Vom Bodensee nach Santiago und Porto - Volker Mayer - E-Book

Vom Bodensee nach Santiago und Porto E-Book

Volker Mayer

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Beschreibung

Literarischer Reisebericht über eine Radreise durch Frankreich und auf dem Jakobsküstenweg nach Santiago de Compostela und Porto mit geschichtlichen und kulturellen Hintergründen der besuchten Orte. Unterhaltsame, informative Lektüre und Ideengeber für Reiselustige.

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Volker Mayer

Vom Bodensee nach Santiago und Porto

Mit dem Fahrrad durch Deutschland, Frankreich, entlang dem Jakobsküstenweg durch Spanien und nach Portugal –

Mein Tagebuch 2017

© 2019 Volker Mayer

Umschlag: tredition/Volker Mayer Bilder: Volker Mayer

Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Paperback:

978-3-7482-1567-7

Hardcover:

978-3-7482-1568-4

e-Book:

978-3-7482-1569-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer-tung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt ins-besondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Ver-breitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Über den Autor:

Der Autor ist Jahrgang 1943, lebt in Landau in der Pfalz sowie in Mühlbach am Hochkönig/Österreich. Nach Ende seiner Berufstätigkeit als Experte der Abwasser-wirtschaft und leitenden Tätigkeiten im Be-ratenden Ingenieurwesen und im Anlagen-bau hat er sich vorgenommen, die Welt durch individuelle Reisen kennenzulernen. Dabei durchquert er im Sommer mit Tou-ren über 3500 bis 7000 km den europäi-schen Kontinent mit dem Fahrrad, und im Winter besucht er die wärmeren Länder im Süden unserer Erde mit Flug-zeug, Zug und Bus. Dazu kommen Einsätze als ehrenamtlicher Experte für den Senioren-Experten-Service (SES) in China, Honduras, Bulgarien und Mexiko. Seine Erlebnisse möchte er gerne mit Interessierten teilen, hält sie minutiös in Tagebüchern fest und verfasst jeweils nach seiner Rückkehr Bücher. Über seine Radtour 2017 legt er seine dritte Buchveröffentlichung vor.

Über die Tour:

Bei seinen seit 2003 jährlich unternommenen Großen Radtouren hat sich der Autor das Ziel gesetzt, jeweils ein Ende Europas von der Pfalz aus mit dem Fahrrad zu erreichen. Dafür steht jeweils ein Zeitfenster zwischen Mitte Juni und Ende August zur Verfügung, da im Mai und September die Tage kürzer und die Nächte oft zu kühl für Camping sind. Gerne erin-nert er sich an seine Tour im Jahr 2011 durch Frankreich, auf dem franzö-sischen Jakobsweg nach Santiago de Compostela und an der Atlantikküste entlang nach Sevilla. Jetzt nimmt er allen Mut zusammen und nimmt sich vor, erst durch Frankreich, dann über die erschreckend bergige Küste Nordspaniens auf dem Camino del Norte erneut nach Santiago de Com-postela zu radeln, um noch einmal die spirituelle Stimmung in dieser Stadt einzufangen. Dabei gerät er mehrfach an die Grenzen des für ihn Machba-ren. Ein Rätsel bleibt lange, wie er zurückkehren soll, bis er sich entscheidet, nach Porto weiter zu radeln und von dort nach Haues zu fliegen. Vorange-stellt sind ein Besuch am Bodensee und ein Interviewtermin bei RPR1 in Koblenz. 4

Inhaltsverzeichnis

I. Vorbemerkungen zum Frühjahr 2017

II. Aufwärmtour zum Bodensee

III. Großartige Flusslandschaften an Rhein und Mosel

III. Ein langer Weg durch Zentralfrankreich

IV. Auf dem Camino del Norte nach Santiago de Compostela

VI. Abschlussetappe nach Porto

VII. Anmerkungen zum Herbst 2017

Tourübersicht 2017

I. Vorbemerkungen zum Frühjahr 2017

Seit 2003 sind im Sommer große Radtouren fester Bestandteile-meiner Jahresabläufe, und in jedem neuen Jahr harre ich meiner kör-perlichen Reaktionen, bin im Winter ohne Fahrrad unterwegs und muss im Frühjahr stets von Neuem meine Form aufbauen, versuche jeweils aufmerksam in mich hineinzuhören, was der Körper noch zulässt. Im Frühjahr 2017 befinde ich mich im 74. Lebensjahr. Seit Jahren schon bin ich selbst gespannt, wie sich der Altersprozess in mir manifestiert, wie er sich bemerkbar macht und wie er mein Le-ben beeinflusst. Vergeblich warte ich auf altersbedingte Einbrüche und muss doch gestehen, dass sich dieser Prozess schleichend, fast unmerklich aber nachhaltig vollzieht. Zunehmend leiden die Ge-lenke und schmerzen bei körperlichen Aktivitäten. Bei physisch starker Beanspruchung schnappe ich vermehrt nach Luft und brau-che mehr Atempausen. Dann versuche ich mir einzureden, dass dies an den Blutdrucksenkern liegt, die ich seit 2010 einnehme, muss da-bei doch einräumen, dass dies nur ein wunschgedachter Teil der Wahrheit ist.

Zu Hause zu verharren und zu beobachten, wie man altert, oder gar darauf zu warten, dass man krank wird und lieb gewordene Ge-wohnheiten deshalb fallen lässt, wäre gleichwohl absurd. Dieser Ge-fahr trete ich seit meinem Eintritt in die Rente entschieden entgegen und bin seitdem etwa sechs Monate des Jahres auf Reisen. Meine unstillbare Neugier auf Neues, auf Länder, Kulturen und Abenteuer sind dabei der Triebsatz. Bewusst nehme ich dabei auch Strapazen in Kauf und denke, was mich nicht umbringt, macht mich hart. Die Bezeichnung „Urlaub“ lehne ich dafür strikt ab.

Mein Jahr 2017 beginnt mit einer abenteuerlichen Reise durch In-donesien und die Philippinen. Vom Flughafen Kuala Lumpur fahre ich noch am Abend mit dem Bus ins zauberhafte Malakka, um mich im vertrauten Umfeld in Südostasien zu akklimatisieren. Mit der Fähre auf der Straße von Malakka hinüber zur Hafenstadt Dumai auf Sumatra, in einer nervenaufreibenden Nachtfahrt mit dem Kleinbus nach Bukittinggi mit Ausflug ins Harau-Valley und zur se-henswerten Architektur und Kultur der Minangkabau. Stopp am Kratersee Maninjau und Aufenthalt im seismischen Brennpunkt Padang an der Westküste Sumatras. Mit dem Bus weiter nach Ben-gkulu und Jakarta auf Java. Stopps in Bogor und Bandung, Aufent-halt in Yogyakarta mit Ausflügen zu den sensationellen Tempelan-lagen Prambanan und Borobodur. Mit dem Minivan zu einer Expe-dition in die Vulkanlandschaft beim Mount Bromo und mit der Fähre nach Bali. Von Denpasar mit dem Flugzeug nach Labuan Bajo auf Flores, Besuch des Komodo-Nationalparks und Begegnung mit den Komodo-Waranen. Mit Bus und Fähre zurück nach Bali über Sumbawa, Lombok und Gili. Flug nach Makassar auf Sulawesi, mit dem Nachtbus nach Rantepao ins Land der Toraja und aufwühlen-der Besuch einer archaischen Beerdigungszeremonie.

