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Eine wilde Zeit liegt hinter Sven, als er Berlin den Rücken kehrt. Zurück in seiner Heimatstadt wollte er eigentlich auch einen dicken Schlussstrich unter sein altes Leben ziehen – Ironie des Schicksals, dass er daheim als Erstes seinem Ex-Freund in die Arme läuft. Nach allem, was zwischen ihnen vorgefallen ist, erwartet Sven eine Abfuhr, doch es kommt ganz anders.
Während Sven mit Marcs unverhoffter Unterstützung wieder Fuß zu fassen versucht, bleibt ungewiss, wie viel die vorsichtige Wiederannäherung tatsächlich wert ist. Andere Männer haben in der Zwischenzeit ihre Herzen erobert und in Person von Benny bahnt sich gleich die nächste Verwicklung in Svens Leben an.
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Veröffentlichungsjahr: 2016
Lahnstein, 27.03.2009
„Liebe Mitschülerinnen und Mitschüler, sehr geehrte Damen und Herren,
das Motto, welches unserem Abi-Jahrgang übergestülpt wurde, lautet
>>Gelebte Toleranz als Rüstzeug fürs Leben<<
Aha.
Was sich so schön liest auf dem Papier, wirft bei eingehender Betrachtung einiges an Fragen auf:
Was steckt überhaupt hinter dieser sagenhaften Toleranz: Ist es das, was wir hier an dieser Schule erworben haben oder erworben haben sollten und für welche Seite ist Toleranz eigentlich erstrebenswert?
Der Duden umschreibt Toleranz mit Synonymen wie Entgegenkommen, Großmut und Nachsicht. Spätestens jetzt dürfte der geneigte Zuhörer stutzig werden.
Auf den Punkt brachte es Johann Wolfgang von Goethe vor beinahe 200 Jahren:
„Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“
Damit wäre das Existenzielle gesagt, jedoch möchte ich noch ein paar persönliche Worte ergänzen:
Wie alle anderen Menschen auch, will ich um meiner selbst wegen angenommen, akzeptiert und anerkannt werden.
Für den einen oder anderen Mitmenschen mag das Wort „schwul“ in meiner Biographie dabei alles andere überstrahlen: Negativ, positiv, bisweilen auch vermeintlich wertfrei, aber dennoch als Haupt-Attribut.
Ganz egal, mit welcher Einstellung man mir gegenübertritt – Toleranz ist nie das gewesen, was ich angestrebt habe. Dann lieber ehrliche und offene Feindseligkeit, als herablassende oder bestenfalls höfliche Duldung.
Toleranz suggeriert doch: „Ich bin okay und du bist nicht okay (weil du aus irgendeinem Grund anders bist), aber ich bin ja tolerant…“
Das Resultat ist ein Wertigkeitsgefälle, doch wer von ihnen, meine Damen und Herren, wagt es sich anzumaßen, den Wert eines anderen beurteilen zu wollen?
Um den Bogen zurückzuschlagen: Was heißt das nun auf uns Abiturienten bezogen?
Wir alle hier dürfen uns glücklich schätzen, in diesem toleranten Umfeld zur Schule gegangen zu sein?
Oder dafür, einst überhaupt für wert befunden worden zu sein, diese Schule zu besuchen? Welcher Maßstab wurde dabei angelegt? Ist es nicht so, dass Ausgrenzung und Elitedenken schon mit dem Aufnahmeverfahren beginnen?
Wo bleibt die gelebte Toleranz, wenn materielle Interessen mehr zählen als Vielfalt und persönliche Befähigungen?
Meine Damen und Herren, sie sehen, es genügt nicht, sich das Wort Toleranz auf die Fahnen zu schreiben.
Toleranz darf immer nur der erste kleine Schritt sein hin zu Wertschätzung, Respekt und Gleichberechtigung. Alles andere ist gelebte Arroganz!
In diesem Sinne:
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!“
* * * * *
Samstag, 25. April 2015
Er hat sich einen schlechten Tag ausgesucht, sofern man denn von Aussuchen sprechen kann.
Bis gestern noch hatte der April sich von seiner allerbesten Seite gezeigt, aber pünktlich zum Wochenende ist das Wetter umgeschlagen. Es ist zwar allenfalls ein besserer Nieselregen, der spärlich, aber kontinuierlich von einem eintönig grauen Himmel herunterkommt – allerdings ist er ergiebig genug gewesen, um den schlaksigen, dunkelblonden jungen Mann, der seit zwei Stunden mehr oder weniger planlos durch die Straßen der Koblenzer Vorstadt irrt, vollständig zu durchnässen.
Die dünne Jeansjacke schützt ihren Besitzer nur unzureichend vor Wind und Wetter, das Wasser rinnt demjenigen aus den nassen Haaren in den Kragen, die Hosenbeine haben sich vollgesogen mit Feuchtigkeit, der Stoff der Turnschuhe ist durchgeweicht und die Socken darin sind zum Auswringen nass.
Der nasse, kalte und schwere Kram macht das Fortkommen zusätzlich mühsamer, und mit jedem Schritt schwindet ein Stück Motivation. Der eisige Wind tut sein übriges.
Der Mann in den mittleren Zwanzigern biegt um eine letzte Straßenecke, dahinter taucht sie schräg vor ihm auf der anderen Straßenseite auf: die neue Rhein-Mosel-Halle, das Kultur- und Kongresszentrum der Stadt, welches er zum ersten Mal nach der Umgestaltung mit eigenen Augen sieht, obwohl dessen Modernisierung nun auch schon wieder einige Zeit zurückliegt.
