Flagge zeigen! - Enrico Brissa - E-Book

Flagge zeigen! E-Book

Enrico Brissa

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Unsere Staatssymbole stehen für unsere Freiheit - wir dürfen sie nicht den Extremisten überlassen!

Schwarz-Rot-Gold steht für unsere freiheitliche Verfassung und damit das Fundament unserer offenen Gesellschaft. Wie kann es dann sein, dass dieses Symbol zunehmend von der extremen Rechten gekapert und umgedeutet wird? Warum nehmen viele Bürgerinnen und Bürger das einfach hin, warum ist ihnen die freiheitliche Bedeutung unserer Staatssymbole so wenig bewusst? Enrico Brissa, langjähriger Protokollchef zweier Bundespräsidenten und des Deutschen hält ein leidenschaftliches Plädoyer für einen gelebten Verfassungspatriotismus – und zeigt, warum wir gerade in Krisenzeiten unsere Staatssymbole brauchen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 392

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Enrico Brissa

Flagge zeigen!

Warum wir gerade jetzt Schwarz-Rot-Gold brauchen

Siedler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2021 by Siedler Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

Umschlagabbildung: © mfto/Getty Images

Satz: Uhl + Massopust GmbH

ISBN 978-3-641-25560-2V002

www.siedler-verlag.de

In Erinnerung anDolf Sternberger(1907 – 1989)

Inhalt

EinleitungMit Deutschlandflagge auf der #unteilbar-Demo

1. Kapitel Irrungen und Wirrungen um Schwarz-Rot-Gold

2. KapitelSymbolischer Verfassungspatriotismus heute

3. Kapitel Unsere Farben, unsere Flagge

4. KapitelAdlervariationen

5. Kapitel Unsere Hymne: das Deutschlandlied

6. Kapitel Wie Flagge zeigen?

Verzeichnis der Literatur und Quellen

Dank

Personenregister

Bildteil

Bildnachweis

EinleitungMit Deutschlandflagge auf der #unteilbar-Demo

Heidenau, Sebnitz, Dresden und Chemnitz waren allesamt schmerzliche Einschnitte. Nachdem Bundeskanzlerin Merkel im Sommer 2015 im sächsischen Heidenau als »Volksverräterin« beschimpft worden war, traf es Bundespräsident Gauck im Juni 2016 beim Deutschen Wandertag im sächsischen Sebnitz. Vier Monate später erreichte der Hass auf unsere politische Ordnung und ihre Repräsentanten einen weiteren Höhepunkt: Die Festlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit unter dem Motto »Dresden. Gemeinsam feiern« gerieten zu einem Debakel. Die damaligen Pfeifkonzerte, Sprechchöre (»Volksverräter!«, »Haut ab!«, »Merkel muss weg!«, »Abschieben!«) und andere Hassbekundungen einer pöbelnden Minderheit – sie sind nichts weniger als eine Wegmarke in der politischen Kultur unseres Landes.

Im Spätsommer 2018 folgten dann die verstörenden Bilder der Ausschreitungen von Chemnitz. Die von rechten und rechtsextremen Gruppen nach einer tödlichen Messerattacke organisierten Demonstrationen führten zu ausländerfeindlichen und antisemitischen Ausschreitungen, deren Bilder um die Welt gingen. Das Ausmaß und die Aggressivität der Demonstrationen hatte ich nicht für möglich gehalten. Und stets wurden dabei schwarz-rot-goldene Flaggen geschwenkt.

Wie konnte es sein, dass sich viele Tausend Menschen im Zeichen unserer Bundesflagge solchen gewalttätigen Aufzügen anschlossen, in denen gegen Ausländer gehetzt und Banner mit der Aufschrift »Wir sind BUNT bis das Blut spritzt« hochgehalten wurden – begleitet von Hitler-Grüßen? Ganz zu schweigen von den antisemitischen Gewalttaten, die aus der Demonstration heraus begangen wurden.