Zurück nach Makassar und mit dem Flugzeug über Kuala Lum-pur nach Manila. Mit dem Bus nach Baguio, Sagada, Bontoc, Banaue und Batad zu den Reisterrassen der Ifugao. Weiter zur Kolonialstadt Vigan, kurzer Strandaufenthalt bei Pagudbud an der Nordspitze der Insel Luzon und zurück nach Laoag mit Besuchen in Batac und Paoay. Mit dem Bus über Manila nach Legazpi zum legendären Vul-kan Mayon und zurück nach Tagaytay am Vulkan Taal mit Besuch der Kolonialstadt Taal bei Lemery. Mit dem Bus zum Flughafen Ma-nila und Rückflug über Jeddah nach Frankfurt.

Meine Reise in die beiden aufstrebenden Schwellenländer emp-fand ich als außergewöhnlich lehrreich. In Indonesien herrschen leidlich Rechtsstaatlichkeit und ein angenehm moderater Islam, den es vor der Radikalisierung, die im Norden Sumatras bereits einge-setzt hat, zu schützen gilt. Auf den Philippinen ist mit Präsident Duterte der Rechtsstaat abhandengekommen. Wegen der islamisti-schen Rebellen ist man gezwungen, seine Reisewege wohl zu über-legen. Niemals in meinem Leben wähnte ich mich mit so wenigen Schritten in eine so brachiale, archaische Welt zurückversetzt wie bei den Toraja auf Sulawesi. Wenn man zudem eine Nacht in einem Kleinbus verbracht hat, in dem ununterbrochen geraucht wird, wenn man den Dreck, Smog, Lärm und die Rücksichtslosigkeit im Verkehr in Jakarta und auch in Manila erlitten hat, besinnt man sich auf die Errungenschaften unseres wunderbaren Heimatlandes im Herzen Europas und lernt zu schätzen, dass sich unsere Gesell-schaft, durchaus mit viel Streit, in den vergangenen Jahrzehnten ent-scheidend weiterentwickelt hat zum Wohl ihrer Bürger.

Trotz dieser unglaublichen Reiseimpressionen halte ich auch im Jahr 2017 an lieb gewordenen Gewohnheiten fest. Nach der Akkli-matisierungsphase in der Pfalz reise ich nach Mühlbach am Hoch-könig in Österreich, bin aber zu spät dran zum Ski laufen. Der fort-schreitende Klimawandel lässt es immer weniger schneien, und die Pisten dort sind nicht mehr wie vor 30 Jahren in den Osterferien voll-kommen schneesicher. Vom Balkon meiner Wohnung schaue ich auf grüne Skihänge und muss zum ersten Mal seit Jahren darauf ver-zichten, zumal ich den Kunstschnee überhaupt nicht mag. Dennoch werden es herrliche Tage, da mich schöne Spaziergänge durch die teils weiße Bergwelt versöhnen.

Meinen Geburtstag möchte ich wieder am Bodensee verbringen. Zudem werde ich für Mitte Juni zu einem Interview beim Netzradi-osender RPR1 in Koblenz und zu einer Hochzeit bei Landau einge-laden, freue mich auf den traditionellen Grillnachmittag mit Familie an Fronleichnam, mithin Termine, die in den Zeitraum fallen, in dem ich schon gerne mit dem Fahrrad unterwegs wäre. Kurz ent-schlossen beziehe ich alle Termine in meine Große Radtour ein und werde zunächst in einer Aufwärmtour zum Bodensee und dann zu-rück über die Pfalz nach Koblenz radeln. Endlich werde ich mir dann für diese Stadt, die ich schon so oft mit dem Fahrrad besucht habe, etwas Zeit nehmen können.

Die Wahl meiner Tourziele fällt mir zunehmend schwer, da ich in den vergangenen Jahren bereits fast alle Enden Europas von Landau aus mit dem Fahrrad besucht hatte, wie Istanbul (2007), Est-land (2008), eine Frankreichrundfahrt (2009), das Nordkap (2010), Sagres/Portugal (2011), die Krim (2012), Inverness/Schottland (2013), Venedig (2014), Brindisi (2015), oder Bristol/England (2016). Romantisch verklärt erinnere ich mich an die Tour des Jahres 2011, in dem ich auf dem Französischen Jakobsweg Santiago de Com-postela besucht habe und dann an der Küste der Iberischen Halbin-sel entlang nach Sagres/Portugal und Sevilla/Spanien geradelt bin. Die Spiritualität in den historischen Mauern der Stadt und die aus-gelassene Stimmung der angekommenen Pilger habe ich überaus genossen und mir vorgenommen, das noch einmal zu erleben, bevor es zu spät ist.

Mit Santiago steht die Richtung meiner Tour fest, und Koblenz ist der perfekte Ausgangspunkt für den Moselradweg, den ich bislang noch nicht gefahren bin. Somit wäre mein Weg bis etwa Nancy an der Mosel geklärt, danach quer durch Frankreich ins Baskenland und an der nordspanischen Küste entlang in Anlehnung an den Camino del Norte mit den schönen Städten Biarritz, San Sebastian, Bilbao, Santander, Gijon und Ribadeo, in denen ich bislang noch nie war. Diese Idee macht mir Lust, und die Vorfreude steigt. Mir ist klar, dass die nordspanische Küste überaus bergig ist. Den Gedan-ken, dass diese Route für mich zu anstrengend sein könnte, ver-dränge ich, und will das einfach auf mich zukommen lassen. Leicht-sinnigerweise habe ich zunächst auch über den Rückweg keinerlei Vorstellungen. Wie meist sind meine Tourvorbereitungen äußerst bruchstückhaft.

