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Allein mit dem Fahrrad fährt der Autor auf einer Route entlang dem Rhein, der Lahn und der Weser nach Norden, dem Mittellandkanal und der Oder nach Osten und dann der römischen Bernsteinstraße nach Süden bis zur Adria. Auf dieser Route besucht er u. a. die Städte Limburg, Marburg, Fritzlar, Hameln, Hannover, Braunschweig, Magdeburg, Potsdam, Breslau, Glatz, Olmütz, Brünn, Wien, Laibach, Görtz, Grado und Venedig, mithin bedeutende Schauplätze der europäischen Geschichte. Auf dem Rückweg durchquert er die Alpen auf dem zauberhaften Ciclovia Alpe-Adria von Udine über Tarvisio und Villach nach Spittal. Dabei hat er viele weniger bekannte und besuchte aber dennoch hochinteressante Städte einbezogen, was ihm besonders wichtig ist. "Stadt, Land, Fluss - Mitteleuropa" ist nicht nur eine spannende Tourbeschreibung, sondern auch ein informativer Erfahrungsbericht über die Begegnung mit einem weithin unbekannten, östlichen Mitteleuropa.
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Seitenzahl: 296
Veröffentlichungsjahr: 2015
Volker Mayer
Stadt, Land, Fluss -Mitteleuropa
Tagebuch einer außergewöhnlichen Radreise durch Deutschland, Polen, Tschechien, Österreich, Ungarn, Slowenien und Italien 2014
www.tredition.de
© 2015 Volker Mayer
Umschlag, Fotos: Volker Mayer
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback
978 – 3 – 7323 – 5881 – 6
Hardcover
978 – 3 – 7323 – 5882 – 3
e-Book
978 – 3 – 7323 – 5883 – 0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Über den Autor:
Der Autor ist Jahrgang 1943, lebt in Landau in der Pfalz sowie in Mühlbach am Hochkönig in Österreich. Nach Ende seiner Berufstätigkeit als Experte der Abwasserwirtschaft und leitenden Tätig- keiten im Beratenden Ingenieurwesen und im Anlagenbau hat er sich vorge- nommen, die Welt in individuellen Rei- sen kennenzulernen. Dabei durchquert er im Sommer mit Touren über 3.500 bis 7.000 km den europäischen Kontinent mit dem Fahrrad, und im Winter besucht er die wärmeren Länder im Süden unserer Erde mit Flugzeug, Zug und Bus. Dazu kommen Einsätze als ehren- amtlicher Experte für den Senioren-Experten-Service, Bonn, in China, Honduras und Bulgarien. Seine Erlebnisse möchte er gerne mit Interes- sierten teilen, hält sie minutiös in Tagebüchern fest und verfasst jeweils nach seiner Rückkehr Bücher.
Seine Winterreisen führten ihn in Asien nach Indien, Thailand, Laos, Kambodscha, Vietnam, Sri Lanka, Malaysia, Brunei und Singapur, in Lateinamerika nach Mexiko, Belize, Guatemala, Brasilien, Uruguay, Ar- gentinien, Chile, Bolivien und Peru und in Afrika nach Marokko, Kenia, Tansania, Sambia, Simbabwe, Botswana, Namibia und Südafrika. Dabei entstanden bislang Abhandlungen über Mexiko (2005) und Indien (2007). Über seine Radreisen u.a. nach Istanbul (2007), Est- land (2008), durch Frankreich (2009), zum Nordkap (2010), nach Sagres/Portu- gal (2011), in die Ukraine und auf die Halbinsel Krim (2012) sowie nach Eng- land, Schottland und auf die Shetlands (2013) hat er bislang acht literarische Tagebücher verfasst. Hiermit legt er seine erste Veröffentlichung vor.
Über die Tour:
Bei seinen Großen Sommerradtouren (seit 2003) hat sich der Autor das Ziel gesetzt, jeweils ein Ende Europas von der Pfalz aus mit dem Fahrrad zu erreichen. Dafür steht jeweils ein Zeitfenster zwischen Mitte Juni und Ende August zur Verfügung, da im Mai und September die Tage kürzer und die Nächte oft zu kühl für Camping sind. Im Jahre 2014 war er durch einen kurzfristig anberaumten Chinaaufenthalt gezwungen, den Start auf Mitte Juli zu verschieben, sodass insgesamt weniger Zeit zur Verfügung stand.
Durch Hinweise in TV-Dokumentationen wurde er auf die Römische Bernsteinstraße aufmerksam, die von Danzig am Ostrand der Alpen vorbei nach Venedig führt. Zudem steht der Besuch von Städten wie Limburg, Magdeburg und Potsdam schon lange auf seiner Agenda. Aus diesen Überlegungen heraus fokussierte er sich auf eine Route entlang dem Rhein, der Lahn und der Weser nach Norden, dem Mittellandkanal und der Oder nach Osten und dann der Bernsteinstraße nach Süden bis zur Adria. Auf dieser Route würde er u. a. die Städte Limburg, Marburg, Fritzlar, Hameln, Hannover, Braunschweig, Magdeburg, Potsdam, Breslau, Glatz, Olmütz, Brünn, Wien, Laibach, Görtz, Grado und Venedig besuchen können, mithin bedeutende Schauplätze der europäischen Geschichte.
Nachdem er bislang seine Radreisen nach Ländergrenzen strukturiert hat, fiel ihm bei der Tour durch Mitteleuropa auf, dass diese dank der EU und dem Schengener Abkommen kaum mehr existent sind. Dieses sowie das einheitliche Zahlungsmittel im Euro-Raum ist eine nach seiner Auffassung epochale Errungenschaft europäischer Nachkriegspolitik, die es unbedingt zu erhalten gilt. Deshalb ist dieses Buch nach Maßgabe der naturgegebenen Flusssysteme gegliedert. Zudem sind in Mitteleuropa viele Flussradwege fantastisch ausgebaut und somit stets Gegenstand der Routenüberlegungen von Fernradlern. Wasserscheiden werden gerne gemieden, da sie in der Regel mit Höhenunterschieden verbunden sind.