All dies hat mich bis in den Schlaf verfolgt. Von meiner Frau, von Freunden und Kollegen* wusste ich, dass es ihnen ähnlich ging. Und so kamen wir auf den Gedanken, uns zu einem politischen »Küchenabend« bei uns zu Hause zu treffen, um über das anscheinend wieder Mögliche zu sprechen. Wieso war es dieser verhältnismäßig kleinen Minderheit gelungen, das Einheitsfest in Dresden so erfolgreich zu stören? Haben sich die Grenzen zwischen legitimem Protest und rechtswidriger Hetze so krass verschoben?

Obwohl sich die Demonstrationen in Dresden doch abgezeichnet hatten, waren keine wirksamen Vorkehrungen getroffen worden. Auch nicht, als man am Tag zuvor massenhaft Trillerpfeifen verteilt hatte. Warum waren die Ausschreitungen in Chemnitz nicht verhindert worden? Wie war es möglich, dass sich Tausende Bürgerinnen und Bürger unter unserer Nationalflagge, also dem zentralen Staatssymbol unseres Grundgesetzes und der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, um eine extremistische Minderheit herum versammelten und damit zu deren Bilderhoheit beitrugen?

Bereits im Sommer hatten wir gehört, dass im Oktober in mehreren Städten Großdemonstrationen für eine offene und tolerante Gesellschaft stattfinden würden. Dieses Zeichen gegen jede Form von Ausgrenzung wollten wir unterstützen. Einige von uns trugen sich in Unterstützerlisten ein, andere spendeten Geld und fast alle an diesem Abend Versammelten wollten dieses Mal mit »auf die Straße gehen«. Was für meine Frau und mich schon etwas Besonderes war, da wir uns von Demonstrationen sonst eher fernhalten.

Beim Abendessen berichtete unser Freund Andreas Schulze vom »Wir sind mehr«-Konzert in Chemnitz, das er kurz zuvor besucht hatte. Es war als Antwort auf die Ausschreitungen organisiert worden, mehr als 60 000 Menschen waren gekommen. Ein deutliches Signal gegen die »Trauermärsche« genannten Aufzüge und die von ihnen ausgehenden Exzesse. Doch war bei dem Konzert keine einzige schwarz-rot-goldene Flagge zu sehen, weit und breit nur hochgehaltene Smartphones, Regenbogenflaggen und zu Herzen geformte Hände. Abgesehen von einigen politischen Plakaten. Ein Sänger soll gar von der Bühne gerufen haben: »60 000 Leute und keine einzige Deutschlandflagge, wie cool ist das denn!«

Schwarz-Rot-Gold zu zeigen, wäre aber gerade bei diesem Konzert ein starkes Zeichen gegen Extremismus und für gesellschaftliche Einheit gewesen. Nun kann man von der Band Feine Sahne Fischfilet und der Berliner Hip-Hop-Band K.I.Z wohl kaum ein staatstragendes Statement erwarten. Es sind eben keine Hauskapellen der Bundeszentrale für politische Bildung. Sicher wollen beide Bands auf ihre Weise provozieren. Ihre Lieder mögen daher zum Teil satirisch zu verstehen sein. Dennoch haben sie Texte in ihrem Repertoire, die als gewaltverherrlichend und exzessiv bezeichnet werden können. Etwa der K.I.Z-Song »Ein Affe und ein Pferd« (»Ich mach’ Mus aus deiner Fresse, boom verrecke / Wenn ich den Polenböller in deine Kapuze stecke … Ich ramm die Messerklinge in die Journalistenfresse … Trete deiner Frau in den Bauch, fresse die Fehlgeburt«) oder »Wut« von Feine Sahne Fischfilet (»Die nächste Bullenwache ist nur einen Steinwurf entfernt«). Ohnehin scheint K.I.Z. ein gestörtes Verhältnis zu unserer Nationalflagge zu haben, jedenfalls heißt es in dem Song »Hurra die Welt geht unter«: »Wir wärmen uns auf an einer brennenden Deutschlandfahne«.

Vielleicht wäre es im Vorfeld des Konzertes aber zumindest möglich gewesen, eine Debatte zu führen über die Bedeutung von Schwarz-Rot-Gold als Symbol unserer Verfassung und damit auch unserer offenen Gesellschaft. Warum ist außer unserem Freund Andreas niemandem aufgefallen, dass unsere Farben zunehmend von extremen und extremistischen Kräften umgedeutet werden? Dabei ist unsere Flagge in Wahrheit ein Symbol gegen Extremismus und Fremdenfeindlichkeit, auf das es den Ausrichtern doch ankam. Ich finde, man hätte gerade dort Flagge zeigen müssen. Als Zeichen der Gemeinsamkeit und als Mittel der politischen Aufklärung. Ein Teil der Zuschauer hätte sicher mitgemacht.

