Flucht, Vertreibung, Mahnung - Erika Steinbach - E-Book

Flucht, Vertreibung, Mahnung E-Book

Erika Steinbach

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Beschreibung

Aus den Lektionen der Geschichte lernen Das Schicksal der Heimatvertriebenen bewegt auch 70 Jahre nach Kriegsende die deutsche Gesellschaft. Die Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach macht eindringlich deutlich, dass die Tragödie der Vertreibung nicht nur die direkt Betroffenen angeht, sondern nach wie vor alle betrifft. Sie zeigt auf, wie diese Menschenrechtskatastrophe dauerhaft die Identität des ganzen deutschen Volkes berührt, und macht gleichzeitig die europäische Dimension und Bedeutung beeindruckend anschaulich. Denn nur durch das Anerkennen der gemeinsamen Vergangenheit kann es auf Dauer ein friedliches Europa geben. Mit einem Geleitwort von Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages

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Seitenzahl: 351

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www.herbig-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2016 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Komplett überarbeitete Neuauflage der 2010 bei Universitas erschienenen Ausgabe »Die Macht der Erinnerung«

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagfoto: BdV – Bund der Vertriebenen, Bonn

Gesetzt aus: 11/14,35 pt. Minion Pro

Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Druck und Binden: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-7766-8241-0

Inhalt

Geleitwort

Aus tiefster Überzeugung

Heimat – Traum oder Albtraum

8. Mai – Tag der Befreiung?

Trauer um Deutsche – Schlupfloch aus der Verantwortung?

Geprägt von den Erfahrungen meiner Mutter

Terra incognita: Die Heimaten der Vertriebenen

Vertreibung und Motive

Zwangsarbeit – Lager – Vergewaltigung

Die schwierige Aufgabe der Integration

Die Charta – ein Akt der Selbstüberwindung

Bund der Vertriebenen – weder links noch rechts

Initiative für eine Berliner Gedenkstätte – »Zentrum gegen Vertreibungen«

Nationales Gedenken – endlich

Nachwort

Personenregister

Bildnachweis

Geleitwort

Flucht und Vertreibung sind eine unendliche Geschichte, mit der sich viele ähnliche, aber auch ganz unterschiedliche Einzelschicksale verbinden. Diese Geschichte handelt nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch – wie wir tagtäglich sehen – von der Gegenwart. Wer aber eine schreckliche Vergangenheit nicht in die Zukunft verlängern will, muss die Lektionen der Geschichte lernen, soweit sich überhaupt Erfahrungen über Generationen hinweg vermitteln und die daraus gewonnenen Einsichten in tatsächliche Veränderungen umsetzen lassen.

Dieser Arbeit am historischen Bewusstsein fühlt sich Erika Steinbach in besonderem Maße verpflichtet. Dass in Berlin nun ein sichtbares Zeichen entsteht, um an das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern, verdankt sich wesentlich ihrer Beharrlichkeit und der beachtlichen Unterstützung, die dieses Anliegen trotz starker Widerstände in Parteien und Verbänden gefunden hat. Die politische Auseinandersetzung um die Schaffung der »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung« hat uns in einem Vierteljahrhundert gemeinsamer Abgeordnetenzeit in vielfältigen parlamentarischen Ämterkonstellationen zusammen streiten und zusammenarbeiten lassen. Besonders lebhaft ist mir eine Einladung in das ungarische Parlament in Erinnerung, bei der mich Erika Steinbach begleitete und sich die damalige ungarische Parlamentspräsidentin im Namen ihrer Volksvertretung für die Vertreibung von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ungarn entschuldigte. Dieses großartige Zeichen der Aussöhnung gehört zu den eindrucksvollsten Erfahrungen meiner politischen Laufbahn. Und in diesem Geist der Verständigung und der Versöhnung wird künftig auch das Dokumentations- und Informationszentrum in Berlin an einem gemeinsamen europäischen Verständnis der Vergangenheit mitwirken.

Die Geschichte der Vertreibung in Europa ist dabei ein ebenso eindringliches wie sensibles Beispiel für die Diskrepanz zwischen den großen historischen Ereignissen und den scheinbar kleinen persönlichen Schicksalen, deren Summe überhaupt erst die großen Veränderungen ausmacht. Die historischen Kausalitäten, also der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, liegen bei den Vertreibungen der europäischen Geschichte vor allem des 20. Jahrhunderts regelmäßig klar zu Tage. Eine hinreichende Erklärung für das persönliche Vertreibungsschicksal ergibt sich daraus fast nie. Das macht den Umgang mit dem Thema persönlich wie politisch so schwierig, das Risiko von Missverständnissen und Verletzungen so hoch. Und es darf dennoch nicht dazu verleiten, Einzelschicksale verdrängen zu wollen, auch nicht, um Irritationen im Verhältnis zu unseren Nachbarländern zu vermeiden. Menschen, die persönlich schuldlos Opfer politischer Entwicklungen und staatlich veranlasster Verbrechen geworden sind, haben einen Anspruch darauf, mit ihrem Schicksal und in ihrem Schmerz nicht allein gelassen zu werden. Das hat Erika Steinbach erkannt und darum hat sie sich verdient gemacht.

Die ihrem Engagement zugrunde liegenden Werte und Überzeugungen und die eigenen biografischen Erfahrungen aus dem Vertreibungsschicksal ihrer Familie hat Erika Steinbach in diesem Buch niedergelegt, das bereits in früheren Auflagen ein großes Medienecho gefunden und zur kontroversen Debatte angeregt hat – ganz im Sinne der streitbaren Parlamentarierin Erika Steinbach. Ähnliche Resonanz wünsche ich auch dieser überarbeiteten Neuauflage, die in ihrem Kern vor allem eins verdeutlicht: Menschenrechte sind nicht teilbar.

Prof. Dr. Norbert Lammert

Präsident des Deutschen Bundestages

Aus tiefster Überzeugung

»Ohne Heimat sein heißt leiden.«

Fjodor Dostojewski

Sie, liebe Leserin, lieber Leser, engagieren sich im Tierschutz oder für den südamerikanischen Regenwald? Sie sammeln Geld und Kleidung für Kinder in Äthiopien oder für Erdbebenopfer in Nepal? Oder Sie setzen sich für bedrohte Tier- und Pflanzenarten in Deutschland ein und tragen dazu bei, die Mopsfledermaus, die Bekassine oder die Würfelnatter vor dem Aussterben zu bewahren und unsere Fauna in ihrer ganzen Fülle zu erhalten, mit der Brockenanemone, dem Bodenseevergissmeinnicht und natürlich dem Tide-Wasserfenchel? Das Feld zum Anbau guter Taten ist unendlich groß und es bedarf vieler, um es zu bestellen.

Ich selbst bin seit Jahrzehnten u. a. Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, und die Palette der von mir unterstützten Organisationen reicht darüber hinaus von der Lebenshilfe für geistig Behinderte e.V. bis zum Bürgerverein Historisches Bornheim.

Der Dank, ja die Bewunderung aller guten Menschen und auch der Philanthropen ist Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, und mir für solcherlei Engagement gewiss.

