Florentinische Erinnerungen - Isolde Kurz - E-Book

Florentinische Erinnerungen E-Book

Isolde Kurz

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Isolde Kurz ist auch heute noch eine ambivalente Schriftstellerin. Schon in jungen Jahren selbstständig als Autorin und Übersetzerin, war sie eine Seltenheit im wilhelminischen Deutschland. Später jedoch geriet sie wegen ihres Schweigens im Dritten Reich und ihrer altmodischen Sprache in Kritik. Hervorzuheben sind ihre Werke "Vanadis" und "Florentiner Novellen". Isolde Kurz wuchs in einem liberalen und an Kunst und Literatur interessierten Haushalt auf. Anfang der 1890er Jahre errang sie erste literarische Erfolge mit Gedicht- und Erzählbänden. Null Papier Verlag

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Isolde Kurz

Florentinische Erinnerungen

Isolde Kurz

Florentinische Erinnerungen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962812-24-9

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Inhaltsverzeichnis

Wid­mung

Die stil­le Kö­ni­gin

Agli Al­lo­ri

Ed­gar Kurz – Ein Le­bens­bild

Al­fred Kurz – Nach­ruf

Adolf Hil­de­brand – Zu sei­nem sech­zigs­ten Ge­burts­ta­ge

In den Mar­mor­ber­gen – I. Car­ra­ra

In den Mar­mor­ber­gen – II. Ser­ra­vez­za.

Eine Toch­ter Oc­ta­vio Pic­co­lo­mi­ni’s

Erd­be­be­nerin­ne­run­gen

Blü­ten­ta­ge in Flo­renz

Dan­ke

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Widmung

Dem brü­der­lichs­ten Freun­deCar­lo Van­zet­ti in Dank­bar­keit zu­ge­eig­net

Die stille Königin

Sie sitzt auf ih­rem Blu­men­thron im Lor­beer­schat­ten, das Zep­ter mit der Li­lie in der Hand, und spie­gelt ihr schick­sals­vol­les, aber un­ver­welkli­ches An­ge­sicht in dem träu­men­den Arno, Fio­ren­za, die stil­le Kö­ni­gin. Wer kann sie se­hen, ohne ihr zu hul­di­gen? Sie nimmt lä­chelnd dei­nen Tri­but ent­ge­gen, aber sie lä­chelt an dir vor­über, denn sie sieht dich nicht, sie sieht nur die Schat­ten­bil­der des Ver­gan­ge­nen. Die stil­le Kö­ni­gin denkt ewig nur sich selbst. Sie träumt, als ob Gest­ri­ges Heu­te wäre. Sie weiss nicht, dass sie längst ihre Kro­ne ver­lo­ren hat und nur noch Ro­sen auf dem Haup­te trägt, dass jetzt and­re Thro­ne auf­ge­rich­tet ste­hen und and­re Kö­ni­gin­nen mit lau­te­rem Pom­pe ver­ehrt wer­den. Nie­mand wagt ihr das zu sa­gen, denn alle, die zu ihr kom­men, eh­ren ih­ren Traum. Die Eti­ket­te ver­bie­tet, an ih­rem Hofe von an­derm als von den Zei­ten ih­res Glan­zes zu re­den. Alle ita­lie­ni­schen Städ­te ha­ben ja gros­se, über­wäl­ti­gen­de Erin­ne­run­gen, aber Flo­renz war die Haupt­stadt von Ge­nie­land, die Wie­ge der wie­der­ge­bo­re­nen Men­sch­lich­keit; nur ein­mal, im Lauf der Welt­ge­schich­te, dort an den Ufern des Ilys­sos, sah die Son­ne eine, die schö­ner war. Da­rum macht kein Ruhm von heu­te ihre Pul­se schla­gen. Man sagt ihr: »Fio­ren­za, heu­te Nacht ist Ar­nold Böck­lin in dei­nen Mau­ern ge­stor­ben.« – Sie ant­wor­tet: »Ich habe ihn nicht ge­kannt.« – »Aber er war ein gros­ser Ma­ler, Fio­ren­za!« – »Auch Leo­nar­do ist tot und war ein grös­se­rer.« – Fast eben­so un­be­wegt steht sie un­ter ih­ren ita­lie­ni­schen Schwes­tern. Was soll Fio­ren­za er­schüt­tern nach al­lem, was über sie sel­ber hin­ge­gan­gen ist? In ih­rem Her­zen gibt es kei­nen Raum mehr für and­rer Freu­den und Schmer­zen. Nicht ein­mal das Ri­sor­gi­men­to hat sie bis in die Wur­zeln ih­res Seins durch­rüt­telt. Von Aspro­mon­te rief es her­über: »Ga­ri­bal­di hat für die Frei­heit ge­blu­tet!« Sie ant­wor­te­te aus dem Traum: »Ihr woll­tet sa­gen: Fer­ruc­cio.«

Fio­ren­za hat ein Recht, so stil­le zu sein, denn ihre See­le ist müde. In ih­rer Ju­gend ist es an­ders ge­we­sen. Es gab eine Zeit, wo Dan­te sie mit ei­ner Schwer­kran­ken ver­glich, die durch He­rum­wäl­zen ihre Pein zu lin­dern sucht. Da­mals war sie un­be­stän­dig wie eine Dir­ne und ei­fer­süch­tig wie eine Ra­sen­de. Rings um die schö­ne Fio­ren­za her durf­te nichts andres schön sein. Die Nach­bar­städ­te wur­den zer­drückt und zer­tre­ten, je nä­her, de­sto grös­ser der Hass; die Mut­ter­stadt Fie­so­le muss­te zu­erst dran glau­ben. Am ärgs­ten aber trieb sie’s im ei­ge­nen Hau­se. Ge­fähr­lich war sie und grau­sam, sie wuss­te selbst nicht, was sie tat, wenn der Dä­mon sie be­herrsch­te. Ihre Edels­ten zer­fleisch­te sie, um ih­nen heis­se Trä­nen nach­zu­wei­nen. Sie schöpf­te alle Lüs­te aus und wand sich dann ver­zückt un­ter den Geis­sel­hie­ben des Buss­pre­di­gers; doch als die Neu­heit ih­ren Reiz ver­lor, sprang sie auf und rief die Hen­ker über ihn! Aber alle ihre Sün­den hat sie sich ver­zie­hen, alle Ver­bre­chen hat sie durch Wer­ke und Ta­ten ge­sühnt, nur ei­nes nicht. Ihr grös­ster Ruhm ist ihre ewi­ge Schmach ge­blie­ben. Mit ei­nem im­mer na­gen­den Wurm im Her­zen blickt sie nach je­nem Gra­be in Ra­ven­na, das ihr nie ge­hö­ren soll.

