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Aus heiterem Himmel wirft ein alter Brief ein völlig neues Licht auf den Jahre zurückliegenden Tod von Jonas Vater. Jonas beschließt, den Dingen auf den Grund zu gehen – aber seine Familie mauert.
Auch die Vermittlung eines alten Bekannten bringt nicht den erhofften Durchbruch, dafür trifft Jonas auf Luca, in den er sich vom Fleck weg verliebt. Dass Besagter HIV-positiv ist, stellt für Jonas kein Hindernis dar, dennoch gestaltet sich Lucas Eroberung unerwartet kompliziert.
Nach etlichen Hindernissen und Rückschlägen neigt sich ein turbulentes Jahr zwischen Verlust, Verlustängsten und neuen Perspektiven, in dem sogar die Vergangenheit noch einen Teil ihrer Geheimnisse preisgibt, dem Ende zu.
Jonas wähnt sich endlich in Sicherheit, als ein kurzer unbedachter Moment wieder alles in Frage stellt.
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Veröffentlichungsjahr: 2016
2008
„Auf Gleis 4 fährt ein, IC 2029 kommend aus Hamburg nach Nürnberg, via Mainz, Frankfurt, Aschaffenburg…“ leierte die monotone Frauenstimme aus dem Lautsprecher herunter.
„Verdammter Mist!“ fluchte Lena. „Mensch, Jonas, beeil dich doch mal!“
Sehr witzig.
Ob es daran lag, dass s i e mit ihrem Gepäck die halbe Treppe blockierte?
„Jetzt gib schon her!“
Kurzerhand drängelte ich mich vor und schnappte mir den Koffer, nicht grade gentlemanlike, aber Hauptsache effizient. Es machte ja wohl keinen Sinn, dass Lena ihren Zug verpasste (wohlgemerkt den zweiten für heute), nur weil sie es sich in den Kopf gesetzt hatte, dieses Monstrum allein zu wuchten! Zu allem Überfluss war nämlich die Rolltreppe ausgefallen und ich hatte die Schnauze voll davon, von allen schief angeguckt zu werden.
Okay, der Trümmer von Koffer war exakt so schwer wie er aussah, aber wenigstens war der Zickenalarm bis zur obersten Treppenstufe verraucht, wo Lena ihre Last wieder bequem ziehen konnte und der angekündigte Intercity nun sowieso erst in den Bahnhof geschlichen kam. Staub und ein paar trockene Ästchen hoben ab und wir bekamen die frostige Kältewolke über, die der Zug vor sich her geschoben hatte.
„Brr!“
Meine Freundin schüttelte sich, hatte aber ansonsten schon wieder die Ruhe weg: leicht atemlos waren allenfalls noch ihre obligatorischen Abschiedsküsschen. Immerhin tauchte ihr Gesicht, welches zuletzt fast gänzlich im Webpelzkragen ihrer weißen Steppjacke verschwunden war, ansatzweise wieder auf dabei.
Na gut, für Mitte Oktober waren die Temperaturen ganz schön in den Keller gegangen, da musste man nicht mal so eine Frostbeule sein wie sie!
„Nächstes Mal in K’town! Ich vermiss dich!“
„Ist gebongt. Ich dich auch!“
Doch, ehrlich - selbst wenn mich das Wochenende total geschafft hatte, die Schlampereimit dem Fahrplan vorhin noch gar nicht mitgezählt…
In aller Hektik hatten wir eine Ersatzroute austüfteln müssen, was mangels Alternativen an diesem Sonntagabend gar nicht so einfach gewesen war.
Viel hatte nicht gefehlt und ich hätte eine Nachtschicht einlegen und Lena chauffieren können.
Entsprechend erleichtert hieß ich also den Zug willkommen, der mit einem leisen Quietschen neben uns zum Stehen gekommen war. Er war nur mäßig besetzt und sofern überhaupt jemand den Kopf gehoben hatte, waren die Gesichter an den erleuchteten Scheiben müde und desinteressiert. Die ersten Reisenden stiegen bereits aus, da gesellten sich noch zwei Nachzügler zu uns. Ein Alukoffer schepperte lautstark zu Boden und verfehlte nur um Haaresbreite meinen Fuß.
„Machs gut, Süßer!“
Ohne nach rechts oder links zu blicken, flog der Besitzer des Gepäckstücks seinem Begleiter in die Arme und die beiden verabschiedeten sich mit einem satten Kuss, den scharfen Pfiff des Schaffners ignorierend. Erst in allerletzter Sekunde zwängte sich der kleinere der beiden Neuankömmlinge mit seinem Gepäck noch durch die bereits schließenden Zugtüren.
Fast hätte ich darüber meinen Einsatz verpennt und so lief ich ein paar Schritte neben dem anfahrenden IC her, auf gut Glück winkend, wo auch immer Lena zuletzt abgeblieben war. Der Bahnsteig hatte sich währenddessen geleert, die Handvoll Reisender, die zuvor hier in Koblenz ausgestiegen war, hatte sich längst zerstreut. Ein Flaschensammler mit einer riesigen Plastiktüte lieferte sich ein Duell mit einem Mann in neonorangener Weste, der dabei war, die Müllsäcke zu erneuern und darüber hinaus war nur der zweite der Männer übrig geblieben, die diesem Abend einen Moment lang ihr Ausrufezeichen aufgedrückt hatten. Genau wie ich hatte derjenige dem Zug nachgewunken und war nun im Begriff zu gehen.
Der Weg zum Ausgang führte an ihm vorbei, wobei ich ihn zwar nicht auffällig anglotzte, aber neugierig war ich ja irgendwie doch. Noch immer lag das Abschiedslächeln auf seinen Lippen und er…
„Jonas?“
Mist.
Jetzt hatte er doch was gemerkt – und woher wusste er meinen Namen?
Das Gesicht, in welches ich nun ganz offen starrte, sagte mir überhaupt nichts, darüber hinaus war der Typ bestimmt schon 40, groß, hager, Brillenträger.
„Dich hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen!“
Es war der Klang der Stimme, der mir auf die Sprünge half.
„Maik!“
Sein Lächeln bestätigte meine Ahnung.
Ups.
Der vermeintlich Unbekannte war mein langjähriger Tennistrainer.
Nachdem das geklärt war, ging ich auf ihn zu und wir schüttelten die Hände.
„Ich hätte dich fast nicht erkannt“, verkündete ich nicht wirklich charmant, aber Maik nahm es mit einem Lachen.
„Ich musste auch zweimal hingucken. Seit unsrer letzten Begegnung bist du bestimmt noch einen halben Meter gewachsen! Gut siehst du aus!“
„Äh…“ Das unerwartete Kompliment brachte mich etwas aus dem Konzept, erklärte aber ein Stückweit meine lange Leitung von vorhin: Die Perspektive stimmte nicht. Soviel wie Maik behauptet hatte, war ich natürlich nicht mehr gewachsen, aber es war ungewohnt, ihm auf Augenhöhe gegenüberzustehen, vielleicht war ich sogar einen Tick größer als er.
„Und wie geht es dir?“
„Wie’s einem so geht. Andi hat ein Seminar in Nürnberg. Wird eine öde Woche.“ Nach einem flüchtigen Achselzucken deutete Maik in Richtung des Intercitys, von dem man mit viel Phantasie noch die roten Rücklichter in der Dunkelheit ausmachen konnte. „War das deine Freundin eben?“
„Um Himmels Willen!“ platzte ich heraus, nur um angesichts des aufblitzenden Schalks in Maiks Augen zu relativieren: „Also, Lena ist schon ne gute Freundin…“
„Das war Lena?“ fiel er mir sichtlich verblüfft ins Wort. „Die hatte ich viel pummeliger in Erinnerung.“
Nun war ich an der Reihe mit wundern, aber klar kannte er Lena auch noch von früher. Schließlich waren wir seit einer halben Ewigkeit befreundet --- aber pummelig? Gut, dass sie das jetzt nicht gehört hatte!!!