Zum ersten Mal starte ich fast ohne Papierlandkarten und will mich auf mein Medion-Smartphone verlassen, das allerdings reich-lich unzuverlässig ist, eine Konstellation, die für aufregende Aben-teuer sorgen wird. Zudem habe ich mir die Outdoornavigationssapp „komoot“ heruntergeladen, von der ich mir eine Route quer durch Frankreich und von Bilbao nach Santiago vorschlagen lasse. Diese wird sich streckenweise als sehr hilfreich, aber manchmal auch als trostloser Irrweg erweisen. Auffallend bei diesem Vorschlag ist, dass sie an all den schönen französischen Städten wie Troyes, Auxerres, Bourges, Poitiers, Angoulême und Bordeaux vorbeiführt, was mir willkommen ist, da ich diese bereits 2011 besucht und in meinem Buch „Heiliger Jakob, Hitze, Höhenflüge“ gewürdigt habe. Weite Strecken führt die Route auf Nebenstraßen und Wirtschaftswegen über das flache Land, was mir zunächst ebenfalls willkommen ist, da mutmaßlich stark befahrene Straßen vermieden werden. Trotz dieser digitalen Planung werde ich die detaillierte Route erst vor Ort von Tag zu Tag endgültig festlegen.

Im Frühjahr 2017 blicken wir auf eine Welt im Aufruhr. Durch die Unterstützung Assads durch Russland in Syrien wird dieser Konflikt kurz vor dessen Sturz zunehmend unlösbar. Es festigt sich die Erkenntnis, dass ein laizistischer Diktator das geringere Übel ge-genüber dem Islamismus darstellt (siehe auch Ägypten). Der Bür-gerkrieg im Jemen entwickelt sich zu einem erbittert geführten Stell-vertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, der ebenfalls zunehmend unlösbar wird. Während der „Islamische Staat“ im Irak und in Syrien endlich wirksam bekämpft und zurückgedrängt wird, setzt sich die Reihe menschenverachtender Anschläge durch is-lamistische Terrorgruppen unverändert fort. Mittlerweile ist fast die ganze Welt davon betroffen.

Im rohstoffreichen Venezuela quält eine autoritäre Klicke selbst-ernannter Sozialisten ihr eigenes Volk und lässt es aus rein ideologi-schen Gründen und durch den bedingungslosen Willen zum Macht-erhalt hungern. Gewaltsame Proteste mit vielen Toten sind die Folge. Durch die Unbelehrbarkeit der korrupten afrikanischen Eli-ten unter Mitwirkung der westlichen Wirtschaftspolitik verschlim-mert sich dort die Situation weiter. Ungebremste Flüchtlingsströme und Machtvakuen, die dem Islamismus Raum geben, sind die Folge. Über Jahrzehnte sind Milliarden Entwicklungshilfe in den Sand ge-setzt worden, weil man an den falschen Stellschrauben drehte. Die Gewissheit, dass besonders viele IS-Kämpfer aus dem Maghreb stammen, lässt dort tickende Zeitbomben vermuten.

In der westlichen Welt sind die nationalistischen Populisten im Vormarsch. Mit Mauern und Abschottung betreibt der unerwartet von einer Minderheit ins Amt gewählte Donald Trump in den USA seine Politik des „America First“ und „Make America Great Again“ und versetzt sein Land in eine Art ungläubige Trance über das, was gerade passiert oder passieren wird. Seine Anhängerschar bejubeln seine offenen Lügen, für die sich der Begriff der alternativen Wahr-heit etabliert. Mit dem nordkoreanischen Diktator tritt er in einen Wettbewerb, wer den schlimmeren Größenwahn von beiden hat. Kurz nach meiner Rückkehr von den Philippinen wird der dortige Präsident Duterte mit dem unglaublichen Satz zitiert, dass er die eu-ropäischen Politiker alle eigenhändig aufhängen würde, wenn er könnte, weil sie sich strikt gegen die Todesstrafe aussprechen.

Die Türkei wird unter Erdogan Schritt für Schritt in einen autori-tären Staat umgewandelt. Beim Referendum über das Präsidialsys-tem in der Türkei stimmen anteilmäßig mehr Türken in Deutschland für die Beendigung der Demokratie als Türken in der Türkei. Ratlos muss man dabei zuschauen, wie unsere türkischen Mitbürger von unserem Rechtsstaat profitieren und mehrheitlich ihre Landsleute in der Türkei in eine unfreie Autokratie schicken. Erdogans unglück-selige und unakzeptable Hetze gegen Deutschland wirkt mitten hin-ein in die deutsche Gesellschaft und spaltet die türkischstämmigen Mitbürger in zwei Lager. Die Summe der türkischen Konflikte wird auch in unserem Land ausgetragen und damit zu einer unerträgli-chen Belastung.

Erfolgreich sind von der Bundesregierung und den benachbarten Ländern Maßnahmen ergriffen worden, um die Zuwanderung zu begrenzen. Angesichts der chaotischen und unkontrollierten Ein-wanderungswelle im Herbst 2015 ist bei der Integration der Flücht-linge in Deutschland unendlich viel geleistet worden. Dennoch ge-staltet sie sich als schwieriger als erwartet. Die Folgen für die innere Sicherheit, das Bildungssystem, den sozialen Wohnungsbau und das Gerichtswesen bekommen nach und nach deutlichere Konturen. Unter anderem ist es unakzeptabel, dass deutsche Gerichte wegen der Vielzahl von Asylverfahren über Jahre blockiert sind und die hauseigenen Verfahren jahrelang auf die lange Bank verschoben werden.

Die Europäische Union ist in einem bedauernswerten Zustand. Die osteuropäischen Visegrad-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) arbeiten allesamt auf autoritäre Systeme hin und schotten sich vor allem bei der Asylpolitik vollkommen ab. Die grundlegen-den, demokratischen Werte der Union, zu denen sie sich bei ihrem Eintritt klar verpflichtet haben, werden ausgehöhlt. Das Vereinigte Königreich übergibt sein Kündigungsschreiben in Brüssel. Von den verantwortungslos lügenden Rattenfängern, von denen sich die Be-völkerung von Großbritannien bei der Volksabstimmung über den Verbleib in der EU verführen ließ, ist heute nicht mehr viel zu sehen und zu hören. Das Land ist angesichts des bevorstehenden Austritts aus der EU erstarrt. Offenbar will die britische Regierung nicht zu den eingegangenen Verpflichtungen stehen. Die Verhandlungen über die Austrittsbedingungen stagnieren lange und bleiben auch nach Monaten ohne jedes Ergebnis. Der außenstehende Betrachter kommt zum Schluss, dass das Vereinigte Königreich lieber heute als morgen vom Brexit zurücktreten würde, wenn das ohne Gesichts-verlust ginge. Die Premierministerin Theresa May setzt kurzfristig Neuwahlen an, um ihre Position zu stärken, erreicht dabei jedoch genau das Gegenteil. Die Verhandlungen werden nun noch schwie-riger.

Bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich wird ein europäischer Hoffnungsträger kreiert, als Emmanuel Macron die Stichwahl gegen Marine Le Pen mit 65 zu 35% gewinnt. Durch Nichtstun werden die in der Ukraine geschaffenen Fakten weiter zementiert. Die freie Welt kann sich die Rückgabe der von Russland völkerrechtswidrig und rücksichtslos annektierten Gebiete Krim und Donbass abschminken, wenn sie keinen Weltkrieg riskieren will. Die gegen Russland ver-hängten Sanktionen scheinen hilf- und ideenlos und bleiben wir-kungslos.

Angesichts der weltpolitischen Lage fällt die Bundesregierung in eine gefährliche Handlungsstarre, da im Herbst ein neuer Bundes-tag gewählt wird. Der SPD-Parteitag wählt Martin Schulz mit 100 % zum neuen Vorsitzenden, der als Heilsbringer verklärt wird. Als die Landtagswahlen zunächst im Saarland und in Schleswig-Holstein, dann auch noch in Nordrhein-Westfalen verloren werden, bröckelt der Putz. Die CDU ist im Aufwind. Nachdem Joachim Gauck nicht für eine zweite Amtszeit zur Verfügung steht, darf nach seiner Wahl durch die Bundesversammlung nunmehr der ehemalige Außenmi-nister Steinmeier seinen staatsmännischen weißen Haarschopf als Bundespräsident präsentieren. Gabriel wechselt vom Wirtschaftsressort ins Außenministerium und legt an Beliebtheit deutlich zu. Beim Bundeswehrskandal wird eine Rechtsgesinnung bei einigen Offizieren offensichtlich. Ein Oberleutnant stellte einen Asylantrag als Syrer und beabsichtigte Anschläge angeblicher Flüchtling durch-führen. Unglaublich.

Schon am Neujahrstag kostet ein IS-Terroranschlag auf einen Nachtclub in Istanbul 39 Menschenleben. Auf einer Fähre vor Jakarta tötet ein Brand 20 Menschen. Der IS-Terror sucht England heim mit mehreren Anschlägen in London und auf ein Konzert von Ariana Grande in Manchester, bei dem 22 Menschen, hauptsächlich Kinder sterben. Der Halbbruder des nordkoreanischen Diktators wird in Kuala Lumpur vergiftet. In Addis Abeba tötet ein Erdrutsch auf einer Mülldeponie 48 Menschen. In Haiti rast ein LKW in eine Menschenmenge, 38 Menschen sterben. Ein Terroranschlag auf die U-Bahn in St. Petersburg fordert 14 Menschenleben. 44 Tote sind nach Anschlägen auf die Kopten in Nordägypten zu beklagen. Tali-ban töten in Armeeuniformen 140 Soldaten in einem Armeestütz-punkt. Bei einem Überfall auf ein Kasino in Manila werden 36 Men-schen getötet. Mehrere schwere Erdbeben und nachfolgende Lawi-nen erschüttern die Abruzzenregion in Italien mitten in Europa. Eine 100 kg schwere Goldmünze wird aus dem Bode-Museum in Berlin gestohlen und bleibt unauffindbar.

Auch in diesem Frühjahr sind prominente Zeitgenossen verstor-ben, die unser Leben mehr oder weniger bereichert haben: der Schauspieler Klaus Wildbolz (79), der schwedische Tenor Nikolai Gedda (91), der SPD-Politiker Horst Ehmke (90), der Rocker Chuck Berry (90), die Schauspielerin Christine Kaufmann (72), der Maler A. R. Penck (77), die Sängerin und Schauspielerin Dali Lavi (74) und der Schauspieler Roger Moore (89).

Es gibt auch ein paar gute Nachrichten im Frühjahr2017. Die eng-lische Königin Elisabeth II. begeht feierlich ihr 65. Thronjubiläum. Die Elbphilharmonie wird eingeweiht und zu einer beispiellosen Er-folgsgeschichte, ist permanent ausgebucht und neues Wahrzeichen Hamburgs.

Bayern München wird erneut Deutscher Fußballmeister, man ist dennoch völlig unzufrieden, da man zuvor in der Championsleague im Viertelfinale gegen Real Madrid chancenlos war und auch im DFB-Pokal schon im Halbfinale gegen Borussia Dortmund ausschei-det. UEFA-Championsleague-Sieger wird zum zweiten Mal Real Madrid, DFB-Pokalsieger Borussia Dortmund gegen Eintracht Frankfurt. Der Kapitän der Nationalmannschaft, Philipp Lahm, be-endet seine Karriere. Der VfB Stuttgart schafft nach dem enttäu-schenden Abstieg den direkten Wiederaufstieg und darf wieder in der ersten deutschen Bundesliga mitspielen. Die Mitgliederver-sammlung beschließt mit großer Mehrheit die Ausgliederung der Profimannschaft und die Bildung einer AG.

Ein Anschlag auf den Mannschaftsbus von Borussia Dortmund vor dem Championsleaguespiel gegen den AS Monaco in Dortmund schockiert die Welt. Der Attentäter hatte auf einen Kursverlust der BVB-Aktien spekuliert und durch die Gewinnaussichten tote Fuß-ballspieler in Kauf genommen. Zum Glück wurde nur der Verteidi-ger Marc Bartra leicht verletzt, aber das Spiel wurde auf den nächs-ten Tag verschoben. Im Boxen verliert Wladimir Klitschko einen sensationellen Weltmeisterschaftskampf gegen Anthony Joshua und beendet ebenfalls seine sportliche Laufbahn. Handballeuropameis-ter Deutschland verliert bei der Weltmeisterschaft in Frankreich knapp im Achtelfinale gegen Katar.

Ende Mai sind es nur noch wenige Tage bis zu meiner Abfahrt. Der Gedanke, zum Bodensee zu radeln, weckt bei mir nostalgische Erinnerungen. Zwar ist es nunmehr schon einige Jahre her, aber tat-sächlich unternahm ich meine allererste Radtour als Pennäler zu-sammen mit meinem Bruder im Jahr 1959 zum Bodensee. Und kurz nach meinem 60. Geburtstag 2003 griff ich diese romantisierte Erin-nerung auf, mit dem mulmigen Gefühl, ob eine solche Tour auch noch im „hohen“ Alter von 60 möglich ist. Sie erst gab mir die Ge-wissheit, welche Glücksgefühle und Zufriedenheit durch diese Art der Fortbewegung hin zu fernen Zielen ausgelöst werden. Sie erst zeigte mir, dass man nahezu alle Orte in Europa mit dem Fahrrad erreichen kann, wenn man nur über die nötige Zeit, Ausdauer und Neugier verfügt. Auch zwei Jahre später radelte ich noch einmal zum Schwäbischen Meer und um es herum.

Wie meist fühle ich mich körperlich und logistisch schlecht vor-bereitet und möchte vieles unterwegs erledigen. Dabei ist jedoch der Prolog zum Bodensee eine ideale Situation, da ich nach etwa zehn Tagen nach Landau zurückkehren werde, und Einiges nachjustieren kann. Ein neues Jahr, eine neue Radtour. Adrenalin spült in meine Blutbahnen. Wie werde ich die Herausforderungen dieses Mal meis-tern?