Wie bei seinen früheren Touren werden auch bei der hier beschriebenen viele weniger bekannte und besuchte aber dennoch hochinteressante Städte einbezogen, was ihm besonders wichtig ist. „Stadt, Land, Fluss -Mitteleuropa“ ist nicht nur eine spannende Tourbeschreibung, sondern auch ein informativer Erfahrungsbericht über die Begegnung mit einem teils vergessenen, östlichen Mitteleuropa.
Inhaltsverzeichnis:
I.
Vorbemerkungen zum Frühjahr
II.
Rhein und Lahn: Herrliche Fahrt durch eine einmalige Flussromantik
III.
Eder, Fulda und Weser: Schöne Städte in der Mitte Deutschlands
IV.
Mittellandkanal, Elbe, Havel und Spree: Durch die norddeutsche Tiefebene nach Berlin
V.
Oder und Glatzer Neiße: Fahrt durch ein unbekanntes Schlesien
VI.
Flusssystem der Donau: Schöne Landschaften und Metropolen in Tschechien, Österreich, Ungarn und Slowenien
VII.
Isonzo: Am geschichtsträchtigen Fluss zur Adria
VIII.
Tagliamento, Fella, Drau und Salzach: Auf dem unvergesslichen Ciclovia Alpe-Adria durch die Alpen
IX.
Nachbetrachtungen zum Herbst
Quellenverzeichnis
Bildnachweise
Tourübersicht
Tourskizze
I. Vorbemerkungen zum Frühjahr
Schon am zweiten Tag des Neuen Jahres 2014 befinde ich mich auf dem Anflug zur abenteuerlichsten Winterreise meines Lebens. Als ich in Arusha am Fuß des Kilimanjaros aussteige, liegt eine aufregende Tour durch den Süden des afrikanischen Kontinents durch die Länder Tansania, Sambia, Simbabwe, Botswana, Namibia und Südafrika vor mir. Mit Bedacht habe ich die Route ausgewählt und dadurch Höhepunkt an Höhepunkt gereiht. Weltklasse-Sehenswürdigkeiten arbeite ich ab wie die Perlen eines Rosenkranzes: Serengeti – Ngoro-Ngoro-Krater – Dar es Salaam – Ruinenstadt Kilwa – Viktoriasee – Tanganjikasee – Viktoria-Wasserfälle – Ruinenstadt Great Simbabwe – Okavango-Delta – Namib-Wüste – Swakobmund – Lüderitz – Kolmanskoop – Fish-River-Canyon – Kimberley – Pietermaritzburg – Drakensberge – Durban – Kapstadt.
Bei meinem Winterurlaub in Mühlbach in der ersten Aprilhälfte sind die Schneeverhältnisse schon so schlecht, dass ich auf das Skilaufen lieber verzichte. Ein Chinaaufenthalt für den SES im Juni wirbelt meinen Jahresrhythmus vollends durcheinander. Dabei ist es nach dem Einsatz in der Provinz Zheijang möglich, einen besseren Blick auf Shanghai zu werfen als bisher. Dennoch lasse ich auch in meinem 72. Lebensjahr keinen Zweifel daran aufkommen, in diesem Sommer eine Große Radtour zu unternehmen. Da kaum 50 Tage zur Verfügung stehen, muss sie entsprechend kürzer ausfallen. Ich entscheide mich, über Berlin, Breslau und entlang der historischen Bernsteinstraße nach Venedig zu radeln, und auf dem Rückweg durch die Alpen ein paar Tage in Mühlbach zu verbringen.
Meine Ausrüstung ist in den letzten Jahren Zug um Zug besser geworden, und ich habe sogar das schlechte Wetter in Schottland im letzten Jahr gut überstanden. Auch die Vorbereitung meines Zweirads ist inzwischen reine Routine, und ich bin nunmehr seit zwei Jahren ohne jede Panne unterwegs. Ich lasse neue Reifen und Bremsbeläge montieren und verschiebe die neuen Pedale auf die nächste Saison. Zum ersten Mal habe ich mein Nokia-Smartphone auf der Großen Tour dabei, das ein vorzügliches Navigationssystem enthält, und auf das man Karten der ganzen Welt laden kann. Außer meinen alten Radtourenkarten nehme ich nur noch eine in meinen Unterlagen vorhandene Karte für Südwestpolen mit und möchte mich ansonsten auf das Telefon verlassen.
In der Republik kommt die Große Koalition ins Laufen und schießt nach Meinung der Wirtschaftsforschungsinstitute links über das Ziel hinaus. Bei den Europawahlen im Mai beginnt der Aufstieg der AfD. In ganz Europa werden auffällig viele Europagegner in das Europäische Parlament gewählt. Das Jahr 2014 markiert indes eine Wende der Weltpolitik.
War man bislang der Meinung, der Kalte Krieg sei vorüber, wird man nun eines besseren belehrt. Noch vor Monaten konnte man sich nicht vorstellen, dass Grenzen wieder gewaltsam verändert werden könnten. Russland hatte wohl noch einige Rechnungen mit dem Westen offen und annektiert völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim. Separatisten zetteln einen Bürgerkrieg um die südöstlichen Provinzen der Ukraine Donezk und Luhansk an und werden von Russland unverhohlen unterstützt. OSZE-Vertreter werden entführt und gefangen gehalten. Forbes wählt Putin zum mächtigsten Mann der Welt, da er machen kann, was er will. Der Westen reagiert ziemlich hilflos mit Wirtschaftssanktionen, deren Wirkung umstritten ist. Mitten in Europa entsteht ein Konflikt, der auf Jahrzehnte unlösbar erscheint. Bemerkenswert ist, wie auf beiden Seiten gelogen wird, was ich nach den Lehren der Weltkriege nicht mehr für möglich gehalten hätte. Ein neuer Vorhang ist entstanden, auf dessen beiden Seiten offensichtlich unterschiedliche Wertevorstellungen und Völkerrechte gelten.