„Mann, hast du ein Gedächtnis!“
Eine leise Ahnung wie Lena mit 14 ausgesehen hatte, tauchte aus der Versenkung auf, ein ziemlich verschwommenes Bild bloß. Ihre langen geflochtenen Zöpfe waren jedenfalls ebenso Geschichte wie die angedeuteten Speckpölsterchen und mit ihren 1,84m stand sie mir größenmäßig kaum etwas nach.
Nach unserer Begrüßung hatten mein Gesprächspartner und ich noch ein paar Minuten beieinander gestanden, aber mittlerweile hatten wir uns Seite an Seite auf den Rückweg gemacht, welcher am Süßigkeitenautomaten vorbei zur Treppe führte. Der Flaschensammler hatte seine Mission beendet und stieg vor uns die Stufen hinab.
In dem wenig einladenden Tunnel mit den weiß gekachelten Wänden unterhalb der Gleise trennten sich unsere Wege.
„Ich hab auf der anderen Seite geparkt“, erklärte Maik und deutete auf den rückwärtigen Ausgang in Richtung Goldgrube. „Wir waren erst auf den letzten Drücker hier, und vorn ist ja meist alles voll.“
Wir mussten einen Schritt zurücktreten, da wie aus dem Nichts heraus ein Schwarm Menschen den Gang überflutete, in der Hauptsache Franzosen, wie das Stimmengewirr einen vermuten ließ, aber genauso plötzlich wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder und Maik und ich standen uns allein gegenüber.
Er nahm einen zweiten Anlauf sich zu verabschieden, doch ich zögerte noch. Mein Gegenüber konterte mit einem Blick auf seine Armbanduhr und einem knappen bedauernden Schulterzucken.
„Schade, aber ich hab gleich noch ne Verabredung und die Zeit langt nicht mal mehr für nen Kaffee.“
Er kramte einen Kuli aus der inneren Jackentasche hervor und ein kleines weißes Papierchen – eine Visitenkarte, wie ich später merkte – und kritzelte ein paar Zahlen auf die Rückseite.
„Aber lass uns das nachholen! Ruf mich an, wenn du magst.“
* * * * *
4 entgangene Anrufe
Meine Ahnung.
Hastig flogen meine Finger über die Tasten.
Ansehen - Rückruf
„Wo steckst du denn?“ trötete es mir vorwurfsvoll entgegen. „Ich hab den ganzen Abend gewartet.“
„Bin grade erst heimgekommen. Wie üblich hat Lena alle Pläne gesprengt.“
„Du hättest ja wenigstens anrufen können!“
Nein, hatte ich nicht! Bei unserem überstürzten Aufbruch hatte ich nämlich das Handy auf dem Schreibtisch liegen lassen.
„Soll ich dich abholen kommen?“
„Lohnt sich nicht mehr. Du weißt doch, dass ich um zehn daheim sein muss.“
Dass meine bessere Hälfte erst 17 war, war in vielerlei Hinsicht gewöhnungsbedürftig!
„Kann ich wenigstens für ein paar Minuten vorbeikommen? Wir haben uns das ganze Wochenende nicht gesehen.“
„Geht nicht. Meine Mutter ist zuhause. Und wenn sie mitkriegt, dass ich jetzt noch telefoniere, holt sie mir das Handy ab.“
Siehe oben.
„Was machst du?“
„Fernsehn.“ „Liegst du schon im Bett?“
„Hm.“
„Wart mal kurz.“ Ich legte das Handy beiseite, bis ich die Jeans ausgezogen hatte, unter die Bettdecke geschlüpft war und das Licht gelöscht hatte.
„Stell dir’s vor.“
„Was?“
„Dass ich neben dir liege. Meine Lippen berühren deine Haut, die feinen Härchen darauf… Ich will dich überall küssen, deine Hitze atmen …“
„Psst! Meine Mutter!!!“
„Als ob die mich hören könnte!“
„Manchmal hast du echt einen an der Waffel! Gute Nacht jetzt.“
* * * * *
Ob Maik tatsächlich mit meinem Anruf gerechnet hatte, sei mal dahingestellt.
Für mich hingegen war er beschlossene Sache gewesen, auch wenn ich anstandshalber noch zwei Tage damit gewartet hatte.
Von da an bis zu unserer Verabredung am Freitagnachmittag wurde meine Geduld auf eine mittelschwere Probe gestellt, aber immerhin war es einer der vierzehntägigen Berufsschultage, wo schon um eins Schluss war und nicht wie an einem normalen Arbeitstag erst um fünf.
Mithilfe von Maiks Wegbeschreibung fand ich den Weg auf Anhieb, obwohl Metternich ausgerechnet einer der Stadtteile war, in denen ich mich kaum auskannte. In Anbetracht der beengten Einbahnstraße stellte ich mein Auto auf dem benachbarten Supermarktparkplatz ab und ging die letzten Meter zu Fuß. Dabei nahm ich den Rucksack vorsichtshalber mit – hundertprozentig geheuer war die Gegend mir nicht.
Die Straße an sich war schmal und düster. Zweigeschossige Backsteinbauten reihten sich aneinander, mit hervorspringenden Erkern, den verschiedensten Giebeln und teilweise mit Dachausbau. Sie waren schätzungsweise ein Jahrhundert alt und grenzten unmittelbar an den Bürgersteig an. Wie bei den anderen auch führte vor der Hausnummer 18 eine kleine Treppe hinauf zum Eingang. Im Türrahmen gab es zwei Klingelschilder aus schwarzem Metall, von denen nur eines beschriftet war:
M. Fischer/A. Reinhardt
In der Sekunde, wo ich den Klingelknopf drückte, schlug die gespannte Erwartung schlagartig um in Nervosität, aber da war es zu spät. Postwendend folgte das Summen des Türdrückers. Ich stieß die Haustür auf und – stand im Finsteren.
Der krasse Lichtwechsel war schuld daran, dass ich im ersten Moment wie blind war.
Mit der Zeit schärften sich die Umrisse, aus dem Nichts tauchte eine breite Treppe, die genau vor mir nach oben führte, auf. Seitlich daneben ging es zum Hinterausgang, welcher allerdings durch einen Rasenmäher blockiert wurde. Ein schmutziges quadratisches Fenster am Ende des Gangs ließ nur wenig Licht herein und die zweite Ursache für den düsteren Flur war der Fußboden aus dunklen Steinplatten.
Zu meiner Rechten endete der Hausgang vor einer Wohnungstür.
Abwartend hielt ich inne.
Dann hörte ich, wie oben eine Tür geöffnet wurde und beinahe gleichzeitig ging das Licht an.
Pfoten tapsten über Holz und im nächsten Augenblick kam ein kleiner Beagle in einem Affenzahn um die Biegung der Treppe geschossen.
„Luna, aus!“ rief jemand.
Der Hund machte sich nichts draus und raste auf mich zu. Wild wedelnd und kläffend baute er sich vor mir auf, und als ich nicht gleich schaltete, sprang er an mir hoch. Er gab erst Ruhe, nachdem ich in die Knie gegangen war und ihn eine Runde gekrault hatte, dann machte er genauso blitzartig kehrt wie er aufgetaucht war und flitzte die Stufen wieder hinauf.
Die flachen, ausgetretenen Holzstiegen knirschten leise unter meinen Tritten auf meinem Weg nach oben, wo Maik mich im ersten Stock in der geöffneten Tür erwartete. Der Beagle umkreiste aufgeregt seine Füße.
Die restlichen Treppenstufen bis dorthin waren eine gefühlt zähe, klebrige Masse, an der die Sohlen meiner Schuhe zu haften schienen. Mit jedem Schritt wurde ich langsamer.
Endlich angekommen, streckte Maik mir die Hand zur Begrüßung entgegen.