****

II. Aufwärmtour zum Bodensee

1. Samstag, 03. 06.: Von Landau über Lauterburg nach Gambsheim – Ein schwieriger Starttag. 88,6 km

Der Tag meiner geplanten Abreise ist angebrochen. Er ist wie viele Tage des Frühjahrs ein unsicherer Kandidat. Schwere Unwet-ter sind für heute angesagt, keine schönen Aussichten für den Be-ginn meiner Radtour. Ich bin aufgeregt. Wie wird es mir ergehen, wenn ich mich auf dem Fahrrad erneut oft ungeschützt dem Wetter aussetzen muss? Satteltaschen und Campingausrüstung sind ge-packt und stehen zur Verladung bereit. Erst in Ruhe frühstücken, denke ich, dann noch einmal die Wetterprognosen gründlich analy-sieren. Starten oder abwarten wird am Frühstückstisch äußerst kont-rovers diskutiert. Auf der Ober- und Hochrheinroute benötige ich zum Bodensee vier Tage. Daran führt nichts vorbei, und einen Tag Reserve für Wetterkapriolen sollten zudem eingeplant sein.

Nach sorgfältiger Abwägung der Vorhersagen komme ich zum Schluss, dass sich die Unwetter überwiegend nördlich von Landau konzentrieren werden. Auf meinem Weg nach Süden am Rhein ent-lang sollte es zumindest in den nächsten Stunden trocken bleiben. Mit sehr gemischten Gefühlen und äußerst zögerlich entschließe ich mich zu starten.

Schwere, feuchte Gewitterluft liegt über der Pfalz, als ich mein Fahrrad auf der Lazarettstraße in Landau hinunterrollen lasse. Hin-ter mir, überwiegend im Norden, haben sich furchterregende, schwarze Wolkengebirge aufgetürmt, aber es ist trocken. Ich habe mir zum Rhein eine neue Route auf der App „komoot“ vorschlagen lassen. In heimatlichen Gefilden ist somit nicht nur das instabile Wetter eine Herausforderung, sondern auch die Nutzung und Be-dienung des Telefons zur Navigation, und ich fremdle gehörig zu Beginn mit der neuen Technik. Die Ansage ist im Verkehrslärm nicht zu verstehen und die Kopfhörer stören bei der Fahrt, das Display ist im hellen Tageslicht kaum zu erkennen, die Nutzung braucht viel Energie, das Telefon droht ständig leer zu sein, mein Medion-Smart-phone ist zudem völlig unzuverlässig und hängt sich immer wieder auf.

Kräftig grün vor dem Hintergrund der malerischen Hügelkette des Pfälzer Waldes präsentieren sich die endlosen Reihen der Wein-stöcke am Stadtrand von Landau. Es ist ein vertrautes Bild, das Hei-mat vermittelt. Lange werde ich darauf nicht verzichten müssen. Schon bei meiner Rückkehr vom Bodensee werde ich erneut das er-habene Gefühl empfinden, wenn ich auf diese Kulisse zurolle. Im Westen hält der Himmel schüttere Wolkenfelder in diesiger Luft für mich bereit. So schlecht sieht das doch nicht aus, denke ich. Aber nachdem ich gut zwei Stunden mit Zweifeln verloren habe, muss ich nun unbedingt vorankommen.

Bis Impflingen ist mir der Radweg an der Straße entlang noch sehr vertraut, aber schon dort muss ich im Ortszentrum nach Rohr-bach abbiegen, auf eine Strecke, die ich noch nie geradelt bin. Lange strample ich auf einer Kreisstraße, stets argwöhnisch das Wetterge-schehen und die Wolkenberge im Rückspiegel beobachtend. Angst-einflößender Donner hallt über den Weinbergen. Die sich sonst so lieblich und segensreich mit ihrer Fruchtbarkeit darbietende Pfalz wirkt heute eher bedrohlich auf mich. Unangenehm hügelig ist die Trasse, ein Grund, warum ich sie bislang gemieden habe.

Eine Halterung für mein Telefon habe ich nicht mehr bekommen vor meiner Abreise. Ich möchte sie mir unterwegs besorgen. Somit muss ich immer wieder anhalten, um die Karte zu studieren. Zügig passiere ich Steinweiler und befinde mich danach wieder auf einem Seitenradweg der Straße. An Minderslachen vorbei führt mich die Route unmittelbar nach Kandel, das mir schon wieder etwas mehr vertraut ist. Den Radweg am Bach entlang nach Südwesten kenne ich von vielen Ausfahrten, aber bald muss ich diesen nach Süden verlassen auf einen Feld- und Waldweg, der auf langer Strecke durch den dunklen und feuchten Bienwald führt.

Ich befinde mich in einem 120 km² großen Landschaftsschutzge-biet, das nur durch die Gemeinde Büchelberg unterbrochen ist, und sich bis zur französischen Grenze erstreckt. Hier im Grenzgebiet zu Frankreich steht jeder Baum und Strauch, jeder Stein und Felsen für eine brachiale Geschichte mit den kriegerischen Auseinanderset-zungen zwischen Frankreich und Deutschland über viele Jahrhun-derte. Wanderwege führen zu den Resten von Schießständen und Befestigungsanlagen im Westwall, der vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurde.

Vor der Stegnerhütte lege ich die erste Pause des Tages ein. Es ist ein unwirtlicher Ort in der feuchten, kühlen Luft, wo das Holz der Anlage langsam aber unaufhörlich vor sich hin modert. Ich be-schränke mich aufs Trinken und Orientieren und setze meinen Weg bald über teils schlechte Waldwege in die Lichtung von Büchelberg fort. Zu gerne hätte ich eingekauft, aber hier ist es derart ländlich, dass keine Supermärkte anzutreffen sind. Als ich das Dorf verlassen habe, befinde ich mich auf einem Waldweg Richtung Scheibenhardt. Das geht mir zu weit nach Westen, und ich muss erneut nach links abbiegen, um nach Lauterburg zu kommen.