Weniger sicher kann man sich dessen sein, wenn das Engagement Vertriebenen oder vergewaltigten Frauen und Kindern gilt, die nicht im Nahen Osten oder Subsahara-Afrika leben, sondern Opfer der Gewaltexzesse der Roten Armee waren. Und wer sich insgesamt des Schicksals der deutschen Vertriebenen annimmt, muss wissen, dass ihm vielerlei unterstellt wird – bis hin zur Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen. Nur nichts Gutes. Als leuchtendes Vorbild oder als Menschenfreund gilt man keinesfalls. Nicht einmal in unserer breit gefächerten Menschenrechts-Community von Pro Asyl bis zu Amnesty International.

Wer Menschenrechte mit gleichem Maße misst, darf sich aber dadurch nicht beirren lassen.

Die Flüchtlings- und Wanderbewegungen der letzten Jahre zeigen uns menschliches Leid und Elend. Deutschland hat mit seinem Asylrecht vielen der Verfolgten Schutz und Hilfe gegeben.

Vergleichbar mit der Massenvertreibung Deutscher ist das aktuelle Migrationsgeschehen aber nicht. In Viehwaggons und auf Fußmärschen wurden nahezu alle Deutschen jenseits von Oder und Neiße und aus dem südosteuropäischen Raum zielgerichtet gewaltsam aus der Heimat getrieben. Von 1945 bis 1950 kamen als Vertriebene Deutsche zu Deutschen. Sie sprachen dieselbe Sprache, gehörten derselben Volksgruppe und demselben Kulturkreis an. Sie kamen nicht in eine wohlhabende Aufnahmegesellschaft, sondern in ein durch Bombardement zerstörtes, völlig verarmtes Land.

Heute ist Deutschland aufgrund seines Wohlstandes und seiner sozialen Standards nicht nur Zielland von Bürgerkriegsflüchtlingen, sondern auch von Armutszuwanderungen aus völlig anderen Kulturkreisen und von Menschen mit nicht identischen Grundwerten.

Das Elend dieser Welt lässt sich mit noch so gutem Willen nicht in Deutschland bewältigen. Aber den deutschen Heimatvertriebenen gegenüber hatte und hat Deutschland eine elementare Verpflichtung, sich ihrer anzunehmen, da diese stellvertretend für alle anderen Deutschen, die aufgrund ihres Wohnortes vom Heimatverlust verschont geblieben sind, ein Sonderschicksal ereilte.

Über viele Jahre habe ich mich mit dem Schicksal der deutschen Vertriebenen kaum befasst, obwohl meine Familie von Flucht und Vertreibung direkt betroffen ist. Nicht, weil ich es ablehnte, sondern es fehlte einfach der Anstoß. Wohl gab es die seltenen Erzählungen meiner Mutter über die Flucht vor der Roten Armee per Schiff und auch die spärlichen Hinweise meines schlesischen Großvaters über die 1946 von dort vertriebenen Onkel und Tanten, hingehört habe ich jedoch nur mit einem halben Ohr.

Initialzündung dafür, dass mich dieses Epochendrama mit allen grauenhaften Begleiterscheinungen bis zum heutigen Tage bannt, war die Begegnung mit einer betagten Frau, deren Namen ich nicht einmal mehr weiß. Sie sprach mich auf einer Frankfurter Veranstaltung an und mahnte geradezu: ich sei doch so sehr engagiert in den jüdischen Schicksalen, aber es sei genauso wichtig, sich auch um das Schicksal der deutschen Vertriebenen und deren seelischen Leiden zu kümmern. Was sie mir dann berichtete, war für mich eine Schocktherapie.

Diese alte Dame hatte bei einem Vertriebenentreffen einem jungen Journalisten zum ersten Mal in ihrem Leben offenbart, was ihr alles widerfahren war. Sie ist vielfach über Tage hinweg immer wieder brutal vergewaltigt worden, keines ihrer vier Kinder hat überlebt, drei wurden ermordet, eines ist verhungert, und ihr Mann ist im Krieg gefallen. Allein diese fürchterlichen Erfahrungen könnten Beweggrund genug sein, sich der Menschen und dieses Teils deutscher Geschichte anzunehmen. Aber meine Motivation speist sich bis heute aus der unglaublichen Antwort, die der betagten Frau von dem Journalisten gegeben wurde. Er antwortete flapsig, dass es ihr doch nicht geschadet habe, denn sie sei ja trotzdem über 80 Jahre alt geworden.

Diese Herzenskälte und diese Rohheit schockierten mich. Seither haben mich die Schicksale der Menschen, aber auch der dramatische Kulturbruch, den diese Vertreibung in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht nur für uns in Deutschland, sondern für ganz Mittel-, Ost- und auch Südosteuropa bedeutet, nicht mehr losgelassen. Je intensiver ich mich in den letzten 20 Jahren damit beschäftigt habe, je mehr bittere Einzelschicksale mir inzwischen begegnet sind, umso mehr reifte in mir die Überzeugung heran, dass wir die dauerhafte Erinnerung an Flucht und Vertreibung brauchen. Sie sind und bleiben Teil unserer deutschen Identität. Ob wir es wollen oder nicht, wir alle, auch die Nichtvertriebenen, sind davon geprägt.

Heimat – Traum oder Albtraum?

»Am Tage, da ich meinen Pass verlor,

entdeckte ich mit 58 Jahren, dass man

mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde.«

Stefan Zweig

Die Worte Heimatliebe, Heimatland, Heimathafen, Heimaterde oder Heimführen umschreiben Heimat als einen Ort der Geborgenheit, der Vertrautheit, ja der Sehnsucht. Vertreibung daraus – die Vertreibung aus dem Paradies?

Heimat ist mehr als nur ein geografischer Begriff, mehr als eine Landschaft mit ihrer Siedlungsgeschichte, mehr als vertraute Dörfer, Städte, Baudenkmäler. Heimat ist tragender Grund, Teil unserer Identität. Heimat, das sind Früherlebnisse und Kindheitserinnerungen, Überschaubarkeit und Geborgenheit. Wer keine Heimat hat, der fühlt sich oft entwurzelt, ohne festen Platz im Leben. Gewaltsamer Heimatverlust, Flucht und Vertreibung, diese archaischen Erfahrungen wirken nach bis heute.

Die Heimat des Millionenheeres der Vertriebenen liegt nicht in einer einzigen Region. Es sind viele Heimaten. Und ich kenne nur wenige in Deutschland, die tatsächlich wissen, woher ihre vertriebenen Nachbarn stammen.