Dan­te! Man kann nicht von Fio­ren­za spre­chen, ohne dass sein Schat­ten her­an­tritt. Der blos­se Klang ih­res Na­mens zieht ihn her. Kei­ner von al­len hat mit so maass­lo­ser Lei­den­schaft an ihr ge­han­gen wie die­ser. Da­für ist sie ihm auch auf ewig ver­fal­len und mit ihr die gan­ze ita­lie­ni­sche Kul­tur. Wo ist je ein and­rer Dich­ter so zum De­spo­ten sei­nes Vol­kes ge­wor­den? Für die Spra­che, die er sei­nen Stam­mes­ge­nos­sen schenk­te, müs­sen sie seit Jahr­hun­der­ten die Mon­tur sei­nes Geis­tes tra­gen. Je­des neue Ge­schlecht fin­det ihn an der Schwel­le des Da­seins und emp­fängt von ihm Form und Rich­te. Seit dem Tre­cen­to zer­glie­dern und er­klä­ren sie ihn un­er­müd­lich und kom­men doch nie mit ihm zu Ende. Je tiefer man ein­dringt in ita­lie­ni­sches We­sen, de­sto mehr emp­fin­det man sei­ne All­ge­gen­wart. Gar nicht zu re­den von dem of­fe­nen Diens­te, den ihm die gros­se ita­lie­ni­sche Kunst ge­weiht hat – auch noch aus den ver­bor­gens­ten Win­keln wie dem sym­bo­li­schen Schmuck­werk der Me­di­ce­er­ka­pel­len ent­zif­fert jetzt die For­schung ver­steck­te stei­ner­ne Dan­te-Zi­ta­te her­aus. Wäre der Alig­hieri ein deut­scher Dich­ter, so hät­te man wahr­schein­lich längst die schöns­ten Tei­le aus sei­nem Wer­ke zu Nutz und From­men der Le­se­bü­cher und Antho­lo­gi­en her­aus­ge­bro­chen und den Rest der Li­te­ra­tur­ge­schich­te über­ant­wor­tet. An­ders der zeit­lo­se Ita­lie­ner. Nicht nur, dass ihm die li­te­ra­ri­schen Um­sturz­ge­lüs­te der ger­ma­ni­schen Völ­ker völ­lig fremd sind (ein An­ren­nen ge­gen die Rie­sen­ge­stalt Dan­tes, wie es so oft ge­gen Goe­the und Sha­ke­s­pea­re ver­sucht wur­de, gäl­te der Na­ti­on schlecht­weg als Sa­kri­le­gi­um, das nie ver­zie­hen wür­de) – auch die ab­ge­stor­be­nen Tei­le sei­nes He­ros will die fa­na­ti­sche Lie­be des Ita­li­e­ners nicht op­fern. Es mag ein Feh­ler sein, denn es hin­dert am Fort­schrei­ten; aber liebt man einen Dich­ter, wenn man ihn nicht fa­na­tisch liebt? Der Aus­län­der ahnt gar nicht, bis zu wel­chem Mas­se die gan­ze ita­lie­ni­sche Kul­tur mit Dan­te durch­setzt ist. Kein Pro­vinz­blätt­chen schreibt sei­nen Leit­ar­ti­kel, kein Schul­jun­ge sei­nen Auf­satz ohne Dan­te; selbst ein Koch­buch, das auf sich hält, will einen Dan­te-Vers an der Stir­ne tra­gen. An den Wort­klöt­zen der Di­vi­na Com­me­dia beis­sen sich schon die Kin­der ihre Milch­zäh­ne aus, und den­noch – das ist das Un­er­hör­te – wird Dan­te nie­mals ab­ge­dro­schen. Die Zeit­fer­ne ver­mehrt nur sein Ge­wicht: Dan­te ist den Ita­li­e­nern das Ab­so­lu­te ge­wor­den. Der Dan­te-Kult ent­bin­det sie in ih­ren Au­gen von je­der Ver­pflich­tung ge­gen die an­dern Gros­sen. Sie le­sen kei­nen Ho­mer, kei­nen Sha­ke­s­pea­re, kei­nen Goe­the. »Wir ha­ben ja den Alig­hieri.« Soll man sie für die­ses Über­mass ver­göt­tern­der Pie­tät lo­ben oder ta­deln? Müs­si­ge Fra­ge. Der gros­se Hyp­no­ti­seur hält sie in sei­nen Höl­len­t­rich­tern fest, weil er der Stär­ke­re ist. Was tut’s, dass sei­ne Wel­t­an­schau­ung tot ist, dass uns­re Kul­tur sich nicht mehr in ihr spie­gelt, und dass un­ser Emp­fin­den sich vor ihr ent­setzt? Die Rei­che, die er ge­schaf­fen hat, be­ste­hen. Sie sind mit so wü­ten­der Ge­walt ins Da­sein ge­ris­sen, dass alle Wel­len der Zeit sich an ih­nen bre­chen. Er war viel­leicht die zwin­gends­te See­le, die je ge­lebt hat. Das Wel­tall schuf er sich neu nach sei­nem Be­darf. So wie er hat nie ein Mensch über den Tod hin­aus ge­hasst und ge­liebt. Er wei­det sich wie sei­ne höl­li­schen Fol­ter­knech­te an den Mar­tern, in die er sei­ne längst ver­stor­be­nen Fein­de ge­bannt hat, und er­schau­ert mit al­len Lie­bes­schau­ern sei­ner ers­ten Ju­gend beim An­blick der ver­klär­ten Bea­tri­ce. So kann auch ihm der Tod nichts an­ha­ben. Er lebt, weil die Schwin­gun­gen sei­ner See­le im­mer wei­ter zit­tern. Aber am un­mit­tel­bars­ten, am ge­gen­wär­tigs­ten lebt er in Flo­renz.

Man­cher glaubt die­se Stadt zu ken­nen, weil er von den Uf­fi­zi­en nach dem Bar­gel­lo und den Me­di­ce­er­grä­bern ge­rannt oder auch ein paar Wo­chen lang trun­ken zwi­schen Fie­so­le und der Cer­to­sa um­her­ge­schwärmt ist. Aber er hat nur sich selbst und sein Fe­ri­en­glück ge­nos­sen; der stil­len Kö­ni­gin hat er noch nicht den Saum des Man­tels be­rührt. Fio­ren­za will ge­sucht sein. Ihre See­le kann der Un­ein­ge­weih­te nicht ein­mal ah­nen, und auch ihre äus­se­re Schön­heit ent­hüllt sich nicht auf den ers­ten Blick. Sie siegt lang­sam durch ihre gött­li­che Har­mo­nie und wird dem Auge mit den Jah­ren im­mer schö­ner. Durch Licht und Luft nimmt sie dem Stoff­li­chen sei­ne Schwe­re. Durch ihre wun­der­vol­len Ver­hält­nis­se gibt sie uns das be­ru­hi­gen­de Ge­fühl, dass die Welt voll­kom­men sei. Wer sie kennt, dem wird sie das Mass der Din­ge.

Welch geis­ti­gen Aus­druck hat die hohe Kul­tur der Jahr­hun­der­te die­ser Land­schaft auf­ge­prägt! Men­schen­hand hat hier die Na­tur nicht um-, nur aus­ge­stal­tet, und die Na­tur ih­rer­seits ar­bei­tet am Wer­ke der Men­schen­hand wei­ter. Die Vil­la dort oben scheint nicht auf den Hü­gel ge­baut, son­dern als letz­te Be­krö­nung von ihm selbst her­auf­ge­scho­ben, so voll­kom­men ent­spre­chen ihre Maas­se den sei­ni­gen, so eins ist sie mit ihm in der Far­be des Ge­steins, und die Zy­pres­sen stei­gen so schritt­wei­se zu ihr hin­auf, als habe das al­les von je­her zu­sam­men­ge­hört. Die lich­ten Oli­ven­kro­nen, die wie sil­ber­ne Schlei­er hin­ter dem grau­en Ge­mäu­er her­vor­ra­gen, die ran­ken­den Ro­sen­bü­schel, die dar­an nie­der­fal­len, das al­les lässt sich nicht um­den­ken, es sieht aus, als könn­te es nicht an­ders sein. Wun­der­sam ist hier der Stil­trieb der Na­tur: auch das miss­lun­ge­ne Neue, wenn es sich nur nicht all­zu auf­dring­lich ge­bär­det, ist in kur­z­em ein­ge­reiht und so ge­tönt, dass es nicht mehr stö­rend her­aus­fällt. – Kei­ne Wal­dung schliesst das rei­zen­de Land­schafts­bild mit ei­nem di­cken Schat­ten­strei­fen ab; die Pi­ni­en und Stein­ei­chen tre­ten nur zu klei­nen, ge­fäl­li­gen Grup­pen und Hai­nen zu­sam­men, um sie über­sicht­lich zu glie­dern, und dar­über hin­aus wan­dert das Auge wei­ter und wei­ter. Die ver­streu­ten Ort­schaf­ten in Tal und Hü­gel­land, die Kir­chen, die Klös­ter und Kas­tel­le, die mas­si­ven Bau­ern­ge­höf­te, wie nimmt das al­les teil an dem ein­zi­gen Bild. Und erst die Stadt sel­ber, so gross in ih­rer ge­rin­gen Aus­deh­nung, so lä­chelnd in ih­rem Ernst, und bei al­ler Mo­nu­men­ta­li­tät luf­tig wie eine Fata Mor­ga­na. Die aus­drucks­vol­len Stras­sen­zü­ge, die lich­tum­flos­se­nen Tür­me und Kup­peln, die schö­nen Brücken, un­ter de­nen der Arno sich so ger­ne ver­gisst, ha­ben et­was Per­sön­li­ches, wie ein von Geist durch­leuch­te­tes An­ge­sicht. Sanf­te Hü­gel, edel­ge­schwun­ge­ne Ber­ge um­ste­hen sie in wei­tem Bo­gen; hier kau­ert der Mon­te Ce­ce­ri wie eine Sphinx, die Flan­ken von Stein­brü­chen durch­furcht, und trägt die alte Etrus­ker­stadt Fie­so­le wie eine Kro­ne auf der Stir­ne, der Mon­te Se­na­rio er­hebt sei­ne be­wal­de­ten Kup­pen, de­ren Vier­zahl so nach­drück­lich wirk­te, be­vor sie der Ent­hol­zungs­wut zum Op­fer fiel, und in ed­ler Nackt­heit steht, alle über­ra­gend, der Kö­nig des Ar­no­tals, der Mon­te Mo­rel­lo, der sich bei Son­nen­un­ter­gang in einen durch­sich­ti­gen, zwi­schen Ame­thyst und Ro­sen­rot spie­len­den Rie­se­no­pal ver­wan­delt. An ihn schliesst sich die blaue Apen­ni­nen­ket­te, die in der Fer­ne ver­däm­mert. Nichts Ti­ta­ni­sches in die­sen Ge­bil­den, sie schei­nen wie durch einen Künstl­er­geist hin­durch­ge­gan­gen und vom Zu­fall ge­rei­nigt. Als der Schöp­fer schon ganz fer­tig war mit sei­ner Erde und der ers­te Rausch der Fan­ta­sie ver­tobt, da misch­te er noch ein­mal die Far­ben, und mit sei­ner reifs­ten und reins­ten Kunst schuf er sein letz­tes und liebs­tes Werk: Flo­renz. Man be­greift den wü­ten­den Schmerz der Ver­bann­ten, die ein Rich­ter­spruch auf ewig von die­sem An­blick schied. Und zur Zeit, wo sol­che Sprü­che ge­fällt wur­den, war Flo­renz noch die Stadt des Le­bens, die ers­te Renn­bahn der Ta­len­te. Da­für konn­te we­der das cha­rak­ter­vol­le Ve­ro­na noch das fan­tas­ti­sche Ve­ne­dig ent­schä­di­gen. Flo­renz ver­las­sen hiess die Welt ver­las­sen; man­chem war das Ster­ben lie­ber.