Er geht noch ein paar Schritte weiter bis zu der Stelle, wo ihm die Feuerwehrzufahrt eine noch bessre Sicht auf den weiß-blauen Würfel gewährt.
Die winzigen Regentropfen fallen ihm mitten ins Gesicht, als er dort steht und starrt, den Kopf in den Nacken gelegt, aber gleichzeitig scheint er sich zu fragen, was ihn ausgerechnet hierher geführt hat. Vor ihm liegt eine Sackgasse, oder genauer gesagt, führt der Fußweg, der seitlich an die abschüssige Straße anschließt, geradewegs runter zum Rhein. Es braucht schon viel Phantasie, um in dem Grau in Grau in der Lücke zwischen den Bäumen ein Funkeln der Wasseroberfläche auszumachen.
Hingehen?
Der Regen wird dichter.
Das Hotel, besinnt er sich. Das trist-beigefarbene Hochhaus, von dem ein Stück hinter der Halle herausragt, ist der eigentliche Grund für sein Herkommen gewesen.
Aber ob ausgerechnet das Mercure ihn anstandslos aufnehmen würde, das wahrscheinlich nobelste und teuerste der ganzen Stadt?
Ein durchdringendes Hupkonzert reißt ihn unsanft aus seinen Überlegungen, ausgelöst durch den Fahrer eines roten VW Polos, der langsam und anfänglich unbemerkt neben her ihm hergefahren ist und schließlich angehalten hat.
Was hat der denn? empört der junge Mann sich in Gedanken. Ich stehe doch auf dem Bürgersteig. Was für ein Idiot!
Eine patzige Bemerkung liegt auf seinen Lippen, als die Scheibe der Beifahrertür langsam herunterfährt und der Fahrer sich von seinem Sitz aus herüberlehnt, aber die unfreundlichen Worte bleiben dem Fußgänger im Hals stecken, als er den anderen erkennt.
„Marc?!“
„Hab ich doch richtig gesehen!“ strahlt ihn der Fahrer des Wagens an. „Mensch Sven! Steig ein.“
* * * * *
Weil alles so schnell gegangen ist, ist Sven ohne Nachzudenken in den Wagen gestiegen, aber ein paar Meter weiter hätte er seine Entscheidung am liebsten rückgängig gemacht.
Marc hat sich einen Bart wachsen lassen, ist eine von Svens ersten Erkenntnissen. Gewöhnungsbedürftig.
Nur mit der ungewohnten Optik lässt sich sein zunehmendes Unbehagen allerdings nicht begründen – es ist die Aussicht, längere Zeit mit seinem Ex-Freund allein zu sein, die ihn echt ins Schwitzen bringt. Und im krassen Gegensatz dazu versammeln sich grade ein paar Schmetterlinge in Svens Bauch, die dort definitiv nichts zu suchen haben!
„Du hast ein neues Auto?“ bemerkt er, bloß um etwas zu sagen, und erntet einen Lacher von Marc.
„Neu ist gut. Die Karre ist fast 12 Jahre alt.“
Dass Sven kurz darauf schon wieder auf der Straße steht, ist hingegen lediglich der Tatsache geschuldet, dass Marc sein Ziel gleich um die Ecke erreicht hat. Fast unmittelbar vor dessen früherem Zuhause haben sie einen Parkplatz gefunden und sind ausgestiegen.
Der Gartenzaun vor dem Haus ist frisch gestrichen, stellt Sven fest, aber davon abgesehen hat es etwas von Nachhausekommen, das Gartentörchen zu öffnen und den Plattenweg entlangzugehen. Mit verbundenen Augen würde er den Weg hoch auf die Veranda finden, so oft ist er ihn gegangen, aber als er einen Fuß auf die Treppe setzen will, bremst Marc ihn aus: „Stopp!“
„Was denn?“
„Falsche Richtung. Hier haben sich ein paar Dinge geändert“, erklärt Marc und deutet auf die Eingangstür, welche zur Erdgeschosswohnung führt. „Hier geht’s lang.“
„Was ist denn mit eurer Wohnung oben?“ wundert sich Sven. „Und mit Sara? Und eurer Mieterin?“
„Eines nach dem anderen.“
Marc schließt die Tür auf, hinter der ein quadratischer Windfang folgt, von dem momentan die Hälfte zugestellt ist. Die beiden jungen Männer müssen sich vorbeizwängen an einem Lattenrost, einer alten Matratze, ein paar Brettern, einem Nachttischchen und einem hochkant aufgestellten, zusammengerollten Teppich.
Nach ein paar Schritten erreichen sie die eigentliche Wohnungstür mit Glaseinsatz, welche nur angelehnt ist.
„Komm rein.“
Der Grundriss der Wohnung dahinter ist Sven auf Anhieb vertraut, die Zimmer sind genauso angeordnet wie eine Etage höher bei Sara, nur dass der Flur hier viel düsterer und altmodisch eingerichtet und die Luft darin abgestanden und muffig ist.
Noch ehe sie den nächsten Raum betreten haben, weiß er also, dass Marc das Wohnzimmer ansteuert, aber dann findet Sven sich überraschend zwischen Eicheschränken, einem wuchtigen Sofa mit senfgelbem Bezug und Fransen dran, dem passenden Sessel und weiteren Altertümchen wieder.
