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Einfühlsam und bewegend erzählt Roswitha Gruber von einer jungen Frau im Zwiespalt zwischen Pflicht und Gefühl. Ein Roman voller Herz und Hoffnung, der berührt und zum Nachdenken anregt. Klara soll ins Kloster – ein Gelübde ihrer Mutter hat ihr Schicksal längst besiegelt. Doch ihr Herz sehnt sich nach einem anderen Leben. Als ihre erste große Liebe sie tief enttäuscht, flieht sie dennoch hinter Klostermauern. Doch wahre Berufung lässt sich nicht erzwingen … Erst als sie im Dienst an den Menschen aufblüht, erkennt sie ihren wahren Weg – und vielleicht auch eine unerwartete Liebe? Roswitha Gruber schreibt nicht nur Lebensgeschichte starker Frauen nieder, sondern verfasst auch Romane "aus der guten alten Zeit". Flucht aus dem Kloster ist eine überarbeitete Neuauflage des Romans Die entflohene Nonne und nimmt seine Leser mit in das bewegte Leben einer jungen Frau.
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Seitenzahl: 469
Veröffentlichungsjahr: 2025
Roswitha Gruber
Roman nach einer wahren Begebenheit
Für Marlies Lichter
© 2025 Brunnen Verlag GmbH, Gießen
www.brunnen-verlag.de; [email protected]
Die Nutzung von Bild-, Sprach- und Textdaten für sog. KI-Trainings und ähnliche Zwecke ist nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung erlaubt.
Umschlagfoto: stock.adobe.com
Umschlaggestaltung: Jonathan Maul
Satz: Brunnen Verlag GmbH
ISBN Buch 978-3-7655-4397-5
ISBN E-Book 978-3-7655-7760-4
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Auf der Wochenstation des lrminenstiftes zu Trier ging die Säuglingsschwester Annunciata eiligen Schrittes von einem Zimmer zum andern. Aus jedem kam sie mit einem kleinen weißen Bündel heraus. Auf dem langen Flur stand ein fahrbares Gestell. Dort legte sie ihre Pakete wie frisch gebackene Brote nebeneinander ab. Dann schob sie die kostbare Fracht ein Stück weiter.
Wieder betrat sie ein Vierbettzimmer. In diesem hielten aber nur drei Frauen einen satten zufriedenen Säugling im Arm. Die Bäuerin Theres Winkler hatte ihre Entbindung noch vor sich. Da es ein heißer Augusttag war, standen die Fenster weit offen.
In dem Augenblick, als sich die Schwester der ersten Mutter zuwandte, um ihr das Kind abzunehmen, ertönte ein dünnes Läuten wie von einer fernen kleinen Glocke. Erschrocken hielt die Schwester in ihrer Bewegung inne.
„O nein!“, stieß sie hervor, ließ den Säugling Säugling sein und strebte in Richtung Tür.
„Schwester, was bedeutet das?“, rief ihr die junge Mutter – nun ebenfalls erschrocken – nach. Auch den anderen Frauen stand diese bange Frage im Gesicht.
„Das ist das Glöckchen vom Petrisberg“, rief die Schwester von der Tür zurück, die Klinke schon in der Hand. „Ich muss sofort in der Küche Bescheid sagen, dass die etwas hinauschicken.“
Schon war sie draußen und lief mit wehendem Schleier über den Gang.
„Wissen Sie, was das bedeutet?“, wandte sich die Frau, die gefragt hatte, an ihre Zimmergefährtinnen.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete die Frau vom Bett gegenüber. „Ich bin nicht aus Trier.“
„Ich auch nicht“, bekannte Frau Winkler.
„Es muss etwas passiert sein“, mutmaßte die erste Frau.
„Sonst wäre die Schwester nicht so kopflos davongerannt.“
„Ich wohne bereits seit zwei Jahren in Trier“, gestand nun die vierte Wöchnerin. „Aber diese Glocke habe ich noch nie gehört.“
Eigentlich hätten es die jungen Mütter genießen müssen, ihre pausbäckigen Kinder länger als üblich im Arm halten zu dürfen. Aber dazu waren sie nicht in der Verfassung. Voller Unruhe starrten sie auf die Tür und erwarteten die Rückkehr der Schwester.
Kaum hatte diese, noch völlig außer Atem, das Zimmer betreten, wurde sie von allen Seiten bestürmt.
„Was ist los?“
„Was bedeutet das Läuten?“
„Wieso sind Sie in die Küche gerannt?“
„Was ist mit dem Petrisberg?“
„Bitte etwas Geduld, meine Damen“, japste die Schwester.
„Sie sollen Ihre Erklärung bekommen. Aber erst müssen die Kinder ins Säuglingszimmer. Wenn alle wieder in ihren Bettchen liegen, komme ich zurück.“
Sie hielt ihr Versprechen. Mit gespannten Gesichtern lauschten die vier Frauen den Worten der Säuglingsschwester: „Auf dem Petrisberg befindet sich seit 1921 ein Kloster des Klarissenordens. Das ist ein sehr strenger, beschaulicher Orden. Die Schwestern sehen den Sinn ihres Lebens darin, Gott zu loben und zu verherrlichen sowie für die Anliegen und Nöte ihrer Mitmenschen zu beten. Die Klarissen leben äußerst arm und bescheiden. Um das Kloster herum haben sie ein paar Felder, auf denen sie Obst und Gemüse anbauen. Im Übrigen sind sie auf Spenden aus der Bevölkerung angewiesen. Das war bisher kein Problem. Sie durften regelmäßig ihre Wohltäter besuchen und sich Gaben erbitten. Manchmal waren das Lebensmittel, meist aber Geld, was ihnen die Leute zusteckten. Damit konnten sich die Schwestern dann alles Notwendige kaufen. Mit der Spende gab man den Schwestern auch seine Sorgen mit auf den Weg. Viele Leute pflegten auch, wenn sie in Not und Bedrängnis waren, zum Kloster hinaufzupilgern. Keiner aber kam hinauf, ohne den Schwestern Geld oder Nahrungsmittel zu überreichen. Daher hatten die Schwestern immer genug zum Leben.“ Schwester Annunciatas kurze Verschnaufpause nutzte eine der atemlos lauschenden Frauen zu der Frage: „Sie haben gesagt, bisher war das so. Heißt das, das ist jetzt nicht mehr so? Und warum ist es nicht mehr so?“
„Ja, ja“, seufzte die Schwester. Dabei überlegte sie sich eine vorsichtige Formulierung. Man musste ja so aufpassen in dieser Zeit, damit einem niemand etwas anhaben konnte: „Seit einiger Zeit existieren in unserem Land neue Gesetze. Die verbieten den Schwestern die sogenannten Bettelgänge. Darüber hinaus trauen sich auch kaum noch Pilger zum Kloster hinauf. Die meisten haben Angst, sie könnten gesehen und angezeigt werden. Das könnte sich ungünstig auf ihre Familie oder die berufliche Laufbahn auswirken. Daher wird es ganz schön knapp da oben. Dass es aber so schlimm um die Schwestern steht, hätte ich nicht gedacht. Denn erst, wenn sie seit drei Tagen nichts mehr zu essen haben, dürfen sie das Hungerglöcklein läuten.“
„Das ist ja entsetzlich“, äußerte sich eine der Frauen.
„O nein, die armen Schwestern!“, seufzte Theres.
„Weiß denn jeder in Trier, was es bedeutet, wenn diese Glocke läutet?“, erkundigte sich eine andere.
„Das wissen sicher nicht alle“, antwortete Schwester Annunciata. „Aber ihren vielen treuen Anhängern ist das bekannt und auch allen anderen Ordensschwestern. Als ich vorhin in die Küche stürzte, kamen von allen Seiten meine Mitschwestern gerannt. Sie hatten das Läuten ebenfalls vernommen. Wir haben sofort veranlasst, dass ein Korb Lebensmittel hinaufgebracht wird.“
Das Schicksal der Nonnen rührte die Wöchnerinnen derart, dass sie ebenfalls helfen wollten. Spontan entnahm jede der drei jungen Mütter fünf Mark aus ihrem Portemonnaie. Diese überreichten sie der Schwester mit der Bitte, sie möge das Geld mit den Lebensmitteln auf den Petrisberg schicken. Theres hatte – zu ihrem größten Bedauern – kein Geld bei sich. Sie wollte aber auch ihr Scherflein beitragen. Deshalb kündigte sie, zur Schwester gewandt, an: „Sobald mein Mann mich besucht, sage ich ihm, er soll beim nächsten Besuch Butter, Eier und Speck für die Klarissen mitbringen.“ Frau Winkler war, erst kurz bevor die Säuglinge zum Stillen ausgeteilt worden waren, ins Wöchnerinnenheim eingeliefert worden. So hatte man noch gar keine Zeit gehabt, sich miteinander bekannt zu machen.