„Hallo Jonas! Schön dich zu sehen.“
„Hi, Maik. Stör ich dich echt nicht?“
„Quatsch, ich freu mich! Und die kleine Neugierde hier konnte es gar nicht erwarten.“
Er ging voraus durch einen schmalen geraden Flur, von dem mehrere Türen abgingen.
Der Fußboden war mit anthrazitfarbenen glänzenden Platten gefliest, weißer Rauputz bedeckte die Wände. Ein paar farbenfrohe Aquarelle hingen dort: Landschaftsbilder, aus der Toskana vielleicht. Davon abgesehen gab es bloß noch eine moderne Garderobe aus Holz und Chrom. Auch wenn ich in früheren Zeiten schon mal bei ihm zu Besuch gewesen war, kam mir nichts davon bekannt vor.
Maik trat durch eine geöffnete Tür, wie absehbar, ins Wohnzimmer. Der Hund blieb neugierig schnuppernd auf unseren Fersen.
„Andi kommt erst gegen sechs“, erklärte mein Gastgeber, aber an den hatte ich sowieso schon nicht mehr gedacht. Während er einladend auf das Sofa deutete, erkundigte er sich: „Kann ich dir etwas zum Trinken anbieten?“
„Eine Cola? Oder einen Saft? Was du da hast.“
Er nickte zustimmend und machte kehrt.
Den Rucksack lehnte ich ans Sofa, außerdem warf ich meine Jacke über die Lehne, aber ich selbst blieb stehen und guckte mich neugierig um. Das Zimmer an sich war so makellos aufgeräumt, dass es schon wieder langweilig war und obendrein so gut wie leer, deshalb trat ich an das große Fenster mit Fensterrahmen aus dunklem Holz. Üppige Grünpflanzen säumten die breite Fensterbank, die mir größtenteils die Sicht nach draußen versperrten.
Tatsächlich gab es einen Garten hinter dem Haus, wenn auch nur ein schmales Rechteck, welches von der Häuserfront der Parallelstraße begrenzt wurde. Ein hoher Lattenzaun teilte das Grundstück in der Mitte und trennte es seitlich ab von den benachbarten Parzellen.
Die Terrassenplatten waren moosbedeckt, doch der Rasen war gemäht, die Sträucher sorgfältig geschnitten und in mehreren Blumenkübeln konnte man noch die einstige bunte Blumenpracht erahnen.
„Um draußen zu sitzen, ist es mittlerweile zu kühl“, sagte eine Stimme hinter mir.
Ohne dass ich es bemerkt hatte, war Maik mit einer Colaflasche in der einen und zwei Gläsern in der anderen Hand zurückgekehrt.
„Dein Garten?“ nuschelte ich und eilte mich, mich zu hinzusetzen.
Sofort kam der Beagle herbei gerannt, stupste auffordernd mit der Nase gegen mein Schienbein und warf sich dann vor meine Füße. Es war ein schönes zweifarbiges Tier, überwiegend weiß mit hellbraunen Ohren und an Kopf und Rücken im gleichen Farbton gefleckt.
„Ja, das Grundstück gehört mir“, bestätigte Maik. „Für zwei Personen ist das Haus eigentlich ja viel zu groß. Früher hatten wir die Erdgeschosswohnung vermietet, aber mit den Mietern gab es ständig Zauber. Wir waren heilfroh, als sie endlich draußen waren! Also haben wir beschlossen auf weitere Experimente zu verzichten.“
Ich beugte mich herab und streichelte den Hund am Hals. Er drehte den Kopf und seine kleine feuchte Zunge kitzelte mein Handgelenk.
„Dafür ist der Hund eine Nummer kleiner als früher“, stellte ich mit einem Lachen fest.
Vor dem Schäferhundmischling Anka hatte ich seinerzeit entschieden mehr Respekt gehabt.
Maik lachte auch.
„Stimmt, das hat die Prinzessin schön raffiniert eingefädelt. Vorgesehen war das nämlich nicht“, verriet er mir augenzwinkernd.
„Wieso?“
„Wir hatten den Hof des Tierheims noch nicht richtig betreten, als sie über uns hergefallen ist. Vom ersten Meter an ist sie uns auf Schritt und Tritt gefolgt und sobald wir irgendwo anders hinwollten, hing sie mit den Zähnen an unseren Hosenbeinen.“ Kopfschüttelnd musterte er Luna, die nun mit ausgestreckten Pfoten auf dem Bauch lag und unschuldig in die Höhe schielte. „Wir konnten gar nicht anders, als die kleine Schnecke mitzunehmen.“
Luna stieß ein leises Knurren aus.
„Ja, ich weiß, du bist ein Kampfhund“, schmunzelte Maik.
Er stellte die Gläser auf den Tisch und schraubte die Flasche auf. Der Augenblick, in dem er uns einschenkte, gab mir Gelegenheit, ihn mir unauffällig zu begucken, von den kurzen, glatten aschblonden Haaren über die Brille, das lindgrüne Sweatshirt von Nike, welches um seinen Oberkörper schlabberte bis hin zur engen Jeans. Er trug Sportsocken, aber keine Schuhe.
Die langen Klamotten verhinderten den direkten Vergleich, denn meine Erinnerung spiegelte mir einen braungebrannten, athletischen Typ im kurzen Sportzeug vor. Zugenommen hatte er augenscheinlich nicht.
Maiks Alter dagegen gab mir weiterhin Rätsel auf.
Ich musste mich letzten Sonntag verschätzt haben.
Logisch war er seit dem jähen Ende meiner Tenniskarriere auch sechs Jahre älter geworden, aber damals war er doch höchstens Ende 20 gewesen.
Seine Haare waren ziemlich dünn geworden, aber großartig Falten schien er keine zu haben. Wenn man sich die Brille wegdachte, sah er eigentlich aus wie immer.
Aber merkwürdig war es trotzdem.
Maik schob mir das Glas hin und machte es sich auf dem Sessel gegenüber bequem.
„Finde ich klasse, dass du dich mal wieder blicken lässt. Ist ne ganze Weile her.“ Neugierig und kein bisschen versteckt musterte er mich nun. „Gehst du noch zur Schule?“
„Hab im Frühjahr das Abi gemacht.“
„Und jetzt studierst du?“ vermutete er.
Ich schüttelte den Kopf.
„Ich mache eine Ausbildung zum Feinwerkmechaniker“, gab ich ihm Auskunft. „Eigentlich wollte ich anschließend Maschinenbau studieren.“
„Und, wie läuft’s?“ „Bisher jede Menge Theorie.“ Naserümpfend präzisierte ich: „Arbeitsrecht, Tarifrecht, Umweltschutz, Unfallverhütungsvorschriften…“
„Klingt einschüchternd“, stimmte Maik mir zu. „Liegt dir der praktische Bereich denn mehr?“
„Na ja. Ich hätte mir das Ganze nicht so kompliziert vorgestellt. Du musst unglaublich präzise arbeiten, sonst ist alles für die Tonne. Ich glaube, ich fange danach was Anderes an.“ Ich zuckte mit den Achseln. „Zum Bund muss ich ja auch noch.“
Maik schien zu spüren, dass ich die Materie nicht weiter auswalzen wollte und überfiel mich mit einer neuen Frage.
„Spielst du ab und an noch Tennis?“
„Seit Jahren nicht mehr.“ Bei meiner vehementen Abwehrbewegung schwappte fast die Cola über. Hastig leerte ich das Glas und stellte es weg. „Ehrlich gesagt, hab ich es schon damals gehasst.“
Ein Grinsen.
„Das habe ich gemerkt. Schade eigentlich. Du warst echt gut.“
Nicht halb so gut wie du, ergänzte ich in Gedanken und schwenkte einer Eingebung folgend den Kopf zur Seite.
In seiner alten Wohnung hatte in der Ecke links vom Fenster doch eine Vitrine voller Pokale gestanden?
In jedem Falle befand sich dort jetzt eine riesige Zimmerpalme.
