Flammenzeichen - Hauke Friederichs - E-Book

Flammenzeichen E-Book

Hauke Friederichs

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Beschreibung

Die Kraft einer Liebe in Zeiten von Krieg und Widerstand 1942/43 - Flammenzeichen an allen Fronten, Flammenzeichen über Europa. Hauke Friederichs schildert anschaulich und packend dieses Wendejahr des Krieges, in dem die Herrschaft der Nazis ihre maximale Ausdehnung erreicht und zusammenzubrechen beginnt. Im Zentrum steht die Geschichte einer Freundschaft im Sturm der Zeit. Dass der verwundete Leutnant Fritz Hartnagel mit der letzten Maschine aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen wurde, war pures Glück. Dass die Studentin Sophie Scholl beim Auslegen von Flugblättern gesehen wurde, war die Folge des großen Risikos, das sie und die Weiße Rose mit zunehmender Verzweiflung über Holocaust und Krieg eingingen. Dies ist die dramatische Erzählung einer Liebe, die keine Chance hatte.

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Seitenzahl: 729

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Hauke Friederichs

Flammenzeichen

Stalingrad, der Kampf der Weißen Rose und eine zerrissene Liebe

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für Monika, die unentwegte Helferin, deren Vater mit einer Ju 52 aus einem Kessel ausgeflogen wurde

Für Martina, ohne die alles nichts wäre

Für Jonathan, der Bücher liebt

Sophie Scholl und Fritz Hartnagel verabschieden sich im Mai 1942 in München. Er muss an die Ostfront, sie beginnt ihr Studium und gehört bald zur »Weißen Rose«, der berühmten Widerstandsgruppe. Sie sorgt sich um den Freund, der in Stalingrad mit Abertausenden Kameraden eingeschlossen wird, und organisiert gleichzeitig den Kampf gegen das Hitler-Regime.

1. KAPITEL

Nähe und Ferne

Mai 1942

Sie fahren aufeinander zu, sitzen in ihren Zügen und sehnen den Moment des Wiedersehens herbei. Er, der Oberleutnant der Luftwaffe, sie, die angehende Studentin, deren erstes Semester bald beginnt. Am Bahnhof in TübingenTübingen wollen sie sich treffen, am 2. Mai 1942, einem Samstag. Vor sechs Wochen hat sich das Paar zuletzt gesehen. Für beide eine lange Zeit in diesen Tagen der Ungewissheit, seit 32 Monaten läuft der Zweite Weltkrieg. Er überschattet die Beziehung von Sophie SchollScholl, Sophie, 20 Jahre alt, und dem 25-jährigen Friedrich HartnagelHartnagel, Fritz, den alle FritzHartnagel, Fritz nennen. An diesem gemeinsamen Wochenende im deutschen Südwesten wollen sie ihre Sorgen vergessen.

HartnagelHartnagel, Fritz, der eine Nachrichtenkompanie im französischen Le MansLe Mans kommandiert, hat für das Treffen eine anstrengende Reise auf sich genommen. Gut 900 Kilometer fährt er durch das besetzte FrankreichFrankreich, an ParisParis vorbei, durch die VogesenVogesen. Nach vielen Stunden überquert er endlich den RheinRhein. Dann geht es am SchwarzwaldSchwarzwald vorbei Richtung NeckarNeckar.

Seine Freundin kommt aus MünchenMünchen nach TübingenTübingen, das sich über dem NeckarNeckar erhebt, mit mittelalterlichen Fachwerkhäusern und dem Schloss. Hans SchollScholl, Hans, ihr älterer Bruder, war hier einige Monate als Soldat in einem Lazarett stationiert. Wie fast alle jungen Männer, die Sophie SchollScholl, Sophie kennt, müssen auch ihre beiden Brüder und ihr Freund zur Wehrmacht. Wenigstens ihr Vater ist zu alt, um eingezogen zu werden. Robert SchollScholl, Robert wollte 1914 nicht an der Front kämpfen. Er lehnte den Ersten Weltkrieg ab, widerstand der Euphorie und meldete sich nicht freiwillig. Stattdessen diente er im Sanitätsdienst. Der Mut ­ihres VatersScholl, Robert, die Kraft, sich gegen den Geist der Zeit zu stellen, hat die jüngste Tochter geprägt. Auch sie verachtet den Krieg, sehnt ein Ende der Kämpfe, ein Ende der Diktatur herbei.

Längst denkt Sophie SchollScholl, Sophie über Widerstand nach, hat mit ihrem Bruder HansScholl, Hans bereits darüber gesprochen, was ein Einzelner oder eine kleine Gruppe von Freunden gegen das nationalsozialistische Unrechtsregime unternehmen kann. Anders als so viele, die still leiden, die sich wegducken oder auch mit­machen, will sie nicht länger schweigend zusehen, sondern ­etwas tun. Ihr Freund Fritz HartnagelHartnagel, Fritz bewundert ihre Entschiedenheit. Er kämpft in einem Konflikt, den er ablehnt, dient ­einem System, das er verachtet. In hunderten Briefen bestärken sie sich dabei, in einer zunehmend unmenschlichen Umgebung Mensch zu bleiben.

Die Geschichte von Sophie SchollScholl, Sophie und Fritz HartnagelHartnagel, Fritz zeigt, wie es in einem System des Staatsterrors gelingen konnte, die geistige Freiheit zu bewahren – und welche Radikalität es erforderte, dem Nationalsozialismus entgegenzutreten. Sie spielt in einer Zeit, in der in RusslandRussland auf beiden Seiten der Front viele Soldaten starben, in der Einsatzgruppen Hunderttausende ­Juden, Sinti und Roma ermordeten, die Geheime Staatspolizei alle jagte, die sich gegen den Krieg auflehnten, und die Diktatur den Menschen kaum noch Freiheit ließ. Und sie handelt von großer Sehnsucht, einer komplizierten Liebe, von Freunden, die füreinander alles gaben, und von unerschrockenem Mut.

Auf ihrem Weg von MünchenMünchen nach TübingenTübingen kommt ­Sophie SchollScholl, Sophie an vertrauten Orten vorbei. Aus dem Abteilfenster sieht sie das HaspelmoorHaspelmoor vor AugsburgAugsburg, dann rollt der Zug durch den »Schwäbischen BarockwinkelSchwäbischer Barockwinkel« mit seinen vielen beeindruckenden Kirchen, wie etwa »Mariä Himmelfahrt« in JettingenJettingen. Weiter geht es durch die Auwälder des DonauriedsDonau und an der DonauDonau selbst entlang. In UlmUlm, ihrer Heimatstadt, bleibt ihr keine Zeit für einen Zwischenstopp bei ihren Eltern und der ältesten Schwester IngeScholl, Inge, die am Münsterplatz wohnen. Erst vor wenigen Tagen hat sie sich von der Familie verabschiedet, um in MünchenMünchen ihr Studium zu beginnen. Dort hat sie die über­raschende Botschaft ihres Freundes erreicht, dass sie sich am Wochenende sehen können. Fritz HartnagelHartnagel, Fritz bekommt Anfang Mai spontan einige Tage frei. Was für eine fantastische Nachricht. Obwohl Sophie SchollScholl, Sophie gerade erst angekommen ist, packt sie ein paar Sachen zusammen und bricht wieder auf, um zu ­ihrem FritzHartnagel, Fritz zu fahren.

Fast jeden seiner Heimaturlaube hat HartnagelHartnagel, Fritz in den vergangenen Jahren mit Sophie SchollScholl, Sophie verbracht. Sich jetzt mit ihr zu treffen, dürfte ihm besonders wichtig sein, denn er macht sich Sorgen wegen seines bevorstehenden Einsatzes im Osten. In der SowjetunionSowjetunion sind in den zehn Monaten des Krieges bereits mehr als 15 000 deutsche Offiziere gefallen.

Laut dem Marschbefehl, den Oberleutnant Fritz HartnagelHartnagel, Fritz für seine Kompanie erhalten hat, soll er mit seinen Männern zunächst in die UkraineUkraine aufbrechen. Seine Fernmeldeeinheit wird der 6. Armee zugeteilt, die eine zentrale Rolle bei der ­geplanten Sommeroffensive in RusslandRussland spielen soll. Auch das Ziel des gewaltigen Heerverbandes steht bereits fest – ist allerdings noch geheim.

Am 5. April 1942 hat Adolf HitlerHitler, Adolf in seiner »Weisung für die Kriegsführung Nr. 41« vorgegeben: »Auf jeden Fall muss versucht werden, StalingradStalingrad selbst zu erreichen oder es zumindest so unter die Wirkung unserer schweren Waffen zu bringen, daß es als weiteres Rüstungs- und Verkehrszentrum ausfällt.« Fast drei Wochen später taucht die Stadt erstmals in einem Wehrmachtsbericht auf. Kampffliegerverbände, so heißt es darin, hätten ein großes Rüstungswerk der Sowjets angegriffen und dabei »zahlreiche Bombentreffer mit nachfolgenden Bränden und Explosionen« erzielt. Der Kampf um StalingradStalingrad hat be­gonnen, ohne dass dem in DeutschlandDeutschland größere Bedeutung beigemessen wird. Mit diesem Auftrag für die 6. Armee steht fest, dass HartnagelHartnagel, Fritz seine SophieScholl, Sophie monatelang nicht mehr sehen wird. Als Kompaniechef an der Ostfront dürfte es lange dauern, bis er wieder einmal Urlaub bekommt.

In TübingenTübingen halten sie auf dem Bahnsteig sicherlich Ausschau nacheinander. Endlich können sich die beiden in die Arme nehmen, bevor es bald schon gemeinsam weiter nach FreiburgFreiburg im Breisgau geht. Sie geben sich Halt in diesen zerrissenen Jahren. Jederzeit kann HartnagelHartnagel, Fritz an eine der vielen Fronten entsandt werden, sein Leben war schon mehrfach in Gefahr: bei britischen Luftangriffen in FrankreichFrankreich oder als in BelgienBelgien eine Mine unmittelbar neben seinem Wagen explodierte. Und auch Sophie SchollScholl, Sophie hat schon manchen Luftalarm erlebt.