Nachdem die Säuglingsschwester das Zimmer wieder verlassen hatte, hielt es Theres für angebracht, sich ihren Zimmergenossinnen vorzustellen. Sie komme von einem großen Bauernhof in der Eifel, sagte sie. Ihre ersten zwölf Kinder habe sie zu Hause zur Welt gebracht. Dabei habe es keine Probleme gegeben. Diesmal aber – meinte ihre Hebamme – gäbe es Probleme, es sei eine Querlage.
„Lange Zeit hatte die Hebamme gehofft, das Kind würde sich noch drehen. Es wollte aber nicht. Deshalb hat mich die Hebamme hergeschickt. Es sei besser, dass ich schon im Krankenhaus sei, wenn die Wehen losgehen. Da könne man mir gleich richtig helfen.“
„Da hat Ihre Hebamme recht“, stimmte eine der Mütter zu.
„Die haben hier doch ganz andere Möglichkeiten.“
„Das glaube ich ja auch. Deshalb bin ich auch gleich nach Trier gefahren, statt in unser kleines Krankenhaus zu gehen. Trotzdem habe ich Angst. Ich wäre froh, wenn ich es schon überstanden hätte.“
Am nächsten Tag, die Säuglinge der drei Bettnachbarinnen waren gerade nach ihrer Mittagsmahlzeit abgeholt worden, erschien Matthes Winkler am Bett seiner Frau. Er war ein großer kräftiger Mann von etwa fünfzig Jahren mit einem wettergebräunten Gesicht und noch vollem mittelblondem Haar. Ihm war die Besorgnis um seine Frau nicht nur anzusehen, auch aus jedem seiner Worte hörte man sie heraus:
„Theres, hoffentlich geht alles gut! Was sollte ich ohne dich auf dem Hof machen? Wer sollte sich um die Kinder kümmern? Wir brauchen dich doch alle so notwendig.“ Seine Worte taten ihr gut und nahmen ihr etwas von ihrer eigenen Besorgnis. Ja, sie bekam das Gefühl, die Tapfere, die Starke spielen zu müssen, um ihn zu beruhigen. Deshalb erzählte sie ihm ausführlich, was sie gestern über die Schwestern auf dem Petrisberg erfahren hatte.
Zum Schluss beschwor sie ihn regelrecht: „Matthes, du musst morgen wieder nach Trier kommen. Dann bringst du eine Welle Butter mit, einen Schinken, ein Brot und ein Dutzend Eier. Damit steigst du hinauf zum Kloster Sankt Klara und gibst die Sachen an der Pforte ab. Dabei bittest du die Schwestern, sie sollen ganz fest für mich beten, damit alles gut geht mit mir und dem Kind.“
Matthes versprach ihr, diesen Auftrag gewissenhaft auszuführen. Ja, er freute sich sogar, dass er etwas für sie tun konnte. In der Tat sah der gläubige Mann in dieser Handlung eine Gewähr für eine glückliche Entbindung.
Nachdem Matthes gegangen war, wirkte Theres für kurze Zeit erleichtert. Die folgende Untersuchung durch den Gynäkologen stürzte sie jedoch erneut in Sorge. Er hatte ihr eröffnet, dass keine normale Entbindung zu erwarten sei. Es müsse ein Kaiserschnitt gemacht werden. Vor dieser Operation hatte die Frau eine wahnsinnige Angst. Deshalb konnte sie am Abend lange nicht einschlafen. Unablässig betete sie, Gott möge sie doch nicht sterben lassen; ihre Kinder brauchten sie doch; ihr Mann brauche sie; der Hof brauche sie.
Schließlich betete Theres noch inbrünstig: „Hilf mir, dass alles gut geht! Lass mich diese Entbindung gut überstehen! Wenn ich überlebe und das Kind gesund zur Welt kommt, will ich wieder eine anständige Lebensmittelsendung ins Klarissenkloster schicken. Ich will auch selbst immer wieder zum Kloster hinaufsteigen und den armen Schwestern etwas bringen.“
Aber auch dieses Versprechen verschaffte ihr nicht die ersehnte Ruhe.
Auf einmal hatte sie eine Art Eingebung. Aus tiefstem Innern drängten sich Worte auf ihre Lippen, die sie lautlos bewegte: „Lieber Gott, für den Fall, dass alles gut geht, gelobe ich Folgendes: Sollte dieses Kind ein Mädchen sein, so werde ich es dir weihen und schenken. Vom ersten Tag seines Lebens an werde ich es für das Kloster Sankt Klara erziehen. Und wenn es alt genug ist, werde ich es eigenhändig hinaufführen und an der Klosterpforte abgeben. Bitte, lieber Gott, nimm dieses Opfer an von mir und lass mich am Leben!“ Nach diesem Gelübde fühlte Theres sich auf wunderbare Weise erleichtert. Eine große Ruhe strömte in ihr Herz, und sie konnte endlich einschlafen.
Als ihr Mann am nächsten Tag erschien, fragte sie ihn sogleich, ob er im Kloster Sankt Klara gewesen sei. Er berichtete, dass er die von ihr gewünschten Lebensmittel dort abgegeben habe nebst der Bitte, man möge für eine glückliche Entbindung beten. Dafür dankte ihm Theres. Dann vertraute sie ihm ganz leise an, was sie Gott versprochen hatte. Da drückte er ihr zustimmend die Hand und sagte: „Das war recht, Theres. Jetzt wird sicher alles gut werden.“
Es wurde tatsächlich alles gut. Nach der Operation ging es Frau Winkler zwar noch einige Tage sehr schlecht – sie litt unter starken Schmerzen und einem brennenden Durstgefühl –, aber sie lebte. Und sie würde gesund werden. Sie hatte eine schöne gesunde Tochter zur Welt gebracht und dankte Gott von ganzem Herzen.
Das Kind erhielt den Namen Klara Maria. Als am ersten September der Zweite Weltkrieg ausbrach, war die Wöchnerin wieder so weit hergestellt, dass man sie nach Hause entlassen konnte.
Die kleine Klara oder Klärchen, wie man sie liebevoll nannte, wurde von den Geschwistern herzlich aufgenommen. Und Theres war nach einigen Tagen der Schonung wieder ganz die Alte. Sie führte wieder ihr strenges Regiment, wie das bei dreizehn Kindern notwendig war, und alles lief wie am Schnürchen.
Der Vater war eher der stille, der zurückhaltende Typ. Er erledigte seine Arbeiten auf Feld und Flur, wie sich das gehörte, sowie im Stall. In die Kindererziehung mischte er sich nicht ein und auch nicht in die Finanzen. Er war überzeugt davon, dass seine Theres das alles richtig machte.
Die Freude über ihre gesunde Rückkehr und die Ankunft der kleinen Klara wurden jedoch bald durch den Krieg überschattet. Zwar bekam man in diesem abgeschiedenen Eifelhochtal nicht eigentlich etwas vom Kriegsgeschehen mit. Kaum aber waren die Kartoffeln und Rüben eingebracht, wurde der gerade neunzehnjährige Matthias eingezogen. Ein halbes Jahr später kam die knappe Mitteilung, er sei für Volk und Vaterland auf dem Felde der Ehre in Frankreich gefallen.
In ihrem Schmerz trösteten die Eltern sich damit, dass ihre beiden folgenden Kinder Töchter waren und somit vom Kriegsdienst verschont blieben. Bis der nachfolgende Sohn alt genug dazu sei, war der Krieg sicherlich aus. Das war jedoch ein Irrtum. 1944 wurde Klaus eingezogen, kurz vor seinem neunzehnten Geburtstag. Er fiel wenige Monate später in Italien.
Zu Beginn des Jahres 1945 wurde sogar noch der siebzehnjährige Peter zu den Waffen gerufen. Er kam nur deshalb mit dem Leben davon, weil er bei seinem ersten Fronteinsatz so schwer verwundet wurde, dass er den Rest des Krieges im Lazarett verbringen musste.
Als am achten Mai 1945 die Waffen endlich schwiegen, hatte wohl jede Familie in Deutschland dem Krieg mehr oder weniger seinen Tribut gezollt. Die Leiden für den Großteil der Bevölkerung waren jedoch noch nicht vorüber. Viele Menschen waren obdachlos und fast alle mussten hungern. Theres und Matthes waren sich dessen bewusst, dass sie es bei allem noch gut getroffen hatten, wenn man davon absah, dass zwei ihrer Söhne gefallen waren und einer als vermisst galt.
Aber ihr Hof war heil geblieben. Sie hatten gesundes Vieh im Stall, und die älteren Töchter waren geschickt und kräftig genug, um mit dem Vater die Felder zu bestellen. So hatten sie immer genug zu essen trotz der hohen Abgaben, die sie zuerst der Naziregierung und später den Militärbehörden leisten mussten. Es war immer möglich, ein Schwein schwarz zu schlachten und mehr Eier aus dem Nest zu nehmen, als angegeben wurden.
Über all diesen Sorgen und Nöten hatte Theres ihr Gott gegebenes Versprechen nicht vergessen. Schon frühzeitig betete sie mit der kleinen Klara und erzählte ihr von Gottes Liebe.