Gustav Seibt resümierte in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung: »Inzwischen ist genügend Zeit verstrichen und genügend geschehen, um auch die deutschen Leiden als Teil einer Katastrophe der Humanität anzuerkennen (…). Brand und Flucht gehen der Nachkriegsgesellschaft voraus und haben sie in ihrem Kern bestimmt. Alle anderen Traditionen mussten vor diesen Grunderfahrungen zurücktreten. Die oft beobachtete Geschichtslosigkeit Deutschlands nach 1945 dürfte hier mindestens ebenso ihre Ursachen haben wie in verdrängter Schuld und der Einebnung sozialer Unterschiede (…). Wer immer nur ›Aufrechnung‹ fürchtet und selbst elementare Tatsachen nur politisch-ideologisch betrachten will, verkennt die Macht von Erfahrungen und Erinnerungen, die auf jeden Fall wirksam bleiben. Das Gefühl für die Heimat stand, jedenfalls in den Dichtungen der Menschheit, neben der Erinnerung an Flucht und Entwurzelung (…). Warum sollte das ausgerechnet heute anders sein?«

Ja, warum sollte das ausgerechnet heute anders sein? Nein, es ist nicht anders! Gerade in der heutigen Zeit mit neuer Unübersichtlichkeit und mehr als 60 Millionen Flüchtlingen weltweit gibt es verbreitet eine verstärkte Rückbesinnung auch Nichtvertriebener auf Herkunft und Heimat. Die Menschen stellen wieder elementare Fragen nach dem Woher und dem Wohin. Dazu bedarf es der konkreten und sehr persönlichen Selbstvergewisserung. Es bedarf der Kenntnis eigener Wurzeln. Heimat ist dabei eine zentrale Kategorie. Für die Vertriebenen aber ist sie häufig Nukleus ihrer Gefühlswelt. Die unzähligen Schicksale, der unterschwellig fließende Strom von Heimweh und der vielfältigen Leidenserlebnisse, die vieltausendfachen nächtlichen Albträume, in denen Kindheitsschrecknisse, Blut und Tränen, Vergewaltigung, der gewaltsame Heimatverlust und der Verlust der häuslichen Geborgenheit Nacht für Nacht quälend auftauchen, das wirkt nach bis zum heutigen Tag für die Überlebenden. Unverarbeitet begleiteten diese Erfahrungen nicht nur die Erlebnisgeneration, sondern werden auch weitergereicht an Kind und Kindeskinder.

In unserem heutigen Deutschland haben sich zwangsweise Menschen zusammengefunden, die ihre Heimat über Jahrhunderte in ganz unterschiedlichen Gebieten Mittel-, Ost- und Südosteuropas hatten. Sie kommen aus Estland, Lettland, Litauen, aus Bessarabien und dem Buchenland, aus dem Banat, aus Siebenbürgen, den Karpaten und dem Sathmar, es sind Dobrudscha- und Bulgariendeutsche unter ihnen, sie hatten ihre Heimat im Weichsel-Warthe-Gebiet Polens, sie kommen aus Ungarn und dem donauschwäbischen Gebiet des früheren Jugoslawien, und sie kommen bis heute als Russlanddeutsche aus den Deportationsgebieten, in die sie durch Stalin verfrachtet wurden, verbracht aus ihrer Heimat an der Wolga, am Schwarzen Meer und im Kaukasus. Der größte Teil der Vertriebenen stammt aus Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, dem Freistaat Danzig, Schlesien und Ostbrandenburg, also dem früheren Ostdeutschland, das heute zwischen Russland und Polen aufgeteilt ist, und sie kamen als Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei.

Vor dem Hintergrund ihres zutiefst gewalttätigen Heimatverlusts bleibt Heimat für zahllose Vertriebene Traum und Albtraum zugleich.

Heimat und Vertreibung, ihren dauerhaften Spuren in den Seelen Entwurzelter hat der Schriftsteller Peter Härtling beklemmenden Ausdruck verliehen: »Es hat mit einem Trauma zu tun oder damit, dass ich, wann immer ich fliehende, vertriebene Kinder auf dem Bildschirm sehe, in meiner Erinnerung zurückstürze bis hin zu dem Zwölfjährigen, der ich 1945 gewesen bin (…). Jetzt erst, nach 50 Jahren, erinnere ich mich beim Anblick dieser gehetzten Kinder – nein: ich spüre es –, dass ich die ganze Zeit, in der ich als Zwölfjähriger mit Großmutter, Mutter, Schwester unterwegs war, auf der Flucht, auf dem Flüchtlingstransport, einen Stoffbalg bei mir hatte, den ich an mich presste, unterm Pullover verwahrte, wie einen kraftverströmenden Talisman (…). Ich habe den langen, von Erschütterungen nie freien Weg von der Zuflucht zum Zuhause gelernt und erfahren. Wobei die früheren Verletzungen für einen Rest von Fremde sorgen. Im Untergrund nämlich bleibt eine fragende Unruhe und lässt jedes Zuhause vorläufig erscheinen (…). Die Zuflucht wurde zum Raum, bekam eine Nähe, die ich nicht Heimat zu nennen wagte.«

Peter Härtling gibt mit seiner sehr persönlichen Offenbarung einer Seelenbürde von Millionen von Heimatvertriebenen Ausdruck. Es ist eine still mit sich getragene, in einer lauten, schnellen Welt schwer beschreibbare Last. Dieses Trauma bleibt dauerhafter Lebensbegleiter. Zumeist sogar unbewusst.

Das sehnsuchtsvolle, oft in der Erinnerung verklärte Bild der Heimat ist zudem verschleiert von mannigfacher Todesangst oder Gewalterfahrung. Für mich ist diese Zeit nicht eigene Erinnerung, sondern Erzählung der Mutter und meines schlesischen Großvaters. Für mich ist Heimat nicht ein bestimmter Ort, nicht eine Landschaft. Ich erinnere mich nicht an Rahmel, meinen Geburtsort in Westpreußen, ich erinnere mich kaum an die Flüchtlingsstationen in schleswig-holsteinischen Bauernhäusern. Das einzige Erinnern daran sind die schrecklichen Schreie eines Schweins, das geschlachtet wurde, und an ein Huhn, das ohne Kopf – er lag abgeschlagen neben dem Holzblock – über den Bauernhof torkelte. Menschen kommen in meinen Erinnerungen nicht vor. Das spricht für sich.

Heimat, das war und ist für mich meine Mutter. Sie war der einzige Ort der Geborgenheit, des Schutzes, sie war meine Sicherheit. Sie betete des Abends mit meiner Schwester und mir, dass der »liebe Gott bald den Papi zurückbringen« möge, über dessen Verbleib wir über Jahre nichts wussten; sie erklärte uns die Bäume und Früchte in Feld und Wald beim Suchen nach Himbeeren, Brombeeren oder Blaubeeren; sie zeigte uns, wie Eidechsen und Frösche zu fangen sind, ohne sie zu verletzen, denn eine überwältigende Tierliebe zeichnete sie aus. Und sie lehrte uns, obwohl sie selbst keine Noten lesen konnte, Blockflöte zu spielen und Noten zu lesen. Unendlich schmerzlich und wirklich bewusst wurde mir meine Mutter als Heimat aber erst im Moment ihres Todes im Jahr 2000. Mit ihr hatte ich nicht nur die Mutter, sondern auch meine emotionale Heimat verloren.

Andreas Kosserts Buch Kalte Heimat beschreibt die gelebte Realität von damals eindringlich. Der Weg von Rahmel über Schleswig-Holstein, Berlin nach Hanau, der gesamte Fluchtweg mit seinen Stationen wirkte in meiner Mutter ihr ganzes Leben lang nach. Rückblickend aber erkenne ich, dass er trotz allem von unseren Schutzengeln begleitet war.