Auch hier riecht es sonderbar und nach jahrhundertealtem Staub.
„Hatschi!“
Mit fragender Miene dreht Marc sich um.
„Du bist ja pudelnass“, fasst er das Offensichtliche zusammen. „Ich geb dir was von meinen Sachen.“
„Halb so wild“, murmelt Sven, aber ausgerechnet jetzt im Warmen hat er derartig zu zittern begonnen, dass ihm fast die Zähne klappern.
„Keine Widerrede“, ordnet Marc an und dreht die Heizung höher. Während er die versprochenen trocknen Klamotten holen geht, nutzt Sven seine Abwesenheit, um sich im Schutz des mächtigen Sessels auszuziehen. Das klamme T-Shirt behält er an, dafür lässt er hastig zwei Unterhosen im Rucksack verschwinden, ehe Marc sich wundern kann, weshalb Sven ursprünglich drei davon übereinander anhatte.
Als Marc zurückkommt, hat Sven seine feuchten Klamotten bereits über dem Heizkörper drapiert. Vom Sessel halbwegs vor Marcs Blicken abgeschirmt, nimmt er die Anziehsachen entgegen und er kommt erst dahinter hervor, nachdem er vollständig angezogen ist.
„Setz dich“, fordert Marc, der sich in der Zwischenzeit auf dem Sofa ausgebreitet hat, ihn auf.
Sven entscheidet sich für Armlehne des Sessels, die so gewaltige Dimensionen hat, dass locker zwei Leute nebeneinander darauf sitzen könnten.
„Jetzt spann mich nicht länger auf die Folter! Was ist denn hier los?“
„Das ist eine lange Geschichte“, beginnt sein Gastgeber. „Fangen wir damit an, dass Sara vergangenes Jahr geheiratet hat. Einen Bauern aus Ostfriesland, grobe Richtung Wiesmoor. Sie wohnt aber schon seit längerem dort oben.“
„Sara? Auf einem Bauernhof?“
„Kaum zu glauben, wie? Na ja. Einen Hau hatte sie ja schon immer.“
„Ach komm“, protestiert Sven, aber sein Ex fährt ungerührt fort.
„Der Witz ist, sie scheint wirklich glücklich zu sein. Wir sehen uns nicht oft, wenn es hochkommt, alle zwei Monate, ist ja ne ganz schöne Entfernung.“
„Und das Haus hier?“
„Eigentlich wollte sie es verkaufen, aber die Kaufinteressenten haben ihr alle nicht gepasst.“ Marc zuckt mit den Achseln. „Deshalb hat sie angeboten, es mir zu überschreiben.“
„Einfach so?“
„Du kennst sie doch. Bloß keine Verpflichtungen.“
„Was ist aus eurer alten Wohnung geworden?“
„Die beiden oberen Etagen sind vermietet an eine Zahnarztfamilie mit drei Kindern. Die haben das halbe Haus umgebaut, die alte Treppe rausgerissen, das Treppenhaus nach innen verlegt. Dadurch ist alles heller und größer geworden, sieht bombastisch aus, aber es fühlt sich nicht mehr an wie mein Zuhause.“
Er macht eine Geste, die Sven als „man kann nicht alles haben“ deutet.
„Und die nette alte Frau von hier unten?“
„Frau Wilhelmi ist Anfang Januar verstorben. Ich hab versucht, irgendwelche Verwandtschaft ausfindig zu machen, aber scheinbar hatte sie wirklich niemanden mehr. Vor einiger Zeit kam Post vom Amtsgericht, dass sie mir den ganzen Trödel hinterlassen hat.“ Marc schneidet eine Grimasse. „Du darfst mich beglückwünschen. Ich bin seit Dienstag hier und versuche, meinen Reichtum zu verkraften.“
* * * * *
Marc hat geredet wie ein Wasserfall, nur gelegentlich unterbrochen durch Svens Fragen. Dass selbst letztere mit der Zeit spärlich geworden sind, und Sven auf seiner Sesselecke nicht den allerglücklichsten Eindruck macht, bleibt auch Marc nicht ewig verborgen.
„Ich kau dir ein ganz schönes Ohr ab, wie? Erzähl doch auch mal was! Was machst du hier?“
Einem unaufmerksamen Schüler nicht unähnlich schreckt Sven hoch und räuspert sich.
„Hast du vielleicht was zu trinken?“
„Oh…“ Marc macht eine Verlegenheitsgeste und stellt kopfschüttelnd fest: „Ich bin ein ziemlich mieser Gastgeber, was?“
Das ist er zwar eigentlich nicht, nur sind Sven und er so lange ein Paar gewesen, dass es ihm komisch vorkommt, den anderen als Gast anzusehen.
„Ist leider nur Wasser und Kaffee da.“
„Ich trink eh am liebsten Wasser“, versichert Sven.
Er hat noch nicht ganz ausgesprochen, als Marc schon aufspringt und sich fast überschlägt, das Versäumte gutzumachen. Er belässt es nicht dabei, Sven Flasche und Glas zu bringen, er gießt letzteres auch noch voll bis obenhin und drückt es seinem Ex in die Hand.
„Danke dir.“
„Wieso hast du dich nicht eher gemeldet?“
„Weil ich keinen Durst hatte? Alles easy!“
Dagegen spricht, dass Sven den Inhalt des Glases ohne abzusetzen herunterstürzt und als er sich vorbeugt, um das Glas auf den Tisch zu stellen, knurrt sein Magen bedenklich laut.