*

Nie wer­de ich mei­nen ers­ten Abend auf flo­ren­ti­ni­schem Bo­den ver­ges­sen. Es war Spät­som­mer, die wei­che Luft glüh­te. Ein ei­ge­ner, kränk­lich süs­ser Duft, an dem ich das som­mer­li­che Flo­renz auch mit ge­schlos­se­nen Au­gen er­ken­nen wür­de – denn nir­gends riecht es so wie dort – stieg aus al­len Stras­sen auf. Dunkle Bau­ko­los­se, die ruhm­rei­chen Zeu­gen der Vor­zeit, war­fen tie­fe Schat­ten über den Weg und kün­dig­ten sich der See­le an, be­vor das Auge sie er­fas­sen konn­te. Kind­li­che Pe­tro­le­um­lam­pen, die ein­zi­ge Stras­sen­be­leuch­tung im da­ma­li­gen Flo­renz, ga­ben eine däm­mern­de Hel­le, zu der noch die ro­ten Lich­ter der Me­lo­nen­ver­käu­fer und der am Bo­den ir­ren­de Flacker­schein der cic­ca­juo­li (Samm­ler von Zi­gar­ren­stum­meln) einen fan­tas­ti­schen Bei­trag ga­ben. Aus der Via del­la Sca­la ka­men uns mit qual­men­den Fa­ckeln die schwarz­ver­larv­ten Brü­der der Mi­se­ri­cor­dia ent­ge­gen, die eine Bah­re tru­gen und von den Vor­über­ge­hen­den durch Hut­ab­neh­men ge­grüsst wur­den. Gleich dar­auf kreuz­te ein ei­len­der Trupp Man­do­li­nis­ten un­sern Weg und ver­scheuch­te mit den Tö­nen der Le­bens­lust das Bild des To­des; die jun­gen Leu­te zupf­ten ihre Sai­ten, mar­schier­ten und san­gen dazu – al­les so leicht, so klang­hell und mit so stür­men­dem Schwung, dass es die See­len und die Füs­se mit­riss. Die flo­ren­ti­ni­sche Som­mer­nacht über­schüt­te­te uns gleich mit ih­rem gan­zen Stim­mungs­zau­ber. Auch die Ster­ne über un­sern Häup­tern gli­chen nicht den Ster­nen der Hei­mat; sie stan­den so wun­der­gross und so un­be­schreib­lich hoch an dem völ­lig blau­en Nacht­him­mel.

Am Tage aber ging das Stau­nen erst recht an. Die Stras­sen mit der brei­ten, fuss­bo­den­ar­ti­gen Pflas­te­rung er­schie­nen mir gar nicht wie Stras­sen, son­dern wie Gän­ge ei­nes Hau­ses. Den In­sas­sen muss­te es auch so vor­kom­men, denn sie fühl­ten sich im Frei­en ganz und gar un­ter sich. Säu­gen­de Müt­ter auf der Schwel­le der Häu­ser, spu­cken­de, rau­chen­de Män­ner da­ne­ben im lo­sen Hem­de, das sich über ei­ner schlot­tern­den Hose bauscht – man be­griff nicht, wie das zu­sam­men­hielt – Stüh­le auf dem win­zig schma­len Geh­steig, die den Platz ver­sperr­ten. Der ste­hen­de Gruss der Be­geg­nen­den war: »Fa cal­do«, und die re­si­gnier­te Ant­wort: »Si su­da«. Die Hit­ze hat­te al­les in Pa­ra­die­se­sein­falt zu­rück­ver­setzt, auch je­nen Fuhr­mann, der, hin­ter sei­nen Pfer­den her­schrei­tend, mit ge­las­se­nem An­stand un­ter­wegs das Hemd wech­sel­te.

Die glatt­ge­pflas­ter­ten Plät­ze, auf de­nen nach Son­nen­un­ter­gang die ele­gan­te Mensch­heit ziel­los durch­ein­an­der wog­te oder an klei­nen Tisch­chen ge­la­to und gra­ni­ta ass, ka­men mir mit ih­ren Mar­mor- und Bron­ze­wer­ken wie sta­tu­en­ge­schmück­te Säle vor, und wenn ein plötz­li­cher Re­gen­guss dar­über hin­ging, so war es wie ein häus­li­cher Scheu­er­tag, denn gleich dar­auf lag al­les wie­der blank und tro­cken.

Noch gab es kein Has­ten und Drän­gen auf den Stras­sen, ob­wohl die gan­ze Ein­woh­ner­schaft sich im­mer draus­sen be­fand! Wohl­ge­sit­tet flu­te­ten die Men­schen­wo­gen an­ein­an­der vor­über. Ein je­der hat­te Zeit im Über­fluss – nie wer­de ich wie­der sol­che Un­sum­men von Zeit bei­sam­men se­hen wie da­mals in Flo­renz. Noch wuss­te man nichts von ei­nem »tran­vai«, nicht ein­mal von der al­ler­be­schei­dens­ten Pfer­de­bahn; es gab nur die be­rühm­ten Drosch­ken, die den spar­sa­me­ren Frem­den zum Hoh­ne stras­sen­weit ver­folg­ten un­ter dem hart­nä­cki­gen Zu­ruf des Kut­schers: »vuo­le, Si­gno­re?« – und den gu­ten, al­ten »o­ni­bus­se«, der mich so oft für zehn Cen­te­si­mi mit ei­ner dem all­ge­mei­nen Tem­po an­ge­pass­ten Ge­schwin­dig­keit von ei­nem Stadt­tor zum an­dern ge­tra­gen hat. Da­zwi­schen­durch ras­ten, ohne die Ord­nung zu stö­ren, die flin­ken zwei­rä­de­ri­gen ca­les­si­ni, von den klei­nen Ma­rem­men­pferd­chen ge­zo­gen, die wie Spiel­zeug aus­sa­hen, und die länd­li­chen Esels­fuhr­wer­ke trot­te­ten fried­lich vor­über. Auch in den engs­ten Gas­sen war noch Raum zum Ste­hen­blei­ben und zum Stau­nen. Und wo ich ste­hen blieb, da sam­mel­te sich gleich ein Men­schen­hau­fe an, um mir stau­nen zu hel­fen und ne­ben­her ganz mü­he­los ein biss­chen über­flüs­si­ge Zeit los­zu­wer­den. Man fühl­te noch so deut­lich das alte Flo­renz hin­durch: die Trau­lich­keit in der Grös­se, eine Welt, wo die Fürs­ten Bür­ger und die Bür­ger Fürs­ten wa­ren. – Die Zei­tungs­ver­käu­fer brüll­ten, aber in mu­si­ka­li­schem Ton­fall, um die Wet­te die bei­den sich im­mer be­krie­gen­den Ta­ges­blät­ter aus. Der Schirm­fli­cker kreisch­te sein om­brel­la­jo - spran­ga­jo-o. Der Schuh­händ­ler liess in sei­nem Arr scar­parr, Sior­ri! (Al scar­pa­jo, Si­gno­ri) das im­po­san­te Zun­gen-R, das ich nie ohne Neid hö­ren konn­te, samt dem zi­schen­den S nur so über die Men­ge hin­schnur­ren und sau­sen. Je­der die­ser Schreihälse hat­te sei­ne ei­ge­nen, durch das Her­kom­men ge­hei­lig­ten Ka­den­zen, die nur sei­ner Gil­de an­ge­hör­ten, und der Ei­fer, mit dem sie sich ge­gen­sei­tig zu über­schrei­en such­ten, war weit mehr mu­si­ka­li­scher als in­dus­tri­el­ler Art. Die gute Lau­ne lag in der Luft und wur­de von al­len ver­stan­den. Ein gior­nal­a­jo, der es den Mit­be­wer­bern zu­vor­tun woll­te, schrie statt des »Se­co­lo di Mila­no«, den er un­ter dem Arme trug, »Mai­län­der Lü­gen« aus; ein Obst­händ­ler schob einen Kar­ren voll herr­li­cher Früch­te vor sich her, in­dem er aus vol­lem Hal­se schrie: »Pe­re mar­ci­ei Pere mar­ci­ei« (Fau­le Bir­nen), und auf die er­staun­te Fra­ge, warum er sei­ne schö­ne Ware so her­ab­set­ze, mein­te er la­chend, wenn er sie an­prie­se, wür­de nie­mand auf ihn hö­ren.