Klärchen war ein fröhliches aufgewecktes Kind und hörte der Mutter gerne zu. Für ihren sechsten Geburtstag hatte die Mutter eine besondere Überraschung geplant. Sie putzte sich und das Kind fein heraus und füllte einen bauchigen Weidenkorb mit Lebensmitteln. Dann fuhr sie mit dem Kind nach Trier. Da es ein heißer Augusttag war, schwitzte sie in ihrem Sonntagsstaat ganz schön, als sie auf den Petrisberg hinaufstiegen. Sie läutete an der Pforte und wurde von einer jungen Schwester eingelassen.
Die Augen der Schwester leuchteten, als ihr die Bäuerin den wohlgefüllten Korb überreichte. Der enthielt Köstlichkeiten, welche die Schwestern schon lange nicht mehr gesehen hatten. Ebenso wie die Schwestern lebten alle Menschen in dieser Zeit nur von dem, was es auf Lebensmittelkarten gab. Da die Rationen so knapp bemessen waren, dass man kaum davon satt wurde, fielen auch vonseiten der Wohltäter die Sachspenden äußerst mager aus. Dabei hatte man gerade jetzt zahlreiche Anliegen, die man bei den Klarissen vorbrachte.
Die Schwester zog sich in den Teil des Klosters zurück, der von Fremden nicht betreten werden durfte, um den Korb zu entleeren. Theres stieg unterdessen mit Klärchen die Treppe hinauf zur Kapelle.
Während die Mutter inbrünstig für die glückliche Heimkehr ihres Sohnes Peter betete, schaute sich das Kind erstaunt in der schlichten Kapelle um. Es gab keinen so prächtigen Hochaltar wie in ihrer Pfarrkirche. Sie vermisste die bunten Malereien an Decke und Wänden und die vielen farbenfrohen Heiligenfiguren, die sie von ihrer Heimatkirche her kannte.
„Warum haben die es hier für den lieben Gott nicht so schön gemacht?“, fragte die Kleine, als die Mutter endlich aufblickte. „Haben sie ihn nicht lieb?“
„Doch, doch, Klärchen. Sie haben ihn sogar besonders lieb. Das muss man aber nicht in äußerem Prunk zeigen. Weißt du, diese Schwestern sind ganz arm. Sie können es sich nicht leisten, ihre Kapelle prächtig auszustatten. Es ist auch nicht nötig, dass sie Gott auf diese Weise verehren. Sie tun es durch ihr Gebet. Jeden Tag haben sie in dieser Kapelle eine heilige Messe und treffen sich hier mehrmals zum Chorgebet. Dazwischen arbeiten sie im Garten oder im Haus, wobei jede für sich leise betet.“
„Aber das geht doch nicht“, zweifelte das Kind die Worte der Mutter an. „Dann können die Schwestern ja nicht miteinander reden.“
„Das sollen sie ja auch nicht. Ja, das wollen sie noch nicht einmal. Weißt du, wer viel redet, der sündigt auch viel. Das meiste, was die Menschen miteinander zu reden haben, ist doch, über andere Leute herzuziehen. Du glaubst gar nicht, wie viel Unheil in die Welt kommt durch das Geschwätz der Menschen. Deshalb haben sich die Schwestern vorgenommen, nicht miteinander zu reden, sondern Gott unentwegt zu loben, ihm zu danken und ihn für die Anliegen der Menschen zu bitten. Siehst du, während die Schwestern beten und arbeiten, haben sie gar keine Zeit zum Sündigen.“
Natürlich verstand das Kind nicht alles, was die Mutter gesagt hatte. Viele ihrer Worte nahm es jedoch in sein Herz auf.
Mutter und Tochter begaben sich wieder nach unten ins Pfortenzimmer, wo die Schwester sie bereits mit dem leeren Korb erwartete.
„Ich habe auch noch ein paar Anliegen, Schwester“, sagte die Mutter. „Die möchte ich Ihrem frommen Gebet empfehlen. Zunächst aber habe ich zu danken. Ich möchte dafür danken, dass mein Mann nicht mehr eingezogen worden ist. So konnten wir doch unseren Hof einigermaßen weiter bewirtschaften. Zwei Söhne hat uns der Krieg allerdings abverlangt. Schließen Sie diese bitte in Ihr Gebet ein, damit sie die ewige Ruhe finden. Dann habe ich noch etwas Besonderes auf dem Herzen, unseren dritten Sohn, den Peter. Wir wissen nur, dass er im März verwundet worden ist. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Beten Sie für seine glückliche Heimkehr.“
Die Schwester versprach es.
Bevor Mutter und Tochter den Heimweg antraten, führte Theres ihr Kind an eine Stelle des Petrisberges, von der aus man einen herrlichen Blick über Trier hat. Sie deutete auf die Stadt zu ihren Füßen und schwärmte: „Sieh nur, Klärchen, in dieser schönen Stadt bist du geboren als einziges von unseren Kindern. So Gott will, wirst du dich ein Leben lang an dieser schönen Aussicht erfreuen dürfen.“
Diese Worte verstand die Kleine zwar nicht, aber sie ließ begeistert ihre Blicke schweifen und rief: „Oh, so viele Häuser gibt es hier! Und so viele Kirchen!“
Anfang September wurde Klara eingeschult. Sie war eine begabte und fleißige Schülerin. Noch ehe ihr der Lehrer der einklassigen Schule alle Buchstaben beigebracht hatte, konnte sie fließend lesen. Ihre Schwester Agnes, anderthalb Jahre älter als sie, saß bereits in der zweiten Klasse und hatte ihr die fehlenden Buchstaben beigebracht. Klaras Wissensdurst war grenzenlos. Bald war nichts Gedrucktes mehr vor ihr sicher. Deshalb beschloss die Mutter, diese Neigung in die richtigen Bahnen zu lenken. Alle vier Wochen fuhr sie sonntags mit der Kutsche nach Neuerburg zur Kirche. Dort gab es nämlich die Borromäus-Bücherei, die sie nach der Messe aufsuchte. Jedes Mal entlieh sie für ihre wissbegierige Tochter einen ganzen Stapel Bücher: Heiligenlegenden, Lebensbeschreibungen von Heiligen und Bücher über Klosterfrauen.
So eignete sich das Kind ein für sein Alter erstaunlich großes – wenn auch einseitiges – Wissen an.
Für Klara bestand kein Zweifel, ihre Gebete waren von Gott erhört worden, wenn er auch lange dazu gebraucht hatte. Denn zwei Jahre, nachdem sie mit der Mutter auf dem Petrisberg gewesen war, stand Bruder Peter plötzlich vor der Tür. Das Auto, das immer die Milchkannen abholte und in die Stadt brachte, hatte ihn abgesetzt. Die Freude bei den Eltern war groß. Sie umarmten Peter immer wieder und Freudentränen liefen ihnen die Wangen hinunter. Sie nahmen keinen Anstoß daran, dass er sich lediglich auf zwei Krücken fortbewegen konnte.
Nur Klara ging staunend um ihn herum und wollte wissen, warum sein eines Hosenbein so merkwürdig hochgeschlagen war. Da war es um Peters Fassung geschehen. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und weinte haltlos. Erschrocken lief Klara zur Mutter und klammerte sich an ihre Schürze.
„Weine nicht, Peter“, begütigte ihn die Mutter, indem sie ihm über den Kopf strich. „Die Hauptsache ist, dass du lebst und dass du wieder zu Hause bist.“
„Mutter hat recht“, stimmte der wortkarge Vater zu. Aber Peter wollte sich nicht trösten lassen. Das ganze Unglück des Krieges, das über ihn gekommen war, alles seelische und körperliche Leid, brachen sich nun Bahn und mussten aus ihm heraus.
Es dauerte lange, bis er sich so weit gefasst hatte, dass er am Abendessen im Kreise der Familie teilnehmen konnte. Es dauerte viele Tage und Wochen, bis er es fertigbrachte, über seine Kriegserlebnisse und seine Zeit in der französischen Kriegsgefangenschaft zu reden. Gespannt lauschte Klara seinen Berichten und wich nicht von seiner Seite. So wurde sie in den folgenden Wochen und Monaten sein guter Engel. Denn immer wieder verfiel er in Depressionen, weinte oder fluchte, weil das Schicksal ihm dies angetan hatte. Er sei nun ein wertloser Krüppel, er sei zu nichts nütze und allen nur eine Last, behauptete er oft.
„Hätte mich die Granate doch nur völlig zerrissen, dann hätte ich jetzt meine Ruhe und ihr wäret mich los“, suhlte er sich immer wieder in Selbstmitleid. „Mit dem einen Bein kann ich ja weder den Hof übernehmen noch ein Handwerk erlernen.“
In diesen Tagen war es, dass Theres viel seufzte und viel betete. Und auch Klara betete viel. Vor allem aber setzte sie sich immer wieder neben ihren großen Bruder, während die anderen Geschwister die Flucht ergriffen. Sie konnten seine Niedergeschlagenheit nicht länger ertragen. Klara aber legte ihre Hand auf Peters gesundes Bein und auf einen seiner Unterarme und schwieg. Sie saß nur da, um ihm zu zeigen: Du bist nicht allein. Ich hab dich lieb. Ich bin für dich da.