„Hast du schon was gegessen?“
„Heute Morgen zum Frühstück.“
„Es ist gleich acht Uhr abends! Warum sagst du denn nichts?“ versetzt Marc vorwurfsvoll. „Sorry, ich war nicht auf Besuch eingerichtet, ich hab kaum was da. Wollen wir zum Italiener gehen?“
„Ach, ich hab keine Lust, mich noch mal umzuziehen. Außerdem habe ich auch gar keinen richtigen Hunger.“
„Kommt gar nicht in die Tüte. Dann hole ich uns eben zwei Döner“, bestimmt Marc und ist schon wieder halb zur Tür raus.
„Warte“, ruft Sven ihm nach. „Wenn’s unbedingt sein muss, dann für mich bitte nur einen Salat.“
* * * * *
Alles in allem ist Marc eine knappe halbe Stunde unterwegs gewesen, um das Abendessen an Land zu bringen, doch als er zurückkommt, ist sein Gast auf dem Sofa zusammengesackt und eingeschlafen.
Leise, um ihn nicht zu wecken, legt Marc die knisternde Plastiktüte auf dem Couchtisch ab und betrachtet seinen friedlich schlafenden Ex nachdenklich.
In dem Augenblick, wo Marc ihn draußen aufgelesen hatte, hatte er ausgesehen wie eine nasse Katze: die Haare angeklatscht und zitternd vor Kälte – keine Ahnung, wie lange er schon so da draußen herumgestromert ist.
Seine Klamotten sind längst getrocknet auf der Heizung, welche auf höchster Stufe läuft, stattdessen trägt er Marcs alte schwarze Jogginghose, dessen blauen Troyer mit weißen Farbsprenkeln und ein Paar dicke graue Stricksocken anstelle seiner eigenen.
Marc nimmt die Kleidungsstücke vom Heizkörper und legt sie zusammen – einen grauen College-Sweater, der definitiv schon bessere Tage erlebt hat, eine dünne Jacke und eine fadenscheinige Jeans, die angezogen zwar sexy aussieht – ein Effekt, der aber nicht zwingend gewollt sein muss.
Svens Haare sind nicht mehr ganz so hellblond wie früher, stellt Marc fest, und sie könnten einen Schnitt vertragen, dunkle Schatten liegen unter seinen Augen, seine Haut ist grau, die Poren vergrößert und sogar im Schlaf sieht er noch müde aus.
Das ist wohl der Hauptgrund, dass Marc nur einen halbherzigen und erfolglosen Versuch unternimmt, ihn zu wecken: er rüttelt einmal kurz an Svens Schulter, dann dreht er die Heizung runter und breitet eine Wolldecke über seinem Ex-Freund aus. Den Salat lässt er auf dem Tisch zurück, er knipst das Licht aus und zieht sich auf leisen Sohlen mit seinem Essen in die Küche zurück.
* * * * *
Sven hat geschlafen wie ein Stein.
Ab neun Uhr morgens ist Marc regelmäßig gucken gegangen, weil es ihm unheimlich geworden ist, aber sein Ex hatte völlig gleichmäßig geatmet und in der Tat friedlich geschlummert.
Es ist fast halb eins als Sven endlich mit dem Salatschälchen in der Hand in die Küche geschlurft kommt, und bis dahin ist Marcs Tagesplanung schon ziemlich durcheinander geraten.
„Guten Morgen.“
„Mahlzeit“, kontert Marc trocken, was dazu führt, dass Sven erstmal nach der Uhrzeit Ausschau hält.
„Oh. Entschuldige. Aber ich bin so müde gewesen… Du hättest mich ruhig wecken dürfen.“
„Ist doch nicht schlimm“, wehrt Marc ab. „Ich hatte bloß Bedenken, dass irgendwer auf dich warten könnte und sich Sorgen macht.“
„Nee, nee.“ Beschwichtigend schüttelt Sven den Kopf. „Das weiß keiner, dass ich hier bin. Bin erst gestern Nachmittag angekommen.“
„Lebst du immer noch in Berlin?“
Bei dem Wort Berlin geht ein Zucken über Svens Gesicht und er weicht Marcs neugierigem Blick geflissentlich aus.
„Jein. Bis gestern. Ich geh aber nicht mehr zurück.“
„Sondern? Warst du auf dem Weg zu deiner Mutter?“
Wieder schüttelt Sven den Kopf.
„Die würde sich bedanken. Ich wollte mir eigentlich ein Hotelzimmer nehmen.“
„Das ist doch rausgeworfenes Geld! Warum bleibst du nicht hier?“, offeriert Marc spontan und streckt die Arme aus. „Die Wohnung steht eh leer. Du kannst bleiben, bis du was Richtiges gefunden hast.“
„Du musst das nicht machen.“
„Nein. Aber ich will. Das ist mein Haus, es ist meine Wohnung und so wie es aussieht, sind es auch meine Möbel.“ Er deutet auf die Eiche-Schrankwand und grinst. „Bitte zieh hier ein. Du kannst mir helfen, den Nachlass zu sortieren, allein schaffe ich das sowieso nicht. Bloß für das Schlafzimmer habe ich fast eine Woche gebraucht! Und ich muss spätestens morgen zurückfahren.“
Der Form halber ziert Sven sich noch ein bisschen, auch wenn ihm grade ein dicker, fetter Stein vom Herzen geplumpst ist.