Aber was war al­ler Lärm der Le­ben­di­gen ge­gen die laut­lo­se Über­macht der To­ten! Mit ih­nen vor al­lem hiess es sich jetzt ein­rich­ten, denn sie wa­ren die ei­gent­li­chen Her­ren des Pflas­ters. Das ers­te, was mir am Pon­te vec­chio ge­zeigt wur­de, war der Ort, wo in der Vor­zeit die ver­häng­nis­vol­le Mar­s­sta­tue ge­stan­den hat­te, das ge­fürch­te­te Idol der Stadt, zu des­sen Füs­sen der Rit­ter Buon­del­mon­te für den an der Toch­ter des Ami­dei be­gan­ge­nen Eid­bruch ver­blu­te­te, mit sei­nem Tode den un­aus­lösch­li­chen Bru­der­krieg ent­zün­dend. So lan­ge der Pon­te vec­chio steht, wird der schat­ten­haf­te Hoch­zeits­zug des Buon­del­mon­te dar­über hin­zie­hen, wird Mos­ca Lam­ber­ti im Rate der Rä­cher sein fol­gen­schwe­res Co­sa fat­ta capo ha! spre­chen, das er seit sechs Jahr­hun­der­ten im In­fer­no büsst. Wer mit sol­cher In­brunst ge­lebt hat wie die­se al­ten Flo­ren­ti­ner, des­sen Sein ist nicht an die kur­ze Er­den­span­ne ge­bun­den, er be­haup­tet durch die Jahr­hun­der­te den Ort sei­ner Ta­ten. Aber der Raum ist eng und der Ta­ten sind vie­le. Gleich wird aus ei­ner der Gold­schmie­de­bu­den der tol­le Ben­ve­nu­to Cel­li­ni bre­chen, den kunst­voll ge­schmie­de­ten Dolch in der Hand, der nach Men­schen­blut dürs­tet. Die To­ten müs­sen se­hen, wie sie mit­ein­an­der zu­recht kom­men, denn für sie gibt es kei­ne Zeit­fol­ge; sie sind alle auf ein­mal da. Wäh­rend Dan­te in die Ver­ban­nung zieht, flammt schon auf der Pi­az­za del­la Si­gno­ria der Schei­ter­hau­fen Sa­vo­na­ro­las, und Mi­che­lan­ge­lo rüs­tet auf den Wäl­len von San Mi­nia­to sei­ne Va­ter­stadt zum letz­ten Frei­heits­kampf. Je­der mag sich hier die Geis­ter wäh­len, mit de­nen er am liebs­ten ver­keh­ren will; es ist für alle Be­dürf­nis­se ge­sorgt. Ich wähl­te mir den Lo­ren­zo de’ Me­di­ci mit sei­nen Ge­sel­len. Sie be­zeich­nen so recht den Mit­tags­stand des flo­ren­ti­ni­schen Ge­ni­us, der dann schnell gen Abend sin­ken soll­te. Brüns­ti­ger, ju­gend­li­cher, geist­rei­cher ist das Le­ben nie­mals ge­lebt wor­den als von ih­nen, viel­leicht die Tage des Al­ki­bia­des aus­ge­nom­men. Wie eine Ma­gno­li­en­blü­te, die nach lang­sa­mer Vor­be­rei­tung plötz­lich auf­bricht und Düf­te von über­wäl­ti­gen­der Süs­sig­keit und Stär­ke aus­strömt, aber durch das Über­mass des Le­ben­strie­bes rasch den ei­ge­nen Kelch zer­sprengt, so war die flo­ren­ti­ni­sche Kul­tur in ih­ren Hän­den. Dass die Ge­fahr alle ihre Fes­te um­lau­er­te und dass sie auch mit dem Won­ne­be­cher am Mun­de im­mer den Tod im Auge hiel­ten, das hat ih­ren kur­z­en Au­gen­blick so reich und so dau­ernd ge­macht, denn nur am Ran­de des Ab­grunds schwelgt sich’s mit Adel. Auf dem Dom­platz von Flo­renz, der in den frü­hen acht­zi­ger Jah­ren noch die­sel­be Ge­stalt hat­te wie im Quat­tro­cen­to und nur den flat­tern­den Tau­ben, kei­nen Stras­sen­bahn­wa­gen, zur Her­ber­ge diente, lies­sen sich leicht die Geis­ter je­nes Him­mel­fahrts­fes­tes von 1478 her­auf­be­schwö­ren, wo das me­di­ce­i­sche Brü­der­paar un­ter den Dol­chen des Paz­zi und sei­ner Mit­ver­schwo­re­nen blu­te­te. Je­der Pflas­ter­stein wuss­te noch da­von, und die schwei­gen­den Mo­nu­men­te er­zähl­ten sich’s, wie da­mals der Platz von der flüch­ten­den, schrei­en­den Men­ge ge­dröhnt hat­te, durch de­ren Mit­te der ge­ret­te­te Lo­ren­zo nach Hau­se ge­führt wur­de, und wie man am Abend, als das Volk ver­lau­fen war, aus ei­ner Sei­ten­tür des ent­weih­ten Got­tes­hau­ses den to­ten Gi­u­lia­no mit sei­nen neun­zehn Wun­den in die Tauf­kir­che hin­über­trug, wo sie ihn auf­bahr­ten, »schön und blass wie eine Per­le«, wie es in ei­nem zeit­ge­nös­si­schen la­men­to heisst. – Solch ein Fin­den und Selbs­t­er­le­ben wie in mei­nen ers­ten flo­ren­ti­ner Jah­ren, wo ich in mei­ner Un­schuld mei­nen konn­te, das alte Flo­renz zu­erst ent­deckt zu ha­ben, ist in der heu­ti­gen, mit Ge­schich­te und Kunst­ge­schich­te durch­sät­tig­ten Luft gar nicht mehr mög­lich.

Wie aus­drucks­voll war der Dom­platz noch zu je­ner Zeit! Die schmuck­lo­se Vor­der­sei­te von San­ta Ma­ria del Fio­re dach­te noch gar nicht dar­an, mit dem schlan­ken Cam­pa­ni­le an Reich­tum zu wett­ei­fern; er herrsch­te in sei­ner zier­li­chen Pracht, und die wun­der­köst­li­che Log­gia del Bi­gal­lo ge­gen­über wirk­te in der Sch­licht­heit und Ge­schlos­sen­heit des Plat­zes wie ein ge­schmück­ter Ju­we­len­schrein. Das Ar­cis­ves­co­va­to stand noch mit sei­nem al­ten Vor­der­pa­last nahe an das schö­ne Acht­eck des Täu­fers an­ge­drängt und schloss mit ei­ner lang­ge­streck­ten Li­nie den gan­zen Hin­ter­grund, nur durch einen nied­ri­gen Tor­bo­gen, den Arco de’ Pe­co­ri, Durch­lass ge­wäh­rend. Wenn Dan­te aus der Fer­ne sei­nes »bei San Gio­van­ni« ge­dach­te, sah er ihn so von Bau­ten eng um­rahmt und ein­ge­schlos­sen. In die­ser Ge­drängt­heit hat­te der Platz et­was An­hei­meln­des, und wenn er mit Tep­pi­chen und Go­bel­ins be­hängt war, be­kam er das An­se­hen ei­nes fest­li­chen In­nen­rau­mes, wie ein al­tes Bild ihn zeigt.