In Syrien gerät der Bürgerkrieg weiter außer Kontrolle. Aus ISIS wird IS, der mit beispielloser Brutalität Stadt um Stadt im Irak und in Syrien erobert, sich mit der Einnahme von Ölquellen immer besser finanziert und in seinem Herrschaftsgebiet staatliche Strukturen aufbaut.
Der Bürgerkrieg im Südsudan geht weiter, in Somalia herrscht nach wie vor Anarchie, in Nigeria verüben die Islamisten der Boko Haram grausame Anschläge und entführen Schulmädchen, eine Brandkatastrophe zerstört eine meiner Lieblingsstädte, Valparaiso in Chile. Ein malaysisches Verkehrsflugzeug verschwindet von den Radarschirmen und wird verzweifelt gesucht, ein Grubenunglück in Westanatolien fordert über 300 Todesopfer und offenbart den miesen Charakter des türkischen Führers Erdogan, mit einem Terroranschlag in Ürümqi zeigen die Islamisten Flagge in China.
Bedeutende Persönlichkeiten sterben im ersten Halbjahr 2014: die Schriftsteller Urs Widmer im Alter von 75 und Gabriel Garcia-Marquez mit 87 (Literaturnobelpreis 1982), der Oskarpreisträger Maximilian Schell mit 88 und der ehemalige Schauspieler und Gründer von „Menschen für Menschen“ Karlheinz Böhm mit 86. Der spanische König Juan Carlos tritt von einer Krankheit gezeichnet zurück.
Im Sport wirft das alles überragende Ereignis der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien seinen Schatten voraus. Aber zuerst muss die Bundesligasaison zu Ende gespielt werden. Der FC Bayern München wird mit seinem Trainer Pep Guardiola überlegen Deutscher Meister, scheidet in der Championsleague aber mit deutlichen Niederlagen gegen Real Madrid im Halbfinale aus. Der Erschaffer des Erfolgsclubs Uli Höneß wandert wegen Steuerhinterziehung für dreieinhalb Jahre ins Gefängnis. Der VfB Stuttgart vermeidet mit dem Nottrainer Huub Stevens mühsam als Tabellenfünfzehnter den Abstieg, nicht weil er gut gespielt hätte, sondern weil Hamburg, Nürnberg und Braunschweig unsäglich schlecht waren.
Als endlich die Spiele der Fußballweltmeisterschaften beginnen, bin ich noch in China. Die erste Halbzeit des Gruppenspiels der deutschen Mannschaft gegen Portugal sehe ich im Flughafen in Frankfurt auf einem Fernsehgerät in der Ankunftshalle und die zweite Halbzeit in einem Bäckercafé im Fernbahnhof des Flughafens. Deutschland bejubelt einen 4:0-Sieg nach sehr günstigem Spielverlauf (1:0 durch Elfmeter und Platzverweis eines Portugiesen). Auf meine Anmerkung, dass auch Glück dabei sei, werde ich von meinem Nachbarn im Café, Christian Heidel, Manager von Mainz 05, forsch angeherrscht, dass hier der vierte gegen den zweiten der Weltrangliste spiele, und dass es nichts zu meckern gäbe.
Nach Hause zurückgekehrt arbeite ich verbissen an meinem Schlussbericht zum Chinaeinsatz und muss den Start meiner Großen Fahrradtour Woche um Woche verschieben, kann aber dabei die Gruppenspiele der deutschen Mannschaft gegen Ghana (2:2), die USA (1:0), das Achtelfinale gegen Algerien (2:1 n. V.), das Viertelfinale gegen Frankreich (1:0) und das Halbfinale gegen Brasilien zu Hause verfolgen. Letzteres gerät zum historischen Ereignis. Der 7:1-Sieg der Deutschen gegen den Gastgeber Brasilien erscheint auch nach langer Zeit noch unwirklich und wie im Traum erlebt. Aber es ist reine Realität, und Miroslav Klose wird mit seinem 16. Tor zum Rekordtorschützen aller Weltmeisterschaften. In der Formel 1 beginnt mit neuen Regeln eine neue Ära. Die Mercedes - Silberpfeile dominieren, Sebastian Vettel fährt sogar hinter seinem Teamgefährten Riccardo hinterher.
Am 09. Juli ist meine Chinaakte 2014 geschlossen, meine Taschen und Säcke sind seit dem Vortag gepackt, aber es regnet. Am Abend gewinnt Argentinien das zweite Halbfinalspiel nach Elfmeterschießen gegen die Niederlande. Meine Vorbereitungen sind abgeschlossen, und ich bin fest entschlossen, am nächsten Tag in spannender Erwartung des Endspiels in Rio de Janeiro am 13. Juli zu starten.
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II. Rhein und Lahn: Herrliche Fahrt durch eine einmalige Flussromantik
1. Donnerstag, 10. 07. 014: Von Landau über Speyer nach Worms – Durch die Pfalz, ein Obst- und Gemüsegarten. 87,6 km
Dunkelgraue Wolken verdüstern den Himmel, als ich in meine Große Radtour 2014 starte. Gestern haben Regenschauer die Sommerhitze gebrochen, heute scheint es trocken zu bleiben, gute Voraussetzungen für den Anfang. Durch den Chinaaufenthalt bin ich mir nicht im Klaren über meine Form, fahre langsam und behutsam und nehme mir vor, nur bis Worms zu radeln, was deutlich weniger als 100 km wären. Der gute Verlauf der Fußballweltmeisterschaft für die deutsche Mannschaft und der sich erfolgreich anfühlende Chinaeinsatz geben mir Schwung, das sonst übliche Lampenfieber und die irrationalen Ängste sind verdrängt.
Ich lasse die herrliche Landschaft der Vorderpfalz zurück, die hinter mir nach Westen am Haardtrand in Berge mit über 600 m Meereshöhe ansteigt. Zur Rheinebene geht es kaum spürbar abwärts, das ideale Terrain, um eine gute Form aufzubauen. Die Weinberge liegen hinter mir und machen dem Salat- und Gemüseanbau Platz. Schon immer war für mich die Pfalz so etwas wie ein Garten Eden, wo alles wächst und gedeiht bis hin zu Feigen, Tabak und Esskastanien. Die Landwirtschaft ist personalintensiv. Ganze Horden von Saisonarbeitern sind vielerorts beim Pflücken und Sammeln.