In Lauterburg will ich mich ebenfalls nicht aufhalten und nehme das historische Städtchen nur als Grenzort zu Frankreich wahr, in dem ich an den Rhein vorstoßen möchte. Aber dies gestaltet sich schwieriger als gedacht. Als ich mich endlich wieder auszukennen glaube, zwingt mich eine Umleitung auf unbekanntes Gelände um ein Industriegebiet herum. Erst in den Rheinauen wähne ich mich wieder im vertrauten Umfeld, und den schön ausgebauten Radweg durch die Uferwälder um die Baggerseen herum kenne ich wie meine Hosentasche. Als ich bei Münchhausen am Zeltplatz vorbei und dann über den Altrheinarm radle, wo ich stets das romantische Bild mit den Schwänen und alten Holznachen im Wasser vor der Kulisse des Dorfes genieße, erfüllt mich der Gedanke an eine Brat-wurst im Kiosk an der Fähre von Seltz mit Vorfreude. Es sind nur noch wenige Kilometer, und die schwülheiße Luft rechtfertigt ein zweites Bier zur Bratwurst im Baguette. Die bedrohlichen Donner hinter meinem Rücken sind verhallt, und langsam stellt sich das Vergnügen ein, wieder auf großer Tour zu unvergesslichen Erleb-nissen zu sein.

Der Rheinradweg im nördlichen Elsass ist wunderbar ausgebaut, ich komme am Nachmittag gut voran, und etwas Langweile auf der mir gut bekannten Strecke stellt sich ein. Oft verläuft der Weg am Dammfuß, und vom großen Fluss ist nichts zu sehen. Nur wenige Radler und Fußgänger sind hier unterwegs, auf den Dammkronen thronen vereinzelt Angler, und eine große Gruppe Kajakfahrer, die ihre Ausrüstung vorbereitet, sorgt mäßig für Abwechslung. Von den hübschen Dörfern des Elsass ist ebenso wenig zu bemerken wie vom betriebsamen Baden Airpark auf der anderen Rheinseite.

Beinheim und Sessenheim habe ich bereits passiert, als es am Spätnachmittag anfängt zu regnen. Den leichten Niesel nehme ich zunächst nicht ernst und akzeptiere den dünnen Wasserfilm auf meiner Haut, der im Fahrtwind verdunstet. Ich bin schon auf der Höhe von Drusenheim, als der Regen stärker wird. Ich mache mich wasserfest und gebe den Plan auf, heute Kehl zu erreichen. Ich ent-schließe mich, auf Feldwegen nach Drusenheim und von dort durch die Dörfer zu radeln, um Schutz zu finden, wenn ich ihn benötige. Zudem bietet sich die Möglichkeit, endlich einzukaufen.

Noch immer regnet es, als ich den LeClerc-Supermarkt in Dru-senheim verlasse, und ich finde das einfach nur schrecklich. Nur kurz warte ich ab, stürze mich unverdrossen in den Regen und radle auf den stark vom Feierabendverkehr belasteten Straßen über Herr-lisheim vorbei an Offendorf nach Gambsheim. Hier kenne ich den Zeltplatz am Baggersee und folge den Hinweisen „Aire de Loisir – Plan d’Eau“. Wie befürchtet ist die Rezeption nicht mehr besetzt, und ich bugsiere mühsam mein Fahrrad durch die Fußgänger-schleuse. Überhaupt ist es grenzwertig bei diesem Scheißwetter zu zelten. Aber als ich unter einer ausladenden Baumkrone ziemlich trockenen Rasen entdecke, packe ich aus und bleibe.

Damit habe ich den oft problematischen ersten Tag trotz Regens gemeistert. Ich esse im Zelt und verlasse es nicht mehr an diesem Abend. Es tritt ein, was ich nicht glauben kann. Es regnet die ganze Nacht hindurch, und durch das Prasseln des Wassers auf das Zelt-dach, sodass ich kaum schlafen kann. Nachts kommen Zeltnachbarn und schlagen mit den Autotüren. Offensichtlich übernachten sie in einem der bunten Baumzelte, die zwischen den Bäumen neben mei-nem Platz gespannt sind. Es sind überdachte Hängematten, die mit Aluminiumleitern zugänglich sind und total abenteuerlich ausse-hen. Ich habe sie zum ersten Mal in dieser Form gesehen und weiß nicht so recht, was ich davon halten soll.

2. Pfingstsonntag, 04. 06.: Von Gambsheim über Straßburg nach Breisach – Im Elsass finde ich meinen Rhythmus. 105,0 km

Schon längst hätte ich abbauen und packen sollen, aber es regnet immer noch im Elsass. Intensiv denke ich darüber nach, wie ich meine Sachen verstaue und auf mein Fahrrad lade, ohne dass sie zu sehr nass werden. Als ich im Zelt schon alles, was möglich ist, ein-gepackt habe, hört es endlich auf. Erleichtert kann ich in den neuen Tag starten, obwohl ich völlig unausgeschlafen und ziemlich zer-mürbt bin. Ich stehe vor den Toren der wunderbaren Stadt Straß-burg und muss sie wieder einmal möglichst fehlerfrei durchqueren. Ich wähle die Straßen nach Killstedt und La Wantzenau, gerate auf den Radweg „Des Forts“, den ich bereits im letzten Jahr auf der Rückkehr von der Loire befahren habe. Er scheint neu zu sein, gleichwohl kommen mir die patinierten Betonstrukturen der Magi-not-Linie bekannt vor.

Es ist eine herrliche Strecke, die Wolken hängen zwar bedrohlich tief, aber es bleibt trocken. Auch der Wald von Robertsau, in dem Gassigänger mit ihren Hunden und Frühsportler unterwegs sind, kommt mir vertraut vor, und ich erreiche schnell den Rand der gro-ßen Stadt im Hafenbereich, wo viele Flusskreuzfahrtschiffe festge-macht haben. Ich versuche den Hinweisen des Rheinradwegs 15 zu folgen, der Richtung Stadtzentrum führt. Auf der gesamten Strecke halte ich Ausschau nach einem offenen Café oder einer Bar. Aber an meiner Strecke finde ich nichts, und Umwege will ich nicht fahren. Sicherheitshalber decke ich mich in einer Bäckerei, in der es keinen Kaffee gibt, mit Backwaren ein.

Überhaupt war ich mit dem Fahrrad schon so oft in Straßburg, und ich habe vor, zügig durchzuradeln. Zwar hat es aufgehört zu regnen, aber das nächste Unheil meldet sich an. An einer Baustelle geht es auf dem vertrauten Radweg nicht weiter, und ich folge einer Umleitung. Arglos radle ich an einem Kanal entlang, als sich die Umleitungsschilder verlieren. Wo bin ich? Ich ahne, dass ich viel zu weit nach Westen gerate. Der von mir anvisierte Canal du Rhone au Rhin ist weit und breit nicht zu sehen. Auf einer Bank frühstücke ich erst und muss heute dabei auf meinen Kaffee verzichten. Mühsam versuche ich mich zu orientieren. Gestern bin ich von meiner ge-planten komoot-Route abgewichen. Jetzt stelle ich fest, dass man Touren nur mit Internetanschluss planen kann und keine detaillier-ten Karten geladen sind. Schon am zweiten Tag rächt sich, dass ich mich nicht ausreichend mit komoot vertraut gemacht habe. Mit mei-nen alten Radtourenkarten ist auch kein Staat mehr zu machen. Also frage ich einen Passanten. Ich bin am Canal de Bruche und tatsäch-lich viel zu weit westlich.