Trotz aller Freude, ihren FritzHartnagel, Fritz wieder bei sich zu haben und zusammen mit ihm einige Tage verbringen zu können, muss sie etwas Ernstes mit ihm besprechen. Während dieser Bahnfahrt bittet sie ihn wohl um einen großen Gefallen: Sie fragt ihn, ob er den Bezugsschein für einen Vervielfältigungsapparat mit Stempeln seiner Kompanie versehen kann. Mit einem Stempel der Wehrmacht wäre das Gerät viel leichter zu beschaffen.

Der Oberleutnant zögert. Wann immer möglich macht er seiner Freundin gern eine Freude, besorgt im besetzten FrankreichFrankreich Dinge, die es in DeutschlandDeutschland ohne Bezugsmarken nicht mehr gibt, wie Strümpfe, Seife, Schokolade und Kakao. Für Hans SchollScholl, Hans, ihren älteren Bruder, hat er einmal einen Bezugsschein für eine Leica-Kamera organisiert, da auch Fotoapparate kaum erhältlich sind. Aber was will sie mit einer Vervielfältigungsmaschine?

Außerdem fragt Sophie SchollScholl, Sophie nach 1 000 Mark. Wofür sie das Geld brauche, will er wissen. Sie erwidert nur: »Für einen guten Zweck.« HartnagelHartnagel, Fritz ahnt, was sie vorhat, aber Details ­erfährt er nicht – und er hakt auch nicht nach. »Bist du dir im Klaren, dass dich das den Kopf kosten kann?«, warnt er sie. »Ja, darüber bin ich mir im Klaren«, antwortet sie entschieden. Wenn sie einmal von etwas überzeugt ist, ändert sie selten ihre Meinung. Sie macht vieles mit sich selbst aus – und im Gebet mit Gott. Seit Monaten kreisen ihre Gedanken um die Zeit, in der sie lebt, um den Weltkrieg und seine Opfer, um die Freiheit, die ihr von den Nationalsozialisten genommen wird.

Seit Kriegsbeginn im September 1939 geht das Regime ­immer schärfer gegen seine Gegner vor. Die SS errichtet neue Konzentrationslager und erweitert bestehende. Die NS-Justiz verfolgt alle, die Zweifel am »Endsieg« zeigen. Wer sich abfällig über die Feldherrenkunst des »FührersHitler, Adolf« oder kritisch über die militärische Lage äußert, muss mit Festnahme, Haft oder einem Todesurteil wegen Wehrkraftzersetzung rechnen. Angesichts solch drakonischer Strafen soll jeder Gedanke an Widerstand erstickt werden. Ein falsches Wort zur falschen Person reicht aus, um von der Geheimen Staatspolizei abgeholt zu werden, das weiß Sophie SchollScholl, Sophie. Und sie leidet darunter, sich ständig verstellen zu müssen.

Doch die junge Frau lässt sich nicht entmutigen. Immer wieder hinterfragt sie im Kreis der Familie und unter Freunden das System. Mit ihrem Zweifel hat sie Fritz HartnagelHartnagel, Fritz längst an­gesteckt. Er weiß, wie kritisch seine FreundinScholl, Sophie dem NS-Regime gegenübersteht. Und er weiß auch, dass es ihm unmöglich ist, sie aufzuhalten, wenn sie sich zu etwas entschlossen hat. So lässt er die Frage nach dem Bezugsschein zunächst auf sich beruhen. Die 1 000 Reichsmark aber verspricht er ihr. Jetzt geht es darum, schöne Momente zu sammeln, an die er sich im Osten erinnern kann. Der Kurzurlaub in FreiburgFreiburg soll dazugehören.

Viel Zeit bleibt ihnen nicht. Sophie SchollScholl, Sophie und Fritz Hart­nagelHartnagel, Fritz übernachten wie bereits an einigen Wochenenden in den zurückliegenden Monaten im »Freiburger Hof«. In diesem Hotel treten sie als Ehepaar auf. Zur Tarnung haben sie sich sogar Ringe zugelegt, schließlich bekommen Unverheiratete nicht so einfach ein Doppelzimmer. Das Hotel, ein fünfgeschossiger Bau von 1890, liegt mitten in der Altstadt an der früheren Kaiserstraße, die nun Adolf-HitlerHitler, Adolf-Straße heißt. Es gibt viele Geschäfte in der Nähe, große Kaufhäuser in Jugendstilgebäuden, Lokale, verzierte Brunnen und einen Kanal, auf den die Gäste des Hotels von den hinteren Zimmern blicken können. In FreiburgFreiburg fühlen sich beide wohl, oft haben sie schon das Münster »Unserer Lieben Frau« besucht, ein Meisterwerk der Gotik, dessen markanter und schöner Turm die Dächer der Altstadt überragt.

Mit 140 Betten ist der »Freiburger Hof« groß genug, um als Gästepaar nicht allzu viel Aufmerksamkeit des Personals zu erregen. Draußen ist es düster. In FreiburgFreiburg herrscht abends wie in allen deutschen Städten strikte Verdunkelung, keine Laterne, kein Licht aus den Fenstern erhellt die Straße. Selbst die Scheinwerfer der Autos sind bis auf schmale Schlitze abgeklebt. Zudem gilt ab Mitternacht ohnehin die Polizeistunde, dann darf niemand mehr ohne triftigen Grund auf der Straße unterwegs sein.

Den Luftschutz nehmen die Menschen durchaus ernst. Sie wissen, welche Folgen es haben kann, wenn Bomber die Stadt anfliegen. Vor zwei Jahren, am 10. Mai 1940, waren bei einem Luftangriff auf FreiburgFreiburg57 Einwohner ums Leben gekommen, darunter 22 Kinder, eine Bombe traf einen Spielplatz. Vor dem Angriff hatte es keinen Alarm gegeben, denn die Flugzeuge, die FreiburgFreiburg attackierten, waren keine »Feindmaschinen«. Sie gehörten zur Luftwaffe, in den Cockpits saßen deutsche Piloten, die deutsche Bomben auf die deutsche Stadt warfen. Ein schreckliches Missverständnis hatte zu dem Luftschlag geführt. Drei Kampfflugzeuge hatten sich verflogen, FreiburgFreiburg mit einem Ziel in FrankreichFrankreich verwechselt. Um diesen Vorfall zu vertuschen, behauptet die Propaganda des NS-Staates, die Alliierten seien für die Attacke verantwortlich. Viele Deutsche glauben diese Lüge.

Am Montagabend, 4. Mai 1942, nehmen Sophie SchollScholl, Sophie und Fritz HartnagelHartnagel, Fritz Abschied voneinander. Noch weiß der Oberleutnant nicht genau, wann er mit seinen Männern in die ­UkraineUkraine aufbrechen wird. Aber die Abfahrt dürfte unmittelbar ­bevorstehen. Ein weiteres Treffen mit seiner Freundin ist in nächster Zeit unwahrscheinlich.

Sophie SchollScholl, Sophie steigt in den Zug, der sie zurück nach MünchenMünchen bringen wird. HartnagelHartnagel, Fritz begleitet sie wohl zum Gleis. Dann will er ebenfalls die Stadt verlassen, aber seine Bahnverbindung fällt aus. An diesem Montag fährt kein Zug mehr nach ParisParis oder StraßburgStraßburg, er kann erst am nächsten Tag nach FrankreichFrankreich reisen. HartnagelHartnagel, Fritz übernachtet abermals im »Freiburger Hof«, bekommt ein Doppelzimmer zugewiesen, muss es aber mit einem fremden Leutnant teilen. Das Personal übergibt ihm noch ein Nachthemd, das Sophie SchollScholl, Sophie vergessen hat.

Fritz HartnagelHartnagel, Fritz tritt am 5. Mai die Rückfahrt nach Le MansLe Mans an. Seine Einheit, eine Nachrichtenkompanie der Luftwaffe, bereitet den nächsten Einsatz vor. Bestimmt ist in FrankreichFrankreich eine Menge Arbeit für ihn angefallen, denn für die Abreise in Richtung Front muss noch einiges organisiert werden. Die Luftwaffe stellt nicht nur Piloten und Besatzungen. Die Männer in den blauen Uniformen oder beigefarbenen Overalls betreiben auch die Flugplätze, von denen Transportmaschinen, Bomber und Abfangjäger aufsteigen, sie bedienen Flugabwehrkanonen, kümmern sich um den Nachschub, transportieren Treibstoff und Munition. Einige Einheiten sind auch Heeresdivisionen zugeteilt. Bereits im Vorjahr war HartnagelsHartnagel, Fritz Kompanie der Panzertruppe unterstellt gewesen.

Nach stundenlanger Fahrt erreicht er um Mitternacht Le MansLe Mans. Am Bahnhof warten schon zwei Leutnants auf ihn. Sie holen ihren Vorgesetzten mit dem Wagen zu einer Feier ab, ­einer seiner Oberfeldwebel wurde zum Offizier befördert. Auch wenn er lieber für sich wäre, einen Brief an seine FreundinScholl, Sophie verfassen, an die schöne Zeit in FreiburgFreiburg denken würde, diesem Fest kann er sich nicht entziehen. Und auch am Tag darauf kommt HartnagelHartnagel, Fritz nicht dazu, an Sophie SchollScholl, Sophie zu schreiben. Als Kompaniechef muss er auf einem Unteroffiziersabend erscheinen, bis nachts um zwei Uhr bleibt er bei seinen Männern. Nach der Auszeit mit seiner Freundin fühlt er sich fremd unter seinen Kameraden, irgendwie erscheint ihm alles ver­logen: der Dienst, die Gelage, der Krieg.

In wenigen Tagen jährt sich der deutsche Überfall auf die ­SowjetunionSowjetunion: Am 22. Juni 1941 überschritt die Wehrmacht die Grenzen. Zunächst rückten ihre Einheiten rasch voran. Sie besetzten große Teile des Landes, gut zwei Fünftel der Bevölkerung leben nun unter deutscher Herrschaft. Die Rote Armee hat bereits mehrere Millionen Soldaten verloren.