Der jetzt ver­schwun­de­ne Arco de’ Pe­co­ri führ­te in das Herz der Stadt, das ge­heim­nis­vol­le, von we­ni­gen ge­kann­te Zen­tro. Das klei­ne Vier­eck, das die Stras­sen Calza­juo­li, Cer­re­ta­ni, Tor­na­buo­ni und Por­ta ros­sa um­schlos­sen, war die Alt­stadt, einst der Sitz der gros­sen Ge­schlech­ter, aber da­mals nur noch die un­heim­li­che und trost­lo­se Her­ber­ge des Elends und des Ver­bre­chens, mit ih­ren Diebs­höh­len und ih­ren Pest­ge­rü­chen zum gros­sen Teil für die Be­woh­ner der glück­li­che­ren Stadt­vier­tel un­zu­gäng­lich. Nur der alte Mer­ca­to mit sei­nen nächs­ten Zu­gän­gen war, we­nigs­tens bei Tage, ohne Ge­fahr zu be­tre­ten. Am Via­le Mar­ghe­ri­ta woh­nend, führ­te mich der Weg dort­hin durch die Via Stroz­zi, die heu­te in nichts mehr an ihre frü­he­re Ge­stalt er­in­nert, als in der ge­ra­den Li­nie, mit der sie sich der Via del Cor­so zu ver­ei­ni­gen strebt. Da­mals war sie eine lan­ge, enge, un­end­lich schmut­zi­ge, von Ver­kaufs­stän­den und Ti­schen um­säum­te Gas­se, auf der ein im­mer­wäh­ren­des Ge­kreisch und Ge­drän­ge wie auf ei­nem Jahr­markt herrsch­te. Düf­te, wie sie sich dort zu ei­ner atem­rau­ben­den Stick­luft misch­ten, habe ich nie­mals wie­der ge­ro­chen. Es ist nicht zu sa­gen, was da al­les auf of­fe­nem Feu­er durch­ein­an­der prot­zel­te und schmor­te und sei­ne Gerü­che mit de­nen des mod­ri­gen Trö­del­krams auf den Ver­kaufs­ti­schen meng­te. Hat­te man sich durch die lei­den­schaft­lich feil­schen­de und ges­ti­ku­lie­ren­de Men­ge durch­ge­wun­den, so ge­lang­te man auf den Mer­ca­to vec­chio mit der un­ver­ge­ss­li­chen Log­gia del pe­sce; sei­ne Pa­läs­te mit den noch üb­ri­gen Tür­men, die den Platz um­ga­ben wie in­va­li­de Ve­te­ra­nen, und die schlan­ke frei­ste­hen­de Säu­le, die die Stadt­mit­te be­zeich­ne­te, däm­mern mir noch in der Erin­ne­rung. Wie we­nig Raum doch die­se Al­ten ge­braucht hat­ten. In die­sem klei­nen Platz, in dem Ge­win­kel en­ger Gäss­lein, die sich an­schlos­sen, hat­te das glü­hen­de Herz des mit­tel­al­ter­li­chen Flo­renz ge­schla­gen. Aus na­men­lo­sem Schmutz, aus ent­stel­len­den Baufli­cken und Ver­kleis­te­run­gen blick­ten jam­mer­voll die Spu­ren eins­ti­ger Schön­heit. Hier ein köst­li­cher Zie­rat an zer­brö­ckeln­der Fassa­de, dort die rei­zen­den For­men ei­ner Log­gia, die jetzt dem stin­ken­den Elend als Un­ter­schlupf diente, an­ders­wo ein Stein­bo­gen aus der Rö­mer­zeit, in ein spä­te­res Bau­werk ver­wen­det. Klei­ne, ur­al­te Kirch­lein, über früh­christ­li­chen oder rö­mi­schen An­la­gen er­rich­tet, win­zi­ge, un­re­gel­mäs­si­ge Plät­ze, enge Pal­ast­hö­fe, von Tür­men über­ragt, die drückend wa­ren wie ein Alp­traum; hier das be­schei­de­ne Stamm­haus der Me­di­ce­er mit dem stol­zen Ku­gel­wap­pen, dort der fes­tungs­ar­ti­ge Palaz­zo Amie­ri – das war noch der Schau­platz al­ler je­ner Be­ge­ben­hei­ten, von de­nen die Chro­ni­ken er­zäh­len. Dort ist mir das alte Flo­renz im Geis­te auf­ge­gan­gen. Man muss­te die­se Enge ge­se­hen ha­ben, um den Dä­mon der Zwie­tracht zu be­grei­fen, der ein Volk von sol­chen Ga­ben und Lei­den­schaf­ten zu jahr­hun­der­te­lan­ger Selbst­zer­flei­schung zwang. Kein Tap­fe­rer konn­te sich vor der Par­tei­ung ret­ten, wenn hier der Alarm­ruf er­scholl, wenn die schwe­ren Ei­sen­ket­ten zwi­schen Haus und Haus den Weg ver­sperr­ten und von den Fens­tern, den rasch her­aus­ge­scho­be­nen Ver­tei­di­gungs­brücken Stei­ne und Ge­schos­se auf die An­grei­fer pras­sel­ten. Hier ver­stand man auch ganz die Fül­le der Ver­ach­tung, mit der Dan­te die Lau­en, die Neu­tra­len im Vor­hof des In­fer­no ste­hen lässt: guar­da e pas­sa! Man konn­te es nach­füh­len, wie der ge­fähr­li­che Bo­den je­des Mal ge­zit­tert ha­ben muss, wenn sei­ne Be­woh­ner sich zu Spiel und Freu­de dar­auf zu­sam­men­fan­den oder die Ju­gend ge­mein­sam zum won­ni­gen Mai­en­fes­te hin­aus­zog, das so oft in Blut und Schre­cken ge­en­det hat.

Doch nicht nur die ei­ser­ne Zeit der Guel­fen- und Ghi­bel­li­nen­kämp­fe war dort in Stein ver­kör­pert, auch an die An­fän­ge des sieg­rei­chen Bür­ger­tums ge­mahn­te die­se Enge, an die Tage, wo un­s­terb­li­che Künst­ler als Hand­wer­ker in ih­rer bot­te­ga sas­sen und die frü­hen Me­di­ce­er sich noch hü­ten muss­ten, ihre Mit­bür­ger in der Le­bens­füh­rung zu über­bie­ten. Hier konn­te man sich einen Do­na­tel­lo vor­stel­len, der des Abends in Schlapp­schu­hen auf den Mer­ca­to läuft, um rasch noch in der Schür­ze Obst und Eier heim­zu­tra­gen, die er mit sei­nem Brun­ne­le­schi ver­spei­sen will.

Mir ist es wie ein ver­blas­sen­der Traum, dass ich die­se Welt noch mit ei­ge­nen leib­li­chen Au­gen ge­kannt habe! Ich at­me­te aber je­des Mal auf, wenn ich mich glück­lich durch die zwie­bel­duf­ten­de, von Ro­stic­ce­ri­en damp­fen­de Via Ca­li­ma­la, die in ih­rer Fort­set­zung Via de’ Suc­chi­el­li­nai hiess, und den Arco de’ Pe­co­ri bis auf den Platz des Täu­fers durch­ge­wun­den hat­te ohne eine all­zu un­lieb­sa­me Be­geg­nung mit den le­ben­den Be­woh­nern des Mer­ca­to.

Ei­nen Ort je­doch gab es im Zen­tro, den kein An­ge­hö­ri­ger der ge­setz­li­chen Welt je­mals be­trat, aus­ge­nom­men die Po­li­zei, und auch die nur in ge­nü­gen­der Stär­ke. Das war der ehe­ma­li­ge Ghet­to, der gleich hin­ter dem Ar­ci­ves­co­va­to, we­ni­ge Schrit­te von der be­leb­ten, ele­gan­ten Via Cer­re­ta­ni be­gann. Er bil­de­te in dem Rei­che der Ver­damm­nis, zu dem die Alt­stadt ge­wor­den war, die un­ters­te Höl­len­stu­fe. Wer sich dort­hin ver­irr­te, konn­te für im­mer ver­schwin­den, denn vor dem un­er­forsch­ten Ge­wir­re von Gän­gen, Trep­pen, Ter­ras­sen, die die Häu­ser des Ghet­to un­ter und über der Erde ver­ban­den, mach­te auch der Spür­sinn der Ge­set­zes­bo­ten halt. Dort, wo die Men­schen wie Tie­re bei­sam­men haus­ten, war die Pflanz­schu­le al­ler Ver­bre­chen und die Brut­stät­te der Seu­chen. Den­noch sperr­ten sich die In­sas­sen – dar­un­ter auch eine wohl­ha­ben­de Ju­den­fa­mi­lie, die seit vie­len Ge­ne­ra­tio­nen dort an­säs­sig war! – zum Teil ganz ver­zwei­felt, als in den acht­zi­ger Jah­ren die­se Pest­höh­len aus­ge­leert und sie sel­ber zwangs­wei­se in neue, ge­sun­de Stadt­tei­le ver­setzt wur­den. Noch ein­mal fei­er­te der Ghet­to eine kur­ze und ver­klär­te Au­fer­ste­hung, als im Kar­ne­val 1886 sei­ne aus­ge­nis­te­ten und ge­lüf­te­ten Räu­me in eine mär­chen­haf­te, von Ka­me­len durch­zo­ge­ne Stadt Bag­dad mit Ba­za­ren, Kaf­fee­häu­sern, Ka­ra­wan­se­rei­en und ent­zücken­den Blu­men­hö­fen ver­wan­delt wur­den, wor­über der Duft von Tau­send­und­ei­ner Nacht schweb­te. Gleich dar­auf ver­schwand der Ghet­to mit dem gröss­ten Teil des al­ten Zen­tro hin­ter dich­ten Bret­ter­wän­den. Und als nach Jahr und Tag die Gerüs­te fie­len, war das alte Flo­renz nicht mehr, und an sei­ne Stel­le trat ein neu­es, bei des­sen An­blick mir das Wort des Do­na­tel­lo ein­fiel, als der Ma­ler Pao­lo Uc­cel­lo im Kirch­lein San Tom­ma­so auf eben die­sem ver­schwun­de­nen Mer­ca­to hier ein Bild, wor­an er lan­ge ge­heim­nis­voll hin­ter Bret­ter­ver­schlag ge­schafft hat­te, den Au­gen des Vol­kes ent­hüll­te: »Ora che sa­reb­be tem­po di co­pri­re e tu sco­pri« (jetzt deckst du auf, wo das Zu­de­cken am Plat­ze wäre). An der Stel­le, wo sich der Mer­ca­to Vec­chio in sei­ner Bett­ler­ma­je­stät er­ho­ben hat­te, gähnt jetzt in öder Lan­ge­wei­le wie ein auf­ge­sperr­tes Rie­sen­maul die Pi­az­za Vit­to­rio Em­ma­nu­e­le, und dass sie den gan­zen Mer­ca­to zu­samt den an­stos­sen­den Gas­sen und Plät­zen ver­schlun­gen hat, macht sie dem Auge doch nicht ge­bie­tend. Die grau­sa­me Zer­reis­sung und Er­wei­te­rung des Plat­zes um San Gio­van­ni, der jetzt nach drei Sei­ten of­fen­steht und die Tauf­kir­che in­mit­ten des wil­den Ge­trie­bes wie einen ein­sa­men Fel­sen in der Bran­dung er­schei­nen lässt, hat den Stim­mungs­reiz des al­ten Stadt­bil­des noch mehr ver­wischt.