„Aber nur, wenn’s dir echt nichts ausmacht…“
„Dann hätte ich es dir nicht angeboten“, stellt Marc lapidar fest. „Und nun setzt dich erstmal her und iss etwas. Du musst ja halb verhungert sein!“
„Ach was“, wehrt Sven ab und inspiziert das Frühstücksgedeck auf dem Küchentisch. „Ich bräuchte bloß noch ne Gabel.“
„Jetzt vergiss den ollen Salat. Ich hab Brötchen gekauft“, sagt Marc und ergänzt entschuldigend: „Nur der Kaffee ist jetzt kalt.“
„Du weißt doch, ich mag eh keinen Kaffee. Ist das Wasser im Kühlschrank?“ will Sven wissen und macht einen Schritt hin zur Kühlschranktür.
„Nein!“ brüllt Marc. „Lass bloß den Kühlschrank zu!“
„Ist ne zerstückelte Leiche drin, oder was?“
„So ähnlich. Das Ding war noch voll und die EVM hatte den Strom abgestellt. Glaub es oder nicht, aber da waren schon die Maden drin.“ Angewidert schüttelt er mit dem Kopf. „Weiß der Teufel, wo die hergekommen sind, denn die Tür ist zu gewesen. Ich hab zwar alles weggeworfen und sauber gemacht, aber dadrin stinkt es immer noch wie die Pest.“ Marc deutet auf die blaue rechteckige Box auf dem Küchenboden. „Die letzten Tage habe ich mir mit einer Elektro-Kühlbox beholfen, aber das ist auch keine Dauerlösung.“ Mit einem Lächeln ergänzt er: „Nimm dir raus, was du magst. Wurst, Käse, Butter… Und die Besteckschublade ist übrigens links von der Spüle.“
Sven nickt, aber er nimmt nur die angebrochene Wasserflasche aus der Kühlbox, sowie eine Gabel aus der Schublade und setzt sich anschließend zu seinem Ex an den Tisch. Marcs Stirnrunzeln zum Trotz öffnet er die Salatbox, schnappt sich lediglich ein trockenes Brötchen dazu. Gierig schlingt er das welke Zeug hinunter und gibt keinen Ton von sich, bis kein Krümel mehr übrig ist.
„Ich geh mal duschen, wenn’s für dich okay ist“, deutet er dann an.
„Klar, warum nicht? Brauchst du was Frisches zum Anziehen?“
„Nee, ich hab noch was zum Wechseln.“
Was Sven nicht verhindern kann, ist, dass Marc ihm ins Wohnzimmer folgt, wo er unter dessen neugierigen Blicken den Inhalt des Rucksacks auf das Sofa ausleert. Zum Vorschein kommen: zwei Unterhosen, zwei zerknüllte T-Shirts und ein Poloshirt, 2 Paar Socken, 1 MP3-Player, ein gewelltes Stück Papier, das wohl mal ein Bahnticket war und eine leere Wasserflasche.
„Ist das alles, was du dabeihast?“ fragt Marc irritiert.
Sein Ex zuckt vieldeutig mit den Achseln.
„Wenn du magst, kannst du deinen Kram vorerst nach nebenan in den Kleiderschrank tun. Der ist leer, bis auf ein paar Handtücher. Und die sind frisch gewaschen.“ Als der andere nicht gleich antwortet, ergänzt Marc: „Die Waschmaschine ist im Bad, hast du ja sicher gesehen. Waschpulver ist auch da. Und auf der Terrasse steht ein Wäscheständer.“
Sven nickt. „Dank dir für alles“, sagt er leise.
„Viel ist es ja nicht grade.“ Marc blickt auf den mickrigen Stapel mit Svens Habseligkeiten herab und kratzt sich am Kopf. „Was soll’s. Wir müssen morgen früh eh noch ein paar Lebensmittel für dich einkaufen“, erklärt er dann. „Duschzeugs, Deo und so was ist im Badezimmer, das kannst du gerne benutzen. Aber du brauchst zumindest mal eine eigene Zahnbürste und einen Rasierer…“
„Den brauchst du ja nun nicht mehr“, rutscht es Sven heraus.
Marc stutzt und streicht sich instinktiv übers Kinn.
„Ach das. Wie findest du’s?“
„Na ja.“ Sven zuckt unbestimmt mit den Achseln. „Anders halt.“
„Also einen Rasierer“, kehrt Marc schnell zu Thema zurück. „… und noch ein paar Klamotten zum wechseln. Das können wir gleich in einem Aufwasch erledigen.“
„Ist gut gemeint, aber es geht nicht.“
Sven senkt den Kopf und lässt sich die Haare in die Stirn fallen, ganz genau wie früher, wenn er etwas ausgefressen hatte.
„Und wieso nicht?“
Als Antwort greift Sven in eine Außentasche des Rucksacks, fördert ein abgegriffenes Portemonnaie zutage, leert das Kleingeld daraus in seine Handfläche und streckt sie Marc anschließend hin.
„Mein letztes Geld.“
Um es zusammenzuaddieren reicht der Augenblick nicht aus, aber mehr als 4 Euro waren es sicher nicht. Marc runzelt die Stirn.
„Und damit wolltest du im Hotel einchecken?“ erkundigt er sich skeptisch.