Viele Deutsche erwarteten danach einen weiteren schnellen Erfolg ihrer Truppen. Schließlich versprachen auch der »FührerHitler, Adolf« und seine Propagandisten einen raschen Triumph über die Bolschewiken. Anfang Oktober 1941 verfolgten im ganzen »Großdeutschen ReichDeutschland« Menschen mit ihren Volksempfängern und anderen Radiogeräten eine Rede Adolf HitlersHitler, Adolf, die live aus dem BerlinerBerlin Sportpalast übertragen wurde. Den Krieg gegen Russland bezeichnete er als den gewaltigsten Kampf in der Weltgeschichte, den Gegner als grausam, bestialisch und tierisch. Die Schuld an dem Konflikt gibt er den Juden. Und zur ­SowjetunionSowjetunion sagte HitlerHitler, Adolf zur Erleichterung vieler seiner Anhänger, »daß dieser Gegner bereits gebrochen ist und sich nie wieder erheben wird«.

Reichspressechef Otto DietrichDietrich, Otto griff die Parole auf und verkündete vor Journalisten den nahen Sieg über RusslandRussland. Die gleichgeschaltete deutsche Presse vermeldete am nächsten Tag den bevorstehenden Erfolg. Offiziere im Oberkommando der Wehrmacht und Militärs aus dem engen Zirkel um HitlerHitler, Adolf wussten jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt, dass alle Pläne, die ­Sowjets vor Einbruch des Winters zu schlagen, von der Realität eingeholt worden waren. Es fehlte den deutschen Einheiten an Winterbekleidung, an Treibstoff, an Munition, an Nachschub von Waffen und Fahrzeugen, um die enormen Verluste auszugleichen.

Im Oktober 1941 endete der Vormarsch vor MoskauMoskau, die deutschen Panzer blieben im Matsch stecken. Und auf die »Rasputiza«, die Schlammperiode, folgte der Winter, schon im Oktober fiel der erste Schnee. Zwar schuf der gefrierende ­Boden einen festen Untergrund für die Panzer, die noch einmal vorrücken konnten. Anfang Dezember kamen Einheiten der Wehrmacht nah an die westlichen Vororte MoskausMoskau heran, aber die Kälte machte den Deutschen immer stärker zu schaffen. Mehr als 133 000 Fälle von Erfrierungen mussten die Truppenärzte behandeln. Die Temperatur sank am 4. Dezember 1941 auf minus 40 Grad. Nun versagten die deutschen ­Maschinengewehre, Fahrzeuge sprangen nicht an, Flugzeuge vereisten und die Rohrleitungen, Armaturen und Pumpen von Lokomotiven platzten, so dass der Nachschub oft spärlich ausfiel. Für die Wehrmacht war die Zeit der leichten Siege endgültig vorbei.

Am Nikolaustag begann die Rote Armee dann mit frischen Truppen aus SibirienSibirien eine großangelegte Gegenoffensive. Ab dem 6. Dezember drängte sie die Invasoren vor MoskauMoskau zurück. Erst 150 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt gelang es den Deutschen, die Frontlinie zu halten. Dann beendete der eisige Winter die großen Gefechte. Die Front ­erstarrte weitgehend. Gegenseitiger Artilleriebeschuss und Angriffe durch kleine Kommandos und Spähtrupps ersetzten die großen Schlachten.

So mancher deutsche Soldat dachte Ende 1941 an das Schicksal der Grande Armée, die NapoleonNapoleon129 Jahre zuvor nach RusslandRussland geführt hatte und die dort schließlich von den Truppen des Zaren aufgerieben worden war. Viele Offiziere lasen an der Ostfront ›Mit NapoleonNapoleon in RusslandRussland‹Russland. Der Verfasser, Armand de CaulaincourtCaulaincourt, Armand de, begleitete den französischen Kaiser auf dessen Flucht aus dem Zarenreich und schrieb später über das Desaster im Osten. Auch Friedrich PaulusPaulus, Friedrich, der im Generalstab den Überfall auf die UdSSRSowjetunion geplant hatte, kannte das Werk, seine Frau hatte es ihm geschenkt. Vor der Lektüre sagte der General zu ihr, RusslandRussland sei vielleicht in vier bis sechs Wochen zu schlagen. Diese kühne Prognose erwies sich bald als schwerer Irrtum. NapoleonNapoleon hatte immerhin im September 1812MoskauMoskau eingenommen. Das gelang den Deutschen nicht.

Wenn die deutschen Soldaten an der Ostfront im Frühjahr 1942 ihre Situation mit der ihrer Vorgänger beim RusslandfeldzugRussland vergleichen, drängt sich eine besorgniserregende historische Analogie auf. NapoleonsNapoleon Offensive blutete damals aus, seine Kämpfer verhungerten oder erfroren. Nun wirken die ­aktuellen deutschen Verluste fatal. Ein Bericht des Oberkommandos des Heeres zeigt am 30. März 1942, welche Lücken die Kämpfe seit Juni 1941 gerissen haben. Von den ursprünglich 162 Kampfdivisionen an der Ostfront stehen noch genau acht für künftige Angriffe bereit, ein Verlust von 1 167 835 Mann – ­gefallen, verwundet, in Gefangenschaft geraten, vermisst. Die 16 deutschen Panzerdivisionen in der SowjetunionSowjetunion haben zusammen nur noch 140 funktionstüchtige Kampfwagen – über so viele Fahrzeuge verfügt sonst eine einzige Division.

Als einfacher Oberleutnant kennt Fritz HartnagelHartnagel, Fritz nicht die genauen Verlustzahlen, aber er hat doch gehört, dass die Kämpfe im Osten mörderischer sind als die Feldzüge davor. Während er noch in FrankreichFrankreich seine Kompanie auf die baldige Abreise vorbereitet, beginnt am 8. Mai 1942 die Rückeroberung der Halbinsel KertschKertsch auf der KrimKrim. Die Wehrmachtsführung will so die Basis für die Sommeroffensive im Süden der Ostfront schaffen. Deutsche und rumänische Truppen rücken vor, unterstützt werden sie von der Luftwaffe, die pausenlos Angriffe fliegt.

HartnagelsHartnagel, Fritz Soldaten wissen, dass sie ihr bequemes Quartier im friedlichen Nordwesten FrankreichsFrankreich in Kürze gegen ein­fache Lager im russischen KriegsgebietRussland tauschen müssen. In ­ Le MansLe Mans wohnt HartnagelHartnagel, Fritz allein in einem Haus mit drei Zimmern. Abends kann er hier in Ruhe Briefe schreiben, lesen und den ganzen Dienstalltag vergessen. So richtig kalt wird es in dem Ort selten, selbst der Januar hat durchschnittlich gut fünf Grad. Im nächsten Operationsgebiet wird das anders werden. Der Offizier hat bereits im Vorjahr erlebt, wie hart der Einsatz in RusslandRussland sein kann, wie es ist, auf schlammigen Wegen stecken zu bleiben, dauerhaft im Zelt oder im Lastwagen zu schlafen, sowjetische Luftangriffe zu fürchten. Im Vorjahr hat er das Land streckenweise als unheimlich wahrgenommen, vor allem die ausgedehnten Sümpfe und düsteren Wälder, die Russen als zähe Kämpfer. Und natürlich weiß er, dass der Feldzug in RusslandRussland nach den deutschen Plänen längst hätte siegreich zu Ende sein sollen.

Am 9. Mai schlendert Fritz HartnagelHartnagel, Fritz durch die Gassen von Le MansLe Mans. Die Altstadt ist ein Schmuckstück und wurde im Krieg bislang kaum beschädigt. Bekannt ist Le MansLe Mans vor allem wegen des 24-Stunden-Rennens, doch seit 1939 pausiert das Spektakel.

HartnagelHartnagel, Fritz möchte noch einige Geschenke für seine SophieScholl, Sophie finden. Schon aus seinem letzten Aufenthalt in FrankreichFrankreich, im Sommer 1940, hat er ihr Präsente mitgebracht: eine Jacke, dazu Pralinen und Kaffee, Köstlichkeiten, die im Krieg in DeutschlandDeutschland schwer zu beschaffen waren. Sophie SchollScholl, Sophie teilte die kulinarischen Schätze stets mit ihrer Familie, und so profitierten auch ihre Eltern und Geschwister von HartnagelsHartnagel, Fritz Großzügigkeit. Für die Mutter, MagdalenaScholl, Magdalena Scholl, besorgte er breite und bequeme Schuhe. Monatelang hatte sie vergeblich versucht, dafür in UlmUlm einen Bezugsschein zu erhalten. Im zuständigen Amt hatten die Beamten sie weggeschickt und erklärt, dass es neue Exemplare nur alle zwei bis drei Jahre gebe. Wer ein neues Paar wolle, müsse die alten Schuhe bei der Antragsstelle für ­Bezugsscheine vorführen, wo sie gründlich begutachtet würden. Meist verlangten die Beamten aber, dass die vorgezeigten Exemplare zunächst ein weiteres Mal besohlt und geflickt wurden, bevor es Marken für neue gab.

HartnagelHartnagel, Fritz sucht in verschiedenen Geschäften nach Dingen, mit denen er Sophie SchollScholl, Sophie eine Freude machen kann, schließlich feiert sie an diesem Tag Geburtstag. Sie hat ihm einige Wünsche mitgegeben. Doch fündig wird er nicht. Lederschuhe, die seine FreundinScholl, Sophie begehrt, gibt es nur in kleinen Größen. Und die angebotenen Stoffe empfindet er als minderwertig. In ParisParis hofft er bessere Qualität zu finden, sollte er noch in die fran­zösische Hauptstadt kommen.

Aus FrankreichFrankreich schicken deutsche Soldaten Abertausende Pakete nach DeutschlandDeutschland, denn in den besetzten Gebieten gibt es noch alle möglichen Waren frei zu kaufen, während in der Heimat fast alle Nahrungsmittel, Konsumgüter und Textilien rationiert sind. So mancher Soldat nimmt sich auch einfach die Sachen, die er brauchen kann, ohne dafür zu bezahlen. »Organisieren« nennen das die Männer. Seit Anfang 1942 fehlen in ­vielen Haushalten bereits so wichtige Dinge wie Kohlen. Am 6. April hat das Regime die wöchentliche Brot- und Fleischmenge für jeden Bürger reduziert, und auch die Butter- und Margarinezuteilung pro Kopf wurde gesenkt. Wer in Geschäften einkauft oder Restaurants besucht, muss Lebensmittelkarten abgeben, Berechtigungsscheine und Ausweise vorlegen. Und der Eintopf am Sonntag wird für alle Deutschen zur Pflicht erklärt. Die Soldaten in den besetzten Gebieten in WesteuropaWesteuropa essen meist besser als ihre Angehörigen zu Hause.