Mit der Zeit wurde er tatsächlich ruhiger und begann, sich mit Klara zu unterhalten. Sie erzählte von der Schule, von ihren Freundinnen und dass sie sich auf den bald beginnenden Kommunionunterricht freue.
Später erzählte sie ihm immer wieder, was sie dort Neues über den lieben Gott gelernt hatte. Meist hörte Peter schweigend zu. Eines Tages aber platzte er heraus: „Das ist doch alles Kappes, das mit deinem lieben Gott. Wenn es ihn wirklich gäbe, dann hätte er das nicht zugelassen, was mir passiert ist.“
Die Kleine schaute ihn so entsetzt an, dass er seine Worte sofort bereute. Ehe er aber noch etwas Entschuldigendes hervorbringen konnte, legte sie los: „Ich will dir mal was sagen, Peter. Du hast im Krieg ein Bein verloren. Das ist schlimm für dich. Was aber noch viel schlimmer ist, du hast auch Gott verloren. Seit du zu Hause bist, hast du immer nur über ihn geschimpft. Dabei solltest du ihm lieber danken, weil du wieder nach Hause gekommen bist. Seit du wieder daheim bist, bist du noch kein einziges Mal in der Kirche gewesen. Deshalb werde ich beten, dass du Gott wiederfindest.“
„Und du glaubst, das nützt was?“, fragte er halb spöttisch, halb erwartungsvoll.
„Natürlich nützt das was“, ereiferte sich das Kind. „Die Mutter, die Schwestern im Kloster und ich haben gebetet, dass du vom Krieg wieder nach Hause kommst. Und du bist wiedergekommen. Da siehst du doch, dass Beten was nützt. Wenn ich jetzt ganz fest dafür bete, dass du Gott wiederfindest, dann findest du ihn wieder.“ „Na ja, schaden wird es jedenfalls nicht“, sagte er versöhnlich.
Als er abends in seinem Bette lag, gingen ihm die Worte seiner Schwester immer wieder durch den Kopf. Es rührte ihn so sehr, dass sie für ihn beten wollte und dass sie an ihre Gebete glaubte, dass er dachte, er könnte es auch mal wieder versuchen. Schaden kann es ja wirklich nicht. – Und er betete.
Am Morgen des Weißen Sonntags, des Sonntags nach Ostern, verkündete Peter, er werde mit zur Kirche gehen. Während alle Familienmitglieder das staunend zur Kenntnis nahmen, zwinkerten Peter und Klara sich zu. Sie brauchten sich nichts zu erklären, sie verstanden sich auch so. An diesem Tag gab es kein glücklicheres Kommunionkind als Klara. Und Peter war so stolz auf sie, als wäre sie seine eigene Tochter.
Wenige Tage später erhielt Peter ein Schreiben vom Fürsorgeamt. Er möge sich vorstellen, damit man die Anfertigung einer Beinprothese veranlassen könne. Das machte ihm neuen Mut.
Wochen später bekam er die Prothese. Es dauerte einige Tage, bis er sich daran gewöhnt hatte. Als er endlich wieder ohne Krücken gehen konnte, wurde er selbstbewusster und zufriedener. Nun erst wagte es die Mutter, ihm einen Vorschlag zu machen, der sich auf eine Berufswahl bezog: „Es wird langsam Zeit, dass du etwas tust und dass du Geld verdienst.“
„Und wie soll ich das machen? – Mit einem Holzbein?“
„Es gibt genug sitzende Tätigkeiten. In einem Büro, zum Beispiel. Du hast doch in der Schule immer so schön geschrieben. Und auch in der Rechtschreibung warst du nicht schlecht.“
„Wie soll ich hier auf dem Lande eine Bürostelle finden?“
„Nicht hier“, meinte die Mutter. „Aber vielleicht in Bitburg oder in Trier.“
„Das ist doch viel zu weit, um jeden Tag dahin zu fahren“, wandte er ein.
„Das sollst du doch gar nicht. Du musst dir eben in Bitburg oder in Trier ein Zimmer nehmen.“
„Und wer soll sich um mich kümmern? Für mich kochen und meine Wäsche machen?“
„Es gibt genug Kriegerwitwen, die gerne einen möblierten Herrn aufnehmen, um sich ein paar Mark zu verdienen.“
„Was? Bei wildfremden Menschen soll ich wohnen?“
„Stell dich nicht an. Du wirst dich schnell an eine Zimmerwirtin gewöhnen. Und wer weiß, vielleicht findest du auf diese Weise sogar eine Frau.“
„Mich wird keine wollen“, sagte er resignierend.
„Sag das nicht. Ich habe schon öfters Frauen gesehen, die einen beinamputierten Mann haben.“
„Es ist nicht nur das“, brachte Peter verbittert hervor. „Der Krieg hat mir mehr weggeschossen als nur das Bein. Ich bin kein richtiger Mann mehr.“
„O nein“, rief die Mutter aus. Erst jetzt wurde ihr das ganze Ausmaß seines Leidens klar, und seine Verbitterung wurde ihr verständlich.
Klara, die bei dem ganzen Gespräch stumm dabeigesessen hatte, verstand seine Worte nicht. Instinktiv aber empfand sie, dass er wieder drohte in ein tiefes Loch zu fallen. Sie musste etwas sagen, das ihn auf andere Gedanken brachte.
„Wenn du in einem Büro arbeitest, verdienst du vielleicht eines Tages so viel Geld, dass du dir ein Auto leisten kannst“, zwitscherte sie betont fröhlich. „Damit kannst du uns dann immer besuchen.“
„Die Idee ist gar nicht schlecht, du kleiner Naseweis!“ Dabei konnte er schon wieder lächeln und tippte seiner Schwester mit dem Zeigefinger auf die Nase.
Am folgenden Samstag studierte Peter aufmerksam die Stellenangebote. Er fand tatsächlich etwas, das ihm geeignet erschien. Sorgfältig setzte er ein Bewerbungsschreiben auf und fügte eine Abschrift seines letzten Schulzeugnisses bei.
Nach wenigen Tagen schon bat man ihn zu einem Vorstellungsgespräch. Da er sich in Trier nicht auskannte und da er sich mit seiner Prothese noch etwas unsicher fühlte, bat er seine Mutter, ihn zu begleiten.
Wenn ich schon mal nach Trier fahre, dachte sie, dann kann ich Klara gleich mitnehmen. Es wird meinem Vorhaben nur förderlich sein, wenn ich sie mal wieder auf den Petrisberg führe. Auch ist es an der Zeit, mich für Peters glückliche Heimkehr zu bedanken und den Schwestern mal wieder eine Freude zu machen.
Mindestens genauso voll wie ihr Gabenkorb war der Korb mit ihren Anliegen. Bei einer so stattlichen Kinderzahl blieben die Probleme nicht aus.
Damit Theres den schweren Korb nicht durch die ganze Stadt schleppen musste, begab sie sich gleich nach ihrer Ankunft mit dem Kind auf den Petrisberg. Weil sie Peter den anstrengenden Weg nicht zumuten wollte, ließ sie ihn im Wartesaal des Bahnhofs zurück.
Die Schwester an der Pforte kannte sie mittlerweile schon. Sie freute sich über die guten Gaben und enteilte damit zur Vorratskammer. Theres stieg unterdessen mit Klara wieder hinauf zur Kapelle, um zu beten. Als sie bei der Schwester ihren leeren Korb abholte, vertraute ihr Theres wieder alle ihre Sorgen an. Besonders für Peter sollten sie beten, damit er seinen Weg mache.
Mutter und Tochter holten Peter am Bahnhof ab und suchten mit ihm das Büro auf, in dem er sich vorstellen sollte. Bereits nach einem kurzen Gespräch erhielt er eine Zusage. Wenn es ihm möglich wäre, könne er schon zum 1. Juli anfangen. Möglich wäre ihm das schon, nur habe er in Trier noch keine Bleibe.
Er kenne da eine Kriegerwitwe, die möblierte Zimmer vermiete, sagte der zukünftige Chef. Also begaben sich die Mutter, Peter und Klara umgehend dorthin. Das Zimmer gefiel Peter. Es lag günstig zu seiner Arbeitsstelle und war nicht allzu teuer. Sogar seine Mahlzeiten konnte er dort einnehmen, und die Wäsche wollte die Frau auch machen. Theres war äußerst erleichtert, weil ihr Sorgenkind so gut unterkam. Glücklich kehrten die drei Menschen zurück in die Eifel.