In Hanau lernte ich 1950 meinen Großvater väterlicherseits kennen. Rübezahl und Schlesien, seine fast sehnsuchtsvollen Geschichten über das Riesengebirge haben wohl meine Liebe zu Joseph von Eichendorff befördert und schufen ein lebendiges Bild der Familiengeschichte. Großvaters Familie hatte über viele Generationen ihre Heimat in Schlesien. Breslau, Frankenstein, Carlsberg, Neurode, Peterwitz finden sich als Geburtsorte im Stammbaum. Er selbst stammte aus Neurode/Nowa Ruda. Als Maler und Lithograf durchwanderte er Europa, nachdem die lithografische Abteilung der Berlin-Neuroder Kunstanstalten AG in Neurode geschlossen wurde. Er verdiente gut, denn die Werbung wurde zu dieser Zeit weitgehend mit Lithographien gestaltet. Schließlich ließ er sich in Hanau nieder.

1 Eine der Werbelithographien meines schlesischen Großvaters Robert Hermann

Sein Bruder Karl, als Kunstdrucker genauso von der Schließung betroffen, wurde in München ansässig. Der schlesisch-bayerischen Ehe mit Tante Maria entstammt meine Schauspielercousine Irm Hermann – eigentlich Irmgard. In München war sie lange das schwarze Schaf der Familie. Ihr unorthodoxer Beruf, mehr aber noch ihr Lebenswandel in der Schauspielertruppe Rainer Werner Fassbinders, wurde dort nicht leicht verziehen.

Berührung mit diesem Familienzwist hatten wir kaum. Die Kontakte nach München waren zu dünn. Zudem waren für meinen Mann Helmut als Künstler und Dirigent weder Lebensstil noch politische oder sonstige Ausrichtung maßgebend, sondern Qualität, Ausstrahlung und Eignung für ein bestimmtes Konzert, ein bestimmtes Werk. Als Dirigent waren ihm die anarchischen Anwandlungen eines Friedrich Gulda völlig unerheblich. Er verpflichtete ihn schließlich nicht deshalb, sondern seiner pianistischen Genialität wegen. Auch die Tatsache, dass Karlheinz Böhm geraume Zeit bei Fassbinder im Frankfurter »Theater am Turm« gastierte, hielt meinen Mann natürlich nicht davon ab, ihn gerade zu dieser Zeit als Sprecher für Prokofjews »Peter und der Wolf« zu engagieren. Böhm konnte nicht nur gut sprechen, sondern er war als Sohn des großen Dirigenten Karl Böhm auch eminent musikalisch. Für Karlheinz Böhm war es die erste Aufführung dieses musikalischen Märchens. Erst danach spielte er es mit seinem Vater ein.

Meine schlesischen Tanten Martha und Maria, Onkel Ernst und Tante Hedwig wurden 1946 im Viehwaggon aus Schlesien vertrieben. Die einen aus Neurode, die anderen aus Glatz. Sie alle landeten dauerhaft in der Ostzone/DDR. Über das, was ihnen bis dahin widerfuhr, haben sie niemals gesprochen.

Großvaters Liebe gehörte zeitlebens Schlesien. Als ich halbwegs Blockflöte spielen konnte, war sein nachdrücklicher Wunsch, ihm zum Geburtstag »Riesengebirglers Heimatlied« vorzuspielen. Trotz verschiedener falscher Töne hatte er Tränen in den Augen.

Bei mir jedoch hat sich nach unserer beklemmenden Odyssee von Rahmel nach Kleinjörl, Großjörl, Stieglund, Berlin und Hanau ein Heimatgefühl nicht entwickelt. Dazu hat wohl auch die offene und unterschwellige Ablehnung beigetragen, die uns in den ersten Jahren entgegenschlug.

Als bei mir politisches Bewusstsein und Interesse einsetzten – und das war sehr spät, wie auch heute bei vielen jungen Menschen –, galt meine erste Anteilnahme zunächst den Opfern des Nationalsozialismus, meine Bewunderung den Widerstandskämpfern. Nicht ohne Grund bin ich seit Jahrzehnten Mitglied der deutsch-israelischen Gesellschaft und war viele Jahre in Frankfurt am Main Schirmherrin der jüdischen Frauenorganisation WIZO (women’s international zionist organization). Der apfelgroße Türkis der Verbundenheit, den mir die WIZO-Damen als Dank schenkten, hat bis zum heutigen Tage seinen Platz auf meinem Schreibtisch.

Die 1970er-Jahre waren insbesondere in Frankfurt am Main von zahllosen Demonstrationen geprägt. Eigentlich gegen alles und jedes. Die einzige Demonstration, an der ich jemals teilgenommen habe, war gemeinsam mit den beiden anderen Schirmherrinnen der WIZO, der sozialdemokratischen Stadtverordnetenkollegin Dr. Frolinde Balser und der Landtagsabgeordneten Edith Strumpf von der FDP, der Protest vor dem Schauspielhaus der Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main gegen die Uraufführung des Fassbinder-Stücks »Der Müll, die Stadt und der Tod«. Der widerliche Antisemitismus, der daraus sprach, trieb mich auf die Barrikaden.

2 Demonstration vor dem Frankfurter Schauspielhaus gegen die Aufführung des Fassbinder-Stücks »Der Müll, die Stadt und der Tod«.

V.l.n.r.: Dr. Frolinde Balser, Erika Steinbach, Edith Strumpf

In den Jahren meiner Schirmherrschaft für die Frankfurter WIZO habe ich viele der Frauen sehr ins Herz geschlossen, insbesondere Trude Simonsohn, Esther Sharell, Miriam Gertler und die bescheidene und gütige Mutter von Michel Friedman, Eugenia Friedman. Gemeinsam warben wir Spenden für das Theodor-Heuss-Müttergenesungsheim in Herzlia/Israel ein. Das Theodor-Heuss-Haus wurde vom deutschen Müttergenesungswerk 1960 gestiftet. Jährlich genießen darin rund 1000 jüdische und arabische Frauen den ersten Urlaub ihres Lebens. Auch mein Mann hat sich sehr dafür engagiert. Er dirigierte 1980 in der Jahrhunderthalle Hoechst das Benefizkonzert aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der WIZO-Föderation Deutschlands. Solist war Mstislaw Rostropowitsch mit den atemberaubend gespielten Rokoko-Variationen von Peter Tschaikowski.

Erst zu Beginn der 1990er-Jahre begann ich, mich intensiv mit dem Leidensweg der deutschen Heimatvertriebenen auseinanderzusetzen – nachdem ich mit unfassbaren Einzelschicksalen in Berührung gekommen war. Das aber führte dazu, dass die Schirmherrschaft für die WIZO 1997 ein plötzliches und mich bis heute traurig stimmendes Ende nahm. Meine Aussagen als damalige Vizepräsidentin des Bundes der Vertriebenen zum 8. Mai 1945, der für Millionen eben kein »Tag der Befreiung« gewesen ist, waren für die WIZO der Auslöser, sich von mir zu trennen.