Am 9. Mai 1942 hat Sophie SchollScholl, Sophie einige Freunde in das Zimmer ihres Bruders HansScholl, Hans eingeladen. Sie stoßen auf ihren 21. Geburtstag an, genießen Kuchen und Wein von der Familie aus UlmUlm. Von Fritz HartnagelHartnagel, Fritz bekommt das Geburtstagskind einen Brief: »Ach könnte ich nur etwas dazu beitragen Dir ein fried­liches und volles Herz zu schenken.« Sie solle doch einfach einmal wegfahren und die Einsamkeit suchen. Ihr FritzHartnagel, Fritz ist der­jenige, der sie am besten versteht. Er hat aus ihren Zeilen he­rausgelesen, dass sie sich bei all dem Trubel in MünchenMünchen nach Ruhe sehnt, und sorgt sich um sie. Zeit nur für sich bleibt ­Sophie SchollScholl, Sophie tatsächlich wenig. Es sei wichtiger, dass sie festen Grund finde, als irgendein Wissen in sich einzupfropfen. »Ich würde es ja so gern noch einmal versuchen 2 oder 3 Tage zu Dir zu kommen«, schreibt Fritz HartnagelHartnagel, Fritz. Aber der Oberleutnant glaubt selbst nicht, dass er noch einmal frei bekommt: »Du darfst also meine Pläne leider nicht allzu ernst nehmen.«

In RusslandRussland beginnt die Rote Armee am 12. Mai ihre erste große Offensive in diesem Jahr. Zuvor hat das feuchte Frühlingswetter, das die Straßen in Rutschpisten verwandelte, einen umfangreichen Angriff mit Bodentruppen verhindert. Der Schlamm bremste beide Seiten. Nun hat der Regen aufgehört, die Panzer und Sturmgeschütze rollen wieder. StalinStalin, Josef hat angeordnet, dass seine Truppen die deutsche 6. Armee, die im Raum CharkowCharkow operiert, einkesseln. Damit rechnen allerdings die deutschen Generäle, die von ihrem Nachrichtendienst vor dem sowjetischen Plan, den Gegner in eine Falle zu locken, gewarnt wurden. Adolf HitlerHitler, Adolf hatte der Heeresgruppe befohlen, CharkowCharkow einzunehmen. Die Stadt liegt im Mittelabschnitt der Front und ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Wer CharkowCharkow ­kontrolliert, der beherrscht die Straßen und Schienen in der ­Region.

HartnagelsHartnagel, Fritz größter Wunsch ist es, vor der Fahrt gen Osten ein weiteres Mal seine FreundinScholl, Sophie zu besuchen. Mitte Mai erhält er tatsächlich die ersehnte Erlaubnis. Während er nach MünchenMünchen eilt, bricht seine Kompanie von Le MansLe Mans per Eisenbahn in Richtung RusslandRussland auf.

Sophie SchollScholl, Sophie hat genügend Zeit für ein Treffen. In diesem Monat will sie mit ihrem Studium anfangen, aber die Seminare und Vorlesungen beginnen erst später. Sie lebt in einem beschaulichen Vorort, weit vom Univiertel entfernt. Für die Anfangszeit hat die Ulmerin eine Unterkunft bei Carl MuthMuth, Carl gefunden, einem reformkatholischen Intellektuellen und Gegner des NS-Regimes. Die von ihm herausgegebene Zeitschrift ›Hochland‹ haben die Nationalsozialisten im Vorjahr verboten. MuthMuth, Carl war es gelungen, Adolf HitlerHitler, Adolf in seiner Publikation kein ein­ziges Mal zu erwähnen. Doch seine kritische Haltung zum ­NS-Regime war nicht zu übersehen.

Zu dem Gelehrten hält Hans SchollScholl, Hans engen Kontakt, er ordnete dessen Bibliothek und sieht in MuthMuth, Carl einen Mentor. Die Scholls schicken dem betagten Herrn regelmäßig Obst und Gemüse aus UlmUlm, mal erhält er eine Kiste Äpfel, mal einige Pflaumen. Gern nimmt er Sophie SchollScholl, Sophie in sein Haus in SollnSolln auf.

In MünchenMünchen verhalten sich Sophie SchollScholl, Sophie und Fritz Hart­nagelHartnagel, Fritz wie andere Verliebte in diesen Frühlingstagen auch. Sie genießen die Nähe, reden, gehen lange spazieren. Der große, hagere Offizier mit den dunklen Augen und dem ernsten Gesichtsausdruck und die eher kleine zukünftige Studentin mit den ebenfalls dunkelbraunen Augen und dunklen Haaren, die ihr bis zum Kinn reichen, schlendern gemeinsam durch die ­Natur, vielleicht gehen sie durch den Englischen Garten, den Sophie SchollScholl, Sophie so mag. Außerdem begleitet HartnagelHartnagel, Fritz seine FreundinScholl, Sophie bei einem wichtigen Schritt. Sie schreibt sich an der Ludwig-Maximilians-Universität ein.

Während HartnagelHartnagel, Fritz sich in MünchenMünchen aufhält, fordert in BerlinBerlin eine Widerstandsgruppe das NS-Regime heraus. Am 18. Mai verüben Kommunisten um den 30-jährigen Herbert BaumBaum, Herbert ­einen Brandanschlag auf eine Propagandaschau gegen die SowjetunionSowjetunion. Sie zünden in der »Zeltstadt« im Berliner Lustgarten, in der eine Kolchose, Beutewaffen und eine Todeszelle des Geheimdienstes gezeigt werden, einige Behälter mit brennbaren Flüssigkeiten und beschädigen die Ausstellung »Das Sowjet-­Paradies«, in der die UdSSRSowjetunion verunglimpft wird und Slawen als »Untermenschen« dargestellt werden. Gleichzeitig verteilen mehrere Widerstandsgruppen in der Hauptstadt Flugblätter gegen den Krieg. Obwohl die Nationalsozialisten versuchen, den Anschlag geheim zu halten, kursieren Gerüchte, und auch die Presse im Ausland berichtet darüber. Schließlich kommt es nach Jahren der Diktatur selten zu solchen Aktionen in DeutschlandDeutschland.

Vermutlich erfahren Scholl und HartnagelHartnagel, Fritz in MünchenMünchen nichts von dem Vorfall in BerlinBerlin. Aber andere Taten mutiger Regimegegner haben sie mitbekommen. Unbekannte hatten mehrfach kritische Schriften in Umschlägen ohne Absender bei den Scholls eingeworfen. Im Frühjahr 1942 gelangten so gedruckte Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von GalenGalen, Clemens August Graf von in den Briefkasten der Familie. Darin prangerte der katholische Geistliche die Ermordung von Patienten in Heil- und Pflegeanstalten an und kritisierte unverhohlen das NS-Regime. Dass die Anklage GalensGalen, Clemens August Graf von stimmt, wusste Familie Scholl. Denn bereits 1941 hatte eine frühere Kollegin der MutterScholl, Magdalena, mit der sie im Samariterstift Grafeneck zusammengearbeitet hatte, berichtet, dass immer wieder behinderte Bewohner abgeholt würden und verschwänden. Auch das Vorgehen der Geheimen Staatspolizei gegen die Kirche rügte von GalenGalen, Clemens August Graf von. Die Gestapo war einer der wichtigsten Verfolgungsapparate der Nationalsozialisten. Deren Beamte konnten »Schutzhaft« verhängen, also Verdächtige ohne richterlichen Beschluss in Konzentrationslager oder Gefängnisse sperren.

Hans SchollScholl, Hans ist vom Mut des Bischofs begeistert. Er ruft im Kreis der Familie aus, man müsste einen Vervielfältigungsapparat haben. Sophie SchollScholl, Sophie hat auf der Zugfahrt von TübingenTübingen nach FreiburgFreiburg einen solchen Apparat erwähnt, und Fritz HartnagelHartnagel, Fritz ist beunruhigt, denn was sie vorhat, klingt nach Widerstand und Lebensgefahr. Doch bei ihrem Treffen in MünchenMünchen sprechen sie wohl nicht mehr über den Bezugsschein und seinen Verwendungszweck. Ihre letzten gemeinsamen Stunden vor HartnagelsHartnagel, Fritz Abmarsch wollen sie nicht mit Sorgen trüben. Sophie SchollScholl, Sophie weiht ihren Freund nicht in ihre Pläne ein. Sie will ihn nicht belasten – und möchte ihn wohl auch nicht in ­Gefahr bringen, sollte einmal die Gestapo gegen sie ermitteln.

In MünchenMünchen nehmen sich die beiden viel Zeit füreinander. Während Hans SchollScholl, Hans und sein Freund Alexander SchmorellSchmorell, Alexander sich mit einigen Kommilitonen im Englischen Garten treffen und nachts im Gras liegend Wein trinken, bleibt das Paar wohl meist für sich. Fritz HartnagelHartnagel, Fritz lernt die neuen Bekannten seiner Freundin zumindest nicht kennen. Zum Abschied am 20. Mai schenkt Sophie SchollScholl, Sophie ihrem Freund zwei Bände mit Predigten von John Henry NewmanNewman, John Henry, einem Priester der anglikanischen Kirche, der 1845 zum Katholizismus konvertierte und Kardinal wurde. »Erst das Gewissen und dann der Papst«, lautet sein Leitspruch. NewmanNewman, John Henry hielt die Freiheit des Einzelnen hoch, seine Gedanken beeindrucken Sophie SchollScholl, Sophie.

An diesem Tag sind die Zeitungen voller Jubelmeldungen. »Drei sowjetische Armeen vernichtet«, posaunt der ›Briesetal Bote‹ aus BrandenburgBrandenburg auf seiner Titelseite. Die ›Königsberger Allgemeine Zeitung‹ aus OstpreußenOstpreußen meldet: »Meerenge von KertschKertsch in ganzer Breite erreicht«. Im ›Teltower Kreisblatt‹ heißt es in dicken Lettern: »150 000 Gefangene auf KertschKertsch«. 447 sowjetische Panzer seien zerstört und 45 »bolschewistische Flugzeuge« abgeschossen worden, steht in den Meldespalten. Doch diese Erfolge der deutschen Streitkräfte dürften Sophie SchollScholl, Sophie und Fritz HartnagelHartnagel, Fritz kaum interessieren. Sie beschäftigt vielmehr die essenzielle Frage: Werden sie sich jemals wiedersehen?

