähre hinüber nach Kaiserswerth verkehrt. Das beschauliche Radeln hat bald ein Ende, als ich in das schon den ganzen Tag gefürchtete Industriegebiet gelange. Ich fahre über eine alte Stahlbrücke und dann durch unendliche grau-schwarze Industrieanlagen und durch städtische Zusammenballungen, die mir den letzten Nerv rauben. Ich folge der Ausschilderung des Radwegs M 4, verliere sie das eine und andere Mal, und weiß manchmal nicht mehr, wo ich bin. Immerhin stelle ich fest, dass ich Krefeld passiert habe und in Uerdingen gelandet bin.

Nachdem meine Kaffeepläne fehlgeschlagen sind, nutze ich jetzt in einer Fußgängerzone das Angebot eines Chinesen und lasse mich auf der Straße nieder, esse das Menü aus thailändischer Hühnersuppe, knuspriger Ente und einer gebackenen Banane mit Vanilleeis. Entspannt kann ich mich ein wenig zurücklehnen, ausruhen und mein Tagebuch fortschreiben. Als ich entlang dem Radweg R 17 aus Uerdingen hinausfahre, wird der Spätnachmittag sehr hektisch. Wo kann ich das Fußballspiel sehen? Ich verliere die Ausschilderung, fahre stur nach Norden über die Pampa, lande in einem Waldgebiet, stoße auf die B 500 und weiß nicht mehr wo ich bin. Hier war ich noch nie mit dem Fahrrad und bin so angespannt, dass ich das Fotografieren total vergesse.

Ich frage einen Radler, der mir sagt, dass ich irgendwo bei Kapellen bin und von hier nach Osten fahren soll. Endlich stoße ich auf eine Straße nach Moers. Das ist zumindest die richtige Richtung, und ich bleibe vorläufig auf der Straße, zumal am Sonntag wenig Verkehr ist. Zu gerne hätte ich vom Rheinufer aus die Hafenanlagen von Duisburg gesehen. Es ist mir nicht vergönnt, und ich bin froh, wieder einigermaßen sicher zu sein, wo ich mich in etwa befinde. Utford. An einer Straße entlang führt ein schöner Radweg nach Rheinberg. Südlich der Stadt sind in meiner Karte einige Baggerseen eingetragen. Hier müsste es doch Zeltplätze geben. Als ich die Karte studiere, fragt mich ein Radler, ob er helfen kann. Zeltplätze gibt es hier keine, und die Baggerseen sind meist abgesperrt, auch in Vierbaum, wo ich in einer Kneipe mit Sicherheit das Spiel sehen könnte, ist Zelten am See nicht möglich. Auch das wilde Campen scheidet aus, da ich mein Zelt nicht unbeaufsichtigt stehen lassen kann, während ich fernsehe, und nach dem Spiel ist es ohnehin zu dunkel, um es zu montieren. Ein wenig bin ich verzweifelt und habe mich längst damit abgefunden, dass ich heute Wesel nicht mehr wie geplant erreichen werde. Ich entscheide mich, einfach nach Rheinberg weiter zu radeln, und dort muss es doch Fremdenzimmer geben, egal, was sie letztendlich kosten.

Ich habe einen aufregenden Tag hinter mir, den ich seit Tagen fürchtete. Ich wusste genau, dass ich nördlich von Köln auf ziemlich unbekanntes Terrain vorstoßen würde und nördlich von Düsseldorf durch alte, graue Industriegebiete radeln muss. Von Anfang an habe ich mir Sorgen gemacht und nicht gewusst, wie ich dort durchkommen würde, zumal die Rheinufer durch Gewerbe und Logistik für den Radler völlig blockiert sind und keine durchgängige Route in meiner Radtourenkarte aufgezeigt ist. Es ist bereits 19: 30 Uhr, als ich das Städtchen Rheinberg am linken Ufer erreiche, bin schon völlig erschöpft und zermürbt von der Unsicherheit. Ich frage drei am Straßenrand quasselnde Damen nach Zimmern. Geradeaus werde ich ein Hotel vorfinden und außerdem gibt es im Vorort Ossenberg eine Pension. Letzteres scheidet aus, da ich gerne das Fußballspiel von Anfang an sehen möchte.

Ich bin fast 119 km geradelt an diesem Sonntag, als ich vor dem Hotel Rheintor stehe. Bald beginnt das Fußballspiel, und ich muss jetzt schnell entscheiden. Ein Zimmer ist frei für mich, und mein Fahrrad kann ich in einem Hinterhof sicher