Wie aber auch Flo­renz im Äus­sern sich ver­än­dert, der ge­ni­us loci wi­der­steht den Neue­run­gen. An lan­gem Fa­den reicht die Tra­di­ti­on un­un­ter­bro­chen bis auf uns­re Tage her­ab. Die Brü­der­schaft der Mi­se­ri­cor­dia z. B., der die ers­ten Fa­mi­li­en der Stadt und der Lan­des­herr sel­ber an­ge­hö­ren, ist über sechs­hun­dert Jah­re alt. Ge­wohn­hei­ten, Fes­te, Spie­le, Re­dens­ar­ten der Flo­ren­ti­ner sind die glei­chen wie vor Jahr­hun­der­ten. Seit un­vor­denk­li­chen Zei­ten wird am Epi­pha­nia­tag die Hexe Be­fa­na ge­fei­ert, die in ei­nem Strumpf Ge­schen­ke ins Ka­min hängt, und de­ren An­kunft die Gas­sen­ju­gend schon Tage vor­her durch das oh­ren­zer­reis­sen­de Tu­ten der lan­gen Gla­strom­pe­ten an­kün­digt. Noch heu­te will der Flo­ren­ti­ner an je­dem Kar­sams­tag den ge­schmück­ten car­ro vor der Dom­tür in die Luft flie­gen se­hen, so kind­lich die Mecha­nik der künst­li­chen Tau­be ist, die ihn ent­zün­den muss. Dass an je­dem 24. Juni für den Täu­fer, den Schutz­pa­tron der Stadt, die al­ten fuo­chi ab­ge­brannt wer­den, ver­steht sich von selbst. Aber eben­so zähe ist der när­ri­sche Brauch, dass an Mitt­fas­ten je­dem Vor­über­ge­hen­den von den Kin­dern, die­sen bes­ten Hü­tern der Ver­gan­gen­heit, das pa­pie­re­ne Lei­ter­chen auf den Rücken ge­hef­tet wird, ob­wohl nie­mand mehr weiss, was der Un­fug be­deu­tet, und dass am Tage von Ma­ria Him­mel­fahrt der Lieb­ha­ber sei­ner Schö­nen eine schwar­ze Sing­gril­le im Kä­fig ver­eh­ren muss. Ein Lied­chen, mit dem die Klei­nen in den Früh­som­mer­näch­ten das Er­schei­nen der Leucht­kä­fer be­grüs­sen, habe ich wört­lich so in den Ge­sän­gen des Po­li­zia­no ge­fun­den, und ich fra­ge mich, ob nicht hin­ter ih­rem Po­panz Ma­ra­mao viel­leicht eine Erin­ne­rung an den Ver­rä­ter Ma­ra­mal­do sich ver­steckt! Ei­nen Schmer­bauch hör­te ich einen Gi­an­gas­to­ne nen­nen von Leu­ten, die in ih­rem Le­ben nichts von dem schlem­me­ri­schen letz­ten Me­di­ce­er ge­hört hat­ten, und wenn ei­ner mit sei­ner Hil­fe zu spät an­rückt, so sagt der Flo­ren­ti­ner: »É l’a­ju­to di Pi­sa«, ob­gleich heu­te nur noch die His­to­ri­ker wis­sen, wann und wes­halb die pi­sa­ni­schen Bun­des­ge­nos­sen in sol­chen Ver­ruf ge­ra­ten sind.

Auch ein Ge­s­penst wür­de sich in Flo­renz schä­men, nicht min­des­tens sei­ne vier­hun­dert Jah­re alt zu sein, wie die schö­ne Lui­sa Stroz­zi, die un­ter dem Her­zog Ales­san­dro ge­heim­nis­voll starb und sich noch im­mer ab und zu er­zei­gen soll. Die Um­woh­ner des Bar­gel­lo schlies­sen selbst in den glü­hen­den Hoch­som­mer­näch­ten ängst­lich alle Fens­ter, weil aus dem al­ten Säu­len­hof, an dem das Blut der Staats­ver­bre­cher klebt, so selt­sa­me Töne und Schat­ten her­auf­stei­gen.

Die Zeit hält über der Ar­no­stadt ihre ra­schen Flü­gel an. Die alte Uhr auf dem Palaz­zo Vec­chio re­gelt das Le­ben von Flo­renz, und ihr Schlag ruft: Eile mit Wei­le! Nichts hat hier sei­ne fes­te Stun­de. Der No­bi­le, der mit der Zi­gar­re im Mun­de an der Tür des Cir­co­lo steht, die ge­pu­der­te Bür­ger­s­toch­ter, die vom Fens­ter seuf­zend den herr­schaft­li­chen Equi­pa­gen nach­sieht, der Fac­chi­no, der sich an der Stras­se­n­e­cke in der Son­ne rä­kelt, sie ge­hö­ren alle zur gros­sen Fa­mi­lie der Li­li­en auf dem Fel­de. Nur ein lo­ser Som­mer­fa­den hält das gan­ze Ge­trie­be zu­sam­men; will man ihn span­nen, reisst er.

Fast rüh­rend mu­tet es im zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert an, wenn man in ei­ner der be­leb­tes­ten Stras­sen auf einen La­den stösst, an dem ein ge­schrie­be­nes Tä­fel­chen aus­hängt mit der ver­trau­li­chen Auf­schrift: »Tor­no sub­i­to« (ich kom­me gleich wie­der). Der In­ha­ber ist nur ein biss­chen weg­ge­gan­gen, um an­ders­wo zu plau­dern; aber der Kun­de müss­te viel Zeit üb­rig ha­ben, der auf sei­ne Zu­rück­kunft war­ten woll­te. Wer frisch von aus­sen kommt und noch das Tem­po des mo­der­nen Le­bens in den Glie­dern hat, der fühlt sich in Flo­renz wie eine Ku­gel, die in einen Woll­sack fällt. Sei­ne Tat­kraft nützt ihm nicht das ge­rings­te ge­gen den wei­chen, pas­si­ven Wi­der­stand, der ihn um­gibt. Und der An­kömm­ling wun­dert sich über sei­ne Lands­leu­te, die vor ihm da wa­ren und schon das zeit­lo­se Le­ben der Ein­ge­bo­re­nen tei­len. Sie er­in­nern ihn viel­leicht an die ver­zau­ber­ten Lo­to­pha­gen, die mit stil­len Ge­sich­tern wunsch­los um­her­ge­hen und nim­mer heim­ver­lan­gen nach dem Lan­de der Vä­ter. Doch bald wird ihm so selt­sam wohl in der blau­en Unend­lich­keit; die Geis­ter der Zeit, die ihn jag­ten, fal­len ab, und am Ende wird er selbst wie jene und be­gehrt nichts wei­ter als nur im­mer da­zu­blei­ben und von den Früch­ten des Lo­tos zu es­sen. Aber wehe ihm, wenn er nicht ge­feit ist ge­gen das süs­se Gift, denn die­se Früch­te be­kom­men nicht je­dem. Eine won­ni­ge Mat­tig­keit schleicht durch die Adern, die man­chem die Spann­kraft auf im­mer lähmt. Nichts spornt ihn mehr zum Tun auf ei­nem Bo­den, wo seit Jahr­hun­der­ten al­les ge­tan ist. Lang­sam ver­fei­nert sich das Stil­ge­fühl bis zur Un­duld­sam­keit und schafft beim An­blick je­des Er­zeug­nis­ses ei­ner un­rei­fe­ren Kul­tur Qua­len, von de­nen der Aus­sen­ste­hen­de kei­ne Ah­nung hat. Nur in Ge­sell­schaft der To­ten scheint das Le­ben noch le­bens­wert. Aber die To­ten sind grau­sam, be­son­ders ge­gen den schaf­fen­den Künst­ler. So man­cher legt sich als de­mü­ti­ger Schü­ler zu ih­ren Füs­sen, der da­heim Ge­winn und Ehren er­rin­gen könn­te oder schon er­run­gen hat, und wird von ih­nen aus­ge­so­gen und weg­ge­wor­fen. Erst reis­sen sie ihn an sich mit dä­mo­ni­scher Ge­walt; sie wer­fen Hül­le um Hül­le vor ihm ab, dass er sie er­kennt in ih­rer über­mensch­li­chen Schön­heit, dann be­ginnt der kal­te Hohn, die ei­si­ge Zu­rück­wei­sung: Ver­such es und sei wie wir! Er hält es zu­erst für mög­lich. Aber hat er eine Lein­wand auf der Staf­fe­lei, die ihm Freu­de macht, so bli­cken sie ihm über die Schul­ter, kalt und un­er­bitt­lich. Im Pit­ti gibt es bei sei­nem Ein­tritt eine wah­re Ver­schwö­rung. Leo X. mit dem Kar­di­nal Bib­bie­na lä­chelt in­fam, die stol­zen Ti­zians se­hen so über ihn hin, und so­gar die schwer­mü­ti­gen Ma­don­nen des Bot­ti­cel­li ver­zie­hen ihre Münd­chen, bis ihn die Verzweif­lung packt, dass er sei­ne Lein­wand zer­schnei­det und ein paar Tage wie ein Tol­ler durch die Cam­pa­gna rennt. Er ha­dert mit sich und mit den To­ten; er sagt ih­nen die schnö­des­ten Wor­te: Ihr habt nicht nö­tig, euch auf­zu­bla­sen, was wärt ihr, wenn nicht die Wo­gen eu­rer Zeit euch ge­tra­gen hät­ten! Es ist ein Un­ter­schied, ob man für die Stan­zen des Va­ti­kans schafft oder für einen Ber­li­ner Prot­zen­sa­lon. Ich möch­te se­hen, wie ihr euch heu­ti­gen­ta­ges an­stel­len wür­det, um un­s­terb­lich zu wer­den! – Er hat gut re­den, die lä­cheln wei­ter und ge­ben kei­ne Ant­wort; nichts Nie­der­schla­gen­de­res als mit Leu­ten ha­dern, die den Mund nicht zur Er­wi­de­rung auf­tun. End­lich ruft er in hel­ler Wut: Was wollt ihr? Ne­ben den Grie­chen seid auch ihr nur Krä­mer! Dann schla­gen sie die Au­gen nie­der; das ist sei­ne Ra­che. Aber der An­blick ei­nes ein­zi­gen mo­der­nen Bil­des ge­nügt, ihn reue­voll zu den Füs­sen sei­ner Pei­ni­ger zu­rück­zu­füh­ren. Ja, die To­ten sind eine tücki­sche Na­ti­on. – Wer aus den Ar­men der stil­len Kö­ni­gin kommt, der steht als Fremd­ling un­ter den Men­schen, wie wenn er aus dem Ve­nus­berg stie­ge, und ist er dann noch im­stan­de, der Mit­welt zu die­nen, so hat er die stärks­te Pro­be auf sei­ne Le­bens­kraft ab­ge­legt.