2. KAPITEL

Glaube und Zweifel

1917 bis 1939

Sophie SchollScholl, Sophie und Fritz HartnagelHartnagel, Fritz stammen beide aus UlmUlm. Dort lernen sie sich kennen, dort leben ihre Familien. Malerisch liegt der Ort an der DonauDonau, auf der die »Ulmer Schachteln« fahren, Holzschiffe mit niedrigen, begehbaren Aufbauten, oder Zillen, flache Boote, mit denen Schiffer einst Waren über viele Hunderte Kilometer bis WienWien, BudapestBudapest und BelgradBelgrad transportiert haben.

Fritz HartnagelHartnagel, Fritz kommt in UlmUlm am 4. Februar 1917 als viertes Kind von BarbaraHartnagel, Barbara und Friedrich HartnagelHartnagel, Friedrich zur Welt. Er hat zwei Schwestern, EmilieHartnagel, Emilie und FridaHartnagel, Frida, sowie einen Bruder, WilhelmHartnagel, Wilhelm. Seine Eltern sind in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und haben sich hochgearbeitet. Nun ermöglichen sie FritzHartnagel, Fritz eine deutlich bessere Ausbildung, als sie selbst bekommen ­haben: Er besucht die Kepler-Oberschule und soll Abitur machen. Politisch interessiert sind weder VaterHartnagel, Friedrich noch MutterHartnagel, Barbara, dem Nationalsozialismus stimmen sie kritiklos zu, sie sind Mitläufer.

Mehr als von den Eltern wird Fritz HartnagelHartnagel, Fritz von der bün­dischen Jugendbewegung beeinflusst. Als Jugendlicher schließt er sich der »Deutschen Freischar, Bund der Wandervögel und Pfadfinder« an. Ihn reizen vor allem die abenteuerlichen Fahrten der Bündischen Jugend, zu der seine Gruppe gehört. So fährt er als 13-Jähriger mit seiner »Freischar« auf einer Zille die DonauDonau hinauf bis nach UngarnUngarn.

UlmUlm gehört zu den bedeutendsten Städten in WürttembergWürttemberg. Als Fritz HartnagelHartnagel, Fritz und Sophie SchollScholl, Sophie dort aufwachsen, stehen im Zentrum immer noch viele Gebäude aus dem Mittelalter wie das Schiefe Haus, der Metzgerturm und das Gänstor aus dem 14. Jahrhundert. Am bekanntesten ist das gotische Münster. Das Gotteshaus und eine gewaltige Festungsanlage prägen das Aussehen der »Garnisonsstadt«. Seit Langem unterhält das Militär Stützpunkte in dem strategisch wichtigen Ort an der DonauDonau. 1842 begannen die Arbeiten an einem steinernen Festungswall, der die Stadt umgab, 1867 war die Bundesfestung UlmUlm vollendet. Der Bau der gigantischen Anlage hatte für ­einen Aufschwung gesorgt, die Stadt wuchs. Industrie siedelte sich an. UlmUlm beherbergte bald Rüstungsfabriken und Zulieferer der Armee wie Kässbohrer, Magirus und Wieland. Bedeutende Festungen sicherten die DonauübergängeDonau. Zu ihnen gehörte das Fort »Oberer Kuhberg«. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg traf UlmUlm hart. Der Versailler Vertrag legte die Zahl der Soldaten beim Heer auf 100 000 Mann fest, dazu 19 000 Mann bei der Reichsmarine. Für die Garnisonsstadt bedeutete die erzwungene Abrüstung den Abzug zahlreicher Armeeangehöriger, die ihren Sold in den Geschäften und Kneipen ausgegeben hatten. UlmUlm schrumpfte und viele Einwohner fremdelten mit der demokratischen Weimarer Republik. So wurde die Stadt eine Hochburg der NSDAP, hier erzielte die Partei stets bessere Ergebnisse als im übrigen WürttembergWürttemberg.

1932, in einer politisch aufgeheizten Zeit mit viel Gewalt auf den Straßen, zieht Sophie SchollScholl, Sophie mit ihrer Familie im März nach UlmUlm. Ihre Eltern hatten sich während des Ersten Weltkriegs in einem Lazarett in LudwigsburgLudwigsburg kennengelernt, wo Robert SchollScholl, Robert als Soldat und die Diakonisse MagdalenaScholl, Magdalena Müller Dienst taten. Der Sanitäter und die Schwester kamen sich bald näher, sie heirateten 1916. Im Jahr darauf, am 11. August, freuten sie sich über ihr erstes gemeinsames Kind, Ingeborg, genannt IngeScholl, Inge. Nur dreizehn Monate später wuchs die Familie weiter. Hans SchollScholl, Hans kam am 22. September 1918 in der württembergischen Kleinstadt IngersheimIngersheim an der Jagst zur Welt, wo sein VaterScholl, Robert inzwischen Ortsvorsteher war. Dann zog die Familie nach ForchtenbergForchtenberg, hier war Robert SchollScholl, Robert Bürgermeister. Am 27. Februar 1920 wurde ElisabethScholl, Elisabeth dort geboren, keine 15 Monate später folgte am 9. Mai 1921 dann eine weitere Tochter. Sophia MagdalenaScholl, Sophie, wie ihr Geburtsname lautete, war das vierte Kind von RobertScholl, Robert und MagdalenaScholl, Magdalena Scholl. SophieScholl, Sophie oder Sofferl nannten sie die Eltern. WernerScholl, Werner vergrößerte die Kinderschar am 13. November 1922, eine Nachzüglerin, ThildeScholl, Thilde, folgte am 22. März 1925. Die Kleine, mit der ihre Schwestern, allen voran SophieScholl, Sophie, gern spielten, erkrankte Ende des Jahres an Masern und starb in der Nacht auf den 5. Januar 1926. ThildeScholl, Thilde Scholl wurde nicht einmal ein Jahr alt. Für die Familie war das ein heftiger Schock. ­Eltern und Geschwister trauerten sehr um die Jüngste.

ForchtenbergForchtenberg erleben die Scholl-Kinder als Paradies. Weinberge und Mischwälder umgeben die Kleinstadt. In ihnen tobt Sophie SchollScholl, Sophie mit ihren Geschwistern, sie bauen Häuser aus Steinen, klettern auf Bäume, gehen im Kocher schwimmen. Die Familie wohnt im Rathaus. Bei ihr lebt Ernst GrueleGruele, Ernst, Robert SchollsScholl, Robert unehelicher Sohn, dessen Mutter kurz nach seiner ­Geburt 1914 starb. Er hängt am Vater, scheint zur Familie aber nie so richtig dazuzugehören, taucht in Briefen und Berichten kaum auf.

SchollScholl, Robert hat als Schultheiß, wie der Bürgermeister dort genannt wird, viel zu tun. Als er 1919 sein Amt antritt, bringt noch eine Postkutsche die Einwohner zur nächsten Bahnstation. Scholl, der viele Neuerungen anstößt, setzt gegen den Willen so manches Bauern durch, dass der Ort an die Eisenbahnstrecke angeschlossen wird. Außerdem lässt er ein Lagerhaus und eine Turnhalle errichten. Zehn Jahre bleibt er im Amt, dann wird er nicht wieder gewählt. Mit seinen fortschrittlichen Ideen und seiner Kompromisslosigkeit hat er sich zu viele Gegner gemacht. Zudem gilt er nicht gerade als volksnah. Die Familie verlässt 1930ForchtenbergForchtenberg und zieht nach LudwigsburgLudwigsburg. Zunächst ist Robert SchollScholl, Robert als Syndikus einer Genossenschaft der Maler und Lackierer in StuttgartStuttgart tätig, danach als Buchhalter, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer. 1932 steht ein weiterer Umzug an: nach UlmUlm, wo er sich in ein Treuhandbüro einkauft. Eine Zeitlang leben sie in einer Wohnung in MichelsbergMichelsberg, einem Viertel am Stadtrand, in dem viele Villen stehen, später im Zentrum in der Olgastraße, die die Nationalsozialisten dann in Adolf-HitlerHitler, Adolf-Ring umbenennen. Über den Scholls wohnt die ­jüdische Familie Einstein, die sehr entfernt mit dem berühmten Physiker verwandt ist, Albert EinsteinEinstein, Albert ist in UlmUlm zur Welt gekommen. Zu ihnen entwickeln die Scholls ein gutes Verhältnis.

1933 zahlt Robert SchollScholl, Robert einen Kompagnon aus und führt das Geschäft nun allein. Er treibt ausstehende Forderungen seiner Mandanten ein, vollzieht Zwangsvollstreckungen, ist als Konkursverwalter tätig, berät beim Verfassen von Testamenten, beim Verwalten von Nachlässen und bei Steuerfragen. Sein Einkommen steigt beträchtlich.

Seine Frau MagdalenaScholl, Magdalena unterstützt Robert SchollScholl, Robert stets, umsorgt die Kinder, führt den Haushalt. Sie ist zehn Jahre älter als ihr Mann. Die Eltern legen Wert auf eine christlich-humanis­tische, von Nächstenliebe, Achtsamkeit und Ethik geprägte Erziehung der Kinder: »Ich möchte, daß ihr grad und frei durchs Leben geht«, gibt Robert SchollScholl, Robert ihnen mit. Er warnt seine ­Familie immer wieder vor Adolf HitlerHitler, Adolf und seinen Anhängern.

Wie recht er mit seiner Haltung hat, zeigt sich schon bald. Nachdem der »FührerHitler, Adolf der NSDAP« von Reichspräsident Paul von HindenburgHindenburg, Paul von im Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden ist, beschränken die neuen Machthaber die freie Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, das Versammlungsrecht, Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis drastisch. In UlmUlm richten die Nationalsozialisten das KZ »Oberer KuhbergOberer Kuhberg (Konzentrationslager)« im alten Fort ein. Dort sind seit November 1933 Sozialdemokraten, darunter der bekannte Politiker Kurt SchumacherSchumacher, Kurt, Gewerkschafter, Kommunisten, Geistliche und andere Gegner des Regimes inhaftiert.