Sicher nicht alle, das wäre aber auch gar nicht nötig gewesen. Stattdessen wurde im Anschluss nur darüber diskutiert, ob einige der Bands selbst extremistisch einzustufen seien, wobei entsprechende Liedtexte ausgelegt wurden, als seien sie politische Programme. Sich auf den Wortlaut solcher Quellen zu stützen, greift hier jedoch zu kurz, zumal die Sprechgesänge des Hip-Hop schon immer von Gewalt, Drogen und einer frauenverachtenden Sprache geprägt sind. In vielen Fällen waren die Künstler auch mit den in den Songs beschriebenen kriminellen Milieus verstrickt, die Liste ermordeter Rapper ist lang. Im Sinne der Kunstfreiheit sollte man jedoch zwischen extremen und extrem geschmacklosen Texten einerseits und einer verfassungsfeindlichen Einstellung der Musiker andererseits unterscheiden.

Nach Überzeugung unserer kleinen Küchenrunde wurde jedenfalls die Chance des Flaggezeigens beim »Wir sind mehr«-Konzert verpasst. Gerade bei dieser als Antwort auf die Ausschreitungen gedachten Veranstaltung mit ihrem heterogenen Publikum wäre Schwarz-Rot-Gold ein starkes Sinnbild für unsere als gemeinsames Fundament gedachte Verfassung gewesen – ein Statement, das klargestellt hätte, wer sich auf diese Farben berufen kann und wer nicht.

So entschlossen wir uns zu einem für uns ungewöhnlichen Schritt: Wir wollten das Versäumte nachholen und am 13. Oktober 2018 mit Deutschland- und Europaflaggen an der großen #unteilbar-Demonstration in Berlin teilnehmen.

Es war an der Zeit, ein Zeichen zu setzen, vor allem gegen den Missbrauch unserer Nationalfarben durch sogenannte »Pegida«-Demonstranten und andere rechtsextremistische Gruppierungen (Abbildung 3). Wie konnte es sein, dass niemand bemerkte, wie effektvoll diese Gruppen Symbole der Republik, der Demokratie und des Widerstands gegen den Nationalsozialismus umdeuteten? Dabei stehen doch gerade Rechtsextremisten in einer langen Tradition des politischen Symbolismus. Nach Jahrzehnten der symbolischen Enthaltsamkeit war in unserem Land eine gewisse Renaissance der Aneignung wichtiger Symbole mit Händen zu greifen, viele bedienten sich effektvoll der symbolischen und propagandistischen Klaviatur.

Dagegen wollten wir Schwarz-Rot-Gold als Flagge unseres Staates und des Grundgesetzes, als Symbol unserer Freiheit, Demokratie und Einheit sichtbar und damit deutlich machen, dass unsere Nationalfarben kein Symbol sind, das wir den Feinden des Grundgesetzes überlassen dürfen.

Welcher Anlass wäre besser dafür geeignet als eine Demonstration, die schon in ihrem Motto auf die Grundrechte Bezug nimmt? Wir fanden, dass Deutschland- und Europaflaggen als Zeichen eines gelebten Verfassungspatriotismus geradezu ideal zu dieser Demonstration passten.

Nun mussten wir den gemeinsamen Entschluss nur noch umsetzen. Anfang Oktober fragte meine Frau, ob ich denn genügend Flaggen bestellt hätte. Das war nicht der Fall. Zugegeben antwortete ich etwas zögerlich, vielleicht auch, weil mir das Projekt nicht mehr ganz geheuer war. Flaggen sind für mich etwas Offizielles, normalerweise spielen sie in meinem Privatleben keine Rolle. Außer, dass ich mich freue, wenn ich das beflaggte Reichstagsgebäude oder die Standarte auf dem Dach von Schloss Bellevue sehe. Die beflaggten Schrebergärten empfinde ich eher als befremdlich.