„Ach, das wär schon irgendwie gegangen.“
„Und deine Sachen? Hast du den Rest noch in Berlin?“
Sven lächelt ein undefinierbares Lächeln und deutet auf das Häuflein auf dem Sofa.
„Das ist der Rest.“
Es gibt einen satten Klatsch, als Marc sich die flache Hand vor die Stirn knallt.
„Oh Mann, Sven.“
* * * * *
Als Sven nach dem Duschen aus dem Bad kommt, trägt er wieder seine eigenen Klamotten.
Marc, der sich auf dem Sofa breitgemacht hatte, rutscht ein Stückchen zur Seite, dennoch wählt Sven wieder den monströsen Sessel, in dem er fast verschwindet, sowohl was die Größenverhältnisse angeht, als auch wortwörtlich, denn die Sitzfläche gibt nach und er plumpst in eine Kuhle.
„Heute bist du aber mal dran mit erzählen“, bestimmt Marc. „Was hast du die letzte Zeit so getrieben?“
„Schätze, du hast nicht allzu viel verpasst, nachdem du weg warst“, lässt Sven anklingen und weicht Marcs Blick aus dabei. „Ist nicht ganz so doll gelaufen.“
„Wie es aussieht, hast du die Kurve ja noch mal gekriegt“, befindet sein Ex versöhnlich.
„Und wie“, bestätigt Sven mit einem sarkastischen Lächeln. „Mit zwei blauen Augen, einem Haufen Schulden und auch nur dank eines Krankenaufenthaltes, beziehungsweise eines schwulen Arztes an der Charité…“
„Wenigstens der letzte Teil klingt doch vielversprechend…“
„Schön wär’s. Ich hab mich wie ein Ertrinkender an ihn geklammert, dabei hat er eigentlich nichts weiter gemacht als seinen Job. Es war ganz schön demütigend.“
„Du machst niemals bloß deinen Job“, gibt Marc kryptisch zurück. „Bist du erst kürzlich aus dem Krankenhaus entlassen worden?“
„Nee, das war schon letztes Jahr.“
Mit „Was hast du jetzt vor?“ versucht Marc, das unergiebige Gespräch über die Runden zu retten.
„Erstmal zur Ruhe kommen“, murmelt Sven abermals äußerst vage. „Ich hab echt ne Scheißzeit hinter mir.“
„Und dann? Weiterstudieren?“
„Eher nicht. Das heißt, wenn, dann was anderes.“
„Jetzt doch Jura?“ vermutet Marc.
„Vielleicht“, windet sich Sven.
So konkret hat er noch nicht drüber nachgedacht!
Vorerst hat er dringendere Sorgen.
Um aus der Defensive herauszukommen, kontert er mit einer Gegenfrage: „Und wie ist es dir ergangen?“
„Mal so, mal so“, antwortet nun auch Marc ziemlich schwammig.
„Muss ich dich eigentlich schon Herr Doktor nennen?“
„Dazu wird’s wohl nicht mehr kommen. Das mit dem Studium hat sich erledigt.“
„Nanu?“, stutzt Sven. „Du wolltest doch um jeden Preis Arzt werden!“
„Ja, schon. Aber ich war ja gezwungen, die Uni zu wechseln…“
Bei dieser beiläufigen Feststellung wird Sven noch eine Nuance blasser als er es von Natur aus schon ist.
„Aber du hättest doch nicht…“ stottert er und rekapituliert: „Du bist mitten im Semester abgehauen, ohne dich zu verabschieden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Als ich nach Hause kam, warst du verschwunden!“
„Ich hatte die Schnauze so was von voll, da gab’s auch nichts mehr zu diskutieren.“
„Und wo bist du hin? Ich habe die halbe Stadt nach dir abgesucht, hab sogar versucht, Sara zu erreichen!“
„Das war um den Dreh, wo sie selber umgezogen ist“, erklärt ihm Marc. „Die erste Zeit bin ich bei Diana in Köln untergekommen, aber sie hatte da selber bloß ein Zimmer in einer WG, das war also keine Option auf Dauer. Dann hat mich ein ehemaliger Schulkamerad bequatscht, zu ihm nach Baden-Württemberg zu kommen und dort weiterzustudieren.“ Er lehnt sich zurück, verschränkt die Hände hinter seinem Hinterkopf und starrt an die Decke.
„Aber?“
„Ich hab’s mir zu einfach vorgestellt. Ich dachte, ich verliere das angefangene Semester und mache da weiter, wo ich aufgehört habe.“ Marc richtet den Blick wieder auf Sven und schnaubt sarkastisch durch die Nase. „Aber Pustekuchen! Den heutigen MSM gab’s zu meiner Zeit noch nicht, aber vielleicht kannst du dich entsinnen, dass sich das Ganze damals schon Reformstudiengang schimpfte. Dadrüber, dass die Inhalte so krass vom Regelstudiengang abweichen könnten, hab ich mir vorher echt keinen Kopf gemacht. Und wie ich später gemerkt hab, muss grade Baden-Württemberg bei den Medizinern besonders rumzicken.“ Er zuckt mit den Achseln. „Das Ende vom Lied war, dass ich zwar theoretisch eine Uni hatte, die mich genommen hätte, aber ich hätte komplett von vorn anfangen müssen. Mit anderen Worten: entweder dreieinhalb Semester in den Sand gesetzt oder einen Rechtsstreit riskieren, womit ich von Anfang an unten durch gewesen wäre.“
„Für was hast du dich entschieden?“
„Nichts von beidem. Ich hab’s drangegeben.“
„Im Ernst? Das klingt aber nicht nach dem Marc, den ich kenne!“ bilanziert Sven und ergänzt, wie um seine Behauptung zu belegen: „Ich erinnere da an ein gewisses flammendes Plädoyer anlässlich eurer Abifeier. Wenn ich mir die Videoaufnahmen so ins Gedächtnis rufe, gab es ein paar ziemlich bedröppelte Gesichter…“
„Ach das.“ Ein kleines Lächeln zieht über Marcs Gesicht. „Da ging’s doch in erster Linie gar nicht um mich. Für andere konnte ich schon immer besser streiten als für mich selber.“
Der Bart passt nicht zu ihm, denkt Sven. Er hat sich immer noch nicht an den Anblick gewöhnt und muss andauernd draufstarren. Die Wirkung, die davon ausgeht, ist vielleicht rau und männlich, aber in erster Linie macht es Marc viel zu alt.