Geschickt instrumentalisiert das NS-Regime die Militärtradition in UlmUlm für seine Zwecke. Neue Kasernenbauten sorgen für Arbeit, die Stadt profitiert von der Aufrüstung, die HitlerHitler, Adolf angeordnet hat. UlmUlm entwickelt sich zu einem der größten Standorte der Armee in ganz DeutschlandDeutschland. Seit dem Beginn seiner Kanzlerschaft werden die Streitkräfte massiv verstärkt. Betrugen die deutschen Militärausgaben 1933 noch 984 Millionen Reichsmark, sind es 1934 bereits fast vier Milliarden.

Robert SchollScholl, Robert erkennt früh, dass HitlerHitler, Adolf auf einen Krieg zusteuert, und verschweigt der Familie seine Sorgen nicht. Dennoch begeistern sich IngeScholl, Inge, HansScholl, Hans und Sophie SchollScholl, Sophie für den ­Nationalsozialismus. Sie hören, dass die Bewegung für Kameradschaft, Volksgemeinschaft und Heimatliebe stehe. Ihnen imponiert auch die Hitlerjugend, die HJ, mit ihren geschlossen marschierenden Kolonnen, den wehenden Fahnen, den Uniformen. Hans SchollScholl, Hans ist 14 Jahre alt, als HitlerHitler, Adolf zum Reichskanzler ernannt wird. Er will zu dessen Organisation gehören. Noch im selben Jahr treten er und IngeScholl, Inge Scholl in die HJ ein, ihnen folgt ihre Schwester ElisabethScholl, Elisabeth.

Im Deutschen Jungvolk sind Jungen von zehn bis 14 Jahren organisiert. Ältere wechseln in die HJ. Durch Mitgliedschaft in dieser Organisation, durch Arbeitsdienst und Militär sollen ­Heranwachsende kontrolliert und für die Schlachten der Zukunft gedrillt werden. So gehört zum Dienst auch die vormilitärische Ertüchtigung: Marschübungen mit Gepäck über zehn Kilometer, Kleinkaliberschießen auf Ringscheiben sowie Geländekunde mit dem »Heranarbeiten an einen Gegner«.

Für Mädchen gibt es zunächst den Jungmädelbund und danach den BDM. Im Januar 1934, mit zwölf Jahren, tritt Sophie SchollScholl, Sophie in die nationalsozialistische Jugend ein. Drei Monate ­später, am 20. April 1934, an HitlersHitler, Adolf45. Geburtstag, legt sie ihr Gelöbnis ab. Ihr Schwur lautet: »Jungmädel wollen wir sein. Klare Augen wollen wir haben und tätige Hände. Stark und stolz wollen wir werden: zu gerade, um Streber und Duck­mäuser zu sein, zu aufrichtig, um etwas scheinen zu wollen, zu gläubig, um zu zagen und zu zweifeln, zu ehrlich, um zu schmeicheln, zu trotzig, um feige zu sein.«

Gegen den Willen Robert SchollsScholl, Robert engagieren sich seine Kinder in der NS-Bewegung. »Glaubt ihnen nicht, sie sind Wölfe und Bärentreiber, und sie mißbrauchen das deutsche Volk schrecklich«, warnt sie der Vater. Immer wieder versucht er ­ihnen die Gefahren des Nationalsozialismus aufzuzeigen, aber seine Appelle bleiben wirkungslos. Mit seinem Sohn HansScholl, Hans ­liefert Robert SchollScholl, Robert sich einen täglichen Kampf: Das HitlerHitler, Adolf-Porträt, das der in seinem Zimmer aufgehängt hat, nimmt der VaterScholl, Robert jeden Abend wieder ab und steckt es in eine Schublade. Am anderen Morgen hängt es wieder an der Wand. Irgendwann gibt Robert SchollScholl, Robert auf. Der »FührerHitler, Adolf« sorgt für eine Entfremdung zwischen Eltern und Kindern.

Die Geschwister schätzen das Gemeinschaftsgefühl in der HJ, die Kameradschaft über gesellschaftliche Klassen hinweg, die abenteuerlichen Zeltlager, den sportlichen Wettkampf. Sie bringen sich mit Leidenschaft ein, begeistern sich für Fahrten und Märsche. Bald erhalten IngeScholl, Inge, HansScholl, Hans, ElisabethScholl, Elisabeth und Sophie SchollScholl, Sophie Leitungsposten in der NS-Jugendbewegung.

WernerScholl, Werner Scholl hingegen bleibt der HJ zunächst fern, geht weiterhin zu einer anderen Formation, der »Deutschen Freischar«. Sein Gruppenleiter ist Fritz HartnagelHartnagel, Fritz. Als die Nationalsozialisten im Juni 1933 die Bündische Jugend verbieten, weil es neben der HJ keine weitere Jugendorganisation geben darf, trifft das auch die »Freischar«. Sehr widerwillig schließen sich die meisten ihrer Mitglieder der Hitlerjugend an, auch Fritz HartnagelHartnagel, Fritz und WernerScholl, Werner Scholl.

Das Vorgehen gegen die Bündische Jugend empört Hart­nagelHartnagel, Fritz. Heimlich trifft er sich nach wie vor mit Gleichgesinnten im Gartenhaus seiner Eltern. Weihnachten 1933 nimmt er an ­einem Skilager des Jugendbundes »Trucht« aus dem SaarlandSaarland teil. Die Region gehört noch nicht zum Reich und so existieren dort noch freie Jugendgruppen. Über die Zeitschrift ›U-Boot‹, in der häufig offen Kritik an der NSDAP, dem »spießigen Kriegsveteranenverein«, geübt wird, halten Sympathisanten der Bündischen Jugend untereinander Kontakt. HartnagelHartnagel, Fritz selbst nennt die Partei in einem Artikel ein »jämmerliches Gebilde«. Die Gestapo, der nicht verborgen bleibt, dass die verbotene »Freischar« fortbesteht, geht in UlmUlm gegen Jugendliche vor, es kommt zu Hausdurchsuchungen und Verhören. HartnagelHartnagel, Fritz bleibt davon unbehelligt, legt aber aus Protest gegen das Vorgehen der Gestapo seinen Posten als HJ-Führer nieder.

Hans SchollScholl, Hans dagegen steigt in der HJ bis zum Fähnleinführer auf und hat in dieser Funktion 160 Jungen unter sich. Er baut eine A-Mannschaft auf, deren Mitglieder für spätere Führungsaufgaben gedrillt werden. Scholl versucht, den Dienst für seine Jungs möglichst spannend zu gestalten, wobei er sich auch an den Aktivitäten der verbotenen Bündischen Jugend orientiert.

Sophie SchollScholl, Sophie ist seit dem Frühjahr 1935 als Schaftführerin für 15 Jungmädchen verantwortlich. Sie muss acht Kilometer mit dem Rad fahren, um ihre Gruppe zu erreichen, hin und zurück, bei jedem Wetter. Für sie ist das kein Problem. Selbst bei schneidender Kälte trägt sie kurze Hosen – für ein Mädchen ein ungehöriges Kleidungsstück. Sophie SchollScholl, Sophie hat zudem einen Jungenhaarschnitt und tritt burschikos auf, »Buabamädel« nennen die Nachbarn sie oder auch weniger freundlich »Mannsweib«. Sie gilt bei Gleichaltrigen als ziemlich fanatisch. Einmal lässt sie sogar ein Mädchen aus ihrer Gruppe von Polizisten zu Hause abholen, weil es nicht zum Dienst erschienen ist. Die Schülerin musste in der Metzgerei der Eltern aushelfen, doch für Sophie SchollScholl, Sophie gibt es damals anscheinend keinen akzeptablen Grund, dem BDM fernzubleiben.

Allerdings führt sie für ihre Gruppe auch Regeln ein, die nicht zu der Organisation passen wollen. So besteht sie darauf, dass bei Ausfahrten sämtliches Essen und alles Taschengeld zusammengelegt und rigoros geteilt werden. Diese sozialistisch anmutende »Vergemeinschaftung« empört viele Eltern und gefällt auch einigen der Mädchen nicht. Aber Sophie SchollScholl, Sophie lässt sich nicht beirren.

Gern liest sie ihrer Gruppe am Lagerfeuer aus ›Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke‹Rilke, Christoph vor: »Er läuft um die Wette mit brennenden Gängen, durch Türen, die ihn glühend umdrängen, über Treppen, die ihn versengen, bricht er aus aus dem rasenden Bau, auf seinen Armen trägt er die Fahne wie eine weiße, bewußtlose Frau.« Rainer Maria RilkeRilke, Rainer Maria beschreibt in der Erzählung, wie sein Held, der Cornet, ein Fahnenträger der Kavallerie, im Gefecht gegen die Türken heldenhaft kämpfend untergeht. Sein Tod wird als heroische Tat verklärt.

Opferbereitschaft und Fanatismus verlangt auch der »FührerHitler, Adolf« von seiner Jugend. In einer Rede auf dem Reichsparteitag 1935 erklärt Adolf HitlerHitler, Adolf, was er von den Heranwachsenden erwartet: Härte, Gehorsam, »einem Willen und einem Befehl ­untertan«. Später wird er in einer Rede vor Kreisleitern noch deutlicher: »Dann kommt eine neue deutsche Jugend, und die dressieren wir schon von ganz kleinem an für diesen neuen Staat.« Und weiter: »Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes, als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn nun diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort oft zum ersten Male überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA oder in die SS, in das NSSK usw.« Wenn dann, nach dem Arbeitsdienst, immer noch Klassenbewusstsein oder Standesdünkel vorhanden sein sollten, dann übernehme sie die Wehrmacht zur weiteren Behandlung.

Die Wiedereinführung der Wehrpflicht bedeutet, dass Fritz HartnagelHartnagel, Fritz, aber auch HansScholl, Hans und WernerScholl, Werner Scholl nach dem Abitur zum Militär müssen. In UlmUlm marschieren bereits wieder uniformierte Kolonnen durch die Straßen, die Wehrmacht stellt die 5. Infanterie-Division auf. Am 7. November 1935 werden im Hof der Wilhelmsburg, einer Festung von 1848, die als Kaserne diente, die ersten Wehrpflichtigen auf den »FührerHitler, Adolf« vereidigt. Dabei hält der Kommandeur des Infanterieregiments 56 eine Rede vor den neuen Rekruten: »Zwei Leben werden mit eurem Eid aneinandergekettet: das Leben des Soldaten und das Leben des Führers«, heißt es darin. Die Männer müssen Adolf HitlerHitler, Adolf unbedingten Gehorsam schwören.