„Du bist auch nicht mehr beim TC?“ vergewisserte ich mich dessen, was ich mir schon gedacht hatte.
„Nein, knapp vier Jahre nicht mehr“, bestätigte mein Gastgeber.
Ich überlegte, ob ich ihn nach dem Grund dafür fragen sollte, aber Maik kam mir zuvor.
„Nur um der alten Zeiten wegen bist du aber nicht hergekommen, stimmt’s?“
Boing!
Mir stieg die Hitze ins Gesicht und ich wurde mindestens tomatenrot.
„Ich…“
Verhext.
Eine bessre Vorlage hätte er mir gar nicht liefern können, aber alles was ich davon kriegte, war Herzrasen und diesem intensiven Blick aus den an und für sich blassbraunen Augen konnte ich schon gar nicht standhalten. Das Warm-Up war eindeutig zu kurz gewesen.
„Eine Coming-Out-Geschichte?“ ermutigte Maik mich.
„Wie?“ schreckte ich aus meinen Gedanken, von seiner Direktheit genauso überrumpelt wie von diesem Blick neulich am Bahnhof. „Aber… Nee.“
Wenn es nur das gewesen wäre!
„Ich bin mit jemand zusammen. Marian. Auch wenn es irgendwie nichts Halbes und nichts Ganzes ist.“
„Inwiefern?“
„Ach ich weiß nicht.“
So konkret gefragt, wusste ich nicht genau, wie ich das Dilemma erklären sollte.
Schließlich war ich es gewesen, der auf Marian zugegangen war! Kennengelernt hatten wir uns vor etwa drei Monaten, an unserem ersten Berufsschultag. Von Anfang an hatte ich ihn irgendwie niedlich gefunden mit seinen langen dunkelbraunen Locken, der Stupsnase und den dunklen verträumten Augen.
Ich war mir sicher gewesen, dass da was ging und hatte mich nicht getäuscht. Inzwischen hatte ich allerdings so ein bisschen das Problem, dass ich nicht wusste, wie ich ihn wieder loswerden sollte.
Den ganzen Schlamassel solchermaßen wiederkäuend, checkte ich erst nach einer Weile, dass Maik mich nach wie vor aufmerksam beobachtete.
„Keiner darf was merken, nicht mal seine Mutter. Dafür klebt er an mir wie eine Klette. Sogar auf Lena neulich war er eifersüchtig!“ rasselte ich runter. „Dabei war er es doch, der nicht mitkommen wollte!“
„Lass ihm Zeit“, riet Maik.
Du kennst Marian nicht, dachte ich pessimistisch, während ich pflichtschuldigst nickte.
Maik räusperte sich.
„Also dann?“
Ich holte tief Luft.
„Eigentlich hab ich gehofft, ich könnte dich was fragen.“
„Jetzt mach’s nicht so spannend!“
„Wegen der Visitenkarte, die du mir am Bahnhof gegeben hast…“, begann ich stockend. „Ich hab erst daheim gemerkt, dass es die Kontaktdaten der AIDS-Hilfe waren. Und dann war ich auf der Homepage und hab gesehen, dass du da mitmischst…“
Nun verhedderte ich mich trotz aller guten Vorsätze.
Ich zwang mich stillzusitzen und nicht rumzurutschen als stünde das Sofa in Flammen - und seit wann hielt ich eigentlich die Jacke in den Händen?
So wie ich mich aufführte, musste Maik doch zwangsläufig denken…
Unmöglich zu sagen, was ihm tatsächlich im Kopf rumging, sein Gesichtsausdruck war nun vollkommen neutral. Seelenruhig beugte er sich vor, füllte die Gläser von neuem und schob mir meins wieder hin.
„Was hast du denn auf dem Herzen?“
„Es ist nicht, was du denkst. Sondern wegen meinem Vater.“
Ging doch. Auch wenn sich das hier nicht unbedingt nach meiner Stimme anhörte.
Maik hob minimal die linke Augenbraue.
„Ich dachte, dein Vater…“
„…ist tot“, komplettierte ich den angefangenen Satz. „Deshalb ja. Vielleicht kannst du da was zurechtrücken.“
Ich griff in die Tasche meiner Jeansjacke, die ich mittlerweile auf dem Schoß zusammengeknüllt hatte und warf einen zerknickten Briefumschlag auf den Tisch. Maik nahm ihn und glättete ihn sorgfältig mit beiden Händen auf seinem Oberschenkel.
„Was ist damit?“
„Lies selbst.“
Den Blick auf mich gerichtet, zog Maik mit Daumen und Zeigefinger den Inhalt aus dem Kuvert. Beim Auseinanderfalten flatterte zwischen dem handgeschriebenen Briefbogen eine vergilbte Todesanzeige heraus:
Gespannt wartete ich auf Maiks Reaktion, aber die winzige, absurde Hoffnung zerschlug sich, als er fragend den Kopf hob.
„Wer…?“
Ich zog die Schultern hoch.
„Frag mich was Leichteres.“
Es wurde wieder still, als Maik sich erneut über den Brief beugte, dessen Inhalt ich längst auswendig kannte.
16.09.90
Lieber Jonas,
manchmal holt einen die Vergangenheit ein, wenn man am wenigsten damit rechnet.
Nach einigem Zögern habe ich nun Gewissheit: Ich bin HIV-positiv.
Ich bin Dir eine Erklärung schuldig:
Bis vor sechs Jahren hatte ich eine Beziehung zu einem Mann. Es war eine verrückte Zeit, widersprüchlich,
verworren und auch sehr glücklich.
Wenn ich daran zurückdenke, dann ohne Bedauern und in Dankbarkeit.
Ich bitte Dich nicht um Verständnis. Vielleicht kannst Du die Tatsache akzeptieren.
All das ist lange vorüber und nichts davon hat mit meinen Gefühlen für Deine Mutter zu tun, die ich über
alles achte und bewundere.
Ich wünschte von Herzen, ich könnte länger für Euch beide da sein, aber die Vorstellung, eine Belastung für
Euch zu sein, ist mir unerträglich.
Wenn Du diese Zeilen liest, bist Du erwachsen.
Glaub mir, dass ich nicht anders handeln konnte.
Kannst Du mir verzeihen?
Für Deine Zukunft wünsche ich Dir vor allem Erfüllung & Zufriedenheit,
Menschen an Deiner Seite, die Dir Halt geben und ein offenes Ohr für Dich haben.
Sei mutig und laut,
bleib immer Du selbst & werde glücklich!
Ich bin überall bei Dir, wo Du nur willst.
In Liebe
Papa
Maik hatte die Zeilen gründlich studiert, ehe er das Blatt Papier neben sich auf die Lehne des Sessels legte und sich zerstreut am Kopf kratzte.
„Was für ein Schmalz“, höhnte ich.
Mein Gegenüber runzelte nur andeutungsweise die Stirn.
„Wie ist es passiert?“
„Die Moseltalbrücke. Circa anderthalb Jahre später“, fasste ich zusammen. „Aber das weiß ich selber erst seit vier Monaten. Sozusagen die Bonus-Überraschung zum 20. Geburtstag.“
„Das tut mir sehr leid, Jonas.“
Zum ersten Mal an diesem Nachmittag machte Maik einen unentschlossenen Eindruck.
Wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich bestimmt in seine Arme flüchten können, aber ich dachte gar nicht daran.
„Ich komme klar“, behauptete ich bockig.
Im selben Moment bereute ich meinen Tonfall schon wieder, doch Maik ging darüber hinweg und bohrte weiter: „Was nimmst du ihm übel?“
Das war der Startschuss.
„Hab ich gesagt, dass ich das alles wissen will? Wieso muss er mir den Müll aufbürden, mit dem er selbst nicht fertig geworden ist?“
Ein weiteres Mal zog Maik die Stirn in Falten.