Keine Ahnung, ob dem Svens Blicke aufgefallen sind, jedenfalls fährt er ohne sichtbare Reaktion fort: „Aber auf dieses Jahr bezogen, war ich schlicht und ergreifend bedient. Da war so viel schiefgelaufen – du kannst doch nicht pausenlos gegen alles und jedes ankämpfen.“
„Es tut mir so leid, Marc. Ich hab nicht gewollt, dass du meinen Mist ausbaden musst, glaub mir! Wenn ich es bloß irgendwie wieder gutmachen könnte!“
„Es hatte nicht nur mit dir zu tun“, stellt Marc richtig. „Berlin war von Beginn an eine Fehlentscheidung. Ich meine, nicht die Uni oder so. Aber in der Stadt hab ich mich nie richtig wohl gefühlt.“
„Davon hast du nie was gesagt“, staunt Sven.
„Ich weiß. Du hast so geschwärmt und ich wollte ja auch keine Spaßbremse sein. Um ehrlich zu sein, habe ich es mir selbst lange Zeit nicht eingestanden, aber mir war alles viel zu groß und zu grell und zu oberflächlich. Eigentlich hatte ich schon nach drei Wochen die Schnauze voll.“
Im Grunde genommen ist Marc sogar ein bisschen neidisch auf Sven gewesen, der die Umstellung so reibungslos gemeistert und plötzlich mit einem völlig neuen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein aufgetrumpft hatte.
Er selber hatte sich lieber kopfüber in sein Studium gestürzt, sich in Arbeit vergraben, dabei natürlich auch neue Kontakte geknüpft, aber all das zusammengenommen hatte die Kluft zwischen Sven und ihm immer weiter vergrößert.
Das gefühlt Beste an ganz Berlin ist die Dauerkarte für den Botanischen Garten gewesen – damit ist ja wohl alles gesagt!
„Aber der Arztberuf… Das ist doch immer dein Traum gewesen!“
„Eine Zeitlang hätte ich mir schon in den Hintern beißen können, dass ich nicht hartnäckiger gewesen bin“, gibt Marc zu und ergänzt dann achselzuckend: „Aber wahrscheinlich hat es einfach nicht sein sollen. Und ein Gutes hatte das Ganze ja schließlich doch noch.“
„Und das wäre? Jetzt mach’s nicht so spannend! Was kam, nachdem du das Studium abgebrochen hattest?“
„Ein Monat USA“, kommt die gleichermaßen simple, wie überraschende Antwort. „Einmal quer von Ost nach West, von New York bis runter nach San Francisco. Danach hatte ich den Kopf wieder frei und war bereit für was Neues.“ Er unterbricht sich und zieht fragend die Augenbrauen hoch. „Was lachst du?“
„Nichts“, sagt Sven und denkt: Typisch Marc. Bevor dieser argwöhnisch nachhaken kann, fragt er schnell: „Und dann?“
„Folgte der nächste Umzug, diesmal in die Nähe von Würzburg. Nach Koblenz war das zum ersten Mal wieder ein Ort, an dem ich mich zuhause gefühlt habe! Ich hab auch ziemlich schnell einen Haufen Leute kennengelernt. Unter anderem war ein Bekannter dort Rettungssanitäter und er hat mich da quasi mit reingezogen.“ Nachdenklich reibt Marc mit dem Zeigefinger über seine Nasenspitze. „Zu Anfang hielt ich das echt für eine gute Idee. Ich hab allerdings gleich Nägel mit Köpfen gemacht und mich zum Rettungsassistenten ausbilden lassen, weil du als Sani kaum mehr machst als Krankentransporte. Die ganze Ausbildung dauerte bloß ein Jahr und im Anschluss haben die mich mit Kusshand genommen.“
„Aber?“ erkundigt sich Sven, dem die Überlänge der folgenden Pause zu denken gibt.