Auch Fritz HartnagelHartnagel, Fritz leistet bald diesen Eid, 1935 meldet er sich freiwillig zur Luftwaffe. Die Wehrmacht hält er für die einzige Organisation, die nicht gleichgeschaltet ist und sich dem Nationalsozialismus noch widersetzen könnte. Durch seine Entscheidung für die Offizierslaufbahn kann er zudem ein halbes Jahr früher das Abitur ablegen.

Bei Hans SchollScholl, Hans beginnt ein Umdenken, nachdem er 1935 den Reichsparteitag der NSDAP in NürnbergNürnberg besucht hat. Dort erkannte er wohl, dass die HJ nicht nur für harmlosen Spaß wie Zeltlager und Ausflüge steht, sondern der Gleichschaltung dient. Sein »FührerHitler, Adolf« fordert schließlich die Unterwerfung der Jugend. Scholl war als Fahnenträger dabei, eine Auszeichnung für den engagierten Jugendfunktionär. Auf dieser Großveranstaltung, die zynischerweise unter dem Motto »Reichsparteitag der Freiheit« stand, wurden die von der NS-Spitze beschlos­senen antisemitischen »NürnbergerNürnberg Gesetze« verkündet. Sie drängten Deutsche mit jüdischen Wurzeln an den gesellschaftlichen Rand, grenzten sie aus und machten sie zu Bürgern zweiter Klasse. Der Massenauflauf von Abertausenden Jungen und Mädchen, der Gleichklang und Gleichschritt scheinen Hans SchollScholl, Hans nicht berauscht, sondern eher abgeschreckt zu ­haben. Als er nach Hause kommt, bemerkt seine ältere Schwester IngeScholl, Inge, dass in ihm etwas vorgeht.

Hans SchollScholl, Hans interessiert sich immer stärker für die Gedankenwelt der Bündischen Jugend, die er ausgerechnet in der HJ kennenlernt. In der nationalsozialistischen Organisation gibt es in UlmUlm zahlreiche Anhänger der Deutschen Jungenschaft vom 1. November 1929, die »dj. 1.11« abgekürzt wird. Sie wurde von Eberhard KoebelKoebel, Eberhard, genannt »Tusk«, gegründet und versammelt Jungen mit starkem Autonomiestreben. Die Mitglieder brechen gemeinsam zu Auslandsfahrten auf, singen Lieder aus der ganzen Welt, gehen zusammen skilaufen, schlafen selbst im Winter in Zelten, schätzen moderne Kunst, tauschen Drucke und Postkarten verfemter Maler, lesen sich Hermann HesseHesse, Hermann, Stefan GeorgeGeorge, Stefan, Rainer Maria RilkeRilke, Rainer Maria sowie verbotene Schriftsteller vor und diskutieren über Denker wie Lao-tseLao-tse und AugustinusAugustinus.

Vom Nationalsozialismus wendet sich Hans SchollScholl, Hans nicht abrupt ab, aber er distanziert sich mehr und mehr und sucht nach einem eigenen Weg innerhalb der Bewegung. Leicht fällt ihm das nicht. Immer wieder stößt er an Grenzen, die in der HJ bestehen. Einer seiner Anführer nimmt ihm einmal ein Buch aus der Hand, das er gerade liest: ›Sternstunden der Menschheit‹ von Stefan ZweigZweig, Stefan. Der Titel sei verboten, sagt der Vorgesetzte. »Warum?«, fragt Hans SchollScholl, Hans irritiert. Zweig ist sein Lieblingsschriftsteller. Aber eine Erklärung bekommt er nicht. Auch die Bücher eines weiteren Autors, den er sehr schätzt, soll er nicht mehr lesen: Fritz von UnruhUnruh, Fritz von, Kriegsgegner und Republikaner. Scholl erfährt, dass Unruh aus DeutschlandDeutschland hatte fliehen müssen, weil er pazifistische Gedanken geäußert habe. Seine Zweifel wachsen. Noch enger als zuvor fühlt er sich der »dj. 1.11« verbunden.

Zunehmend geht die Reichsführung der HJ gegen bündische Umtriebe in den eigenen Reihen vor. Ohne auf die Verbote zu achten, hält Hans SchollScholl, Hans weiterhin in seiner Gruppe die Ideale der Deutschen Jungenschaft hoch, gerät aber mit seiner Begeisterung für deren Rituale mehr und mehr in Konflikt mit der HJ. Seine Gruppe führt eine selbstgenähte Fahne, die mit einem Fabeltier bestickt ist. Als Scholls Vorgesetzter Max von NeubeckNeubeck, Max von bei einem Appell die Übergabe der Flagge fordert, verpasst Scholl dem Stammführer eine Ohrfeige. Nach diesem Vorfall wird er degradiert und verliert seinen Posten als Fähnleinführer, wird aber nicht aus der HJ ausgeschlossen. Nach ­einer Beurlaubung darf Scholl wieder einen Zug führen. Viele dieser Jungen gehörten bereits zu seiner ehemaligen A-Mannschaft. Sie gehen weiterhin gemeinsam auf Fahrt, brechen sogar im Sommer 1936 trotz eines Verbotes nach LapplandLappland auf und begehen dabei auch noch ein »Devisenvergehen«, weil sie Reichsmark gegen ausländische Währungen tauschen. Die Mitglieder nennen sich untereinander die »Trabanten«. Inspiriert haben sie bei der Namenswahl einige Zeilen von Stefan GeorgeGeorge, Stefan: »Wer je die flamme umschritt / Bleibe der flamme trabant! / Wie er auch wandert und kreist: / Wo noch ihr schein ihn erreicht / Irrt er zu weit nie vom ziel.«

Sophie SchollScholl, Sophie durchläuft beim BDM eine ähnliche Karriere wie ihr älterer Bruder in der HJ. Sie erhält weitere Posten und wird 1936 zur Scharführerin ernannt. Ihr unterstehen nun 50 Mädchen. Und sie ist ähnlich widerständig wie Hans SchollScholl, Hans. So hinterfragt sie etwa, warum eine jüdische Mitschülerin nicht Mitglied im BDM werden darf, obwohl sie blond und blauäugig ist. Oder stößt bei ihren Vorgesetzten auf Kritik, wenn sie als Anführerin ihrer Gruppe am Lagerfeuer Geschichten und Gedichte von geächteten Autoren vorliest. Sie schätzt Heinrich HeineHeine, Heinrich sehr, der als Jude bei den Nationalsozialisten verpönt ist. In seiner Tragödie ›Almansor‹ hat der Dichter prophetisch festgehalten: »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.« Auch eine Bildhauerin, die Scholl bewundert, zählt zu den verfemten Künstlern: Renée SintenisSintenis, Renée hat jüdische Vorfahren, ebenso Paula Modersohn-­BeckerModersohn-Becker, Paula, deren Werke Scholl in Form von Kunstpostkarten sammelt.

Die drakonische Disziplin und das Auflösen aller Individualität irritieren Sophie SchollScholl, Sophie zunehmend, je älter sie wird. Nach einer Fahrt in den BöhmerwaldBöhmerwald wachsen ihre Zweifel am uniformierten Dienst. Am 31. August 1937 notiert die 16-Jährige in ihrem Tagebuch: »Von der HJ habe ich mich ohne mein Wollen ganz gelöst. Ich habe nichts mehr zu geben, nichts mehr zu nehmen.«

Gründe, sich vom BDM zu entfernen, mag es für sie mehrere gegeben haben. So hatte Sophie SchollScholl, Sophie wie ihr älterer BruderScholl, Hans einige Konflikte mit Vorgesetzten. Zudem teilt sie das Frauen­bild nicht, das die Nationalsozialisten propagieren und das auch in der Jugendorganisation hochgehalten wird. Sie, die der Freiheit eine solche Bedeutung zumisst, muss es ablehnen, dass Frauen vor allem oder ausschließlich für die Familie da sein ­sollen. Gefeiert werden sie im »Dritten Reich« nicht für Leistungen im Beruf oder in der Wissenschaft, sondern für das Gebären vieler Kinder. »Mütter, Eure Wiegen sind wie ein schlafendes Heer«, tönt die NS-Propaganda, »stets bereit zu siegen werden sie nimmermehr leer.« Dem Regime geht es vor ­allem um den Soldatennachwuchs.

Fritz HartnagelHartnagel, Fritz ist nach PreußenPreußen gekommen. Er begeistert sich für Technik und für die Fliegerei und würde gern Pilot werden. Stattdessen landet er bei der Nachrichtentruppe. Im Herbst 1937 schließt er seine Ausbildung an der Kriegsschule in PotsdamPotsdam ab, einer ­seiner Lehrer ist Erwin RommelRommel, Erwin, ein Kriegsheld des Ersten Weltkriegs, der es in der Wehrmacht noch weit bringen wird. Danach wird HartnagelHartnagel, Fritz zum Fähnrich befördert. In AugsburgAugsburg stationiert, verbindet er den Beruf des Soldaten mit Tugenden wie Ritterlichkeit, Tapferkeit und Mut. Ihn reizen aber auch die Abenteuer, die er in Uniform erleben will.

Eine Militäruniform trägt nun auch Hans SchollScholl, Hans. Nach ­einem halben Jahr beim Reichsarbeitsdienst, RAD, in einem ­Lager bei GöppingenGöppingen kommt er zum Militär. Sein Wehrdienst beginnt am 1. November 1937 beim Kavallerieregiment 18 in Bad CannstattBad Cannstatt. Dort holt ihn seine Begeisterung für die »dj. 1.11« ein. Gleich zu Beginn seines Dienstes als Soldat gerät er ins ­Visier der Geheimen Staatspolizei. Angehörige seiner früheren HJ-Gruppe werden in der Schule mitten im Unterricht festgenommen. Auch IngeScholl, Inge und WernerScholl, Werner Scholl, die ältere Schwester und den jüngeren Bruder, nehmen Geheimpolizisten am 11. November fest. Im offenen Lastwagen bringen Beamte die Kinder und Jugendlichen auf der gerade fertiggestellten Autobahn über die Schwäbische AlbSchwäbische Alb nach StuttgartStuttgart. Die Fahrt empfinden die Verdächtigten im Alter von zwölf bis neunzehn Jahren als schrecklich. Sie haben Angst vor dem, was auf sie zukommt, außerdem tragen alle nur leichte Kleidung und frieren im Schneegestöber.