Die Strecke kenne ich wie meine Hosentasche, nach Osten aus Landau hinaus, am Golfplatz Dreihof vorbei, durch den Wald am Hochstädter Bahnhof vorbei zwischen satten grünen Zwiebelfeldern hindurch nach Zeiskam. Wie immer wenn ich nach Norden radle, steuere ich die Rheinauen an. Gleichwohl bin ich nicht mehr bereit, die Umwege auf dem Rheinauenradweg bei Waldsee zu fahren, und radle zügig nach Speyer. Schon zum fünften Mal komme ich während meiner Großen Radtouren durch Speyer. So nah bei Landau ist die Stadt, dass ich meist achtlos hindurchradle. Dabei hat sie eine uralte Geschichte, existierte bereits bei den Römern, war Freie Reichsstadt, Verwaltungssitz der Bayern für die Pfalz seit 1816 und beherbergt mit dem Kaiser- und Mariendom die weltweit größte erhaltene romanische Kirche.
Ich halte mich in der schönen Stadt nicht auf, radle an der neugotischen Gedächtniskirche vorbei, über den Postplatz mit dem Altpörtel, an der Josephskirche und am Bahnhof vorbei Richtung Schifferstadt. Ich trage kurze Sachen, und mir ist kalt. Deshalb lege ich die Mittagspause in einem Imbiss ein mit Pasta, um mich ein wenig zu wärmen. Einmal mehr bewundere ich das alte Rathaus in Schifferstadt, dann geht es weiter nach Dannstadt und Maxdorf. Obwohl ich die Strecke vor zwei Jahren auf dem Weg in die Ukraine bereits gefahren bin, kommt sie mir reichlich fremd vor, und verfahre mich mehrfach. Ich muss zudem feststellen, dass sich die Verkehrssituation im Vergleich zu meinen alten Radtourenkarten erheblich geändert hat.
Vor Lambsheim gerate ich auf eine neue Umgehungsstraße und muss erst zurück ins Dorf, wo ich keine Straße nach Heßheim finde. Zwangsläufig radle ich Richtung Gerolsheim, komme an der Deponie vorbei, biege dann rechts ab nach Heßheim. Damit habe ich auch Frankenthal großräumig umfahren und komme über Groß- und Kleinniedesheim nach Weinsheim und Worms. Ich freue mich, als ich mich von oben der alten Reichsstadt mit ihren Türmen nähere.
Der Anfang am Morgen war sehr schwer, aber jetzt geht es mir gut, und am Nachmittag komme ich gut voran. Ich freue mich riesig, dass in Worms die liebe Marianne und ein warmes Bett auf mich warten. Ich schaue mir nur kurz noch einmal den Kaiserdom an und radle dann mit Hilfe meines Navis quer durch die Stadt auf der Alzeyer Straße nach Westen, wo sich die Weisenheimer Straße etwas verborgen hält, bevor ich sie über einen Fußpfad finde. Der Abend ist urgemütlich und vergeht im Schwelgen in Erinnerungen sehr schnell. Seit zehn Jahren habe ich Marianne meinen Besuch mit dem Fahrrad versprochen, jetzt ist es endlich wahr geworden, weil ich meinen Ehrgeiz gebremst habe und vorsichtig mit meiner Tour beginne. Dabei hätte ich mich durchaus stark genug gefühlt, heute noch nach Oppenheim weiter zu radeln. Aber als in der Nacht ein gnadenloser Wolkenbruch über Worms hereinbricht, bin ich froh, nicht in Oppenheim am Rheinufer im Zelt zu hocken wie vor vier Jahren. So sitzen wir entspannt auf der überdachten Terrasse und beobachten das Toben des Unwetters.
2. Freitag, 11. 07. 2014:Von Worms über Wiesbaden nach Rüdesheim – Wunderschöner Mittelrhein von rechts und ein gnadenloser Wolkenbruch. 84,3 km
Es zieht mich in die Ferne, und ich muss mich von der gastlichen Stätte losreißen. Liebenswürdig meint Marianne, dass sie mein Vorhaben, durch Mitteleuropa zu radeln, ganz toll findet, aber dass sie es selbst nicht machen wolle. Ich schmunzle, Marianne ist 89 Jahre alt und gut drauf. Aber wie schön ist es, einmal auf großer Tour nicht alleine frühstücken zu müssen. Vor mir liegt die Weinstraße durch Rheinhessen, an der ich ebenfalls schon mehrmals entlang geradelt bin. Mit Hilfe meines Telefonnavis ist es ein Kinderspiel, aus Worms hinaus zu finden. Ich brauche nur die Straße nach Hochheim aufzunehmen, wo mir zum ersten Mal der protzige Sandsteinbau der Friedhofskirche auffällt. In Herrnsheim lasse ich den Schlosspark rechts liegen und biege nach Osthofen ab, wo an der Straße entlang ein wunderbarer Radweg verläuft.
Über Mettenheim und Alsheim komme ich nach Guntersblum und dort auf mäßigen Radwegen durch die Felder auf der Talsohle nach Ludwigshöhe und Dienheim. Bald taucht in der Ferne das großartige Panorama von Oppenheim auf mit der stattlichen Basilika auf dem Hügel über dem Zentrum. Heute bin ich schon am Vormittag in Oppenheim, und es gibt keine Ausrede, erneut an der Stadt vorbei zu fahren. Bei jeder meiner Touren war ich zu träge, ins Zentrum hinaufzufahren. Heute habe ich mir das fest vorgenommen, und es lohnt sich, obwohl es steil aufwärts durch die Altstadt geht, um auf den Marktplatz zu kommen. So oft bin ich vorbeigeradelt und staune jetzt über die historische Bausubstanz und die große Anzahl der Besucher. Das Städtchen mit gut 7.000 Einwohnern beherbergt immerhin das Deutsche Weinmuseum und verfügt mit der Katharinenkirche und dem Kellerlabyrinth über erstklassige Sehenswürdigkeiten.