Abgesehen davon hatte ich kaum Erfahrungen mit Demos, schon gar nicht als Teil eines kleinen Flaggenzugs. Bei dem Gedanken, mit hoheitlichen Symbolen auf eine Demonstration zu gehen, fühlte ich mich also leicht unwohl. Vielen anderen wird es so gehen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Diskrepanz zwischen dem hoheitlichen Charakter solcher Symbole und dem Privaten kann ich jedenfalls schlecht ausblenden.

Ich bestellte also einige Europaflaggen für je 5,25 Euro (»wetterfest, blau, 150 x 90 x 1 cm«) und gleich große Bundesflaggen für je 4,98 Euro. Interessanterweise wurden die schwarz-rot-goldenen Flaggen gleich geliefert, während es bei der Europaflagge zunächst Nachschubprobleme gab. Die Volksabstimmung per Bestellklick fiel eindeutig zugunsten des europäischen Symbols aus. Nachdem dann alle Flaggen gerade noch rechtzeitig eingegangen und zwei davon mit Kabelbindern an Besenstielen montiert waren, konnte nichts mehr schiefgehen. So dachten wir.

Im Kreise unserer Freunde beschlossen wir, gemeinsam mit unseren Familien zur Demonstration zu gehen. Eine Gruppe von fünf Erwachsenen mit Kindern. Nur Andreas war nicht dabei, weil er mit dem Wagen von Bündnis 90/Die Grünen loszog, selbstverständlich auch mit einer Deutschlandfahne in der Hand. Mit der S-Bahn fuhren wir zum Treffpunkt am Alexanderplatz. Die Stimmung war friedlich, auch wenn mir bereits in Charlottenburg und im S-Bahn-Wagen skeptische Blicke anderer nicht entgangen waren. Sie konnten sich wohl nicht erklären, was das für ein komisches Grüppchen ist, das an einem spätsommerlichen Samstag mit Flaggen und Kindern durch Berlin zieht. Wären nicht die Europaflaggen gewesen, hätten uns manche wohl für ein Pegida-Trupp gehalten.

Am Alexanderplatz angekommen, staunten wir über die riesige Menschenmenge. Es sollen 240 000 Teilnehmer gewesen sein. Passend zu den sommerlichen Temperaturen war die ausgelassene Stimmung überall greifbar, wozu vielleicht auch die kreativen Transparente und Schilder beitrugen (»Omas erste Demo«).

Doch schon die erste Begegnung ließ erahnen, was auf uns zukommen würde. Meine Frau war von einem etwa fünfzigjährigen Mann auf die Flaggen angesprochen worden. Wie sich herausstellte, engagierte er sich bei den Grünen in Zehlendorf. In durchaus freundlichem Ton fragte er, was wir denn mit den Flaggen zum Ausdruck bringen wollten. Er könne sich keinen Reim darauf machen. Nachdem Elke ihm den Kern unserer Botschaft erläutert hatte, schien ihm die Idee zu gefallen, und er fragte dann, wie andere Demonstranten auf unsere Flaggen reagiert hätten. Als wir entgegneten, es habe noch keine Reaktionen gegeben, rief er uns zum Abschied zu: »Na dann, viel Glück!«, was uns etwas ratlos zurückließ. So selbstverständlich es für uns war, die Flaggen Deutschlands und Europas auf einer Demonstration zu akzeptieren, so wenig selbstverständlich schien es offenbar für viele andere zu sein.

Das wurde bald deutlich. Kaum hatten wir uns von unserem ersten Gesprächspartner verabschiedet, sah sich meine Frau einer kleinen Gruppe junger Frauen gegenüber, die sie als »dumme Kuh!« anschrien und riefen, Schwarz-Rot-Gold sei die »Flagge des Holocaust«. Das Diskussionsangebot von Elke blieb ungehört, vielmehr skandierten die Frauen »Nie wieder Deutschland! Nie wieder Deutschland!«.