Acht Tage lang bleiben sie in Untersuchungshaft, überwiegend in Isolationshaft. Mehrfach verhören Polizisten die meist minderjährigen Gefangenen, weder Eltern noch Rechtsanwälte haben Zugang zu ihnen. Dann kommen IngeScholl, Inge und WernerScholl, Werner Scholl sowie die anderen wieder frei. Für die Jugendlichen eine traumatische Erfahrung.

Während die Gestapo gegen ihre Geschwister vorgeht, macht Sophie SchollScholl, Sophie eine interessante Bekanntschaft: Beim »Tanzkränzle« in der Wohnung einer gemeinsamen Freundin kommt sie Fritz HartnagelHartnagel, Fritz näher. Die Gastgeberin besitzt ein Grammophon und einige Schellackplatten, zudem hat sie großzügige Eltern. Bei ihr treffen sich nachmittags regelmäßig einige Freunde, im November 1937 ist auch HartnagelHartnagel, Fritz dabei, der 20-jährige Offiziersanwärter. Sophie SchollScholl, Sophie ist damals 16 und Schülerin der Oberrealschule für Mädchen in UlmUlm. Aus dem Lautsprecher erklingen Foxtrott, Slowfox, Walzer und Englisch-Waltz, die beiden tanzen zusammen zu Liedern, die von den Nationalsozialisten als »entartet« oder als »Negermusik« abgewertet werden. SophieScholl, Sophie gilt als wilde Tänzerin. Vom Sehen kennt sie ihren Tanzpartner bereits, als Leiter der bündischen Jugendgruppe ihres jüngeren Bruders war er bei den Scholls schon zu Gast. Außerdem hat HartnagelHartnagel, Fritz dieselbe Schule besucht wie HansScholl, Hans und WernerScholl, Werner Scholl. Bald tauschen der angehende Offizier und die Schülerin Briefe aus. In einem ihrer ­Schreiben, das sie nach AugsburgAugsburg schickt, berichtet Sophie SchollScholl, Sophie dem zum Leutnant beförderten HartnagelHartnagel, Fritz, dass sie einmal nach einem Treffen mit Freunden abends viel zu spät nach Hause gekommen sei. Die Glastür am Eingang sei abgeschlossen gewesen, so dass sie nicht hineinkam und läuten musste. Sie habe damit gerechnet, grässlichen Ärger zu bekommen, aber ihr VaterScholl, Robert, der befürchtet hatte, zur frühen Morgenstunde der Gestapo gegenüberzustehen, sei so erleichtert gewesen, stattdessen seine Tochter vor sich zu haben, dass er gar nicht geschimpft habe. So erfährt Fritz HartnagelHartnagel, Fritz ganz nebenbei, wie groß die Angst der Familie Scholl vor der Geheimen Staatspolizei ist.

Dazu gibt es allen Grund. Am 22. November befragen Ermittler Hans SchollScholl, Hans erstmals zu seiner »Bündischen Betätigung«. Drei Tage später erhält er zudem eine Strafanzeige ­wegen »Verbrechen i. S. d. § 175a Ziff. 2 des StGB«. Dieser Paragraf verbietet gleichgeschlechtliche Liebe unter Männern und den Missbrauch von Schutzbefohlenen. »Widernatürliche Unzucht« nennen das die NS-Juristen. Bereits in der Weimarer ­Republik war Homosexualität strafbar. 1935 verschärften die National­sozialisten die Bestimmung. Nun konnte schon eine simple Körperberührung Anlass für die Strafverfolgung sein, eine ­sexuelle Handlung musste von der Staatsanwaltschaft nicht nachgewiesen werden.

Überall in DeutschlandDeutschland schüchtert die Gestapo die Mitglieder verbotener Jugendbünde ein und sperrt Hunderte Jugend­liche und Heranwachsende weg. Einige von ihnen bleiben einige Tage, andere Wochen oder gar Monate in Untersuchungshaft. Auch gegen Hans SchollScholl, Hans ergeht ein Haftbefehl. Ihn holen Polizisten am 13. Dezember 1937 aus der Kaserne ab. HansScholl, Hans schreibt in eines seiner Lieblingsbücher einen wütenden Satz: »Reißt uns das Herz aus dem Leibe und ihr werdet euch tödlich daran verbrennen.«

Sophie SchollScholl, Sophie macht sich wie alle in der Familie Sorgen um den älteren Bruder, ist in Gedanken aber auch woanders, denn erstmals ist sie richtig verliebt und schickt Fritz HartnagelHartnagel, Fritz per Post viele Briefe in die Kaserne nach AugsburgAugsburg. Er beantwortet zunächst nicht jedes ihrer Schreiben. Aus UlmUlm erreichen ihn oft kecke, lustige, manchmal auch alberne Zeilen: »Die Anneliese scheniert sich, deshalb schreibt die Sofie. (In der Schule). Hiermit schickt Dir die AnnelieseGraf, Anneliese eine Einladungskarte, Du kommst doch? Jetzt fehlt aber der Lisl u. mir noch ein Mann. (kein Ehemann). Wenn Du jemand Nettes kennst, kannst Du ihn von der Anneliese aus gern einladen. Andernfalls würden wir auch ohne Männer auskommen.«

Mal flirtet Sophie SchollScholl, Sophie, mal provoziert sie, mal wirkt sie kühl, fast schroff, mal sehr herzlich. Sie will dem jungen Soldaten nah sein, fürchtet aber gleichzeitig, dass zu große Nähe ihre Freiheit schmälern könnte. Anfang Dezember 1937 notiert sie in ihrem Tagebuch: »Fritz HartnagelHartnagel, Fritz kann ich direkt prima leiden. Er mich auch.« Und: »Die selbstverständliche Wärme und Liebe, die er braucht, ich werde sie ihm geben.«

Dabei ist der Oberfähnrich noch liiert, mit Charlotte ThurauThurau, Charlotte, genannt »Charlo«, SophieScholl, Sophie Scholls ehemaliger Jungmädelführerin. Für die Schülerin ist »Charlo« ein Vorbild – und eine Konkurrentin. Als Thurau UlmUlm verlässt, um in einer anderen Stadt zu studieren, entscheidet sich HartnagelHartnagel, Fritz endgültig für ­Sophie SchollScholl, Sophie. Sie sind ein ungleiches Paar, in vielerlei Hinsicht. Der Soldat ist vier Jahre älter als die Schülerin und steht für ­vieles, das sie abschreckt: den Drill des Militärs, das brutale Kriegshandwerk, die die Freiheit raubende Gleichschaltung. Außerdem kommt HartnagelHartnagel, Fritz aus einer eher bildungsfernen ­Familie, in der im Gegensatz zu den Scholls weder über Politik diskutiert noch das Regime in Frage gestellt wird. RobertScholl, Robert und MagdalenaScholl, Magdalena Scholl hingegen lehnen das sogenannte Dritte Reich ab. Nach dem Vorgehen der Gestapo gegen ihre Kinder hat ihre Wut auf den »Führerstaat« noch zugenommen.

Hans SchollScholl, Hans bleibt fünf Wochen lang in Untersuchungshaft. Seine Familie erlebt hautnah, dass die Polizei kein »Nachtwächter für die privaten Interessen der Einzelmenschen« mehr ist, wie Reinhard HeydrichHeydrich, Reinhard, Chef des Sicherheitsdienstes (SD) der SS, in der Zeitschrift ›Kriminalistik‹ warnend feststellte. Die ­Polizei habe vielmehr die Aufgabe, »1. den Willen der Führung zu vollziehen und die von dieser Führung gegebene Ordnung aufrechtzuerhalten und 2. das deutsche Volk als Gesamtwesen, seine Lebenskraft, seine Einrichtungen gegen jede Art von Zerstörung und Zersetzung zu sichern«.

Sophie SchollScholl, Sophie reagiert empört auf das Vorgehen der Gestapo. Die Hatz auf junge Menschen empfindet sie als unverhältnismäßig und willkürlich. Sie versteht nun mehr und mehr, dass sie in einem Unrechtsstaat lebt, begreift, dass HitlerHitler, Adolf und seine Gefolgsleute sie mit dem Ideal der Volksgemeinschaft getäuscht haben, und macht erstmals direkt Erfahrung mit der Diktatur. SophieScholl, Sophie weiß nicht, dass die Nationalsozialisten gegen ihren Bruder HansScholl, Hans nicht nur wegen bündischer Umtriebe vorgehen, sondern auch wegen Verstößen gegen § 175.

»Die homosexuellen Männer sind Staatsfeinde und als solche zu behandeln«, hat Heinrich HimmlerHimmler, Heinrich, Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, im Frühjahr 1937 festgelegt. »Es geht um die Gesundung des deutschen Volkskörpers, um die Erhaltung und Stärkung der deutschen Volkskraft.« Ziel sei es, künftig die Zahl der Homosexuellen zu verringern – eine Umschreibung für gnadenlose Verfolgung und Vernichtung in Konzentrationslagern.

In einem Brief beteuert Hans SchollScholl, Hans gegenüber seiner MutterScholl, Magdalena und dem VaterScholl, Robert, wie leid es ihm tue, dass »ich dieses Unglück über die Familie gebracht habe, und in den ersten Tagen meiner Haft war ich oft der Verzweiflung nahe. Aber ich verspreche Euch: Ich will alles wieder gut machen; wenn ich wieder frei bin, will ich arbeiten und nur arbeiten, damit Ihr wieder mit Stolz auf Euren Sohn sehen könnt.« Er bittet die Eltern, nur seine Schwester IngeScholl, Inge einzuweihen, dass gegen ihn auch wegen homosexueller Taten ermittelt wird. Sein Bruder WernerScholl, Werner weiß das bereits, da er als Zeuge gegen Ernst RedenReden, Ernst