Angewiesen auf Hinweisschilder und meine mäßige Ortskennt-nis radle ich zurück. Dabei versuche ich, mich Illkirch-Graffensta-den zu nähern und frage mehrmals nach dem Weg. Schon stehe ich an einem unüberwindbaren Hindernis, einer Autobahn. Meine Stimmung ist auf den Nullpunkt gesunken. Scheinbar ausweglos sehe ich vor mir den vorbeibrausenden Verkehr, beschließe, jetzt nur noch nach Bauchgefühl zu fahren und stehe wie von Zauberhand geführt wenig später am Westufer des Canal du Rhone au Rhin. Der Tag scheint gerettet, das Wetter hat sich gebessert, die Sonne scheint wohlwollend auf mein Vorhaben herab. Hier kenne ich mich aus und nehme Fahrt auf. Schnurgerade auf lange Strecke begleitet der schöne Radweg die Wasserstraße. Hier sind viele Radler unterwegs und Freizeitkapitäne grüßen wohlgelaunt aus ihren Schiffen. Die Route führt stramm nach Süden, bald wird Erstein passiert.

Schneller als mir lieb ist, habe ich Straßburg verlassen und nichts von der schönen Stadt gesehen. Nichts von der weltberühmten Ka-thedrale, deren Turm einst das höchste Bauwerk der Welt war, noch vom Zixplätzl mit den wunderschönen Fachwerkhäusern am Kanal, nichts von den aus aller Welt angereisten Touristenmassen. Ich be-sinne mich, bin auf einem Transfer zum Bodensee und kann auf der Strecke nicht alles anschauen. Auch von den romantischen elsässi-schen Städtchen und Dörfern ist hier nichts zu sehen. In einiger Ent-fernung im Westen sind sie am Fuß der Vogesen aufgereiht, Ribeau-ville, Riquewihr und viele andere mehr. Um sie zu besuchen, muss man mehr Zeit mitbringen.

Bei Krafft habe ich früher den Kanal verlassen, selbst letztes Jahr bin auf dem Weg nach Norden erst hier zum Kanal vorgestoßen, nun stelle ich fest, dass der Radweg weiterführt. Mehr als 40 km ver-läuft es schnurgerade mit nur wenigen Knicken. Als ich während der Mittagspause auf einer Bank sitze, kommt Günter aus Würzburg an. Er erzählt, dass seine Freundin zu Fuß auf dem Jakobsweg un-terwegs ist, und dass er den Jakobsküstenweg radeln und sie dann in Santiago treffen will. Toll, sage, ich da will ich auch hin, mache aber vorher einen Abstecher zum Bodensee, weil ich meine Freun-din dort treffen will. Er scheint wesentlich besser organisiert zu sein als ich, lässt sich von seinem Navi ins Ohr flüstern und verfügt für alle Fälle über ein Ersatzhandy. Toll. Er ist jünger und schneller als ich, nicht nur auf dem Fahrrad sondern auch mit seiner IT-Ausrüs-tung. Wir verlieren uns.

Am Nachmittag strample ich etwas missmutig weiter am Kanal entlang. Es ist heiß und schwül geworden, und ich habe Lust auf ein kühles Weizenbier. Aber es kommt weder ein Picknickplatz noch ein schattiger Biergarten. Weiterhin verliert sich der Radweg in der Ferne zwischen Wasserlauf und Buschreihe. Immer wieder wird der Blick nach Westen über die fruchtbare Oberrheinische Tiefebene mit der pittoresken Hügelkette der Vogesen am Horizont frei. Kurz vor Marckolsheim kann ich endlich in ein einladendes Radlercafé ein-kehren. Noch bevor ich bestellt habe, kommt Günter an, er hat einen Umweg gemacht und verführt mich zu einem wunderbaren Stück Torte zum Kaffee. Wir flachsen und verabreden uns am Abend auf dem Inselzeltplatz bei Breisach.

Bei Marckolsheim endet der Kanalradweg, es geht durchs Dorf weiter, und ich fahre an der Landstraße entlang. Schnell bin ich in Kunheim, wo ich mich an einen schönen Radweg an einem Wasser-lauf entlang entsinne, der mich rasch an Biesheim vorbei hinüber zum Rheinufer bringt und in meiner Karte nicht verzeichnet ist. Auf eine Navigation muss ich heute verzichten, da die Routenplanung mit komoot nur mit Internetanschluss möglich ist. Das ist ok, da ich mich hier auf dem Radwegenetz einigermaßen auskenne. In der Tat finde ich den Abzweig nach links kurz nach Ortsende, und ich radle in den schönsten Teil des Tages hinein, in den beginnenden Abend mit warmem Sonnenlicht und milden Lufttemperaturen. Zwar zwingt mich eine Baustelle auf eine Umleitung, aber schnell bin ich auf der D 52, die mich zu einem großen Kreisverkehr und von dort auf die Brücke über den Rhein Richtung Breisach bringt. Auf der In-sel geht es nach links, und ich bin schon da. Kurz nach mir kommt Günter an. Sein Navi hat ihn über den Rhein nach Deutschland ge-lotst – ein Umweg.

Der Zeltplatz verfügt über einen Kiosk, auf dem wir uns verabre-den. Ein schwäbischer Landsmann gesellt sich zu uns, der mit dem Fahrrad auf dem Weg in die Camargue in Südfrankeich ist. Ich kann erzählen, dass ich dort 2009 war und es sehr genossen habe. Ein Schweizer sitzt am Tisch, der mit Fahrradhänger am Rhein entlang nach Rotterdam fährt. Hier war ich 2006 ebenfalls mit dem Fahrrad kurz nach dem Sommermärchen. Es entwickelt sich ein netter Abend unter Gleichgesinnten. Mehr als ein Bier hebt die Stimmung und sorgt für eine wunderbare Bettschwere. Ich wünschte mir viel mehr solcher Begegnungen auf meinen Touren. Es ist sehr kühl ge-worden, und ich benötige in der Nacht meinen Pulli.