Die Katharinenkirche ist der bedeutendste gotische Sakralbau am Rhein zwischen Straßburg und Köln und ist berühmt für ihre großartige Fensterkunst. Sie wurde 1225 begonnen, 1689 von den Franzosen zerstört und erst ab 1873 wieder aufgebaut. Ihre bescheidene Ornamentik im Inneren verweist auf ihre Nutzung durch reformierte und lutherische Gemeinden seit 1556. Berühmt sind vor allem zwei Glasfenster in der Südfassade, das Lilienfenster von 1937 und die Oppenheime Rose, deren Glasscheiben aus dem 14. Jahrhundert erhalten sein sollen.
Das Oppenheimer Kellerlabyrinth wurde ab dem 14. Jahrhundert gegraben und diente zur Lagerung von Waren aufgrund des Oppenheim zugestandenen Stapelrechts. Es handelt sich um ein 40 km langes System von Gängen, Kellern und Treppen in bis zu fünf Ebenen unter der Altstadt. Heute ist es für den Tourismus erschlossen und zieht viele Besucher an. Oberhalb des Zentrums liegt die Ruine der Burg Landskron, die aber vom Fuß des Hügels nicht zu sehen ist.
Nur kurz halte ich mich auf dem Marktplatz auf, wo das Rathaus mit seinen beiden Treppengiebeln aus dem Jahr 1620 ins Auge springt. Jetzt kann ich es hinunter zum Rhein rollen lassen und bin endlich am großen Strom angekommen, der mich heute und morgen begleiten wird. Einen weiten Weg aus der Schweiz fast von der italienischen Grenze, dort als Vorderrhein, dann als Alpenrhein bis zum Bodensee, danach als Hochrhein und Oberrhein bis hier her hat er zurückgelegt, um seinen Weg als Mittelrhein und Niederrhein bis zur niederländischen Grenze und dann in mehreren Armen bis zur Mündung in die Nordsee fortzusetzen. Viel von Dichtern besungen ist der Fluss heute die bedeutendste und meist befahrene Wasserstraße Europas und der wasserreichste Nordseezufluss. Der Mittelrhein, den ich morgen früh erreichen werde, gehört mit seinen Kulturschätzen seit 2002 zum Weltkulturerbe. Aus einer Höhe von 2.345 m ü. NN kommend legt der Strom insgesamt 1240 km zurück. Jetzt stehe ich bei der Rheinfähre Nierstein an seinem Ufer und freue mich auf die schöne Fahrt in der Halbhöhenlage durch die Weinberge.
Nachdem ich das hübsche Nierstein durchquert habe, finde ich den Radweg und komme auf anstrengender Fahrt im auf und ab zügig nach Norden voran. Der schönste Teil des Radwegs endet an einem Bahnübergang und führt unmittelbar zum Ufer, wo jedoch bald der Asphalt endet und eine unangenehme Fahrt im Schlamm bevorsteht. Aber das kenne ich ja schon und lege auf einem Picknickplatz unmittelbar am Ufer meine Mittagspause ein. Offenbar etwas zu lange habe ich geruht, denn die Weiterfahrt fällt mir unglaublich schwer. Was ist los? Ich dachte, mich gut erholt zu haben, aber der Schein trügt. Mühsam quäle ich mich auf der miserablen Trasse am Ufer entlang voran. Zahlreiche Pfützen sind nicht zu umfahren, Schlammlöcher empfinde ich sogar als gefährlich. Ich ärgere mich, da Mann und Fahrzeug schwer mit Dreck verspritzt sind. Und dann kommt noch dieser schlimme Durst hinzu, der mit Wasser einfach nicht zu löschen ist.
Nackenheim habe ich links liegen lassen, und ein unangenehmes Industriegebiet bei Weisenau liegt vor mir. Jetzt kommt mir das Bootshaus für eine Bierpause gerade recht. Vom Ufer weg führt nun die Trasse und links an der Bahnlinie entlang durch das Werk von Heidelberg-Zement, dann durch die Schrebergärten und zurück zum Ufer auf die herrliche Rheinpromenade von Mainz. Bei all meinen Touren bin ich bislang linksrheinisch weitergefahren. In diesem Jahr habe ich mich zu einem Abenteuer auf der rechten Rheinseite entschlossen. Einen flüchtigen Blick werfe ich auf das vornehme Hyatt-Regency-Hotel, dann kommt durch einen Park hindurch der Mainzer Dom in Sicht, und ich verlasse das Rheinufer, um etwa auf der Höhe des Residenzschlosses, der heutigen Staatskanzlei, auf die Theodor-Heuss-Brücke zu strampeln.
Zum ersten Mal seit langem sehe ich von der Brücke aus das wunderbare Panorama der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt mit seinen Türmen. Vor mir liegt Mainz-Kastel, und der Blick nach Norden flößt mir Angst ein. Über Wiesbaden stapeln sich schwarze Wolken, ein Unwetter braut sich zusammen. Hier kenne ich mich überhaupt nicht aus und versuche aus einem großen, verkehrsreichen Kreisverkehr Richtung Amöneburg zum rechten Rheinufer zu gelangen. Das gelingt, und schon stehe ich vor dem imposanten Schloss Biebrich, das ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Zwischen 1700 und 1750 erbaut diente es als barocke Residenz der Herzöge von Nassau und wird heute vom Land Hessen als Landesamt für Denkmalpflege und für Repräsentationszwecke genutzt.
Die rechtsrheinische Route ist hier sehr urban mit viel Verkehr. Nach einer Einkaufspause in einem Lidl fängt es an zu regnen. Ich warte, radle weiter und komme in einen kräftigen Regenguss. Unter dem Zelt vor einer Harley-Davidson-Werkstatt suche ich Schutz und ziehe meine Regenjacke über. Es will nicht aufhören zu regnen, und ich entschließe mich zur Weiterfahrt. Auf einem Radweg neben einer stark befahrenen Straße geht es weiter. Es ist die Hölle im starken Regen, und erst als es nachlässt und dann ganz aufhört, bin ich mit der Welt versöhnt. Die Sonne blinzelt schon aus den dicken Wolken und verspricht einen wunderschönen Radelabend an der Gestaden des Rheins.