„Die ganze Geschichte stimmt doch hinten und vorne nicht“, fuhr ich fort. „Wenn die Sache wirklich schon Jahre zurücklag, dann hätte er Mama und mich angesteckt, oder? Also hat er ja wohl auch später noch mit Kerlen rumgemacht“, ereiferte ich mich. „Glaubst du wirklich, er hat sich umgebracht, weil er Mama und mich schonen wollte? Ich sag dir, er war bloß zu feige, zum Arzt zu gehen und zuzugeben, wo er es sich geholt hat.“
Ich musste Luft holen und Maik nutzte die Gelegenheit, dazwischen zugehen.
„Das ist ein hartes Urteil, Jonas“, mahnte er. „Von allem anderen mal abgesehen, waren die Achtziger Jahre auch eine riesige emotionale Katastrophe. Wir können froh darüber sein, dass die Gespenster von damals inzwischen zumindest teilweise gebannt sind!“
„Erzähl mir nichts von den Achtzigern“, grollte ich. „Da warst du doch selbst noch ein Kind!“
Unversehens war Maik zum Blitzableiter für meinen aufgestauten Frust geworden.
„Abgesehen davon ist mein Vater nicht in den Achtzigern gestorben sondern im Januar 92.“
„So so“, erwiderte Maik in leicht ironischem Ton. „Wie lange gibt es denn deiner Meinung nach die Kombi-Therapien schon?“
Erwischt. Ich hatte keinen Schimmer.
Wenigstens hackte Maik nicht darauf rum, sondern erkundigte sich:
„Was hat deine Mutter dazu gesagt?“
„Ach die.“ Ich winkte ab. „Tante Doris hat mir die Story erzählt, als sie mir den Brief gegeben hat. Mama hab ich erst gar nicht gefragt.“
„Und weshalb nicht?“
„Zeitverschwendung. Über Papa redet sie nie. Was erwartest du, nachdem sie es mir fast 17 Jahre lang als Unfall verkauft hat? Was mit mir ist, interessiert sie doch einen Dreck.“
Als Ärztin für Allgemeinmedizin hatte sie ein offenes Ohr für so ziemlich jeden Hinz und Kunz, wogegen sie meine Existenz bisweilen komplett übersah.
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, widersprach Maik. „Ich habe sie immer sehr einfühlsam und verantwortungsbewusst erlebt.“
„Maik, du hast sie höchstens dreimal gesehen!“ hielt ich dagegen. „Sie hat sich doch nicht mal Zeit genommen, wenn ich ein wichtiges Match hatte.“
Was diesen Punkt anging, hatte ihn sein phänomenales Gedächtnis aber wirklich im Stich gelassen!
Maik schien abzuwägen. Als er schließlich weiter sprach, knüpfte er wieder an anderer Stelle an, als ich erwartet hätte.
„Magst du mal mitkommen, zu einem Team-Treffen der AIDS-Hilfe? Quasi einen Blick hinter die Kulissen werfen?“
„Nee!“ protestierte ich entsetzt.
„Wieso nicht? Dort engagieren sich vielfach die Angehörigen oder Freunde Betroffener. Ich bin mir sicher, dass sich viele deiner Fragen dort klären lassen.“
Ich sträubte mich immer noch.
„Oder… Wusstest du, dass in der Liebfrauenkirche jedes Jahr ein AIDS-Gottesdienst stattfindet? Der nächste ist Ende November. Eine gute Gelegenheit, die Dinge mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.“
„Ich hab’s nicht so mit Kirchenkram“, winkte ich ab. „Außerdem… Was soll ich denn da?“
„Schon gut“, beschwichtigte er mich. „Bin selbst vor Urzeiten ausgetreten. Das eine hat mit dem anderen nur bedingt zu tun.“
* * * * *
Direkt von Maik aus war ich zu Tante Doris gefahren.
Vielleicht konnte ich ja doch noch ein paar Einzelheiten aus ihr rausquetschen!
Schon im Treppenhaus roch es nach frischen Apfelpfannkuchen, was mich drauf brachte, dass ich kein Mittagessen gehabt hatte.
Tante Doris empfing mich gleich oben an der Treppe und schloss mich in ihre Arme.
„Jonas! Das ist aber eine nette Überraschung!“ rief sie aus.
„Hallo, Tante Doris“, presste ich noch heraus in dem Gefühl von einem überdimensionalen Marshmellow zermalmt zu werden.
Sie duftete selbst wie ein Apfelpfannkuchen.
„Als hätte ich es geahnt“, strahlte sie mich an „Du kommst genau richtig! Hast du Hunger?“
„Später“, wehrte ich schnell ab und befreite mich aus der Umklammerung.
Von der fetttriefenden Luft wurde mir grade eher flau im Magen.
Bevor meine Tante mich in Richtung Küche schieben konnte, zwängte ich mich an ihr vorbei ins Wohnzimmer, so dass ihr gar nichts anderes übrig blieb als mir zu folgen.
Vorbei an der Vitrine voller Porzellanteller und -vasen mit Goldrand und filigranem Blümchenmuster peilte ich das wuchtige Ecksofa an, demzufolge Tante Doris auf die andere Ecke zusteuerte. Noch ehe sie richtig saß, fiel ich über sie her.
„Wusstest du, dass Papa AIDS hatte?“
Sie zuckte zusammen und griff nach der Sofalehne.
Natürlich hätte ich das Thema diplomatischer angehen können, aber dann hätte sie sich womöglich rausgeredet.
„Wer sagt das?“
„Er selbst“, trumpfte ich auf. „In dem Brief, den du mir gegeben hast.“
Tante Doris seufzte tief.
„Ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Aber es erschien mir noch grausamer, seinen letzten Willen zu missachten.“
„Also was jetzt?“
Sie starrte in die Luft.
„Ich wusste nicht, was es war“, gab sie nach einer kurzen Bedenkzeit zu. „Das erklärt allerdings so einiges.“
„Zum Beispiel was?“
„Eigentlich war noch ein Geschwisterchen für dich geplant“, antwortete sie bedächtig. „Aber das Thema war urplötzlich vom Tisch.“
Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme und schaute meine Tante abwartend an.
An der Wand über ihr hing ein Ölschinken mit leuchtend gelben Farbklecksen – ein Rapsfeld? Sonnenblumen waren es jedenfalls nicht.
„Weißt du, dein Vater…Eigentlich ist Christian immer ein sehr lebenslustiger Mensch gewesen. Nur…“ Mit dem Zeigefinger strich sie ein paar Mal über ihre Unterlippe. „Es könnten Depressionen gewesen sein. Möglicherweise auch ein Alkohol-Problem. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass…“ An dieser Stelle brach sie abermals ab. „Aber ich will hier keine Gerüchte in die Welt setzen. Besser du fragst deine Mutter danach.“
„Tante Doris!“
„Wahrscheinlich war es bloß der Stress“, wiegelte sie ab. „Es war halt eine anstrengende Zeit. Der aufreibende Job, dann hatten deine Eltern grade das Haus gekauft und steckten mitten im Umbau. Darüber hinaus stand deine Mutter kurz vor dem Examen und du warst ja auch noch da…“
„War Papa schwul?“ unterbrach ich ihren Redeschwall.
„Ich glaube nicht, Jonas.“ Tante Doris machte eine undefinierbare Geste. „Definitiv beantworten kann diese Frage wohl niemand mehr.“ Sie erhob sich schwerfällig, um in einem Sideboard zu kramen. Anschließend kehrte sie mit einem Fotoalbum mit braunem Ledereinband zurück und ließ sich mit einem Seufzer neben mir nieder.
Als sie das dicke Buch aufblätterte, erkannte ich die Aufnahmen wieder: Jugendbilder von Papa und Tante Doris, aufgenommen seinerzeit in den Siebzigern.
Ich konnte mich erinnern, sie als Kind des Öfteren mit meiner Tante angesehen zu haben, später hatte ich irgendwann das Interesse daran verloren.
Tante Doris ließ den größten Teil des Albums aus und blätterte im hinteren Drittel herum.
„Hier!“ rief sie schließlich triumphierend.