Vierzehn Tage später packte die Mutter Peters Koffer. Auch einen Korb voll Lebensmittel stellte sie für ihn zusammen. Da er jedoch keine schweren Lasten tragen konnte, sollte ihn sein achtzehnjähriger Bruder Michel begleiten. Bevor die beiden Brüder das Haus verließen, reichte Peter jedem die Hand und jeder gab ihm gute Wünsche mit auf den Weg. Als Letzte war Klara an der Reihe.
„Ich danke dir“, flüsterte er ihr zu. „Durch dich habe ich meinen Lebensmut wiedergefunden – und meinen Gott.“ Da strahlte das kleine Mädchen über das ganze Gesicht und flüsterte zurück: „Siehst du, er hilft immer.“
Kurz bevor Klara ihr viertes Volksschuljahr beendet hatte, sprach der Lehrer die Mutter auf dem Weg zur Kirche an: „Frau Winkler, Ihre Klara ist außerordentlich begabt. Sie hätte das Zeug dazu, ein Gymnasium zu besuchen und später zu studieren. Es ist ein Jammer, dass das nächste Gymnasium so weit entfernt ist.“ „Das macht gar nichts“, entgegnete Theres. „Wir haben andere Pläne mit ihr.“
Auf dem Winklerhof wurde es immer stiller. Noch bevor Klara sechzehn wurde, hatten die meisten der Geschwister das Elternhaus verlassen. Die älteste Tochter, Theres, hatte schon vor dem Krieg den Beruf einer Krankenschwester erlernt. Bald nach Kriegsende war sie in einen Pflegerorden eingetreten.
Anna und Maria hatten auf Höfen in der Umgebung eingeheiratet. Paul, von klein auf an allen technischen Dingen interessiert, hatte den Beruf eines Kraftfahrzeugmechanikers erlernt und arbeitete in einer Werkstatt in Bitburg. Hedwig war in einem Kölner Haushalt in Stellung, und Fritz verdiente sich sein Brot als Lastwagenfahrer. Michel hatte sich zu einem tüchtigen Landwirt entwickelt. Er nahm dem Vater immer mehr Aufgaben ab. Deshalb erwog dieser, ihm den Hof schon bald zu übergeben und sich aufs Altenteil zu setzen. Jupp würde wohl ein Leben lang als Knecht bei seinem Bruder bleiben. Er war geistig beeinträchtigt, hatte keine eigenen Wünsche und stellte ans Leben keine Ansprüche. Da er anstellig und liebenswürdig war, kam jeder gut mit ihm aus.
Seit die Großen aus dem Haus waren, mussten Klara und Agnes genau wie die Söhne bei allen Feld- und Stallarbeiten zupacken. Daneben unterwies Theres – wie sie das bei all ihren Töchtern getan hatte – auch die beiden jüngsten in allen hausfraulichen Tätigkeiten. Bei Klara tat sie dies im Hinblick auf das spätere Klosterleben, und Agnes wollte sie sich als Stütze für das eigene Alter heranziehen. Man konnte ja nicht wissen, wie die Schwiegertochter ausfallen würde. Deshalb sah sie es höchst ungern, dass Agnes eines Tages den Wunsch äußerte, mit ihrer Freundin im Nachbardorf den Kirmestanz zu besuchen. Theres fürchtete, die Tochter könne Geschmack an Männern finden und ihr eines Tages weggeheiratet werden. Sie wollte ihr das Tanzvergnügen jedoch nicht rundweg verbieten. Das hätte Agnes nur unzufrieden und womöglich trotzig gemacht.
Also gab sie dem inständigen Bitten der Tochter nach, nicht ohne sie vorher vor der Schlechtigkeit der Männer zu warnen: „Tanzen gehen kannst du ja. Aber drück dich mit keinem in dunklen Ecken und Winkeln herum. Und vor allem lass dich von keinem nach Hause bringen! Sonst sitzt du nachher mit einem unehelichen Balg da, und er macht sich aus dem Staub.“
Um aber ganz sicherzugehen, dass Agnes nicht die mütterlichen Gebote übertrete, schickte Theres den großen Bruder Michel als Aufpasser mit. Für Michel war es sowieso gut, dass er mal rauskam. Er schaffte zu viel. Auch wurde es Zeit, dass er sich mit seinen fünfundzwanzig Jahren nach einer Braut umsah. Schließlich sollte er den Hof übernehmen und musste rechtzeitig für einen Erben sorgen.
Noch entsetzter war die Mutter allerdings, als im Jahr darauf auch Klara den Wunsch äußerte, auf die Tanzmusik zu gehen. Da es sich bei dieser Veranstaltung um die Kirmes im eigenen Dorf handelte, verstand Klara das Nein der Mutter überhaupt nicht und opponierte: „Agnes durfte mit siebzehn Jahren auch schon zum Tanzen gehen. Warum willst du es mir jetzt verbieten?“
Da hielt Theres den Zeitpunkt für gekommen, die Tochter über ihr 1939 gegebenes Gelübde aufzuklären.
„Aber Mutter, davon wusste ich ja gar nichts. Warum hast du mir das nie gesagt?“
Betreten antwortete Theres: „Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens solltest du eine unbeschwerte Kindheit haben. Zweitens wollte ich warten, bis du verständiger geworden bist, und drittens hoffte ich insgeheim, du würdest eines Tages von dir aus diesen Wunsch äußern. Deshalb habe ich dich all die Jahre behutsam in diese Richtung geführt.“
Da fiel es Klara wie Schuppen von den Augen: „Hast du mir deshalb all die Heiligengeschichten in die Hand gedrückt? Hast du mich deshalb immer wieder mitgenommen zum Kloster Sankt Klara?“ Theres nickte.
„Und du warst überzeugt davon, das reicht, um mich auf diesen Weg zu bringen?“
„Das allein nicht. Ich habe auch viel dafür gebetet und werde es weiterhin tun.“
„Mutter, ich verstehe ja, dass du damals in deiner Not dieses Versprechen gegeben hast. Aber du musst auch mich verstehen. Ich bin jung. Ich bin lebenshungrig. Ich will das Leben kennenlernen und mich nicht in einem Kloster einsperren lassen.“
„Was heißt einsperren?“, begehrte Theres auf. „Jeder Mensch ist irgendwo eingesperrt, eingesperrt in den engen Grenzen, die ihm das Leben steckt. Ich bin eingesperrt auf diesem Hof und habe nichts als Arbeit den ganzen Tag. Aber ich bin zufrieden mit meinem Los. Das allein zählt. Man muss an dem Platz, wo einen das Leben hinstellt, sein Bestes geben. Sieh, Klara, wenn man so will, ist dein Bruder Paul auch eingesperrt in seiner Werkstatt und dein Bruder Fritz in seinem Lastwagen.“
„Die haben sich ihren Weg aber selbst ausgesucht und das möchte ich auch.“
„Sieh mal, Klara“, versuchte es die Mutter im Guten. „Ein Kloster ist doch kein Gefängnis. Ich stelle mir das sehr schön dort vor. All die frommen Frauen im Gebet vereint. Sie haben keine Alltagssorgen, keine Last mit den Kindern, keine Probleme mit einem Ehemann. Sie tun so viel Gutes für ihre Mitmenschen. Sie sind dem Himmel schon ein Stück näher.“
„Mir scheint es, Mutter, du wärst die ideale Klosterschwester geworden.“
„Wer weiß? Vielleicht. Aber niemand hat mich auf diesen Weg gebracht. Und jetzt ist es zu spät dazu. Du solltest mir also dankbar sein, dass ich dir rechtzeitig den Weg weise.“
„Ja, dafür danke ich dir auch. Aber nicht für jeden ist jeder Weg richtig. Ich fühle mich einfach nicht zu so einem Leben berufen.“ „Ach, was redest du daher“, wurde Theres nun barsch. „Du bist noch viel zu jung dazu, um das zu begreifen. Schau, deine Schwester Theres ist sogar ins Kloster gegangen, ohne dass ich sie hingeführt hätte, ohne dass ich dafür gebetet habe.“
Das war ein wunderbarer Anknüpfungspunkt für Klara. Damit hatte ihr die Mutter einen Ball zugespielt, den sie begeistert auffing. Ihr war nämlich daran gelegen, die Harmonie mit der Mutter zu erhalten. Sie war zu Gehorsam erzogen und im Respekt gegen die Eltern. Nur wenn es darum ging, ihre eigenen Interessen zu wahren, würde sie notfalls Nein sagen. Das brauchte sie aber nun nicht. „Vielleicht hat Gott ja Theres an meiner Stelle berufen.“ Damit kam sie aber bei ihrer Mutter schlecht an.