3 Brief von Erika Steinbach an WIZO vom 22. März 1997

Umso mehr habe ich mich gefreut, dass Frankfurts früherer Oberbürgermeister Walter Wallmann anlässlich der Verleihung des Ignatz-Bubis-Preises 2007 an ihn in seiner Dankesrede sagte: »Wie hätte die Partnerschaft mit Tel Aviv gelingen sollen ohne Hans-Ulrich Korenke, ohne den früheren Stadtrat Reiss, ohne den früheren Stadtkämmerer Ernst Gerhard, ohne die früheren Stadtverordneten Dr. Frolinde Balser und Erika Steinbach und ohne die damalige Volksschauspielerin Liesel Christ.«

Nachdenklich stimmt mich bis heute die Erkenntnis, dass Menschen unterschiedlichster Opfergruppen, die Schlimmes und Schlimmstes erlebt und überlebt haben, in ihr Schicksal oftmals so vergraben sind, dass sie an anderen Leiden nicht oder nur schwer Anteil nehmen können. Dieses Unvermögen begegnet mir auch bei Teilen der Erlebnisgeneration des Bundes der Vertriebenen. Unverarbeitete Traumata wirken erkennbar tief greifend nach. Das aber führt in vielen Fällen dazu, dass Menschenrechte nur opferspezifisch betrachtet werden. Es verschwindet, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist.

8. Mai – Tag der Befreiung?

»Niemand ist mehr Sklave, als der sich für frei hält, ohne es zu sein.«

Johann Wolfgang von Goethe

Wie vielen anderen auch – insbesondere aus meiner Generation – ist es mir sehr spät wie Schuppen von den Augen gefallen, dass auch nach dem 8. Mai 1945 Menschenrechte noch immer keinen allgemeingültigen Stellenwert in Europa hatten. Theresienstadt war auch danach ein Ort des Schreckens. Theresienstadt war auch nach Hitler grausam und tödlich, so wie Hunderte andere Lager und Orte. Namen wie Potolice, Lamsdorf, Aussig oder Brünn wecken schrecklichste Erinnerungen. Zigtausende Zeitzeugenberichte sprechen im Bundesarchiv eine beklemmende Sprache. Es konnte sogar geschehen, dass der Weg für ein und denselben Menschen aus dem nationalsozialistisch betriebenen KZ Theresienstadt in das Beneš-Theresienstadt führte.

Hans Günther Adler, als rassisch Verfolgter Insasse während der nationalsozialistischen Zeit, beschreibt in seinem Buch Theresienstadt 1941–1945: »Die Befreiung von Theresienstadt hat das Elend in diesem Ort nicht beendet. Nein, nicht allein für die ehemaligen Gefangenen (…), sondern auch für neue Gefangene (…), die Mehrzahl, darunter viele Kinder und Halbwüchsige, wurden bloß eingesperrt, weil sie Deutsche waren. Nur weil sie Deutsche waren (…)? Der Satz klingt erschreckend bekannt; man hatte bloß das Wort ›Juden‹ mit ›Deutschen‹ vertauscht. Die Fetzen, in die man die Deutschen hüllte, waren mit Hakenkreuzen beschmiert. Die Menschen wurden elend ernährt, misshandelt, und es ist ihnen um nichts besser ergangen, als man es von deutschen Konzentrationslagern her gewohnt war.«

Die Absurdität nationalistischen Denkens jener Epoche wird schlaglichtartig auch durch die Aufzeichnungen des Sudetendeutschen Oskar Schindler beleuchtet. In seinen vor geraumer Zeit entdeckten Unterlagen finden sich in einem Brief an den Filmregisseur Fritz Lang aufschlussreiche Anmerkungen. Schindler, der Mann, der als Nationalsozialist 1200 Juden mit Mut und Einfallsreichtum das Leben rettete, notiert darin zum Schicksal seines besten Freundes aus Krakauer Jahren: »Major Franz von Korab wurde im letzten Kriegsjahr als Halbjude erkannt und aus der Wehrmacht ausgestoßen. Die Tschechen haben ihn in Prag, wo er dann lebte, bei Kriegsende als deutschsprachigen Zivilisten erschlagen.« Oskar Schindler selbst hatte mehr Glück. Er überlebte, wie wir wissen. Aber er verlor seine Heimat wie nahezu alle Sudetendeutschen, auch jüdische, die die nationalsozialistische Herrschaft überstehen konnten.

Zwischen 1945 und 1950 wurden rund 15 Millionen Deutsche aus ihrer Heimat vertrieben – mehr Menschen, als Schweden und Norwegen zusammen an Einwohnern haben. Ausschließlich im kommunistischen Machtbereich fanden diese Menschenaustreibungen statt. Es war die gewaltigste Massenaustreibung einer Volksgruppe, die es in der modernen Geschichte gegeben hat.

Victor Gollancz, englischer Verleger und Humanist – 1960 Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels –, konstatierte: »Die Deutschen wurden vertrieben, aber nicht einfach mit einem Mangel an übertriebener Rücksichtnahme, sondern mit dem denkbar höchsten Maß an Brutalität.«

Mit dem 8. Mai 1945, dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hatten Unmenschlichkeit und Grausamkeit in Europa noch immer kein Ende. Wer heute suggerieren will, dass mit dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft die Menschenrechte europaweit blühten und gediehen und dass alles seinen gerechten Sinn hatte, der ist entweder unwissend, unwillig oder menschenverachtend. Denn der »8. Mai« konnte außer von den Vertriebenen auch von Millionen anderen nicht als »Tag der Befreiung« empfunden werden, wie der Russe Lew Kopelew zum 50. Jahrestag des Kriegsendes 1995 schrieb: »Der wohlverdiente Rattentod Hitlers in seiner Kanzlei brachte den Völkern des Westens Erlösung. Der unverdiente, mit 30 Millionen Menschenleben bezahlte Triumph Stalins überzog die Welt mit neuen tödlichen Gefahren, brachte Unglück, unsagbare Leiden und Verderben für die Länder in Ost- und Mitteleuropa, die zu totalitären Vasallen einer neuen totalitären Weltmacht wurden.«

4 Flucht vor der nahenden Sowjetarmee

Stalins Terror wütete in Mittel- und Osteuropa und raffte weiterhin Millionen Menschen dahin. Die Menschen in Mitteldeutschland/Ostzone/DDR lebten in neuer Diktatur, aus der sie sich erst 1989/90 befreien konnten. Die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat war ein brutaler Teil davon. Bis viele Jahre nach Kriegsende wurden insbesondere Frauen, Kinder und alte Männer allein deshalb Opfer von Deportation, Zwangsarbeit und Vertreibung, weil sie Deutsche waren. Es half ihnen nicht, dass sie persönlich schuldlos waren. Mehr als zwei Millionen haben diese Torturen nicht überlebt.