Ich komme nach Walluf und in die Sektstadt Eltville. Hier nehme ich den Hinweis auf den Radweg R 3 auf dem ehemaligen Treidelpfad auf. Als ich das Rheinufer erreiche, denke ich, dass es nicht schöner sein könnte. Zwar ist noch alles nass, aber die Sonne steht schon tiefer und leuchtet die Rheinlandschaft zauberhaft aus. Mein Vorwärtsdrang ist gebrochen, jetzt will ich nur noch die Schönheit des Augenblicks genießen. Noch nie war ich bewusst hier, und nun staune ich über das vornehme Umfeld mit Parks und stattlicher Architektur. Alles sieht außerordentlich wohlhabend aus. Nach Östrich-Winkel befällt mich ein Hungerschub. Auf einer Parkbank in pittoresker Lage esse ich eine Kleinigkeit und beobachte die Städter, die zu einem Glas Wein in einen feinen Gastronomie-Pavillon zum Rheinufer gekommen sind.
Heute habe ich nicht den Ehrgeiz, die 100 km voll zu machen, und nehme mir vor, schon den ersten Zeltplatz vor Rüdesheim anzufahren. Es ist das „Rheingau-Camping“ bei Geisenheim und vom Feinsten. Auf eine herrliche Zeltwiese unmittelbar am Zaun mit Blick auf den Strom stelle ich mein Haus. Hier kann ich mich entspannen und schauen, und nur die vielen parkenden Autos auf der Straße vor mir stören meine Idylle. Noch in der Nacht ist viel Betrieb, als viele Fahrzeuge kommen und gehen.
3. Samstag, 12. 07. 2014:Von Rüdesheim über Lahnstein und Bad Ems nach Diez – Unter Chinesen und Rentnern ins malerische Lahntal. 60,4 km
Ein mutmaßlich weiterer schöner Tag erwartet mich am rechten Rheinufer. Aber als ich die graue Nebelsuppe über dem Fluss sehe, trübt sich auch meine Stimmung etwas ein. Ich will nicht wieder nass werden wie gestern. Es sind nur wenige Kilometer nach Rüdesheim, wo ich vor einem Café frühstücke. Leider verstellt diese unsägliche Bahnlinie den Blick auf mein Lieblingsgewässer und vorbeidonnernde Züge stören meine Ruhe. Ich besuche nur kurz die völlig verwaiste Drosselgasse, beobachte, wie sich Besuchergruppen aus aller Welt aus den Hotels schälen und in Busse einsteigen. Ich defiliere vor einer Kulisse vorbei, die ich bislang meist von der anderen Rheinseite aus gesehen habe. Es sind der runde, weiße Adlerturm als Teil der Stadtbefestigung aus dem 15. Jahrhundert und die kubischen Formen der Brömserburg mit dem Weinmuseum.
Noch einmal muss ich die Bahnlinie überqueren, da der Radweg zwischen Bahn und Fluss verläuft. Er ist schön asphaltiert, und der Blick auf die gegenüberliegende Rheinseite ist so, als ob ich noch nie hier gewesen wäre. Auf dem Höhenrücken taucht die St. Rochuskapelle mit ihrem spitzen Turm auf, das Häusermeer von Bingen entfaltet sich am Hang über dem Ufer, und auf einem Bergrücken schaut die Burg Klopp herüber. Abrupt endet der Radweg, und ich muss auf der B 42 weiterfahren. Zum Glück ist der Verkehr schwach, nur zwei Baustellen stören meinen Rhythmus, in die ich jeweils bei Rot einfahre, da ich den Takt des motorisierten Verkehrs nicht halten kann.
Indessen ist die Nebelsuppe immer dichter und ungemütlicher geworden, und es nieselt sogar leicht. Im „Binger Loch“ taucht der eingerüstete Mäuseturm auf, und oben rechts am Hang Burg Ehrenfels. Der Strom knickt scharf nach rechts ab und fließt vor dem romantischen Assmannshausen vorbei. Ich freue mich über einen Hinweis auf einen Radweg nach Lorch. Zunächst wird die Bahn unterquert, dann führt er im Weinberg steil aufwärts. Was tue ich hier, frage ich mich und werde reich durch die wunderbare Aussicht auf den Fluss zwischen den Steilhängen entschädigt. Es ist gleichzeitig ein Formtest am zweiten Tag, der mir ein gutes Gefühl gibt.
Als ich von oben auf den Strom schaue, kommt mir eine blendende Idee angesichts des feuchten Wetters. Ich muss damit aufhören, meine Touren ausschließlich als strapaziöse Leibesertüchtigung zu sehen, sondern auch das Angenehme mit ihnen verbinden. Ich werde in Lorch auf den Fahrplan schauen, und wenn es passt, mit dem Schiff weiterfahren, wenn möglich bis Lahnstein. Steil hinunter fällt der Radweg, es geht durch den Stadtrand, unter der Bahnlinie hindurch, über die B 42 zur Anlegestelle der „Köln-Düsseldorfer“. Es ist unglaublich. Während ich noch versuche zu verstehen, dass das nächste Schiff bereits in fünf Minuten fährt, kommt die „Stolzenfels“ schon angetuckert.
Ich steige einfach ein, will nicht daran denken, was es kostet, sondern nur noch den Genuss der gemütlichen Schifffahrt und dabei flott vorankommen. Zudem könnte es jeden Augenblick anfangen zu regnen. Nachdem ich mir den Seniorenrabatt für das Ticket gesichert und damit den Preis erträglich gestaltet habe, lasse ich mein Fahrrad abgeschlossen an der Reling zurück und bin nur noch am schauen. Zwei Gruppen dominieren das Bild auf dem Schiff, Chinesen und Senioren. Ich habe die Fahrkarte bis Lahnstein gelöst und spare mir etwa einen halben Radlertag. Zudem ist es ein besonderer Genuss, die historischen Bauten des Weltkulturerbes vom Schiff aus an sich vorbeiziehen zu lassen.
Unzählige romantische Burgen tauchen aus dem Nebel auf und verschwinden wieder. Bald bin ich es leid, sie zu zählen oder gar wissen zu wollen, wie sie heißen. Die malerischen Städte zeigen dem Schiff ihre Schauseiten. Alles kann ich sehen ohne körperliche Strapaze, und als es tatsächlich regnet, kann ich ins Trockene gehen. Das bauliche Ensemble von Bacharach mit seiner Kirche, den schmucken Häusern und Burg Stahleck finde ich besonders ansehnlich. Auch ich bin einer der Millionen Touristen, die das Wasserschloss Pfalzgrafenstein bei Kaub und später die Lorelei fotografieren.
Auffällig ist, dass fast alle Chinesen in St. Goarshausen aussteigen. Vermutlich steht der Besuch der Lorelei mit Absingen des Volkslieds auf ihrem Reiseprogramm. Eine spontane Idee hat mir den Hochgenuss einer Flussfahrt beschert. All die Städte am Mittelrhein, durch die ich schon mit dem Fahrrad hindurchgefahren bin, sind vorbeigeflogen, und als wir in Boppard stoppen, ist mir klar, dass wir bald in Oberlahnstein sind. Nach etwa zweieinhalb Stunden ist das Ganze tatsächlich vorbei, und der Zeitgewinn ermöglicht mir, noch heute tief ins Lahntal vorzustoßen.
Ich mache mich sofort auf den Weg und gönne mir in Lahnstein keine Pause, obwohl es auch hier viel zu sehen gibt. Immerhin ist sie die erste der schönen Städte an der Lahn, die ich jetzt endlich einmal besuchen will. Roger Lewentz (SPD), der aktuelle Innenminister von Rheinland-Pfalz und der Gesundheitspolitiker der FDP Daniel Bahr sind hier geboren, und Rudolf Scharping, ehemaliger Bundesverteidigungsminister und SPD-Vorsitzender, hat hier gewohnt. Es bereitet mir keine Schwierigkeiten, zum Ufer der Lahn zu kommen. Auf der Adolfstraße radle ich durch die Stadt nach Norden und überquere den rechten Nebenfluss des Rheins, da sich der Radweg am Nordufer befindet. Schon unmittelbar hier liegt das romantische „Wirtshaus an der Lahn“ und rechts oben steht stolz Burg Lahneck wie eine Landmarke.
Das fängt gut an, denke ich, und radle eng am Ufer der Lahn entlang nach Osten aus der Stadt. Der Radweg ist teils asphaltiert, teils recht schlecht und führt auf und ab. Manchmal verläuft er so dicht am Ufer ohne Sicherung, dass mir fast angst und bange wird. Das Wetter hält, in Erwartung völlig neuer Eindrücke werde ich fast euphorisch. Links und rechts vom Fluss fallen die dicht bewaldeten Berghänge steil zum Fluss ab. Ich radle durch eine traumhaft schöne Landschaft, und schon nach etwa 10 km kommt der nächste Höhepunkt, Bad Ems. Schon bevor ich zur Uferpromenade komme, taucht das Denkmal Kaiser Wilhelm I. auf, und das Ufer ist mit Verkaufsbuden und Kiosken zugestellt. Es herrscht viel Betrieb, und ich schiebe mein Fahrrad zwischen vielen Menschen hindurch.
Bad Ems ist ein gepflegter Kurort mit ebenso romantischer Ausstrahlung wie die Städte entlang des Mittelrheins, nur dass alles durch eine neoklassizistische Architektur noch etwas vornehmer und sauberer erscheint. Die berühmten Gebäude tauchen auf beiden Ufern auf, der Quellenturm, der Kursaal, die Russische Kirche, die Kolonnaden und die Spielbank. Fast ehrfürchtig betrachte ich die Ansammlung von Villen, Palästen, Hotels und Badehäusern. Die Liste berühmter Kurgäste ist unüberschaubar. Im 19. Jahrhundert gaben sich der Adel, Intellektuelle, Künstler und Unternehmer die Türklinken in die Hand.
Zweifellos war Kaiser Wilhelm I. der bedeutendste Kurgast und hat mit der „Emser Depesche“ den Ort weltberühmt gemacht. Sie bezeichnet ein regierungsinternes Telegramm, weitgehende Forderungen des französischen Botschafters zum Verzicht auf die spanische Thronfolge betreffend, das für Bismarck Grundlage einer Pressemitteilung wurde, die so provokant verfasst war, dass sie bei den Franzosen zu großer, nationaler Empörung und zur Kriegserklärung an Preußen 1870 führte. Die weitreichenden Folgen sind bekannt. Der Krieg wurde von Preußen mit seinen Verbündeten gewonnen, und Frankreich musste der Gründung des Deutschen Reiches 1871 tatenlos zusehen.
In der Römerzeit befand sich hier ein Kastell, das Dorf wurde 880, und das Heilbad im 14. Jahrhundert zum ersten Mal erwähnt. Aus zahlreichen Heilquellen sprudelt hauptsächlich Fluorid und Natriumhydrogenkarbonat haltiges Thermalwasser mit bis zu 57°C. Zudem war die Stadt seit der Römerzeit und besonders im 18. und 19. Jahrhindert vom Erzabbau geprägt. Sie hat heute knapp 10.000 Einwohner und beherbergt das Statistische Landesamt von Rheinland-Pfalz.