3. Pfingstmontag, 05. 06.: Von Breisach über Basel nach Schwörstadt – Besuch einer Kunstmetropole und Fahrt am wilden und anstrengenden Hochrhein. 100,0 km

Es ist noch völlig dunkel, als ich aufwache. Die Rheininsel beher-bergt eine ganz erstaunliche Tierwelt. Unterhaltsames und virtuoses Vogelgezwitscher begleitet mich beim wach werden. Es ist herrlich in dieser freien Natur, man braucht keinen Wecker. Eine ziemlich homogene Schleierwolkendecke verdeckt den Himmel, als die Sonne vollends aufgegangen ist. In der Rezeption gibt es erst ab 8:30 Uhr Kaffee, so lange möchte ich nicht warten. Ich mache mich und mein Gepäck fertig. Günter schläft im Zelt in der nächsten Parzelle. Um 7:00 Uhr bin ich startklar, aber im Nachbarzelt rührt sich noch nichts. Es bestätigt sich, dass jüngere Radler meist länger schlafen als ich, aber dafür meist etwas schneller sind. Ich verabschiede mich durch Zuruf durch die Zeltwand. Unsere Wege trennen sich ohne-hin bald, da Günter Richtung Mülhausen zum Eurovelo 6 fährt, den ich 2009 und im letzten Jahr ebenfalls geradelt bin. Ich hingegen habe mir vorgenommen, auf dieser Tour westlich des Rheins bis Ba-sel zu radeln, mich dort kurz umzuschauen und am Hochrhein ent-lang weiter zum Bodensee zu fahren. Der Campingplatz befindet sich noch im Schlafmodus. Es ist noch keine Menschenseele zu se-hen. Am Morgen ist es sehr kühl, und ich trage lange Sachen.

Bevor ich die Rheininsel verlasse, lasse ich mir den tollen Blick hinüber auf den Kirchberg von Breisach nicht nehmen, auf dem das Münster St. Stephan erhaben auf die Rheinebene hinausblickt. Un-ten am Ufer liegen jedes Mal, wenn ich hier vorbeikomme, Fluss-kreuzfahrtschiffe vor Anker. Jetzt trägt mich mein Fahrrad über die Brücke zum Kreisverkehr bei Volgelsheim und dort nach links in Richtung Süden. In meiner alten Karte ist ein ufernaher Radweg ein-getragen. Ich fahre zurück und suche ihn aber es gibt ihn nicht. Mir fällt ein, dass ich ihn schon einmal vergeblich gesucht habe. Also muss ich erneut auf die Straße, die schnurgerade am Dammfuß ent-lang an Vogelgrün und Geiswasser vorbei geradewegs zum umstrit-tenen weil sehr alten Kernkraftwerk Fessenheim führt. Es handelt sich um das älteste (zwei Druckwasserreaktoren sind seit 1977 in Be-trieb) und leistungsschwächste Atomkraftwerk Frankreichs. Seine Stilllegung wird seit langem von der Inbetriebnahme neuer Anlagen abhängig gemacht und ist noch nicht terminiert.

Am Kraftwerksgelände biege ich ins Dorf Fessenheim ab, um dort zu frühstücken. Aber die Bäckereien sind geschlossen, und ich radle weiter nach Blodelsheim, wo ein „Tabac“ bereits geöffnet hat. Hier bekomme ich meine Croissants, und der Patron braut mir aus reiner Freundschaft einen kostenlosen und starken Kaffee. Während ich kaue dröhnt er mich mit politischen Parolen zu, faselt von Hitler und Luzifer und beschimpft den kommenden französischen Präsi-denten Macron als Teil des Bankenestablishments. Hier scheint der Front National eine Stimme zu bekommen zu haben.

Auf bequemen und sicheren Seitenradwegen neben der Straße geht es weiter nach Bantzenheim und Ottmarsheim. Schon am Orts-rand stoße ich auf eine offene Bar. Mir ist so kalt, dass ich der Verlo-ckung, mich dort drinnen aufzuwärmen und ein zweites Frühstück einzunehmen, nicht widerstehen kann. Lange sitze ich, esse Spiegel-eier und mache meine Tagebucheintragungen. Jetzt möchte ich die wunderbare karolingische Kapelle wieder einmal sehen. Schnell habe ich die Abteikirche Saint-Pierre et Saint-Paul im Ortszentrum neben dem Rathaus gefunden. Hier ist seit meinem letzten Besuch alles neu gemacht worden. Von einem großzügigen Platz aus kann ich wunderbar fotografieren, und ein Pool zur Bildspiegelung darf auch nicht fehlen. Einmal mehr bin ich von dem alten, wunderbar renovierten Gemäuer beeindruckt. Es wurde im frühen 11. Jahrhun-dert als Zentralbau in der Form eines Oktogons nach dem Vorbild des Aachener Doms erbaut. Auch der Innenraum ist schnörkellos und angenehm nüchtern gestaltet. Sicher ist es eines der bedeu-tendsten sakralen Gebäude der Romanik.

Ich habe heute schon genug getrödelt, auf der Straße strample ich weiter nach Süden, komme nach Hombourg, bestaune an der Straße kurz das märchenhafte Château Burrus, dessen Name auf eine fran-zösisch-schweizerische Tabakdynastie zurückgeht. Links liegt Petit-Landau und kurz vor Kembs wird der Canal de Huningue über-quert. Was ist denn das? Unten verläuft am Kanal entlang ein neuer Radweg, der sehr belebt ist. Nichts wie hinunter, und ich finde die Hinweise auf den Radweg 15 wieder. Erst später wird mir klar, dass es eine Teilstrecke des Eurovelo 6 ist, der nach Basel führt. Ich bin begeistert und nehme Fahrt auf. An einer Schleuse finde ich den Hinweis auf die „Petite Camargue“, ein Naturschutzgebiet in den Rheinauen, das mir allerdings nur eine kurze Pause wert ist, aber schöne Erinnerungen an meine Tour 2009 weckt. Es ist nicht mehr weit von hier nach Basel. Schon so oft bin ich am Rhein entlang ge-radelt, aber genau hier war ich noch nie. Und das Radwegenetz ist in den vergangenen 14 Jahren stets ausgebaut worden. Abrupt endet der Radweg nahe der Kanalmündung, und die Hinweisschilder sind uneindeutig. Ich gelange in das urbane Umfeld der Stadt Basel und muss wieder einmal meinem Bauchgefühl folgen. Also radle ich Richtung „Basel“ und „City“. In einer verlassenen Zollstation über-quere ich die Grenze zur Schweiz, komme durch den „Novartis Campus“, bewege mich in der Nähe der Grenze, weiß aber nicht mehr, wo ich genau bin.

Als ich vor dem schmucken Spalentor stehe, bin ich zuversicht-lich, dem Zentrum näher zu sein. Mit gemischten Gefühlen radle ich über eine riesige Kreuzung durch das Tor, durch den Leonhardsgra-ben und werfe einen Blick in den Lohnhof, einem ehemaligen Chor-herrenstift des Augustinerordens. Ich lasse mein Fahrrad Richtung Rhein hinunterrollen und lege auf dem großen Platz vor der Elisa-bethenkirche eine Pause ein. Da ich mich nicht wohl fühle, schiebe ich mit Blick auf den fantasievollen Tinguely-Brunnen einige Kalo-rien nach.