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Flo­renz ist die vor­nehms­te al­ler Städ­te. Da auf die­sem Bo­den kein Geld zu ma­chen ist und die grö­be­ren Ver­gnü­gun­gen feh­len, gibt es kei­ne prot­zi­gen Banau­sen, kei­ne das Le­ben ge­nies­sen­den Hand­lungs­rei­sen­den dort, und von den in­ter­na­tio­na­len Aben­teu­rern and­rer Welt­städ­te nur der Voll­stän­dig­keit hal­ber ei­ni­ge we­ni­ge Mus­ter. Kein Wald von Fa­brik­schlö­ten ver­dickt die Luft mit Qualm und mit so­zia­len Fra­gen; was den Bau­ern be­trifft, so ist er in To­s­ka­na durch die Ein­rich­tung der mezzadrìa bes­ser ge­stellt als ir­gend­wo sonst; der Klein­bür­ger aber lebt in ei­nem Ge­flech­te höchst ver­wi­ckel­ter, doch fried­li­cher Aus­kunfts­mit­tel, in die wir kei­nen Ein­blick ha­ben. Frei­lich fal­len mit dem wirt­schaft­li­chen Kamp­fe auch die Lei­den­schaf­ten weg, die die Ge­sell­schaft ver­jün­gen. Das heis­se Blut der Flo­ren­ti­ner ist schon nach den letz­ten gros­sen Ader­läs­sen beim Un­ter­gang der Re­pu­blik zahm und stil­le ge­wor­den. Das ge­sell­schaft­li­che Le­ben ist ab­ge­klärt, ru­hig und rein ge­stimmt wie die Land­schaft um Flo­renz. Die hoch­ge­bil­de­te Spra­che trägt einen Hauch von Vor­nehm­heit bis in die nie­ders­ten Schich­ten hin­un­ter. Da­ge­gen ist der Blick auch un­be­grenzt. Alle Na­tio­nen tref­fen in Flo­renz zu­sam­men. Jede Wel­le des mo­der­nen Le­bens, gleich­viel von wo sie aus­ge­gan­gen, dort kommt sie an­ge­rauscht; man kann ih­ren Weg ver­fol­gen, nur dass ihr Schlag am Ar­nou­f­er sei­ne ele­men­ta­re Kraft ver­liert. Ei­nen Bar­ri­ka­den­kampf z. B. kann man sich auf dem Bo­den, der so viel Bür­ger­blut ge­trun­ken hat, in un­sern Ta­gen gar nicht mehr vor­stel­len. Auch ihr 27. April ist ja so ge­sit­tet ver­lau­fen wie eine Re­vo­lu­ti­on im Lust­spiel. Man muss­te un­sern al­ten Ta­pe­zie­rer, der die Zeit noch mit­er­lebt hat, von die­ser men­schen­freund­lichs­ten al­ler Staats­um­wäl­zun­gen er­zäh­len hö­ren; scha­de, dass ich nur den Sinn sei­ner Rede, nicht auch den Wort­laut wie­der­ge­ben kann. Schon tags zu­vor hat­te es ge­go­ren, dro­hen­de Grup­pen stan­den auf den Stras­sen, und als Ge­ne­ral Fer­ra­ri, eine sehr ver­hass­te Per­sön­lich­keit, sich mit sei­nem Ad­ju­tan­ten auf der Pi­az­za zeig­te, schnit­ten die tos­ka­ni­schen Gen­darmen, die ihm folg­ten, Frat­zen hin­ter ihm her, bis ein Herr hin­zu­trat und ihn bat, sich aus Rück­sicht auf die Stim­mung des Vol­kes zu­rück­zu­zie­hen. Am 27. wur­de es ernst. Da mach­ten die Häup­ter der Be­we­gung dem Gross­her­zog eine Auf­war­tung, nach der ihm nichts üb­rig blieb als zu ge­hen. Als er mit sei­ner Fa­mi­lie in gros­ser Staats­ka­ros­se zum Bo­bo­li hin­aus­fuhr, be­glei­te­ten sie ihn nebst Mi­li­tär als Si­cher­heits­wa­che und führ­ten ihn mit al­lem schul­di­gen Re­spekt nach Bo­lo­gna, wo sie ihn in die Arme der Ös­ter­rei­cher leg­ten. Und wo der Zug vor­über­kam, da stand das Volk schwei­gend und höf­lich auf der Stras­se und liess so­gar den Ge­ne­ral Fer­ra­ri, den ein­zi­gen, dem man ans Le­ben woll­te, un­ge­hin­dert pas­sie­ren, weil er hin­ten auf der gross­her­zog­li­chen Equi­pa­ge stand, wo sonst der Platz der La­kai­en war. Erst als der »Papa« die Stadt ver­las­sen hat­te, brach der to­ben­de Ju­bel aus, und man sang den An­hän­gern des al­ten Re­gi­mes den Spott­vers nach:

Oh cosa spe­ri tu? II bab­bo non tor­na più.

Frei­lich als dann mit­ten in das Ev­vi­va­ru­fen und Fah­nen­schwen­ken hin­ein die Steuer­ein­neh­mer ka­men und die Sol­da­ten aus­ge­ho­ben wur­den, da kühl­te sich die tri­ko­lo­re Be­geis­te­rung bald ab – man spürt es or­dent­lich der Mi­mik des Er­zäh­lers an, wie die pie­mon­te­si­sche Schrau­be das weich ge­wohn­te Volk von al­len Sei­ten zwick­te. Denn die To­s­ka­na mit ih­ren hu­ma­nen Ein­rich­tun­gen hat mit dem An­schluss an das gros­se Va­ter­land ein Op­fer ge­bracht wie kei­ner der an­dern Stäm­me. Da­rum fühlt sich so ein al­ter Flo­ren­ti­ner bis auf den heu­ti­gen Tag noch nicht ganz als Ita­lie­ner. Im­mer denkt er mit stil­ler Weh­mut an das mil­de loth­rin­gi­sche Re­gi­ment, wo sich’s so be­quem leb­te, wo alle öf­fent­li­chen Ge­schäf­te über Hin­ter­trep­pen gin­gen, wo der si­ga­ro tos­ca­no zwei Cen­te­si­mi kos­te­te und wo so­gar das Wet­ter schö­ner war als heu­te. Im­mer ist er ein biss­chen »co­di­no«, ein biss­chen »pao­lot­to« ge­blie­ben, das heisst, dass ihm ein Zöpf­chen hin­ten hängt, und dass er nach Kir­chen­luft riecht. Und der Pie­mon­te­se ist ihm so lieb wie dem Alt­bay­ern der Preus­se.