Ich nehme mir ein paar Minuten Zeit, um das Training von Ruderern auf der Lahn zu beobachten. Was im Fernsehen nicht rüberkommt, beeindruckt mich doch sehr. Von der Brücke aus sind die Kommandos der Steuermänner, das Keuchen der Ruderer und das Knarren der Riemen in den Bolzen zu hören. Live erlebt hat richtiger Leistungssport eine völlig andere Ausstrahlung. Bald wende ich mich erneut dem Lahnradweg zu, der am Nordufer des Flusses weitergeht, und stoppe an einer Radwegekarte mit Höhenprofil. Deutlich wird auf die Steigung zwischen Laurenburg und Balduinstein hingewiesen, mit dem Tipp, unbedingt den Zug zu nehmen. Ok, ich lasse das auf mich zukommen.
Jetzt komme ich schon am zweiten Campingplatz an der Lahn vorbei. Das gibt mir ein gutes Gefühl, dafür, dass es hoffentlich am Abend kein Problem gibt, einen zu finden. Auf dem Südufer setzt sich der wunderbare Radweg fort, die Landschaft ist unverändert schön. Auf der gegenüberliegenden Seite taucht Dausenau auf. Reizend anzuschauen sind die Fachwerkhäuser auf der hohen Ufermauer, und bald erreiche ich das nächste hübsche Städtchen, Nassau. Die um 1100 erbaute Burg ist namensgebend für ein Grafengeschlecht, somit Stammhaus einer bedeutenden Grafschaft, des luxemburgischen Großherzogtums und des niederländischen Königsgeschlechts.
Ich verlasse den Radweg und streife kurz durch das Zentrum, in dem der mehrgeschossige Fachwerkbau des Rathauses, die Kirche und das Stein’sche Stadtschloss auffallen, während von der Burg auf dem Höhenrücken nur der Bergfried von unten zu sehen ist. Bedeutende Persönlichkeiten wurden in dem kleinen Ort geboren, wie der preußische Reformer Freiherr zum Stein (1747 - 1831), der Gründer der Eisengießerei Johann Wilhelm Buderus (1690 – 1753) und der Bankgründer Johann Philip Bethmann (1715- 1793). Durch einen Luftangriff durch die Alliierten im Februar 1945 wurde Nassau stark zerstört und verlor seinen Status als Heilbad, weil das Badehaus vernichtet war und die Heilquelle für immer versiegte.
Weiter folgt der Radweg dem stark mäandrierenden Fluss nach Osten. Ich aber folge einem Hinweis entgegenkommender Radler, dass es auf der B 417 wesentlich bequemer sei. Die Straße ist zwar schwach befahren, aber weist ebenfalls starke Steigungen auf. Also kehre ich bald zum Radweg zurück, der hier am nördlichen Ufer verläuft, von der Straße aus zu sehen und wunderbar ausgebaut ist. Indessen ist das Tal noch enger geworden, Radweg und Bundesstraße schmiegen sich eng an den Flusslauf an. Ich nähere mich dem Berg nach Holzappel, den ich unbedingt vermeiden will. Ich bin schon durch Laurenburg hindurchgefahren und habe den Bahnhof nicht gefunden. Am Ortsende begegnet mir eine schwäbische Radlergruppe. Ein Teil kommt über den Berg ein anderer hat den Trampelpfad entlang dem Fluss gewählt, der befahrbar sein soll und derzeit als Radweg ausgebaut wird.
Nachdem ich gefragt habe, muss ich durch den gesamten Ort hindurch zurück und zur anderen Seite der Lahn fahren. Schon in einer Viertelstunde soll ein Zug nach Balduinstein gehen. Der Bahnhof ist auf dem technischen Stand des 19. Jahrhunderts. Der Fahrdienstleiter muss erst eine Sperrkette öffnen, damit ich mit dem Fahrrad über ein Gleis zu Bahnsteig zwei komme. Er weigert sich, mir beim Einladen zu helfen, da er nicht versichert sei. Das kenne ich schon, aber ein netter Passagier sagt mir sofort, dass er mir helfen werde. Ich habe mich entschlossen, bis nach Diez zu fahren, wenn ich schon im Zug sitze.
So einfach das Einsteigen ist, so schwierig ist das Verlassen des Bahnhofs Diez, da es keine Rampen oder Aufzüge gibt. Würde mir der nette Zugpassagier nicht zwei Treppen hinunterhelfen, müsste ich mein Gepäck abladen. Jetzt hilft mein Navi bei der Orientierung, und ich rolle zunächst ins Zentrum. Die heute als Jugendherberge genutzte Grafenburg aus dem 11. Jahrhundert steht über der Stadt, schöne Fachwerkhäuser säumen meinen Weg. Diez bildet zusammen mit dem eng benachbarten Limburg ein Doppelzentrum mit etwa 45.000 Einwohnern. Der Nationaltorhüter von Borussia Dortmund, Roman Weidenfeller, ist hier geboren.
Ich suche den nächsten Zeltplatz, fahre stark auf und ab durch Wohnsiedlungen und folge dem Hinweis auf das „Neue Mühlchen“ Kurze Zeit später stelle ich mein Zelt unmittelbar ans Ufer der Lahn auf eine schöne Zeltwiese. Das „Neue Mühlchen“ ist ein Naherholungszentrum mit einer beliebten Gastronomie direkt unter einem mächtigen Felsen. Von hier unten ist nicht zu sehen, dass oben das wunderbare, barocke Schloss Oranienstein liegt. Der Abend und die Nacht werden in Gesellschaft schnatternder Enten sehr ruhig. Neben mir campen Holländer, die vom heutigen Spiel um den dritten Platz bei der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien kaum Notiz nehmen. Erneut ist Brasilien chancenlos und verliert gegen die Niederlande mit 0:3.
4. Sonntag, 13. 07. 2014:Von Diez über Limburg und Weilburg nach Wetzlar – Durch wunderbare Städte am Fluss zum Endspiel. 83,5 km
Am „Neuen Mühlchen“ bei Diez an der Lahn kommt es am Morgen zu einer netten Begegnung. Meine holländischen Zeltnachbarn laden mich zum Kaffee ein, und ich bleibe länger plaudernd bei ihnen sitzen, als ich plante. In der Nacht hat es geregnet, und mein Handtuch hing draußen. Als ich mich auf den Weg nach Limburg mache, muss ich gut ein Kilogramm