Die Seite war untertitelt mit Holzmaar – Sommer 1978.
Die Fotos auf der linken Seite zeigten zwei Personen in einem gelben Schlauchboot, doch sie waren offensichtlich vom Ufer aus aufgenommen worden und obendrein ziemlich unscharf. Ich schlug das dünne Pergamentpapier zwischen den Seiten um und zuckte zurück.
Einem Spiegelbild gleich sprang mir die Portraitaufnahme eines jungen Mannes mitten ins Gesicht. Nur die Frisur kam nicht hin – so eine lange Matte hatte ich bestimmt nie gehabt!
Die Farben waren im Laufe der Zeit verblasst, dennoch wirkte das Bild erstaunlich lebendig.
„Da war dein Vater etwa so alt wie du jetzt“, erläuterte Tante Doris.
Ich biss mir auf die Lippen.
Die Ähnlichkeit ließ sich beim besten Willen nicht verleugnen.
„Möchtest du es haben?“ fragte meine Tante.
Entschieden schüttelte ich den Kopf.
Wie es aussah, hatte ich eh schon mehr von ihm geerbt, als mir lieb sein konnte.
„Was ich damit sagen wollte: Dein Vater war ein hübscher Junge und auch später ein attraktiver Mann. Gut möglich, dass er auf beide Geschlechter anziehend gewirkt hat.“
Nervös knetete sie ihre Hände.
„So lange ich zurückdenken kann, hatte er immer ein Mädchen. Aber es gab auch eine Zeit…Christian hatte einen großen Freundeskreis. Natürlich waren auch Männer darunter.“
„Geht’s etwas konkreter?“ bohrte ich ungeduldig nach. „Mir kannst du’s ruhig sagen – ich bin selber ne Schwuchtel, falls du’s vergessen hast.“
Das einzige, was ich dadurch erreichte, war, dass Tante Doris missbilligend die Stirn furchte.
Frustriert verschränkte ich die Arme vor dem Körper.
Die Aktion hätte ich mir sparen können!
Dann fiel mir plötzlich etwas ein.
„Kanntest du einen Stefan Rath?“
* * * * *
Dezember 2008
In die Kirche hatte Maik mich nicht gekriegt.
Dafür hatte ich mich allen Ernstes breitschlagen lassen, Anfang November zum monatlichen Meeting der ehrenamtlichen Mitarbeiter der AIDS-Hilfe mitzugehen. Keine Ahnung, was mich da geritten hatte! Zum Glück hatte sich keine meiner Befürchtungen bewahrheitet: heißt, weder war ich der jüngste von allen gewesen, noch hatte mich jemand schief angeguckt, oder gar gefragt, was ich dort verloren hatte. Ich hatte eine gemischte Truppe angetroffen und zu meiner Verblüffung mehr Frauen als Männer.
Obwohl die Stimmung entspannt gewesen war, war ich Maik die meiste Zeit nicht von der Seite gewichen.
Grundsätzlich hätte ich mir sogar vorstellen können noch mal mitzugehen, aber weshalb ich mir aktuell bei grade einem mickrigen Plusgrad und ungemütlichem Wind den Hintern abfror, hatte einen anderen Grund.
Präzise gesagt, befand dieser sich schräg gegenüber, ungefähr zehn Meter entfernt, hieß Luca, war etwa einsachtzig groß und blond.
Seit unserer ersten linkischen Begegnung in den Büroräumen der AIDS-Hilfe kriegte ich ihn nicht mehr aus dem Kopf. Eindeutig musste er mich mit seinen leuchtend blau-grünen Augen hypnotisiert haben, denn als er mich gefragt hatte, ob ich heute mitkäme, war ich nicht in der Lage gewesen, nein zu sagen.
Pünktlich um drei war ich in der Fußgängerzone in der Innenstadt aufgeschlagen. Dafür hatte ich sogar die letzte Schulstunde geschwänzt.
Die Leute, mit denen ich Seite an Seite hier stand, kannte ich nur von diesem einen Zusammentreffen her und kaum mehr als dem Namen nach. Petra, Ende 40, dunkelhaarig, klein und zierlich, die nach außen hin einen ziemlich burschikosen Eindruck vermittelte, in Wirklichkeit aber ein durch und durch mütterlicher Typ war und Uwe, etwa gleichaltrig, aber ansonsten das genaue Gegenteil: rundes, gutmütiges Gesicht, kurze rotblonde Haare und ebensolche Bartstoppeln und ein leichter Bauchansatz. Dazu passte auch die schier unerschütterliche Gemütsruhe, die er ausstrahlte und jenes lässige Selbstverständnis, von dem ich nur träumen konnte.
Schon nach einer knappen Stunde Rumstehen war ich reichlich durchgefroren.
Die dicke Daunenjacke hielt den Wind noch ab, dafür schnitt er mir ins Gesicht, die tauben Finger in den Jackentaschen schmerzten und meine Oberschenkel hatten angefangen zu brennen. Sogar beim Atmen stach die eisige Luft in der Nase.
So richtig fasste ich es immer noch nicht, dass ich tatsächlich hier stand.
Mit dem Transparent mit den riesigen Lettern der AIDS-Hilfe im Rücken war mir anfangs ziemlich unwohl zumute gewesen, aber mit der Zeit hatte ich es vergessen, genau wie die rote Schleife, die Petra mir ganz selbstverständlich an die Jacke gepappt hatte.
Insgeheim hatte ich drauf gehofft, dass auch Maik anwesend sein würde, aber sein Name tauchte nirgends auf dem Plan auf, weder bei uns, noch bei der zweiten Gruppe, die vor dem Hauptbahnhof Dienst schob.
Eine richtige Aufgabe hatte ich eigentlich nicht. Petra und Uwe schmissen den Stand mit dem Infomaterial, und ich sollte ihnen dabei über die Schulter gucken.
Luca dagegen stand so souverän an der Front, als hätte er nie etwas anderes gemacht.
Rotzfrech verwickelte er die Leute in ein Gespräch, wobei er offensichtlich den Nerv traf, denn er bekam nur selten einen Korb.
Mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung beobachtete ich ihn.
Kaum zu glauben, dass er erst 19 war!
Uwe folgte meiner Blickrichtung.
„Luca ist ganz große Klasse, was?“
Schätzungsweise spielte er auf Lucas Auftreten an, doch mein Blick klebte an dem schlanken Körper in knallenger Jeans, Fleecepulli und anthrazitfarbener Steppweste.
Ich murmelte ein langgezogenes „Mhmm.“
Verdächtig sehnsüchtig.
Bereits gegen 16.30 Uhr begann es dunkel zu werden.
Ich vertrieb mir die Zeit, in dem ich die Flugblätter auf dem Tisch neu sortierte, leere Kartons ineinander stapelte und ab und zu die Bastkörbchen mit Kulis und Kondomen auffüllte.
Irgendwie war es seltsam, das Ganze mal aus der anderen Perspektive zu sehen.
Sonst war ich es eher, der probierte, den Aktivisten der unterschiedlichen Interessengruppen zu entkommen. Nun konnte ich selbst diejenigen beobachten, die desinteressiert, hochnäsig oder peinlich berührt einen großen Bogen um uns machten oder die andere Sorte von Leuten, die uns neugierig, aber aus sicherem Abstand angafften.
Auch irgendwie amüsant.
Eine weitere Stunde verging, in der ich ausgiebig Gelegenheit hatte, Luca anzuschmachten.
Sobald er ein paar Sekunden Luft hatte, schickte er ein schelmisches Grinsen oder ein verschwörerisches Blinzeln in meine Richtung.
Einmal kamen zwei höchstens vierzehnjährige Knirpse an den Stand und pöbelten herum, doch eine einzige ironische Bemerkung Uwes langte, um sie in die Flucht zu schlagen.
Insgesamt war mein Job demzufolge wenig nervenaufreibend, wenigstens so lange, bis ich hochblickte und just in dem Augenblick Marian um die Ecke biegen sah.