Robert H. Jackson, der amerikanische Hauptanklagevertreter bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen, beklagte im Oktober 1945 in einem Brief an den US-Präsidenten Harry S. Truman, dass die Alliierten selbst »genau die Dinge getan haben oder tun, für die wir die Deutschen anklagen«. Der britische Philosoph Bertrand Russell schrieb im selben Monat: »In Osteuropa werden jetzt von unserem Verbündeten Massendeportationen in einem unerhörten Ausmaß durchgeführt und man hat ganz offensichtlich die Absicht, viele Millionen Deutsche auszulöschen, nicht durch Gas, (…) sondern dadurch, dass man ihnen ihr Zuhause und ihre Nahrung nimmt und sie einem langen schmerzhaften Hungertod ausliefert. Das gilt nicht als Kriegsakt, sondern als Teil einer bewussten ›Friedenspolitik‹.«

Am 25. Oktober berichtete der Berater General Eisenhowers, Robert Murphy, nach Washington: »Mitarbeiter, die Flüchtlingszüge aus dem Osten ankommen sahen, stellen fest, dass sich die Leute meistens in bedauernswertem Zustand befinden. Einige (…) berichteten, dass sie ausgeplündert und um die wenigen Habseligkeiten gebracht wurden, die sie überhaupt mitnehmen durften.«

Der amerikanische Historiker Norman Naimark resümierte: »Tatsache ist, dass ungefähr 2,5 Millionen Deutsche umkamen und 11,5 Millionen vertrieben wurden, einzig und allein, weil sie Deutsche waren. Entscheidend war ihre ethnische Zugehörigkeit und nicht ihre Staatsbürgerschaft, ebenso wenig die Frage, ob sie gute oder schlechte Deutsche waren, Faschisten oder Antifaschisten (…). Das war keine Abrechnung mehr zwischen Bevölkerungsgruppen. Die Vertreibung der Deutschen wurde politisches Staatsziel.«

Der 8. Mai 1945, das Ende des Zweiten Weltkrieges auf unserem Kontinent, ein Tag der Befreiung? Ja und nein! »Erlöst und vernichtet in einem«, so hat es Theodor Heuss, der erste Bundespräsident unserer Republik, treffend beschrieben. Eine Befreiung vom nationalsozialistischen Terror über Deutschland und Europa, ja. Eine Befreiung für all diejenigen, die mehr tot als lebendig die Konzentrationslager überlebt haben, ja, natürlich. Eine Befreiung vom Elend des Krieges, ja. Eine Befreiung von Gewaltherrschaft und Diktatur, ja, für den Westen Europas – aber nur für den Westen, mit Ausnahme Spaniens und Portugals. Doch als Befreiungskrieg für Deutschland haben die Alliierten diesen Krieg ohnehin nicht geführt und auch nicht führen wollen. Der Befehlshaber der amerikanischen Besatzungstruppen machte das sehr deutlich. Dwight D. Eisenhower hatte seinen Soldaten schon beizeiten in der Direktive JCS 1067 eingeschärft: »Deutschland wird nicht besetzt zum Zweck der Befreiung, sondern als eine besiegte Feindnation.« Und für Stalin waren Macht und Gewaltherrschaft über weite Teile Europas das erklärte Ziel.

Für die Vertriebenen, die Deportierten, Vergewaltigten jener Jahre klingt die sehr schlichte und immer wieder und von Jahr zu Jahr immer lauter zu hörende Vereinfachung des 8. Mai 1945 als »Tag der Befreiung« wie ein Hohn auf ihr Schicksal.

Es gab keine Fragen nach individueller Schuld oder Verantwortung. Es reichte aus, deutscher Volksangehöriger zu sein, ob Säugling oder Greis, Mann oder Frau. Die Ost-, Sudeten- und Südostdeutschen wurden in eine schreckliche Kollektivhaftung genommen für ein Regime und einen Krieg, obwohl sie nicht mehr oder weniger dafür verantwortlich gewesen sind – die außerhalb des Reichs Lebenden zumeist überhaupt nicht – als die in West- und Mitteldeutschland Lebenden.

Dem Schicksal der Vertriebenen ging Grauenhaftes voraus. Auschwitz wurde zum Synonym dafür. Hitler hat die Büchse der Pandora geöffnet. Mit dem Einmarsch in Polen begann er einen unmenschlichen Krieg. Mit seiner Rassenpolitik riss er zunächst in Deutschland und dann in Europa alle humanen Schranken nieder. Das wissen die deutschen Heimatvertriebenen sehr wohl. Wichtige Amtsträger des Bundes der Vertriebenen wie Wenzel Jaksch, Herbert Hupka oder Hans Lukaschek waren Verfolgte des Nationalsozialismus. Ein Gefühl der Scham wegen der unvorstellbaren Verbrechen in deutschen Konzentrationslagern wird von den meisten Vertriebenen empfunden, auch wenn weder persönliche Schuld noch Verantwortung gegeben sind. Was zornig macht und verletzt, ist die jahrzehntelange Erfahrung, dass allzu oft die Tatsache der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft als probates Stoppschild missbraucht wurde und teilweise immer noch wird, um einer menschenrechtskonformen Aufarbeitung der Schicksale in der Mitte des 20. Jahrhunderts auszuweichen. Hitlers Herrschaft wird nicht nur als Erklärung herangezogen, sondern mit ihm wird diese Massenvertreibung gerechtfertigt, ja entschuldigt. Es wird etwas gerechtfertigt, was nicht zu rechtfertigen ist.

5 Konrad Adenauer und Herbert Hupka

Tilman Zülch von der Gesellschaft für bedrohte Völker, die sich, wie auch die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), im Gegensatz zu den meisten Menschenrechtsorganisationen auch der deutschen Opfer annimmt, hat 1990 öffentlich angemahnt, die »letzten weißen Flecken der europäischen Verbrechensgeschichte des 20. Jahrhunderts, die Vertreibung und den Vertreibungstod von Millionen von Einwohnern der früheren deutschen Ostgebiete und der deutschen Minderheiten in anderen Staaten, deutlich beim Namen zu nennen und als Verbrechen zu verurteilen«. Es sei eine Missachtung der Opfer des Holocaust und der nationalsozialistischen Verbrechen, diese zur Legitimierung der Vertreibungsverbrechen zu instrumentalisieren.

Vieles hat sich seither getan. Spielfilme wie »Die Flucht« oder »Die Gustloff« sowie Dokumentationen in ARD und ZDF sind ein Zeichen dafür. Aber unverkrampfter und wahrhaftiger Umgang mit diesem Teil deutscher und europäischer Geschichte ist immer noch nicht Allgemeingut. Immer und immer wieder schwingt »gerechte Strafe« für Hitler mit. Nicht nur Deutschland, sondern die Völker Europas müssen sich ihrer Vergangenheit und ihrer Verantwortung stellen, um ein dauerhaftes friedliches Miteinander zu erringen. Es darf keine »vergessenen« oder »gerechten« Opfer geben. Ich denke dabei auch an Ukrainer, Kosaken, Polen, Krimtataren und Armenier, die ebenso Opfer der stalinistischen Schreckensherrschaft wurden.

Karl Jaspers hat 1958 in der Frankfurter Paulskirche drei einfache Grundsätze in seiner Friedenspreisrede für unverzichtbar gehalten, die über den Tag weit hinausreichen: »Erstens: Kein äußerer Friede ist ohne den inneren Frieden der Menschen zu halten. Zweitens: Friede ist allein durch Freiheit. Drittens: Freiheit ist allein durch Wahrheit.« Der Mut zu vollständiger Wahrheit ist auch in Deutschland noch immer nicht durchgehend vorhanden, geschweige denn in allen Ländern, aus denen vertrieben wurde. Angst vor Relativierung der Opfer des Nationalsozialismus braucht niemand zu haben. Relativiert wurden und werden aber die Schicksale danach folgender Opfer bis heute.