Auf diese Weise begann ein langer Spießrutenlauf, in dem wir hemmungslosen Hass erlebten, man uns etwa als »Nazis« beleidigte: Wie wir denn nur auf die Idee gekommen seien, ausgerechnet mit einer »Nazi-Flagge« auf so einer Demonstration aufzutreten! Auch die Hoodies unserer Freunde mit dem unmissverständlichen Aufdruck einer von ihnen mitbegründeten Berliner Flüchtlingsinitiative konnten uns nicht vor der Nazibeleidigung schützen. Mir riet man, doch lieber in Dresden zu demonstrieren. Wenig freundlich war auch der an meine Frau gerichtete Zuruf, »den Lappen bis zur nächsten EM« wegzupacken.

Wir liefen mehrere Stunden im Demonstrationszug mit und sahen dabei so gut wie keine andere Deutschlandflagge, zwei der seltenen Exemplare waren mit aufgemalten Herzchen verziert. In Unterhaltungen gewannen wir immer wieder den Eindruck, dass viele Demonstranten offensichtlich nichts über unsere Bundesflagge und deren besondere Geschichte wussten. Für einige war sie ein ausgesprochenes Hassobjekt. Die Europaflagge kam übrigens auch nicht besser weg. Wie uns ein Demonstrant zurief, stünde sie für ein Europa, das als »Festung für den riesigen Friedhof des Mittelmeeres« verantwortlich sei.

Später gab es sogar einen kleinen Gewaltausbruch. Während ich anderen Mitdemonstranten die Bedeutung von Schwarz-Rot-Gold und deren geschichtliche Entwicklung erläuterte, kamen zwei Demonstranten im »Antifa«-Look, ein junger Mann und eine junge Frau, von hinten herangerannt, entrissen mir die Deutschlandflagge und brüllten dabei »Du Nazi!«. Am Holzstock blieben die mit Kabelbinder befestigten Ösen zurück, der Stoff war zerrissen. Einige der Umstehenden riefen den Angreifern zu, dass sie kein Recht hätten, Gewalt anzuwenden. Ich bat meine Frau, mir eine Ersatzflagge aus ihrer Handtasche zu geben. Als der Flaggenräuber dies sah, lief er wieder auf mich zu und wollte mir auch diese wegnehmen. Diesmal war ich vorbereitet. Ich rief, er solle doch versuchen, mir die Flagge wegzunehmen, und so starrte er nur auf den Besenstiel in meiner Hand und schrie: »Der Nazi droht mir Gewalt an!« Die Umstehenden hatten sehr wohl sehen können, von wem die Gewalt ausging, und riefen dem Angreifer zu: »Keine Hetze! Keine Gewalt! Gegen den Hass!« Ein beruhigender Moment in einer ziemlich aufgeladenen Situation.

Überhaupt dürfen die verstörenden Erlebnisse nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auch viele positive Erfahrungen gemacht haben. Etwa durch ermutigende Zeichen der Unterstützung für unsere kleine »Aktion«. Erstaunlich oft mussten wir jedoch regelrecht aufklären, wofür Schwarz-Rot-Gold steht. Und wofür eben nicht.

Auf der Demo konnten wir in einigen Gesprächen auch Verständnis für die Bundesfarben wecken. Manche Reaktionen machten aber doch erschreckend klar, wie lang der Weg sein würde, bis wir Deutschen ein annähernd normales Verhältnis zu unseren Staatssymbolen entwickeln würden. So riet man uns, beim nächsten Mal die Flagge mit Friedenstauben oder Smileys zu versehen oder eben auf den Flaggenstoff zu schreiben, dass es sich um die Flagge des Grundgesetzes handele. Andere wiederum bedauerten, dass nur so wenige Deutschland- und Europaflaggen zu sehen seien. Einer fragte uns, ob wir ihm nicht eine Bundesflagge überlassen könnten. Mit diesem kleinen Symbolgeschenk zog unser Mitstreiter dann entschlossen weiter.

Im Demonstrationsblock des Bündnisses »Seebrücke. Schafft sichere Häfen« ging es dann für eine kurze Weile etwas ruhiger zu, zumindest überwog die Zustimmung. Auf der Leipziger Straße gab es dann aber noch eine weitere Überraschung. Zunächst wurden wir vom Wagen der »Seebrücke« aus per Megafon aufgefordert, die Deutschlandflagge einzupacken oder aber den Zug zu verlassen. Dabei hatte es eine ganze Weile gedauert, bis wir realisiert hatten, dass sich die etwas nuschelige Durchsage auf uns bezog.