Im ersten Schrecken wäre ich fast unter den Tisch abgetaucht, unterdrückte den Reflex aber grade noch.
Unmittelbar lief ich sowieso keine Gefahr, entdeckt zu werden. Dafür geriet Luca, dessen Bewegung ich aus den Augenwinkeln wahrnahm, in die Schusslinie. Ich sah das Unheil kommen, ohne es noch verhindern zu können. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein.
Luca ging auf Marian zu, der erst im letzten Moment kapierte, was los war und quatschte ihn auf seine lässige Art an.
Was er zu ihm sagte, konnte ich nicht verstehen, dafür war Marians Antwort umso deutlicher:
„Verpiss dich, du Schwuchtel!“
* * * * *
Anderthalb endlose Stunden später hatte ich es überstanden und machte mich postwendend auf den Weg zu meinem (Ex?)-Freund. Bisher hatte er es immer zu verhindern gewusst, dass wir uns bei ihm trafen, aber dieses Mal würde er nicht ungeschoren davonkommen!
Ich hoffte, er schmorte schon ordentlich im eigenen Saft, denn bevor er sich umgedreht hatte und davongerannt war, hatte er mich hinter dem bewussten Stand entdeckt.
Er konnte sich auf was gefasst machen!
Noch hatte ich Lucas Gesichtsausdruck messerscharf vor Augen, auch wenn er Sekundenbruchteile später schon wieder gleichgültig dreingeschaut hatte.
Unterwegs ignorierte ich sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen und parkte sodann dreist mitten vor dem Eingang des Mehrfamilienhauses vor dem Schild „Hausverwaltung“ mit dem freundlichen Zusatz „Falschparker werden kostenpflichtig abgeschleppt“.
Von mir aus.
Den Lichtschalter am Haus betätigte ich noch moderat, den Klingelknopf malträtierte ich dagegen mit Nachdruck, solange bis sich endlich jemand meldete.
„Wer ist da?“
Eine piepsige Kinderstimme am anderen Ende der Sprechanlage brachte mich vorübergehend aus dem Konzept.
„Jonas“, gab ich knapp zur Antwort. „Marian da?“
„Der ist im Keller“, lautete die rätselhafte Auskunft, von Marians jüngerer Halbschwester, wie ich annahm, dann brummte der Türöffner.
Nach kurzer Orientierung entdeckte ich die Kellertreppe, polterte die Stufen hinunter, welche in einem engen, staubigen Viereck mündeten. Hier gab es überhaupt nichts außer einem Feuerlöscher und der schweren, grauen Feuerschutztür zu meiner Linken. Ich probierte die Türklinke, glaubte erst, die Tür sei abgeschlossen, aber tatsächlich klemmte sie nur ein bisschen, ehe sie nachgab. Dahinter tat sich ein schmaler, gerader Gang auf.
Wieder drückte ich einen Lichtschalter, woraufhin mit einiger Verzögerung eine Neonröhre aufflammte. Das kalte Licht beleuchtete mehrere an die Wand montierte Wasseruhren auf der rechten Seite, dahinter folgten in hellgrau lackierten, rechteckigen Kästen vermutlich die Stromzähler. Diverse Rohre verliefen unverkleidet an der Decke entlang. Wasser rauschte in einer der Rohrleitungen und irgendwo schleuderte eine Waschmaschine.
Ich ließ den Türgriff los und machte zwei Schritte, da fiel mit einem hässlichen Quietschen die Tür hinter mir ins Schloss.
Eine Falle! war das erste, das mir durch den Kopf schoss, ziemlich abstrus natürlich, aber ehe ich in die andere Richtung weiter ging, musste ich mich trotzdem schnell rückversichern, dass die Tür zum Treppenhaus auch von innen aufging. Der einzige Raum, an dem ich auf diesem Teilstück des Gangs vorbeikam, war ein großer Wäschekeller, aber wo steckte dann Marian, vorausgesetzt das Ganze hier war nicht bloß ein dummer Scherz gewesen?
Ich folgte dem tristen Flur mit den nackten Betonwänden bis ans Ende, wo er einen Knick nach rechts machte und sich hinter der Biegung fortsetzte. Dort gab es weitere Türen, jeweils drei auf beiden Seiten.
An diesem Punkt erlosch das Licht, durch einen Türspalt leuchtete allerdings noch ein schwacher Schimmer. Auf leisen Sohlen stahl ich mich heran und drückte die nur angelehnte Tür neugierig ein Stückchen auf.
Keine Ahnung, was ich dahinter erwartet hatte, jedenfalls keinen komplett ausgestatteten Kraftraum, beziehungsweise eine dieser multifunktionalen Heimstationen, die man für alles Mögliche nutzen konnte.
Marian lag auf der Hantelbank, beschienen von einer einsamen Glühbirne, und stemmte mit grimmig verzerrtem Gesicht und geschlossenen Augen in gleichförmigem Takt eine Langhantel in die Höhe.
Sein Gesicht war vor Anstrengung ganz rot, der Pony klebte an der feuchten Stirne und ein kleiner Schweißtropfen perlte an der Seite herunter.
Ich schob mich ganz nach drinnen.
„Ich wusste, dass du kommst“, sagte er, ohne die Augen zu öffnen, obwohl ich mich beim besten Willen nicht entsinnen konnte, ein Geräusch gemacht zu haben.
Ich war so verdattert, dass ich ihm erstmal eine Weile zusah, ehe ich die Sprache wieder fand.
„Kannst du das mal lassen?“ fauchte ich dann.
Stoisch setzte er seine Übungen fort.
Wie er wollte!
Die Arme in die Hüften gestemmt, pflanzte ich mich neben ihm auf.
„Sag mal, bist du jetzt völlig übergeschnappt? Was war das denn eben?“
Keine Reaktion.
„Guck mich gefälligst an!“ polterte ich weiter. „Ich rede nämlich mit dir!“
Immer noch nichts.
Ich knirschte mit den Zähnen, selber überrascht über den Hass, der sich ihn mir angestaut hatte. Marian konnte von Glück sagen, dass mittlerweile schon einiges an Zeit verstrichen war, sonst hätte ich ihm auf der Stelle ein paar geklatscht.
Ich überlegte, ob ich ihm das blöde Hantelteil aus den Händen reißen sollte, andererseits wollte ich mich nicht unbedingt blamieren. Genau genommen war die Maßnahme ja auch überflüssig, weil Marian sowieso nicht ewig durchhalten konnte. Auch wenn er kämpfte, wurden seine Bewegungen immer unrhythmischer, bis er das Zittern seiner Oberarme kaum noch verbergen konnte.
Nach einer Weile gab er von alleine auf und klinkte die Hantel in die Halterung. Wie ein Mehlsack blieb er liegen, nur sein Brustkorb hob und senkte sich weiterhin in schnellem Wechsel.
Als mein Freund die Augen endlich aufmachte, erschrak ich dann doch. Das Weiße darin war aktuell stark gerötet und überhaupt wirkte die gesamte Augenpartie verquollen – er musste Rotz und Wasser geheult haben, bevor ich gekommen war.
Langsam setzte er sich auf, aber er mied meinen Blick. Ein kühler Luftzug kroch durch den Türspalt und eine Gänsehaut legte sich über Marians Arme. Er schüttelte sich.
„Also?“
„Was hattest du überhaupt da zu suchen?“ trotzte er.
„Tut das was zur Sache? Du brauchst nicht ablenken!“
Wie gehabt saß er rittlings auf der schmalen Bank und stierte zu Boden.
„Ich hab mich so erschreckt, als er mich angequatscht hat. Ich konnte gar nicht mehr klar denken.“ Marian schniefte leise. „Meinst du, ich mache mir keine Vorwürfe? Ich kann doch selber nicht glauben, was da passiert ist.“
„Ich finde, du solltest dich entschuldigen.“
Seiner komplett zerknirschten Erscheinung hielt auf die Dauer nicht mal mein Ärger stand.