Peter Glotz, mein langjähriger, viel zu früh verstorbener Mitvorsitzender der Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen«, hat es auf den Punkt gebracht und in seinem letzten Buch Von Heimat zu Heimat sehr prägnant – so wie es seine Art war – festgestellt: »Wir haben nicht vergessen, wer den Zweiten Weltkrieg angefangen hat – Hitler, und zwar mit Zustimmung vieler Deutscher. Das heißt aber nicht, dass es Täter- oder Opfervölker gäbe. Jedes Volk ist eine vertrackte Mischung aus Tätern, Mittätern, Mitläufern und Opfern (…). Die Vertreibung war, was immer die Siegermächte im August 1945 beschlossen haben, ein Verbrechen (…). Gegen Ende unseres Lebens wollen wir, die Flüchtlinge und Vertriebenen des Jahres 1945, darüber offen reden und uns unseres Schicksals vergewissern. Das lassen wir uns nicht verbieten (…). Ich lasse mir nicht einreden, dass eine korrekte Darstellung der Vertreibung (…) und die Forderung, die unschuldigen Opfer dieser Vertreibung nicht zu vergessen, auf eine Rehabilitierung der Nazis und auf eine Beschuldigung der Nachbarvölker hinausliefe (…). Es wird kein politisches Europa geben, solange man einige europäische Völker wie sanfte Irre behandelt, mit denen offen zu diskutieren der Therapie widerspricht.«

Hannah Arendt, im ostpreußischen Königsberg aufgewachsen, gehörte zu den Vertriebenen der Hitlerdiktatur, die dem Genozid entrinnen konnten. Für sie gab es keinen Determinismus, der in diese Barbarei der Nachkriegszeit führen musste. Ihr Forschergeist richtete sich gegen die totalitären Mechanismen der Gesellschaft, die zum Terror gegen die jeweils Schwächeren führen. Damit hat sie den Finger in die Wunde gelegt.

Der unmoralische und zutiefst unchristliche Kahlschlag an elementaren Menschenrechten, mit millionenfacher Entwürdigung und Ermordung von Menschen durch Hitler und Stalin, aber auch durch Beneš, Tito oder die polnischen Kommunisten und Nationalisten im 20. Jahrhundert, hat tiefe Spuren quer durch Europa gezogen. Seelische und körperliche Wunden zeichnen bis heute zahllose Menschen vieler Völker. Oft tauchen Nacht für Nacht die Gespenster des Erlittenen und Miterlebten auf. Nur wer in den Kategorien von Blutrache denkt, kann die Vertreibung als gerechte Strafe für den Holocaust, für Hitlers Massenmorde und den Zweiten Weltkrieg sehen.

Einzelne, wie der Zukunftsforscher und Korrespondent Robert Jungk, sahen 1945 durch die Brutalität gegenüber der deutschen Bevölkerung sogar den Geist des Widerstands gegen Hitler verraten. Gerechtigkeit wich auch nach 1945 neuer Willkür. Ein schlechter Neubeginn für Europa.

Wie kann man aus einer solchen Hölle des Grauens ein friedliches und fruchtbares Miteinander für Gegenwart und Zukunft gewinnen? Nur durch Wahrheit! Wir müssen uns in Deutschland und Europa unserer Vergangenheit auf dem Fundament der Unteilbarkeit von Menschenrechten offen stellen.

Günter Grass und der polnische Journalist Adam Michnik haben in großer Einmut festgestellt, dass historische Versöhnung nicht stattfinden kann, wenn düstere Kapitel der Vergangenheit tabuisiert werden. Zu diesen Kapiteln unserer gemeinsamen europäischen Vergangenheit gehört eben auch die gewaltsame Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat. Der Wahrheit entgegen steht die einseitige Sicht, das Ende des Zweiten Weltkrieges ausschließlich als »Tag der Befreiung« zu bejubeln, wie es zunehmend geschieht.

Angela Merkel sagte als Vorsitzende der CDU Deutschland am 6. September 2003 in ihrer Rede zum Tag der Heimat mit Recht: »Das erinnert uns daran, dass die Befreiung Europas und auch Deutschlands vom Nationalsozialismus damals für viele Deutsche keineswegs anbrechende Freiheit und das Ende von Leid bedeutete. In der östlichen Hälfte Europas und in Mittel- und Ostdeutschland übernahm eine neue totalitäre Diktatur die Herrschaft. Wir müssen die Geschichte von Flucht und Vertreibung als Teil unserer gesamtdeutschen Geschichte ansehen und wir müssen sie weiter vermitteln. Dies gehört für mich zum historischen Bestand unserer Nation und zu einer zukunftsfähigen Kultur des Erinnerns.«

Trauer um Deutsche – Schlupfloch aus der Verantwortung?

»Der Mensch nimmt nicht eher Anteil am anderen Glück oder Unglück, als bis er sich selbst zufrieden fühlt.«

Immanuel Kant

»Mit Liebe kam ich, nicht mit Hass.« Dieser Satz der Antigone zu König Kreon in dem zeitenüberdauernden Drama von Sophokles gilt dem toten und entehrten Bruder. Ihn, den Besiegten, will sie bestatten, und sie setzt ihr Leben ein für die menschliche Kultur der Totenehrung.

Alljährlich versammeln sich in Deutschland viele Tausende zum Volkstrauertag, um der Toten zweier Weltkriege, der Opfer von Gewaltherrschaft und von Flucht und Vertreibung zu gedenken. Kann man überhaupt gemeinsam trauern? Ist ein Mensch, sind wir, ist jeder für sich in der Lage, die Trauer seines/unseres Nachbarn, so wie dieser sie fühlt, mitzutrauern? Sicher nicht. Schmerz, auch Trauerschmerz, ist sehr persönlich. Und dennoch, eine Gemeinschaft von Menschen, die mitzufühlen versucht, ist tröstlich für den Verzweifelten. Sie gibt ein Stück Geborgenheit in großer Einsamkeit und seelischem Verlassensein. Die Trauer um den gefallenen Vater, den Verlobten oder Ehemann, die ermordete Mutter, die nie gekannte Schwester, Trauer um alle diejenigen, die in der Weite Europas an unbekannter Stelle oder in Massengräbern ruhen. Trauer um die, die in den Konzentrationslagern ein schreckliches Ende fanden. Trauer um die, die von den Trümmern unserer zerbombten Städte erschlagen wurden oder darin verbrannten. Für alle die, für die es kein liebevolles Grab gibt, das wir mit unserer Trauer verbinden könnten, um Frieden für uns selbst zu finden.

Wird Trauer Trost oder Trauma? Fragen wir uns das an einem einzigen Schicksal! »Liebe Mutter! Ich liege hier in einem Behelfskrankenhaus auf dem Flur und muss morgen weiter, weil alles überfüllt ist und die Russen auch hierher kommen (…). Bitte, erschrick nicht, liebe Mutter, aber ich bringe Gabi nicht mit, und ich habe einen erfrorenen Arm. Ich hätte Gabi sonst noch weitergetragen (…). Ich habe sie gut eingewickelt und an der Straße (…) tief in den Schnee gelegt. Da war Gabi nicht allein, denn mit mir waren ein paar tausend Frauen mit ihren Kindern unterwegs, und sie legten auch die Gestorbenen in den Graben, weil dort bestimmt keine Wagen und keine Autos fahren und ihnen noch ein Leid antun können (…). Es war so schrecklich kalt, und es stürmte so eisig, und es fiel Schnee, und es gab nichts Warmes, keine Milch und nichts (…). Hier liegt eine Frau aus der Brandenburger Straße. Die hat alle drei Kinder verloren.«

Ein Flüchtlingsschicksal von Millionen. Das Grab des Kindes – ein Graben am Wegrand. Nicht mehr oder weniger als Fraß für Füchse und Wölfe. Wo soll da Trost sein in der Erinnerung? Vielleicht der Graben, der die kleine Leiche davor schützt, überrollt zu werden? Wohl eher in einer gemeinsamen Leidenserfahrung mit den anderen Müttern.