„Dreimal darfst du raten.“ Marc schüttelt konsterniert den Kopf. „Zu sagen, es war ein Desaster, ist noch ein Euphemismus. Das, was okay war, waren die Routinejobs oder auch die Großveranstaltungen: Demos, Konzerte… Man hatte das Gefühl, man wird gebraucht und kann was ausrichten. Natürlich ist mir klar gewesen, dass es auch kritische Einsätze geben würde, aber ich hätte mich für abgebrühter gehalten. Je länger der Sommer dauerte, desto heftiger wurde es…“ Er stockt und malträtiert für geraume Zeit seine Unterlippe mit den Schneidezähnen. „Ich zucke heute noch zusammen, wenn in meiner Nähe ein Motorradfahrer Gas gibt. Was ich da alles gesehen habe… Das ist was anderes, als wenn du’s als Notiz in der Zeitung liest!“ Er schnauft einmal hörbar durch und schluckt ebenso hörbar beim Ausatmen. „Manchmal war es ein Gemetzel, davon machst du dir keinen Begriff. Oft genug kamen wir auch einfach zu spät.“
„Du musst mir das nicht erzählen, wenn es irgendwie ein Problem darstellt.“
„Solange ich nicht zu konkret werden muss, ist es okay“, meint Marc. „Auch wenn nun bald anderthalb Jahre dazwischen liegen, ist die detaillierte Vorstellung immer noch schwer auszuhalten. Wenn ich mir überlege, dass ich allen Ernstes Unfallchirurg hatte werden wollen…“
„Es gibt ja auch weniger blutrünstige Fachrichtungen“, deutet Sven an. „Orthopäde oder Augenarzt oder was weiß ich.“
„Oder Urologe“, ergänzt Marc mit leisem Spott. „Das war aber nicht mein Anspruch! Wenn du es so willst, war’s eine krachende Niederlage. Das passte mal so gar nicht in mein Selbstbild, aber man weiß es schließlich erst, wenn man es ausprobiert.“
„Hast du gekündigt?“
„Ein paar Monate hab ich versucht, mich über die Runden zu retten, aber irgendwann ging gar nichts mehr. Entweder hab ich mich gleich nach dem Aufstehen übergeben oder ich kam erst gar nicht aus dem Bett.“ Er weicht Svens forschendem Blick aus, guckt ziellos in der Gegend umher und streicht sich fahrig durch die Haare. „Wenn du mal in so einer Abwärtsspirale drinsteckst, kommst du allein auch nicht mehr raus. Mein einzigstes Glück war… Wir hatten einen Top-Psychologen, eine der renommiertesten Kapazitäten Würzburgs, welcher sich in seiner Freizeit ehrenamtlich um die Rettungskräfte gekümmert hat. Da musst du auch was abkönnen! Ich hab ihm echt nichts geschenkt: nicht einen Einsatz, kein Horrorszenario, die Alpträume danach, bis hin zu den Beruhigungsmitteln zum Frühstück.“
„Und das hat was gebracht?“
„Wie man’s nimmt. Er hat nicht lange gefackelt und dem Spuk ein Ende bereitet.“
„Na, die werden sich bedanken, wenn er das immer so macht!“
Marc schmunzelt.
„Sagen wir’s mal so: Das war ein ziemlich spezieller Einsatz. Ich bin quasi übergangslos von der Couch in sein Bett gerutscht.“
„Ups“, entfährt es Sven.
„Tja, und drei Monate später waren wir verheiratet.“
„Ist nicht dein Ernst!“
„Ging alles ein bisschen schnell, ich weiß. Und geplant hatte ich so was ja auch nie. Aber es hat von Anfang an gepasst, auf was hätten wir warten sollen? Er verkörpert genau das, was ich mir immer gewünscht habe.“
Es ist nur ein klitzekleines Zucken, welches durch Svens Gesicht geht, aber Marc bemerkt es dennoch und sieht sich zu einem: „So hab ich das nicht gemeint.“ genötigt.
„Kein Thema“, winkt Sven ab. „Und was machst du jetzt den lieben langen Tag?“
„Ich spiele das Professorenliebchen. Ein Hoch auf das Ehegattensplitting!“ grinst Marc. „Nein, im Ernst: Ich hab lange hin und her überlegt. Mein Mann hat einiges an Beziehungen zur Uni Würzburg. Die haben ein Institut für Virologie und Immunbiologie. Es reizt mich schon, aber… Ich werde bald 27.“
Und zwar Punktum am nächsten Samstag, ergänzt Sven in Gedanken.
„Irgendwann will man doch endlich auf eigenen Füßen stehen.“
„Was ist die Alternative?“
„Ich werde mich wohl umorientieren in Richtung Heilpraktiker. Nach den Sommerferien geht es los. Die Frage ist eigentlich bloß noch: Fernstudium oder Heilpraktiker-Schule? Vielleicht lande ich ja künftig doch noch im selben Ärztehaus wie Urs …“
„Urs?“
„Mein Mann. Seine Mutter kommt aus der Schweiz“, erklärt Marc.
„Und bis es soweit ist, gehst du mit dem Hund Gassi und scheuchst die Putzfrau?“
„Na ja, fast“, grinst Marc. „Ich hab angefangen, Golf zu spielen. Das ist für dich wahrscheinlich ne Lachnummer“, unterbricht er sich. „Aber ich musste mich anfangs ganz schön strecken. Und Urs ist echt gut.“
„Klingt nach einem echt anstrengenden Leben…“
„Das ist ja noch nicht alles“, relativiert Marc, Svens leisen Spott geflissentlich ignorierend. „Abgesehen davon fließt eine Menge Zeit in die Betreuung einer schwulen Jugendgruppe, etwas, das mir unheimlich ans Herz gewachsen ist und was ich um keinen Preis aufgeben möchte. Morgen Nachmittag ist unser nächstes Treffen, deshalb kann ich auch nicht länger bleiben.“
„Und der Hund?“
„Was hast du eigentlich dauernd mit deinem Hund?“