Ich quetschte mich neben ihn.
„Nette Folterkammer hier unten“, befand ich.
„Alles noch von meinem Stiefvater“, erklärte Marian. „Mama wollte den Krempel am liebsten auf den Sperrmüll werfen.“ Seine Augen streiften mich flüchtig. „Ich komme fast jeden Tag hier runter.“ Er bückte sich nach einer Trainingsjacke auf dem Boden und legte sie sich über die Schultern. „Warum hast du mir nicht gesagt, was du heute vorhast?“
„Dachte ich mir ja, dass du die Idee nicht so doll findest.“
„Ach nee. Was um Himmels Willen hast du plötzlich mit der AIDS-Hilfe zu schaffen?“
„Maik hat mich mal zu einem Treffen mitgeschleppt“, begann ich den Satz.
„Ich hör immer nur Maik!“ murrte er.
„Bist du jetzt eifersüchtig auf Maik?“ Für die absurde Unterstellung hatte ich bloß ein Kopfschütteln übrig. „Ich hab dir doch gesagt, er war mal mein Tennislehrer. Mittlerweile ist er ein Freund, den ich nicht mehr missen möchte. Aber nicht, was du gleich wieder denkst. Mensch, Marian! Er ist uralt!“
„Woher soll ich das wissen? Kenne ich ihn?“ versetzte Marian. Neugieriger kam es hinterher: „Wieso, wie alt ist er denn?“
Diesmal musste ich nicht rätseln. Maiks Geburtstag war leicht zu merken, er hatte auf den Tag genau einen Monat vor mir, am 6. Mai. Ich hatte das Datum kürzlich auf der Geburtstagsliste in der Küche der AIDS-Hilfe entdeckt.
„33“, verkündete ich Marian.
Er tippte sich leicht mit dem Finger an die Stirn.
„Und wer war der Typ mit der Sammelbüchse?“
„Luca?“ Allein die Erwähnung des Namens gab mir einen Stich.
Marian murmelte etwas, das wie „Ganz schön mutig“ klang. „Ich glaube, ich würde mich in hundert Jahren noch nicht trauen, mich so auf die Straße zu stellen.“
„Verlangt ja auch keiner.“ Nun endlich gab ich mir einen Ruck und nahm ihn in den Arm. „Ich mag dich so, wie du bist.“
„Wie findest du ihn?“ Marian legte den Kopf schräg. „Er ist ziemlich hübsch.“
„Stimmt. Er sieht saugut aus und ist obendrein supernett.“ Ich machte eine Kunstpause. „Und außerdem ist er positiv.“
„Im Ernst?“ Marian schluckte hörbar, seine Miene wechselte von misstrauisch zu mitleidig.
„Beruhigt?“ erkundigte ich mich kratzbürstig.
Und kam mir dabei vor wie ein Verräter.
* * * * *
„Mama?“
„Ja?“
Fragend sah sie von der Zeitung hoch.
„Betreust du in deiner Praxis eigentlich auch HIV-Patienten?“
Klirr. Eine Kaffeetasse schepperte ungebremst auf die Untertasse.
Die Miene meiner Mutter war gefasst, aber es war unübersehbar, dass ihre Hände zitterten.
„Sorry.“ Ich hätte mir die Zunge abbeißen können. Schätzungsweise hatte ich schon mal intelligentere Einfälle gehabt. „Das war ehrlich nur eine allgemeine Frage.“
Mama atmete aus, doch ihr Blick blieb wachsam.
„Gelegentlich“, erwiderte sie ausweichend.
„Aktuell im Moment? Wie viele?“
„Es gibt eine ärztliche Schweigepflicht, das weißt du, Jonas. Ich darf dir das nicht sagen.“
„Ich will doch keine Namensliste“, beschwerte ich mich. „Ich möchte lediglich wissen, wie gut du dich in der Thematik auskennst und wie viele Positive du bereits kennengelernt hast.“
Wieder musterte meine Mutter mich scharf.
„In den ganzen Jahren sicher kein Dutzend“, resümierte sie dann. „Die Hemmschwelle liegt noch immer höher als bei anderen Erkrankungen. Oftmals wird auch viel zu lange gewartet.“
Die bewährte Salami-Taktik. Ich probierte es anders.
„Könnest du dir vorstellen, dein Engagement auf diesem Gebiet auszuweiten?“
Mama seufzte.
„Ich arbeite doch jetzt schon beinahe Tag und Nacht. Obendrein werden die Pauschalen für die Behandlung von chronisch Kranken laufend gekürzt.“ Mit der Rechten strich sie ihre Haare zurück. „Und wenn im kommenden Jahr der Gesundheitsfonds kommt, sieht es ganz düster aus.“
„Also lautet deine Antwort nein?“ hakte ich nach.
Eine Andeutung von Müdigkeit huschte über ihr Gesicht.
„Denkst du wirklich, ich hätte jemals einen Patienten abgewiesen, nur weil mir die Therapie zu aufwändig oder nicht lukrativ genug war?“
Vermutlich nicht. Mit einem Schönheitsfehler: Derjenige, der dadurch regelmäßig zu kurz gekommen war, war ich.
Mit: „Wie schätzt du die Chancen ein für jemanden, der sich jetzt neu infiziert?“, schob ich eine weitere Frage hinterher.
Immer noch schien Mama sich zu fragen, wie sie mein plötzliches Interesse deuten sollte.
„Wenn er sich frühzeitig in Behandlung begibt, recht gut“, formulierte sie vorsichtig. „Inzwischen gibt es eine Menge Alternativen.“
„Kannst du mal ein bisschen konkreter werden?“
„Ach Jonas, da spielen unendlich viele Faktoren mit rein. Jeder Mensch reagiert anders. Eine pauschale Antwort gibt es nicht.“
Sie machte Anstalten, das Thema zu wechseln, doch ich war noch nicht fertig.
„Aber… Heutzutage muss niemand mehr dran sterben, oder?“
Als sie die Stirn runzelte, präzisierte ich schnell: „Bei uns in Deutschland, meinte ich.“
„Es gibt nicht nur Siege“, antwortete sie kryptisch. „Kein Grund jedenfalls, sich in falscher Sicherheit zu wägen.“
Mit einer heftigen Bewegung schubste ich die Schüssel mit meinen Cornflakes weg.
Mama dagegen nahm ihre Tasse wieder auf und legte beide Hände darum.
„Pass bitte auf dich auf.“ So wie sie es sagte, klang es wirklich nach einer Bitte. „Wir reden hier nicht von einem unabwendbaren Risiko. Und lass dich regelmäßig testen“, kam es eindringlich hinterher.
„Ich bin nicht blöd“, knurrte ich. Hätte ich geahnt, dass das Ganze in eine Gardinenpredigt ausarten würde, hätte ich die Finger von dem Thema gelassen.
Wenn Mama einmal in Fahrt war, war sie schwerlich zu bremsen.
„Du weißt, es gibt noch andere sexuell übertragbare Krankheiten“, fuhr sie fort. „Schieb es nicht auf die lange Bank, wenn du irgendwelche Bedenken hast. Je eher du dagegen angehst, desto besser. Ich bin jederzeit für dich da“, schloss sie ihren Vortrag.
Öfter mal was Neues.
Für meine Mutter schien das Thema damit gegessen, denn sie wandte sich wieder ihrer Lektüre zu.
Ich hingegen spann den Gedanken weiter und hatte Mühe, das Kichern zu unterdrücken.
Klar, wenn ich mir jemals was einfangen sollte, würde ich damit garantiert zu meiner Mutter rennen. Eine wirklich traumhafte Vorstellung.
Was aber würde ich im Ernstfall tatsächlich tun?
Vermutlich müsste Maik als Beichtvater herhalten und mir mit seinen Connections aushelfen.
Maik?!
Eine dumpfe Ahnung beschlich mich.