„Red doch keinen Kappes. Es war nicht Theres, die ich dem Herrn versprochen habe, das warst eindeutig du. Bei deiner Geburt ging es für uns beide um Leben und Tod. Deswegen legte ich dieses Gelübde ab. Er hat seinen Teil der Abmachung eingehalten, jetzt bin ich dran.“ Irgendwie leuchteten Klara die Worte der Mutter ein. Dennoch, irgendetwas stimmte bei dieser Abmachung nicht. Sie war nur zu jung und zu unerfahren, um das begreifen zu können. Sie fühlte sich wie in einer Zwickmühle. Erwies sie der Mutter den geforderten Gehorsam, so beging sie Verrat an sich selbst. Vertrat sie jedoch ihre eigenen Interessen, so konnte das den Bruch mit der Mutter für alle Zeiten bedeuten.
Plötzlich kam ihr die rettende Idee: Sie musste die Mutter mit deren eigenen Waffen schlagen. Vielleicht holte sie damit keinen Sieg heraus, ein Aufschub aber war möglich. Das würde ihr fürs Erste genügen.
„Mutter“, begann sie einschmeichelnd. „Du hast vorhin gesagt, ich sei noch viel zu jung, um das alles zu begreifen.“
„Natürlich bist du das“, haute Theres begeistert in diese Kerbe, nicht ahnend, dass sie damit den Wünschen der Tochter Vorschub leistete.
„Siehst du, Mutter, das sehe ich ein. Darum wollen wir mit einer Entscheidung warten, bis ich älter geworden bin. Vielleicht kommt dann die Berufung von ganz allein. Du hast dem lieben Gott doch nicht gesagt, in welchem Alter du mich ins Kloster schicken willst?“ „Nein, das natürlich nicht.“
„Na also. Dann habe ich ja noch Zeit. Dann lass mich jetzt einfach zum Tanzen gehen. Später kann ich dann immer noch ins Kloster eintreten.“ „So einfach ist das auch nicht“, widersprach die Mutter.
„Wenn du erst mal Blut geleckt hast, wirst du nachher nicht mehr wollen.“
Klara überlegte, welche Argumente sie dagegensetzen konnte. Ihr kam wieder eine Idee: „Mutter, wenn ich ins Kloster gehe, ohne je beim Tanzen gewesen zu sein, würde ich denken, ich hätte was versäumt. Dann würde ich mich immer danach sehnen und würde bestimmt eine unzufriedene Klosterschwester. Lass mich also auf jeden Fall ausprobieren, wie das ist beim Tanzen.“
Während Theres noch bedenklich ihren Kopf hin und her wiegte, bearbeitete Klara sie weiter: „Du bist doch früher auch gern zum Tanzen gegangen. Und irgendwann hattest du keine Lust mehr dazu.“
„Nein, nein“, wehrte die Mutter ab. „So kann man das nicht sagen. Lust zum Tanzen hätte ich immer noch gehabt. Nur war mir das nicht mehr möglich. Entweder war ich guter Hoffnung oder ich hatte einen Säugling zu versorgen. Und nachher, als ich einen Stall voll Kinder hatte, blieb mir keine Zeit mehr dazu.“
So kam sie nicht weiter, das sah Klara ein. Angestrengt überlegte sie, welches Geschütz sie noch auffahren könne. Da kam ihr wieder ihre Schwester Theres zu Hilfe.
„Mutter, ist es nicht so, dass Theres früher auch zum Tanzen gegangen ist?“
Die Mutter nickte. „Na, siehst du. Das Tanzen hat ihrer Berufung nicht geschadet. Im Gegenteil. Dadurch, dass sie das Weltliche erst kennengelernt hatte, fiel es ihr leicht, darauf zu verzichten. Sieh, Mutter, du brauchst die Hoffnung nicht aufzugeben. Wahrscheinlich kommt meine Berufung noch, wenn ich älter geworden bin. Bei Theres ist sie auch erst gekommen, als sie bereits fünfundzwanzig war.“
Diesem Argument konnte die Mutter nichts mehr entgegensetzen. Also ließ sie Klara ebenfalls zum Tanze ziehen, wenn auch schweren Herzens. Sie tat es aber nicht, ohne auch sie vor den Männern zu warnen und sie der Aufsicht Michels zu unterstellen.
Wohlgemut gingen die Mädchen also am Samstagabend mit ihrem großen Bruder zum Tanzsaal. Als sie anderntags ganz begeistert und völlig unbefangen von ihren Tanzerlebnissen berichteten, zerstreuten sich die Bedenken der Mutter.
Deshalb durften die beiden Schwestern bei sich bietenden weiteren Gelegenheiten wieder zur Musik gehen. Die Stallarbeit musste allerdings vorher ordentlich erledigt sein. Auf der dritten oder vierten Veranstaltung dieser Art nahm Klara freudig zur Kenntnis, dass sich ein gut aussehender Mann in ihre Nähe drängte. Er war ihr auf den vorhergehenden Festen bereits angenehm aufgefallen. Er war groß und breitschultrig, er hatte gut geschnittene braune Haare und ein wettergebräuntes Gesicht. Er zeigte ein offenes Lachen, als er Klara zum Tanz aufforderte. An seinen Äußerungen merkte sie, dass er offensichtlich schon Erkundigungen über sie eingezogen hatte. Deshalb fragte sie unbefangen nach seinem Namen, seinem Wohnort und seiner Familie.
Er heiße Jakob Fandel, sei neunundzwanzig Jahre alt und stamme aus einem Nachbardorf. Als Hoferbe sei er auf der Suche nach einer Frau, die bei ihm einheiraten wolle.
Es gefiel Klara, dass er das so offen darlegte. Deshalb erzählte sie ihm über ihre Familie das, was er noch nicht wusste. Was sie allerdings verschwieg, war die Tatsache, dass ihre Mutter sie fürs Kloster vorgesehen hatte. Sie erwähnte auch nicht, dass sie nur deshalb noch auf freiem Fuß war, weil sie die Welt ein bisschen kennenlernen wollte, ehe sie hinter Klostermauern verschwand. Jakob gefiel das hübsche braunhaarige Mädchen mit dem frischen Gesicht. Das zeigte er unverhohlen. Klara ihrerseits fand Gefallen an seiner Werbung. Nur als er ein Treffen mit ihr ausmachen wollte, lehnte sie ab: „Das wollen wir lieber dem Zufall überlassen. Irgendwo in der Nachbarschaft ist immer eine Kirmes.“
Damit gab er sich zufrieden.
Und wirklich, auf der nächsten Kirmes sah man sich wieder. Man tanzte so oft miteinander, dass es Michel und Agnes eigentlich hätte auffallen müssen. Diese beiden waren jedoch so sehr mit eigenen Liebesdingen beschäftigt, dass keines Augen für seine Geschwister hatte.
Der junge Mann war Klara inzwischen mehr als sympathisch. Sie genoss es, dass er ihr immer eifriger den Hof machte. Von da aus war das nur noch ein kleiner Schritt, dass sie sich allen Ernstes in ihn verliebte. Als er sie jedoch in der Nacht nach Hause begleiten wollte, lehnte sie dankend ab.
Sie sei mit ihren Geschwistern gekommen und müsse auch mit diesen heimgehen. Andernfalls gäbe es ein Donnerwetter zu Hause und sie dürfe nie wieder zur Tanzmusik gehen. Jakob zeigte sich einsichtig. Dieses Risiko wollte er keinesfalls eingehen.
So blieb es dabei, dass man sich weiterhin nur zufällig begegnete und dass Klara immer in Begleitung von Bruder und Schwester heimging.
Als man sich bereits ein Jahr lang kannte, drängte Jakob auf ein Rendezvous. Zu seiner Überraschung war Klara gar nicht abgeneigt. Sie gab lediglich zu bedenken, dass ihre Mutter sehr streng sei und das keinesfalls erlauben werde. Deshalb müsse man sehr vorsichtig zu Werke gehen. Er solle bitte so lange warten, bis sie mit ihrer Freundin Gertrud gesprochen habe. Und weg war sie.
Trotz des Getümmels im Festsaal fand Klara diese schnell. Gertrud war nicht nur bereit, das Spielchen mitzumachen, sie war sogar davon begeistert. Denn auch sie hatte jemanden kennengelernt, mit dem sie sich heimlich treffen wollte. So machte man denn aus, Gertrud solle Klara am Sonntagnachmittag zu einem Spaziergang abholen. Am Ortsausgang würden sich ihre Wege trennen, und am Abend, kurz bevor man zum Melken zurück sein musste, wollte man sich wieder treffen. Klara würde dann die Freundin nach Hause begleiten, um auch deren Eltern von der Harmlosigkeit des Sonntagsausflugs zu überzeugen.
Beim ersten Stelldichein wartete Jakob bereits ungeduldig an der Wegkreuzung. Strahlend kam Klara auf ihn zu. Wie selbstverständlich hakte sie sich bei ihm ein und ging mit ihm in Richtung Wald. Sie machten einen ausgedehnten Spaziergang, bei dem sie sich lebhaft unterhielten. Egal, welches Thema sie anschnitten, sie verstanden sich ausgezeichnet. Deshalb war es Klara gar nicht unangenehm, als Jakob plötzlich stehen blieb und sie in seine Arme zog.