Über­haupt kommt dem Flo­ren­ti­ner der Frem­de schwer­lich recht nahe, und als Frem­der wird von ihm je­der Nicht-To­s­ka­ner an­ge­se­hen, da­her er dem Rö­mer und Lom­bar­den eben­so gut ein Buch mit sie­ben Sie­geln bleibt wie dem Deut­schen oder Eng­län­der. Er lebt in sei­ner al­ten Kul­tur wie hin­ter ei­ner chi­ne­si­schen Mau­er. Nie ver­gisst er, dass sein klei­nes Ge­mein­we­sen ein­mal die Wie­ge der mo­der­nen Zi­vi­li­sa­ti­on und ein In­be­griff der gan­zen Mensch­heit ge­we­sen ist, der kei­ner Er­gän­zung von aus­sen be­durf­te. Da­rum stellt er sich vor, dass noch heu­te je­des and­re Volk von ihm, er von kei­nem an­dern Volk zu ler­nen hät­te. Sei­ne Geo­gra­fie ist so ein­fach wie mög­lich und wird auch durch das wü­ti­ge Zei­tungs­le­sen nicht be­ein­flusst: Flo­renz und um Flo­renz her Ita­li­en, um Ita­li­en her eine ne­bel­haf­te Welt, das Aus­land, das die selt­sa­me Men­schen­ras­se der Frem­den, der »fo­res­tie­ri« her­vor­bringt. Von die­sen weiss er nur so viel, dass der Bri­te von ei­ner klei­nen In­sel kommt und der Ame­ri­ka­ner von ei­ner gros­sen, und dass der Deut­sche nicht al­le­mal ein Ös­ter­rei­cher ist, ob­gleich er das letz­te­re im­mer ger­ne wie­der ver­gisst. Da­mit ist so ziem­lich sein In­ter­es­se für aus­ser­flo­ren­ti­ni­sche Din­ge um­schlos­sen. Selbst der Li­te­rat ist stolz dar­auf, kei­ne frem­de Spra­che zu ver­ste­hen, weil er so die ei­ge­ne rei­ner zu er­hal­ten glaubt.

Im ge­sell­schaft­li­chen Ver­kehr kommt man über den An­fang nicht hin­aus, und wenn man bei der ers­ten Be­geg­nung we­gen der Leich­tig­keit und Freund­lich­keit der Sit­ten den Ein­druck ge­won­nen hat, als ob man mit al­ten Be­kann­ten zu­sam­men sei, so be­wegt sich das Ge­spräch nach jah­re­lan­ger Be­kannt­schaft im­mer wie­der in den­sel­ben Ge­mein­plät­zen, als sehe man sich heu­te zum ers­ten Mal. Fio­ren­za ist we­der gast­frei noch warm­her­zig. Die Sit­te ver­bie­tet dem Frem­den so­gar, den ers­ten Be­such zu ma­chen; er muss war­ten, ob man ihm ent­ge­gen­kom­men will. Es gibt kei­ne freund­nach­bar­li­che Teil­nah­me, auch zwi­schen den Ein­hei­mi­schen sel­ber nicht, ob­gleich ein Kaf­fee­h­aus­be­kann­ter den an­dern a­mi­co nennt.

Da­für dul­det die stil­le Kö­ni­gin auch kei­nen Klatsch an ih­rem Hofe. In den mo­der­nen Mil­lio­nen­städ­ten gibt es im­mer wie­der ein Kräh­win­kel, wo der eine das Tun und Las­sen des an­dern be­män­gelt, in der klei­nen Welt­stadt am Arno nicht. Höchs­tens wenn der Prin­ci­pe Stroz­zi stirbt und nie­mand sich fin­det, der sei­nen Palast mit den wun­der­gros­sen Erin­ne­run­gen und den wun­der­gros­sen Hy­po­the­ken über­neh­men will, be­wegt sie das ein we­nig, denn der Palaz­zo Stroz­zi ist ein Stück von ih­rem Her­zen; aber den Klein­kram des Ta­ges lässt sie nicht an sich her­an. Wird eine Skan­dalaf­fä­re laut, die an­der­wärts ein Jahr lang alle Zun­gen be­schäf­ti­gen wür­de, so zuckt Fio­ren­za die Ach­seln und lässt in ei­ner Nacht das Gras der Ver­ges­sen­heit dar­über wach­sen. Und an »Af­fä­ren« fehlt es nicht in ei­ner Stadt, die der Lie­bes­ro­man­tik al­ler Na­tio­nen als Zuf­lucht die­nen muss. Auch der Frem­de ar­tet sich bald nach dem ein­hei­mi­schen Stil: ein Ge­heim­nis der Ko­lo­nie wird nur von den fei­nen Luft­schwin­gun­gen, nicht von Men­schen­stim­men wei­ter­ge­tra­gen. Am Ende wis­sen’s alle, und nie­mand spricht da­von.

Was den Um­gang mit dem Flo­ren­ti­ner er­schwert, ist sei­ne Ab­nei­gung ge­gen die ge­ra­den Wege. Wie alle sehr al­ten Kul­tur­völ­ker hat er das Be­dürf­nis des Um­ge­hens und Ver­hül­lens. Das Ge­gen­teil von dem sa­gen, was man denkt, heisst in Flo­renz e­du­ca­zio­ne. Da­bei zieht der eine von den Ver­si­che­run­gen des an­dern mit kla­rer Schät­zung ein be­stimm­tes Quan­tum ab, so­dass doch noch eine Art von Wahr­heit her­aus­kommt. Es dau­ert lan­ge, bis der Frem­de sich die­se Übung an­eig­net. Vor al­lem muss er ler­nen, dass sein Ge­währs­mann sel­ber gar nicht ernst ge­nom­men sein will, son­dern nur den An­stand wahrt, wie er ihn emp­fin­det. Man könn­te, ein be­rühm­tes Wort par­odie­rend, sa­gen: »All­ge­mei­ne Ver­stel­lung, ge­mil­dert durch all­ge­mei­nen Un­glau­ben.« Dass die­ses Sys­tem für den mo­der­nen Men­schen zu zeit­rau­bend ist, kommt nicht in Be­tracht, denn der Flo­ren­ti­ner ist kein mo­der­ner Mensch. Ihm ist die er­erb­te schö­ne Form Zweck und In­halt des Da­seins. Die Be­geis­te­rung für die Sa­che, die ihn einst so gross mach­te, hat er mit der Wild­heit sei­ner Ju­gend hin­ter sich ge­las­sen.

Auch äus­ser­lich trägt er die Merk­ma­le der Über­fei­ne­rung. Er ist schmäch­ti­ger ge­baut und hat schwä­che­re Ner­ven als der Nor­di­ta­lie­ner; es kann vor­kom­men, dass er an den Fol­gen ei­nes plötz­li­chen Schrecks hin­siecht und stirbt – »ha avu­to una pau­ra« heisst es dann. Rha­chi­tis und Skro­phulo­se wüh­len im Volk, und der all­zu spär­li­che Salz­ver­brauch leis­tet die­sen Fein­den noch Vor­schub. Da­ran ist nicht al­lein die hohe Salz­steu­er schuld, son­dern auch alte Ge­wohn­heit. Alle Bit­ter­nis der Frem­de sym­bo­li­siert sich für Dan­te in dem Salz­ge­schmack ih­res Bro­tes, und noch heu­te isst der To­s­ka­ner kein ge­sal­ze­nes Brot. Dass die Kin­der schon so ge­witzt sind wie die Er­wach­se­nen, scheint auch ein Al­ters­merk­mal der Ras­se zu sein. Wun­der­bar leicht und schnell ar­bei­tet die geis­ti­ge Ma­schi­ne des Vol­kes. Es ver­steht die Rede des Frem­den au­gen­blick­lich, auch durch die aben­teu­er­lichs­ten Sprach­schnit­zer hin­durch; ja, es er­hascht sei­ne un­aus­ge­spro­che­nen Ge­dan­ken, vor­aus­ge­setzt, dass sie sich im flo­ren­ti­ni­schen Ge­sichts­kreis be­we­gen. Was aber dar­über hin­aus­liegt, das trifft auf um so tiefe­re Ver­ständ­nis­lo­sig­keit. In eine frem­de Ge­dan­ken­welt ein­zu­drin­gen, gibt sich kein Flo­ren­ti­ner die Mühe, er will in sei­ner ei­ge­nen auf­ge­sucht sein.

Der ge­mei­ne Mann ist takt­voll, ver­stän­dig und gut­mü­tig, mit ei­nem leich­ten Stich ins Ma­li­zi­öse. Sei­ne Höf­lich­keit ge­gen den Hö­her­ste­hen­den hat nie et­was Un­ter­wür­fi­ges, er gibt stets zu ver­ste­hen, dass er durch die fei­ne Form sich sel­ber eh­ren will. Dem Flo­ren­ti­ner liegt sei­ne re­pu­bli­ka­ni­sche Ver­gan­gen­heit im Blu­te. Er lacht über Ti­tel und Or­den. Eine Li­vree zu tra­gen be­quemt er sich nur mit dem äus­sers­ten Wi­der­wil­len. Die Drosch­ken­kut­scher wehr­ten sich noch ge­gen je­des Ab­zei­chen, das der Ma­gis­trat ih­nen auf­nö­ti­gen woll­te, um nur ja nicht mit Herr­schafts­kut­schern ver­wech­selt zu wer­den, und be­mü­hen sich un­ter ih­rem Pa­na­ma­hut oder dem fest­ge­schraub­ten Re­gen­schirm so nach­läs­sig und bür­ger­lich wie mög­lich drein­zu­schau­en. Spricht der Fat­to­re mit sei­nem Guts­herrn, so lässt er den Gra­fen- oder Mar­che­se­ti­tel bei­sei­te und re­det ihn ver­trau­lich »Sor Gi­u­sep­pe«, »Sor Co­si­mo« an. Das ist das letz­te Über­bleib­sel je­nes Geis­tes der Frei­heit, der einst die »Or­di­na­men­ti del­la gi­us­ti­zia