Oder das Trauern der Schwester, die nicht weiß, wo ihr 1945 gefallener 17-jähriger Bruder liegt, wie er gestorben ist, ob es schnell ging, ob er sehr leiden musste. Es gibt kein Grab zu pflegen. Aber es gibt andere Menschen, die mit ihr dieses Schicksal teilen und deshalb Anteil nehmen können. Oder unsere jüdischen Nachbarn, die noch rechtzeitig Deutschland verlassen konnten, aber ihre lieben Angehörigen nicht. Auch für sie gibt es kein Grab, das mit den geliebten Menschen zu verbinden ist. Es bleiben die Gedenkstätten des Grauens als Verortung der Trauer und die Hoffnung auf Mittrauernde.

Der Goethepreisträger Raymond Aron stellte fest: »Der Charakter und die Selbstachtung einer Nation zeigen sich darin, wie sie mit ihren Opfern der Kriege und mit ihren Toten umgeht.«

Wo wir selbst aus Krieg und Gewaltherrschaft niemand persönlich zu beklagen haben, müssen wir denen Stütze geben, die daran bis heute leiden. Wir sollten sie in ihren Traumata nicht alleine lassen. Wir haben aber noch eine andere Aufgabe: die Erinnerung an die vielen Millionen Toten der Weltkriege und zweier deutscher Diktaturen als beständige Mahnung, Politik so auszurichten, dass der Friede erhalten, dass die Würde von Menschen unangetastet bleiben.

Relativiert die Trauer um unsere Opfer nach allem, was Hitler mit dem Nationalsozialismus über die Welt und Millionen Menschen gebracht hat, die deutschen Verbrechen? Ist unsere Trauer ein Schlupfloch aus unserer Verantwortung, die die Geschichte uns aufgegeben hat? Wer unfähig oder unwillig ist, seine eigenen Toten zu betrauern, wird niemals ehrlich Anteil nehmen am Leid anderer. Ein kaltes Herz ist gegen jedermann kalt.

Carl Zuckmayer hat in seinem amerikanischen Exil am 12. März 1944 eine öffentliche Trauerrede zum Tod seines Freundes Carlo Mierendorff gehalten, der wenige Monate zuvor durch Fliegerbomben in Leipzig sein Leben verloren hat. Darin hat Zuckmayer ergreifende Worte gefunden, die uns auch heute weiterhelfen können: »Wenn ein Carlo Mierendorff in Deutschland gelebt, sein Leben lang für das deutsche Volk gewirkt hat und ihm in Not und Leiden treu geblieben ist – dann ist dieses Volk nicht verloren, dann ist es wert zu leben, dann wird es leben! (…) Aber aus der Erkenntnis des Todes erwächst uns das Lebensbild. Nur aus der Totenmaske erhebt sich das wahre Angesicht, nur aus dem Grab die Auferstehung, nur aus der Vergängnis das Zeichen der Ewigkeit. Deutschland, Carlos und unser Vaterland, ist durch eine Tragödie gegangen, die so tief und so schaurig ist wie der Tod. Deutschlands Schicksal erinnert an jenes dunkle Christuswort von dem Ärgernis, das in die Welt kommen muss – aber wehe dem, der es in die Welt gebracht hat. Deutschland ist schuldig geworden vor der Welt. Wir aber, die wir es nicht verhindern konnten, gehören in diesem Weltprozess nicht unter seine Richter. Zu seinen Anwälten wird man uns nicht zulassen. So ist denn unser Platz auf der Zeugenbank, auf der wir Seite an Seite mit unseren Toten sitzen – und bei aller Unversöhnlichkeit gegen die Peiniger und Henker werden wir Wort und Stimme immer für das deutsche Volk erheben.«

Zwei Beamte des amerikanischen Geheimdienstes, die Deutsch verstanden, saßen bei dieser Trauerversammlung dabei und hinderten Zuckmayer nicht, in der härtesten Kriegszeit solche Worte zu sprechen.

Immer wieder hören wir bis heute den Ruf nach einem Schlussstrich. Aber wer immer nach einem Schlussstrich ruft, um sich von Hitlers Taten zu befreien, sich seiner Verantwortung für die Vertreibung zu entledigen oder um das Unrechtssystem der DDR vergessen zu machen, der beraubt sich seiner eigenen Vergangenheit, ja, er versagt sich seiner umfassenden Trauer. Der Ruf nach einem Schlussstrich, er hört sich sehr verlockend an. Er scheint ein Königsweg in die Zukunft, so federleicht ganz ohne den drückenden Ballast unserer Geschichte. Aber ist er das wirklich? Ein Schlussstrich unter die Vergangenheit trennt nicht nur die Zeit von 1933 bis 1989 heraus. Er tilgt auch alles, was davor lag. Das, was Künstler, Wissenschaftler, Forscher an Werten geschaffen haben. Ein Schlussstrich tilgt die Zeit, als Deutschland »in der Gnade« war, wie es der Dichter Fritz von Unruh in seiner ergreifenden Rede zur Wiedereröffnung der Frankfurter Paulskirche 1948 formulierte.

»So ist es nicht gemeint«, sagen die Schlussstrichrufer, die es nicht nur in Deutschland gibt, sondern auch in Polen, auch in der Tschechischen Republik – aus anderen Gründen, um ihre Verantwortung für die Vertreibungen der Deutschen vergessen zu machen. Also, nur die Jahrzehnte ausblenden, die schwer zu bewältigen sind, damit der Weg in die Zukunft leichter wird? Beim Gang zurück in die gute gemeinsame Geschichte geraten wir, geraten unsere Kinder und Kindeskinder dann immer und immer wieder an den Rand eines tiefen geschichtlichen Grabens, der Neugierige und auch böse Geister entfesseln wird. Dieser vermeintlich leichte Akt des Schlussstrichs wäre am Ende der schwerere Weg für unser Volk und auch für Europa. Schon aus eigenem Interesse sollten wir uns nicht danach sehnen. Ein Volk, das nicht weiß, woher es kommt, wird auch nicht wissen können, wohin es gehen soll. Nur Vergangenheit und Gegenwart gemeinsam weisen den Weg in die Zukunft. Das Ausblenden der Vergangenheit raubt genauso ein Stück der Zukunft wie das Ignorieren der Gegenwart. Schlussstriche sind keine Hilfestellung, sondern Blockaden für eine gute gemeinsame Zukunft. Ein Volk ohne Erinnerung ist wie eine Pflanze ohne Wurzeln. Die Erkenntnis des großen Philosophen Hans-Georg Gadamer, dass selbst ein Revolutionär der Geschichte nicht entrinnen kann und er deswegen lieber produktiv in sie eintauchen sollte, ist längst nicht Allgemeingut. Den Willen dazu aber gibt es überwiegend.