Wie im Kino, dachte sie, als er seine vollen warmen Lippen auf die ihren drückte. Das war für sie ein ungekanntes, ein berauschendes Gefühl. Diesem überließ sie sich für eine kurze Ewigkeit.
Es gelang ihr gerade noch, den Verstand einzuschalten, ehe mehr daraus wurde. Sie wand sich aus seinen Armen und mahnte überstürzt zum Aufbruch.
So war sie lange vor der ausgemachten Zeit wieder am Ortseingang. Es schien ihr, als sei Jakob etwas verstimmt, als sie wartend auf und ab gingen. Deshalb atmete sie auf, als auch die Freundin etwas zu früh am verabredeten Ort erschien.
Dieses Unternehmen hatte so vorzüglich geklappt, dass die beiden Mädchen eine Wiederholung ins Auge fassten. Klara war sehr erleichtert, dass ihr Jakob bei der nächsten Kirmes genauso liebenswürdig begegnete wie vorher. Er sagte freudig zu, als das Mädchen ein neues Treffen vorschlug.
Klara war mittlerweile so in Jakob verliebt, dass sie die Pläne der Mutter vergaß. Das heißt, so ganz vergaß sie diese nicht. Aber immer wenn sie daran dachte, wischte sie diese Gedanken weg mit den Worten: „Ach, was geht mich das an, was Mutter versprochen hat. Es ist mein Leben und ich muss tun, was ich für richtig halte.“
Es dauerte nicht lange, da wollte es Jakob nicht mehr bei Küssen und Liebkosen bewenden lassen. Sein Werben wurde drängender und eindeutiger. Klara wies ihn in die Schranken: „Ach geh, Jakob. Jetzt noch nicht. Wir sollten warten, bis ich älter bin.“
„Du liebst mich nicht richtig“, beschwerte er sich. „Wenn du mich richtig lieben würdest, würdest du es auch wollen.“
„Rede doch keinen solchen Unsinn, Jakob!“, wies sie ihn zurecht. „Gerade weil ich dich liebe, will ich noch warten. Ich möchte dich nicht in eine Situation bringen, dass du mich heiraten musst. Ich möchte eines Tages deine Frau werden ohne Zwang. Freiwillig. Aus Liebe.“
Eine Zeit lang gab er daraufhin Ruhe. Bei einem der nächsten Treffen fing er aber wieder davon an. Doch Klara blieb standhaft. Dennoch stand eines für sie fest: Ins Kloster wollte sie auf keinen Fall. Selbst wenn die Mutter sich auf den Kopf stellte. Notfalls würde sie es auf einen Bruch mit ihr ankommen lassen. Sie war sich nun ganz sicher: Sie wollte heiraten und Kinder kriegen. Sie wollte den Jakob heiraten und sonst keinen. Und das möglichst bald.
Er ließ ihr nämlich keine Ruhe. Von Mal zu Mal fiel es ihr schwerer, Nein zu sagen. Denn auch in ihr drängte ihm alles entgegen. Sie liebte ihn über alles und er war dieser Liebe auch wert. Das fühlte sie. Denn abgesehen von seiner Ungeduld war er ein ordentlicher und tüchtiger Mensch. Auf den konnte man sich bestimmt verlassen.
Was ebenfalls nicht zu verachten war, er besaß einen stattlichen Hof. So würde sie auch in finanzieller Hinsicht gut versorgt sein.
Das Einzige, was ihr noch Kopfzerbrechen machte, war: Wann und wie sollte sie es ihrer Mutter bekennen?
Denn diese hatte offensichtlich noch nichts gemerkt. Sonst hätte sie dieses Thema bestimmt zur Sprache gebracht.
Einige Wochen nach Klaras neunzehntem Geburtstag fand in einem der Nachbardörfer ein Waldfest statt. Dort traf sich die Jugend aus allen umliegenden Dörfern. Auch die beiden Schwestern besuchten es, und zwar ohne großen Bruder. Der ging schon lange nicht mehr mit. Da er inzwischen eine Frau gefunden hatte, hatte er es nicht mehr nötig, auf die Pirsch zu gehen.
Die beiden Schwestern hatten sich in der Zwischenzeit längst gegenseitig ihr Herzensgeheimnis anvertraut. Das war nicht mehr zu umgehen gewesen, da jede bei ihren Heimlichkeiten auf Hilfe angewiesen war. Sie hatten dies bedenkenlos tun können, ohne Angst zu haben, die andere würde sie verraten, da sie ja im selben Boot saßen. Von da an konnte man sich unbefangener im Tanzsaal bewegen und unbefangener seine Rendezvous planen. Auch zu Hause gaben sie sich bei Bedarf Rückendeckung.
Als Agnes und Klara auf dem Festplatz eintrafen, herrschte bereits ein reges Treiben. Auf einer Waldlichtung waren Tische und Bänke aufgestellt und innerhalb derselben eine Tribüne errichtet. Diese war rundum mit Fichtenzweigen geschmückt. Dort wurde schon eifrig das Tanzbein geschwungen.
An einer Seite des Platzes standen Buden, wo es unterschiedliche alkoholische und alkoholfreie Getränke gab. Daneben wurden aber auch kleine Imbisse angeboten, wie Würstchen mit Brötchen, belegte Brote oder Frikadellen. Sogar eine Bar gab es auf dem Platz, die schon zu früher Stunde eifrig umlagert war.
Klara fand ihren Jakob bald in der Menge und ließ sich von ihm auf die Tanzfläche führen.
Agnes hielt ebenfalls eifrig Ausschau nach ihrem Verehrer, konnte ihn aber nirgends entdecken. Sie schritt die Tischreihen auf und ab, spähte angestrengt auf die Tribüne und patrouillierte an den Ständen entlang. Da traf sie zufällig eine Klassenkameradin wieder. Sie hatten sich seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Greta war schon bald nach der Schulentlassung in einem der Nachbardörfer in Stellung gegangen. Offensichtlich bekam sie selten Ausgang, sonst hätte man sich längst mal auf einer Kirmes begegnen müssen. Man tratschte über dieses und jenes, wobei Agnes immer wieder fleißig umherspähte, ob ihr Walfred nicht bald auftauche. Nur mit halbem Ohr hörte sie den Klatschgeschichten Gretas zu. Erst als diese den Namen Walfred erwähnte, wurde Agnes hellhörig. Dieser Name war hierzulande äußerst ungebräuchlich. Sie sei hier mit ihm verabredet, plapperte Greta. Sie wundere sich, dass er noch nicht da sei. Aufs Äußerste beunruhigt, wagte Agnes einige Fragen: wie lange sie ihn schon kenne, wo sie ihn kennengelernt habe, wie oft und wo sie sich getroffen hätten.
Völlig arglos beantwortete Greta alle Fragen. Agnes jedoch wurde es bei jeder Antwort unbehaglicher zumute. Schließlich wollte sie es genau wissen: „Und wie heißt dein … dein Walfred mit Nachnamen?“ „Koster, warum?“
Da war es um Agnes' Fassung geschehen. Sie schwankte und wäre mit Sicherheit umgefallen, wenn Greta sie nicht aufgefangen hätte.
„Was hast du?“, erkundigte sich diese besorgt. Als Agnes sich etwas gefangen hatte, nannte sie den Wohnort Walfreds. Da war es an Greta, überrascht zu sein. Während Agnes nun auspackte, war es Greta, die immer blasser wurde. Auf den Schreck hin musste sie sich setzen. „Dann kann er natürlich nicht herkommen“, stellte sie fest.
„Wenn er uns beide hier anträfe, würde sein Doppelspiel ja auffliegen.“
„Womöglich hat er noch eine Dritte und ist jetzt bei ihr“, mutmaßte Agnes.
Da ging es aber los: „So ein Schwein! So ein Schuft! So ein Mistkerl! So ein Gauner! So ein Hallodri! So ein Weiberheld! So ein Casanova!“
Auf diese Weise schimpften sich die beiden Sitzengelassenen ihre Enttäuschung von der Seele. Sicher wäre das noch eine Weile so weitergegangen, wenn ihnen die Bezeichnungen für ihn nicht ausgegangen wären.
Nachdem sie so ihren Herzen Luft gemacht hatten, begaben sie sich an die Bar, um ihren Kummer zu ertränken. Jede bestellte sich einen klaren Schnaps und leerte ihn in einem Zug. Dann bestellten sie einen zweiten. Gerade als Agnes diesen hinuntergekippt hatte, tauchten Jakob und Klara neben ihr auf: „Aber Agnes, wieso trinkst du hier einen Schnaps nach dem andern? Wo ist denn Walfred?“
„Ach, der …“, antwortete sie mit wegwerfender Handbewegung. „Er ist schon nach Hause gegangen. Der hatte noch was vor.“
So als hätten sie das zuvor abgesprochen, schwieg Greta zu diesem Thema.
„Deshalb brauchst du doch nicht gleich so viel Schnaps hinunterzuschütten. Das ist bestimmt nicht gut. Komm zu uns an den Tisch.“
Dann gewahrte sie Greta, die sie ebenfalls von der Schulzeit her kannte. Sie lud auch diese ein mitzukommen.
„Wahrscheinlich haben sie sich gestritten“, raunte Klara ihrem Freund zu, während sie sich durch das Gewühl den Weg zu ihrem Platz bahnten. „Fordere sie zum nächsten Tanz auf, damit sie auf andere Gedanken kommt.“
Das tat er dann auch, und die leicht beschwipste Agnes folgte ihm willig. Klara kam gar nicht dazu, mit Greta ein Gespräch anzufangen. Denn sogleich steuerten zwei Burschen auf sie beide zu und baten zum Tanz.
In der Tanzpause gesellte sich auch Gertrud mit ihrem Franz an ihren Tisch. Man lachte, man trank, man erzählte amüsante Geschichten und war guter Dinge.
Mitternacht war längst überschritten, da mahnte Klara ihre Schwester zum Aufbruch.
„Ach was“, lallte diese mit schwerer Zunge. „Ich habe noch keine Lust heimzugehen. Der Abend fängt doch erst an, richtig schön zu werden.“
Davon ließ sich Klara nicht beirren: „Wenn du meinst, du musst noch bleiben, dann bleib eben. Ich jedenfalls gehe heim. Ich muss morgen früh um sechs Uhr wieder raus. Dann gehe ich eben mit Gertrud heim.“
Weder Jakob noch Franz machten Anstalten, ihre Freundinnen heimzubegleiten. Einerseits hatten diese das bisher immer abgelehnt und andererseits versprachen sie sich heute nicht viel davon. Sie würden ja zu viert marschieren. Außer einem verstohlenen Kuss und einem großen Umweg würde es ihnen nichts einbringen. Ihre Wohnorte lagen nämlich in entgegengesetzter Richtung. Sie gaben sich aber den Anschein, als würden sie nun auch aufbrechen. Anstandshalber begleiteten sie die Mädchen noch ein paar Meter und verabschiedeten sich dann.
„Am nächsten Sonntag zur bewussten Zeit?“, fragte Klara noch und Jakob bestätigte dies.
Wie immer war er pünktlich zur Stelle und schlug mit Klara den üblichen Waldweg ein. Nach kurzer Zeit fragte sie: „Was ist heute los mit dir?“
„Was soll mit mir los sein?“
„Das will ich von dir wissen. Du redest ja fast nichts.“
Noch verwunderter war Klara, dass er keine Anstalten machte, sie zu küssen, geschweige denn sonstige Annäherungsversuche zu unternehmen.
„Ich glaube, es ist heute nicht dein Tag“, bemerkte sie beim Abschied. „Vielleicht bist du ja nächsten Sonntag wieder besserer Laune.“
Dann nahm er sie doch noch in den Arm, küsste sie oberflächlich und bat: „Du, sei mir nicht böse, aber nächsten Sonntag kann ich nicht. Da muss ich mit meinem Vater zum Rossmarkt nach Neuerburg.“
„In Ordnung. Dann sehen wir uns sicher wieder auf der Kirmes in Bergseheid. Da können wir ja was Neues ausmachen.“
Klara verbrachte diesen Sonntagnachmittag zu Hause mit Lesen und Handarbeiten. Agnes aber wollte mit ihrer Freundin Frieda einen Spaziergang machen. Das gab sie immer vor, wenn sie sich mit Walfred traf.
Nach ihrer Rückkehr begab sie sich umgehend in den Stall und erledigte ihre Arbeiten. Beim Abendessen wirkte sie fahrig und einsilbig. Bald stand sie auf, schützte Kopfschmerzen vor und zog sich in die Schlafkammer zurück. Als Klara ihr Bett aufsuchte, schien Agnes schon fest zu schlafen.
Da Agnes am nächsten Tag noch genauso in sich gekehrt wirkte, passte Klara einen Moment ab, in dem sie unbelauscht waren: „Hast du Streit gehabt mit Walfred?“ „Wie kommst du darauf?“, brauste die Schwester auf. „Nun, du bist so anders als sonst. Deshalb denke ich mir, dass dich etwas bedrückt.“ „Ach, lass mich in Ruhe. Ich möchte nicht darüber reden.“ Damit gab sich Klara zufrieden. Am Samstag darauf begaben sich die Schwestern einträchtig zur Kirmes nach Bergscheid. Am Saaleingang waren weder Jakob noch Walfred zu sehen. Deshalb suchten sich die beiden Mädchen zunächst einen Sitzplatz. Den fanden sie an Gertruds Tisch, die da bereits mit ihrem Franz saß. Nach kurzer Zeit erhob sich Agnes wieder, weil sie zur Toilette wollte. Sie blieb auffallend lange weg. Wahrscheinlich hatte sie wieder eine Bekannte getroffen.
Endlich tauchte Jakob an Klaras Tisch auf. Er entschuldigte sich damit, dass er zu Hause nicht eher wegkonnte, weil eine Kuh am Kalben war. Dafür zeigte Klara volles Verständnis. Selig hängte sie sich an seinen Arm, als er sie zum ersten Tanz entführte. In der Tat hatte Agnes eine Bekannte getroffen und an deren Tisch Platz genommen. Das erfuhr Klara, als sie bei einem der nächsten Tänze ihrer Schwester auf der Tanzfläche begegnete.
Wieder trat Klara kurz nach Mitternacht den Heimweg mit ihrer Freundin Gertrud an. Agnes war ausgesprochen guter Laune und erklärte beim Abschied, sie sehe nicht ein, dass sie das schöne Fest schon so früh verlassen solle.
In den nächsten Tagen und Wochen gewann Klara den Eindruck, als bemühe sich ihre Schwester, ihr aus dem Weg zu gehen. Zumindest vermied sie es, mit ihr allein zu sein. Sie ging stets vor ihr zu Bett und stand vor ihr auf, sodass ein vertrauliches Gespräch selbst in der Schlafkammer nicht möglich war.
Jakob machte sich ebenfalls rar. Jetzt in der Rüben- und Kartoffelernte sei er kaum abkömmlich, zumal sein Vater fast nichts mehr tun könne. Auf dem Winklerhof gab es in dieser Zeit auch genug zu tun. Deshalb war Klara ganz froh, dass sie sich die Zeit für heimliche Treffen nicht stehlen musste. Gleichzeitig war sie natürlich traurig, dass sie Jakob so lange nicht sehen konnte.
Ende Oktober waren die beiden Schwestern einen ganzen Tag lang im Waschhaus beschäftigt. Wie jedes Jahr hatte die Mutter darauf bestanden, dass kurz vor Wintereinbruch noch mal alle Bettwäsche gewaschen wurde. Agnes wollte gerade mit dem großen Holzrührer die kochend heiße Wäsche aus dem Waschkessel fischen, um sie ins kalte Wasser zu geben. Da wurde es ihr schlecht. Klara konnte gerade noch hinzuspringen und sie auffangen. Sie ließ sie auf einen Stapel Schmutzwäsche niedergleiten und fragte bestürzt: „Agnes, was hast du?“
Aber noch ehe Agnes antwortete, riss Klara das Waschküchenfenster weiter auf, damit der heiße Dampf entweichen und frische Luft hereinströmen konnte. Als sie sich wieder der Schwester zuwandte, brach diese in Tränen aus.
„Was ist dir, Agnes? Ich hole die Mutter“, rief Klara in ihrer Hilflosigkeit und war schon an der Tür.
„Nein! Nicht die Mutter!“, wehrte Agnes erschrocken ab. „Ich muss mit dir reden.“
Betroffen ließ sich Klara neben der Schwester auf dem Wäschestapel nieder. „Ich bin schwanger“, bekannte diese, fast tonlos. „Was? Bist du sicher?“ „Ziemlich. Meine Tage sind schon zum zweiten Mal ausgeblieben, und seit einigen Tagen wird es mir morgens immer übel.“
Da ihre älteren Schwestern bereits einige Kinder hatten, kannten sie sich auf diesem Gebiet aus.
„Ja, das ist ziemlich eindeutig. Dann musst du eben so bald wie möglich heiraten.“
„Und was wird Mutter dazu sagen?“, schluchzte Agnes.
„Sie will doch nicht, dass ich heirate. Sie will doch, dass ich bei ihr auf dem Hof bleibe.“
„In diesem Fall wird sie nicht Nein sagen. Unter diesen Umständen wird sie sogar froh sein, wenn du möglichst bald heiratest.“
„Meinst du?“ Mit dem Ärmel der Kittelschürze wischte sich Agnes die Tränen ab. Ein leichter Hoffnungsschimmer trat in ihr Gesicht. „Du musst es natürlich so bald wie möglich Walfred sagen. Oder weiß er es schon?“
„Der hat damit nichts zu tun“, äußerte Agnes verbittert.
„Den habe ich eine Woche vor dem Waldfest das letzte Mal gesehen, den Schuft!“