Als wir nicht reagierten, kam ein mit einer »Gelbweste« bekleideter junger Mann auf uns zu und gab sich als Ordner zu erkennen. Die Situation war ihm erkennbar unangenehm, mehrfach unterbrach er seine Sätze, um beeindruckend intensiv an seiner Zigarette zu ziehen. »Hey, ich bin sicher, dass ihr euch was Konstruktives dabei gedacht habt, mit einer Deutschlandflagge zur Demo zu kommen«. Es sei aber von den Organisatoren verboten worden, Nationalflaggen mit sich zu führen. Und deshalb bitte er uns, den Block der »Seebrücke« zu verlassen.

Unser Einwand, dass dieses angebliche Verbot dann aber auch für die anderen, vor und hinter uns gut sichtbaren Flaggen gelten müsse, etwa für die Nationalflaggen der Türkei und Kanadas oder aber die palästinensischen Flaggen, ging bei ihm ins Leere. Nachdem er auch nicht beantworten konnte, auf welche Grundlage dieses zuvor nie bekanntgegebene »Verbot« denn gestützt werde, beschloss unser Freundeskreis, die Demonstration endgültig zu verlassen.

Wir hatten genug erfahren, um es diplomatisch auszudrücken. Unser kleiner Selbstversuch hatte uns körperlich und psychisch regelrecht ausgelaugt und wir wollten den weiteren Verlauf der Demo nun aus sicherer Entfernung verfolgen.

Vor allem die Kinder waren erleichtert. So zogen wir uns in ein Büro in einem nahe gelegenen Hochhaus zurück, von wo aus wir den Zug etwas entspannter beobachten konnten. In den nächsten zwei Stunden tauchten noch ganze zwei Deutschlandflaggen auf. Wir versuchten, das Geschehene zu begreifen. Keiner von uns hatte sich ausmalen können, wie aggressiv viele Menschen auf unsere Flaggen reagierten. Und wie wenige wussten, wofür sie stehen.

Ein halbes Jahr später fasste unsere Tochter das Erlebte für ihre Großeltern prägnant zusammen: »Wir waren auf einer doofen Demo, da hatten wir solche Angst, dass wir in die Kanzlei von Papas Freund gegangen sind und dort haben wir dann Verstecken gespielt.«

Sobald es das überlastete Netz hergab, twitterte ich zu dem Erlebten ein Foto unseres kleinen Flaggenzuges mit der Überschrift:

Art. 22 Absatz 2 #Grundgesetz: »Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.« Sie steht für unseren Staat & freiheitlich-demokratische Grundordnung. Auf der #unteilbar-Demo wird man mit Deutschland- und Europaflagge angegriffen und angepöbelt. Es gab aber auch viel Unterstützung und Bestärkung. (Abbildung 2)

Dieser Tweet löste eine heftige digitale Diskussion aus. Auch hier erfuhr ich vor allem Zuspruch. So heißt es in einer Antwort:

Bravo, @enricobrissa! Schwarz-Rot-Gold ist die Flagge der Revolution: 1848, 1918, 1989. Sie steht für das Gegenteil von nationalistischer Volkstümelei, zusammen mit der Europaflagge sowieso. In den 90ern gab es viele Nazidemos in meiner Heimatstadt. Die hätten jedes Fenster eingeschmissen, an dem Schwarz-Rot-Gold hing.

Ein anderer schrieb:

Euer Zeichen war genau richtig. Überlasst dieses schöne Land und dieses schöne Europa nicht den Nazis. Und auch nicht unsere Flaggen. Liebt eure Heimat u. verteidigt die Demokratie und Freiheit!

Es gab aber auch Kommentare, wie sie in ihrer Plattheit typisch für soziale Medien sind:

Die arme Flagge wurde halt zwischenzeitlich oft von Nazis missbraucht, das führt bei vielen zu Missverständnissen.Oder:Nationalstolz und Co haben auf einer linken Demo nichts verloren, sollte eigentlich klar sein. Bitte erst zur EM wieder rausholen.

Ein weiterer Kommentar bezog sich auf das Foto einer Pegida-Demonstration mit schwarz-rot-goldener Flagge: