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Eine ungewöhnliche Erbschaft würfelt drei Männer zusammen, die davon auf dem völlig falschen Fuß erwischt werden. Jeder von ihnen hatte eine besondere Beziehung zu dem Verstorbenen - Status: kompliziert.
Benny, der Jüngste der drei, ist fest entschlossen, das Andenken an seinen Freund zu bewahren, auch wenn er dafür gemeinsame Sache mit den einstigen Rivalen machen muss.
Während seine Mitstreiter noch zögern, legt sich Benny ins Zeug, um das zickige Trio zu vereinen, was seine ganze mentale Stärke und bisweilen vollen Körpereinsatz fordert.
Im Zuge der Annäherung erfährt Benny nicht nur etwas über die verborgenen Seiten seines Freundes, sondern gelangt auch zu einer überraschenden Erkenntnis über sich selbst.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
„Benny, Benny, Benny! Du ahnst nicht, was heute passiert ist! Rick ist da! Plötzlich stand er einfach so vor der Tür. Ich bin immer noch total durch den Wind.“
Immer wenn Benny an diese Sätze denkt, hat er Svens Stimme im Ohr, dabei ist es in Wirklichkeit eine Textnachricht gewesen.
Das, was Sven so geflasht hatte, der Überraschungsbesuch seiner heimlichen Liebe, war für Benny eine eiskalte Dusche aus heiterem Himmel gewesen. Seine düsteren Ahnungen hatten sich nur wenige Wochen später bewahrheitet, als Sven Koblenz nämlich Knall auf Fall den Rücken gekehrt hatte, um mit seinem großen Schwarm zusammenzuziehen. Bis zu diesem Moment hatten Sven und Benny so ziemlich jede freie Minute gemeinsam verbracht und danach vergingen Monate bis zum nächsten vernünftigen Lebenszeichen.
„Lieber Benny,
entschuldige vielmals, dass ich mich so rar gemacht habe.
Dafür bekommst du heute eine extralange Mail und nicht bloß eine Sprachnachricht. Es ist so viel passiert, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.
Als wir das letzte Mal gechattet haben, waren Rick und ich auf Wohnungssuche und ich war einfach mega-gestresst.
Du wundertest dich, wieso die Suche hier auf dem Land so kompliziert ist.
Eines der Probleme ist, dass die besten Wohnungen in der Umgebung häufig Ferienwohnungen sind, weil das lukrativer ist für die Vermieter. Bei den regulären Wohnungen bekamen wir oftmals die Vorbehalte gegen zwei männliche Mieter zu spüren.
Das Ferienhäuschen von Ricks Eltern, in dem wir den Winter verbracht hatten, war zu Ostern wieder an Gäste vermietet und am Ende rannte uns buchstäblich die Zeit davon.
Bei jedem Fehlschlag hat Rick aufs Neue probiert, mich Richtung Berlin zu lotsen. No way, ich liege ihm zu Füßen, aber zurück nach Berlin bekommt mich keiner, noch nicht einmal er!
Für eine Übergangszeit sind wir tatsächlich in Ricks altem Kinderzimmer in seinem Elternhaus in Neustrelitz gestrandet, doch lange Rede, kurzer Sinn: zu guter Letzt sind wir doch noch fündig geworden.
Schätze, unser Joker war Ricks Doktortitel ;-)
Bei der Lage mussten wir Abstriche machen. Ein vergleichbares Haus am See mit eigenem Bootssteg so wie unser Winterdomizil wäre mehr als ein Sechser im Lotto gewesen. Träumen darf man ja!
Unser jetzigesHäuschen liegt in einem Dorf mitten in der Pampa. Hier gibt es sozusagen nichts, außer einem kleinen Bio-Laden, der an drei Tagen die Woche geöffnet hat.
Einkaufen kann man außerdem bei zwei Bauern in der Nähe und im Nachbarort gibt es einen Bäcker. Bis zum nächsten Supermarkt musst du ungefähr 10 Kilometer weit fahren. Dafür dreht Samstagmorgens ein Getränkelieferant die Runde, das ist ziemlich praktisch.
Unser Haus stand vor unserem Einzug ein Dreivierteljahr leer. Zwischen den Zeilen haben wir herausgehört, dass es Erbstreitigkeiten gab, die alles blockiert haben.
Jedenfalls war eine Menge zu tun - soviel zu meiner Ausrede für die lange Funkstille!
Zuerst einmal mussten wir alles entrümpeln und anschließend renovieren.
Weder Rick noch ich sind die begnadeten Heimwerker, aber wir haben zusammen tapeziert, gestrichen, Türen abgeschliffen und sogar Parkett verlegt. Das Ergebnis ist durchwachsen – dafür hat es Spaß gemacht.
Parallel dazu haben unsere Vermieter das Bad sanieren lassen, was einigermaßen unpraktisch war. Heißt: Wir mussten uns in der Küche waschen und hatten ein Dixi-Klo im Garten!
Ricks Urlaub ist nun vorbei und wenn er auf der Arbeit ist, nehme ich mir den Garten vor. Der ist mindestens eine ebenso große Baustelle – total zugewuchert nämlich. Ich mache Meter für Meter an Boden gut und wundere mich, was alles zum Vorschein kommt. Das eine war wohl ein Kartoffelbeet!
Ein paar Beerensträucher gibt es auch, ich freue mich schon auf die erste Marmelade.
Mein ganzer Stolz sind außerdem zwei Hochbeete, die ich neu angelegt habe, eines mit Kräutern und eines mit Radieschen, Möhren etc.
Als Schattenspender für die Terrasse dient eine große Holzpergola, an deren Seiten sich eine traumhafte Rosenhecke in die Höhe rankt. Oder besser gesagt: rankte, weil sie ziemlich verwildert ist. Von Rosen hatte ich bislang keinen Schimmer, so dass ich mir eine Menge anlesen musste. Kopfzerbrechen bereitet mir der erste Schnitt. Ich hoffe, es geht gut, es wäre sonst ein Jammer. Ich habe noch nie so riesige Blüten gesehen.
Letztes Wochenende haben wir den Terrassenboden neu gemacht. Die Platten waren uralt und größtenteils gerissen und dazwischen spross das Unkraut. Ich hatte mir Holzplanken stattdessen in den Kopf gesetzt, was das Ganze „geringfügig“ verteuert hat. Dafür sieht es aber saugeil aus. Meine kleine Insel im Grünen.
Du musst mich unbedingt besuchen kommen…“
„Benny? Hörst du mir zu?“
Eine resolute Stimme reißt Benny aus seiner Erinnerungswelt und er plumpst übergangslos aus einem Sommertag im Juni 2016 in einen regnerischen Novembermorgen im Jahr 2021.
An ihrem leicht ungeduldigen Unterton merkt Benny, dass Sara schon eine Weile auf ihn eingeredet haben muss.
„Ich…“ Er kramt in seinem Gedächtnis, ob irgendetwas des zuvor Gesagten hängengeblieben ist, aber es fühlt sich an, als hätte wer die Festplatte in seinem Kopf gelöscht. „Ehrlich gesagt… Nein.“
„Ich fragte, ob wir zusammen essen gehen sollen, wenn alles vorbei ist. Dann würde ich schon mal einen Tisch reservieren“, wiederholt Sara und wedelt mit ihrem Handy. „Ich lade euch ein.“
Benny schüttelt den Kopf.
„Mir ist jetzt schon schlecht. Ich glaube nicht, dass ich hinterher einen Bissen runterkriege.“
„Aber etwas musst du essen! Was hältst du von Kuchen?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht.“ Mit Kuchen kann man ihn normalerweise immer ködern. Aber was ist heute schon normal? „Frag später nochmal.“
„Fällt euch nichts Bessres ein, als ausgerechnet jetzt über Essen zu reden?“ mosert Marc, der zusammen mit ihnen im Wartebereich der Anwaltskanzlei ausharrt.
Sara zuckt mit den Achseln, entsperrt das Tablet auf ihrem Schoß und fängt an, darauf herum zu hämmern. Benny steht auf und geht zum Fenster.
Als Stimmungsaufheller ist die Aussicht jedenfalls untauglich, stellt er fest. Aus den vornehmen Räumlichkeiten im vierten Stock blickt man hinunter in einen düsteren, rechteckigen Hinterhof, viel Beton, ein paar parkende Autos, ein paar Müllcontainer, von denen in hohem Bogen die Regentropfen abprallen.
Benny versucht den Fenstergriff zu drehen, aber das Schloss ist verriegelt und auf dem Fensterrahmen daneben pappt ein gelber, runder Aufkleber mit roter Schrift, welche auf die Klimatisierung verweist.
Er geht zurück zu seinem Platz, einem weinroten Plüschsessel, der ihn ein bisschen an Kinositze erinnert, nur dass dieser hier auf einem Fuß aus blitzenden Edelstrahl thront und außerdem viel bequemer ist. Benny vermutet, dass es hier normalerweise mindestens doppelt so viele Sitzgelegenheiten gibt, aufgrund der Corona-Nachwehen sind es nun aber nur noch vier Stück, die sich paarweise versetzt, in weitem Abstand gegenüberstehen. Der obligatorische Glastisch (ursprünglich wohl für Zeitschriften gedacht), ist leer, beziehungsweise von Saras Krimskrams belagert.
Außerdem gibt es eine minimalistische Garderobe, bestehend aus 4 Haken an der Wand mit jeweils einem Kleiderbügel, sowie einen Schirmständer. Nicht mal eine künstliche Pflanze.
Benny fragt sich, weshalb er ausgerechnet einen Fleecepulli angezogen hat (Easy, weil er mit dem Fahrrad gekommen ist und das Thermometer vorhin grade mal 8 Grad angezeigt hatte!) – hierdrin jedenfalls ist ihm viel zu warm. Auch wenn der großzügige Raum, wie erwähnt, gefühlt für mehr Personen ausgelegt ist, herrscht dort schon mit den drei Anwesenden im wahrsten Sinne des Wortes dicke Luft.
„Kannst du das mal lassen?“, nimmt Marc erneut seine Mutter ins Visier. „Was machst du da eigentlich die ganze Zeit?“
„Ich arbeite“, gibt Sara gleichmütig zurück und mustert ihn mit einem „Kann man es dir irgendwie rechtmachen?“-Blick.
Marc öffnet den Mund zu einem Kommentar, aber ein Klopfen an der Tür lenkt ihn fürs Erste ab.
„Herein!“ ruft Sara laut und dreht erwartungsvoll den Kopf.
Der große, schlanke Mann, der daraufhin die Türklinke herunterdrückt und das Zimmer betritt, sieht aus wie der personifizierte Regen. Er trägt einen schwarzen Mantel aus wasserabweisendem Material und hält einen überdimensionalen, ebenfalls schwarzen Stockschirm in der Hand. Von beidem rinnen Regentropfen herab und das Gesicht des Mannes ist so grau wie der Morgen.
Ehe er die anwesenden Personen in Augenschein nimmt, findet sein suchender Blick den Schirmständer und der Mann quetscht sein Ungetüm von Regenschirm neben das knallrote Exemplar von Sara.
Unterdessen hat Sara Tablet und Brille weggelegt und ist aufgestanden. „Grüß dich, Rick,“ sagt sie und schließt den Neuankömmling kurzentschlossen in die Arme, ohne Rücksicht darauf, dass ihr flauschiger Mohairpulli in bordeauxrot und lila dabei Bekanntschaft mit dem regennassen Mantel macht.
Marc mustert die Szene mit saurer Miene und Sara versichert schnell: „Bin 2x geimpft.“
„Genesen“, erwidert der andere prompt und die Andeutung eines Lächelns blitzt ganz kurz über sein Gesicht. „Oder so. Morgen zusammen“, grüßt er dann offiziell und etwas außer Atem, so als hätte er anstelle des Fahrstuhls die Treppe in den vierten Stock genommen.
„Hi Rick“, sagt Benny, gibt sich einen Ruck und erhebt sich, um dem Nachzügler die Hand zu schütteln.
Lediglich Marc bleibt sitzen, verschränkt die Arme vor der Brust und erwidert gespreizt: „Guten Morgen, Herr Doktor. Auch schon da?“
„Der Zug hatte Verspätung.“
„Es ist ja noch früh genug“, verteidigt Sara den Arzt und erkundigt sich dann bei diesem: „Wann musstest du aufstehen?“
„Halb vier“, erwidert Rick und unterdrückt ein Gähnen, während er seinen Mantel auf einen Bügel hängt. „Und du?“
„Ich bin schon gestern Abend angereist“, erklärt Sara. „Habe im Hotel übernachtet.“
Sie setzt sich wieder hin und deutet einladend auf den freien Sessel. „Setz dich doch.“
Rick ist noch in der entsprechenden Bewegung, da knackst es laut im Lautsprecher über der Türe. Die Wartenden zucken zusammen.
„Erbschaftssache Gröninger bitte in Raum B1!“
Der Halbsatz genügt, um alle in Hektik zu versetzen. Marc und Sara springen auf, Sara rafft Tablet, Smartphone, Brillenetui und eine angebrochene Rolle Pfefferminzbonbons zusammen und wirft alles kreuz und quer in ihre überdimensionierte Designertasche. Die drei jungen Männer strömen ungentlemanlike als erstes zur Tür und beim Verlassen des Raumes gibt es fast eine Rempelei.
De facto ist Marc der einzige, der sich hier auskennt, aber da es rechts lediglich zum Empfang, respektive zum Ausgang und zu den Toiletten geht, schieben sich alle nach links den Gang hinunter, wo der Anwalt sie schon in einer geöffneten Tür erwartet.
Dr. Dannenberg ist ungefähr 50 Jahre alt, etwa 1,75m groß und hat dunkelbraune Haare. Er trägt einen dunkelgrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine unauffällige Krawatte.
Beim Eintreten begrüßt er alle der Reihe nach mit Ghetto-Faust, was Benny in dieser noblen Umgebung reichlich seltsam vorkommt.
Der Anwalt geleitet seine Besucher zu einem runden Massivholztisch etwas abseits des monströsen Schreibtischs. Fünf breite Lederstühle warten dort, aber während die vier sich hinsetzen, bleibt Dr. Dannenberg zunächst stehen.
„Greift zu“, fordert er seine Gäste auf und deutet auf die Mitte des Tisches, wo eine silberfarbene Thermokanne, fünf abgezählte Tagungs-Wasserflaschen mitsamt Gläsern, Tassen und einem kleinen, ebenfalls silberfarbenen Tablett mit Milchkännchen, Zuckerdose, Kaffeelöffeln und einem Flaschenöffner warten.
„Bevor ich beginne, möchte ich erneut darauf hinweisen, dass dieses Treffen hier lediglich einen inoffiziellen Charakter hat.“ Er nimmt sich eine der Wasserflaschen, öffnet sie und nimmt zu ihrer aller Überraschung einen großen Schluck gleich aus der Flasche.
„Liebe Sara, lieber Marc, sehr geehrte Herren, ich bedanke mich recht herzlich, dass sie alle meiner Einladung gefolgt und heute erschienen sind. Es war Herrn Gröningers Wunsch, sie alle zu versammeln, bevor jeder einzelne von ihnen Post vom Nachlassgericht erhält.“
Er setzt seine Brille auf, hebt ein Blatt Papier von der Tischplatte vor sich auf und sein Tonfall wird geschäftsmäßig.
„In der Erbschaftsangelegenheit Sven Matthias Gröninger, geboren am 15. November 1988 in Koblenz, verstorben am 25. August 2021 in Münstermaifeld, sind heute, am Mittwoch, den 3. November 2021, persönlich anwesend Frau Annette Sara Rohde, geborene Hermann, geboren am 24. Januar 1969 in Koblenz, sowie Marc Hermann, geboren am 2. Mai 1988 in Amsterdam…“ (An dieser Stelle wechseln Rick und Benny einen erstaunten Blick) „… Dr. med. Richard Breuer, geboren am 14. April 1985 in Wismar und Benjamin Alexander Wirtz, geboren am 29. November 1995 in Mayen…“
„Du heißt Benjamin?“ platzt Marc dazwischen.
„Was dachtest du denn? Meinst du, ich bin auf Benny getauft, oder was?“
„Ach, keine Ahnung. Vielleicht Ben oder Benedikt…“
„Können wir fortfahren?“ Der Anwalt räuspert sich. „Wie sie meiner Einladung entnehmen konnten, hat Herr Gröninger sie zu seinen rechtmäßigen Erben eingesetzt.“
„Aber wieso uns alle?“
Der Fragesteller ist Benny, auch wenn sich Sara und Marc vermutlich dasselbe gefragt haben. Rick, der die Antwort vielleicht hätte geben können, hat die Augen halb geschlossen, wippt langsam auf seinem Stuhl vor und zurück und wirkt, als ginge ihn das Ganze nichts an.
„Dazu kommen wir gleich“, vertröstet der Anwalt ihn. „Zusammengefasst lautet sein letzter Wille, dass jeder von ihnen jeweils 15.000 Euro aus seinem Privatvermögen erbt…“
„Ich will nichts davon.“ Sara winkt ab. „Macht das unter euch aus.“
„Jetzt hör doch erst mal zu“, mahnt Dr. Dannenberg und fährt fort. „…sein Lebensgefährte darüber hinaus all seinen persönlichen Besitz, inklusive der Dinge, die Sven in den gemeinsamen Hausstand eingebracht hat. Das übrige Vermögen fließt gemäß Svens Willen in eine gemeinnützige Stiftung. Er bittet sie darum, die Geschicke der Stiftung zu leiten.“
Er macht eine Pause und blickt in die Runde, in durchweg verdutzte und ratlose Gesichter.
„Okay“, sagt Sara langsam und kratzt sich am Kopf.
„Ich hab zwar keine Ahnung, was ich tun muss, aber ich bin dabei“, versichert Benny.
„Hm.“ Marc gibt ein undefinierbares Brummen von sich.
„Ich weiß nicht“, druckst Rick.
„Kannst du uns mehr dazu sagen?“, fordert Sara den Anwalt auf.
Dr. Dannenberg nickt. „Ja. Es gibt noch eine separate Erklärung von Sven. Diese lese ich jetzt vor.“ Er holt tief Luft und nimmt aus einer orangenen Mappe auf dem Tisch eine Klarsichtfolie, in der ein handschriftlich beschriebenes kariertes Blatt steckt.
„Ihr Lieben! Danke, dass ihr euch die Zeit heute genommen habt“, beginnt der Anwalt. „Ihr vier seid diejenigen Menschen, die mir am wichtigsten sind und ohne die mein Leben schon vor Jahren ganz anders verlaufen wäre.“ Dr. Dannenberg hat vier konzentrierte Gesichter vor sich, aber jeder, den er anschaut, weicht seinem Blick aus. „Marc, du warst meine erste riesengroße Liebe und mein Role-Model für ein selbstbewusstes, stolzes schwules Leben. Danke für alles, was du für mich getan hast, auch Jahre später noch, als du mich vor einem erneuten Absturz bewahrt hast.
Danke Benny, für deine Freundschaft, fürs da Sein, Zuhören und Anpacken. Meist hattest du schon eine Lösung, bevor ich überhaupt das Problem durchblickt hatte. Du warst mein allerbester Buddy und weißt allein, wieviel du mir bedeutet hast.
Rick, du hast mir das Leben gerettet als niemand sonst mehr einen Pfifferling darauf gewettet hätte. Dafür kann ich dir gar nicht genug danken, aber ich muss es wenigstens probieren. Danke vielmals, auch dafür, dass du dafür gesorgt hast, dass ich wieder festen Boden unter den Füßen bekam.
Ich danke dir, Sara, für deine Zeit, deine Ratschläge, deine Unterstützung in allen Lebenslagen und deinen festen Glauben an meine Bücher, was mich sehr stolz und glücklich gemacht hat.
Ich danke euch allen, auch für alles, was ich jetzt gar nicht einzeln aufzählen kann. Zu jedem von euch könnte ich einen ganzen Roman schreiben.
Als kleines Dankeschön für all das, was ihr je für mich getan habt, möchte ich, dass ihr das Geld für Euch annehmt, und auch als kleine Entschädigung für alle Mühen, allen Ärger und allen Kummer, den ich Euch bereitet habe. (Das gilt auch und gerade für Dich, Sara! Außerdem sollst Du jetzt nicht heulen.)“
Sara schnieft und runzelt empört die Stirn.
„Das steht wirklich da“, rechtfertigt sich der Anwalt und fährt überhastet fort: „Vielleicht verwundert Euch die Tatsache, dass ich schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken spiele, eine Stiftung zu gründen, aber leider bin ich noch nicht sehr weit gekommen. Ich würde mich freuen, wenn ihr Euch vorstellen könntet, meinen Gedanken fortzuführen. In diesem Fall möchte ich Euch vier, oder möglichst viele von Euch, gern ins Kuratorium berufen…“
„Ich dachte immer, ein Kurator stellt eine Ausstellung zusammen“, murmelt Marc.
„Psst.“ Sara legt einen Finger auf die Lippen.
„…einer Stiftung gegen Homo- und Transphobie im Sport.“
Dr. Dannenberg legt eine Pause ein, um seine Worte sacken zu lassen, doch dieses Mal wirken seine Zuhörer nur mäßig überrascht. Marc und Sara nicken synchron, Benny lauscht gespannt auf die Fortsetzung und Rick dürfte ohnehin Bescheid gewusst haben.
„Was mir vorschwebt, ist die Unterstützung von queeren Sportler*innen, weil in den allermeisten Sportarten entgegen aller Beteuerungen ein Coming-Out bis heute ein Risiko ist.“
Auch von Benny kommt nun ein zustimmendes Nicken. Er scheint schon weiter vorauszudenken als die anderen, denn er erkundigt sich: „Und wie funktioniert das mit der Stiftung?“
„Es gibt mehrere Möglichkeiten“, erläutert Dr. Dannenberg. „Zwei Dinge sind jedoch allen Stiftungen gleich. Erstens: das Grundkapital ist unantastbar – bei uns in Rheinland-Pfalz sind dies übrigens mindestens 50.000 Euro – die Kapitalerträge daraus, sonstige Einkünfte und gegebenenfalls Spenden sind zeitnah für den Stiftungszweck zu verwenden und zweitens: Der Stiftungszweck ist unveränderlich.“ Der Reihe nach sucht er Blickkontakt zu den Anwesenden, wie um sich zu vergewissern, dass alle ihm folgen konnten. „Daher gilt es also zu bedenken: Was ist auch in 100 Jahren noch relevant? Es wäre eine Überlegung wert, den Verwendungszweck weniger eng festzuzurren, als es Sven vorschwebte.“
„In 100 Jahren sind wir alle nicht mal mehr Asche oder Staub“, bemerkt Sara pragmatisch, aber unpassend.
„Es ist der Sinn einer Stiftung, dass sie mit ihren Zielen den Stifter überdauert“, korrigiert sie der Anwalt. Wiederum klingt es nach einem leichten Tadel.
„Was rätst du uns?“
„Grundsätzlich halte ich die Idee für abenteuerlich, eine eigenständige Stiftung mit einer Handvoll Ehrenamtlern zu führen“, führt Dr. Dannenberg aus.
„Käme ja auf einen Versuch an“, trotzt Benny. „Wenn man es wirklich will.“
„Alternativ gäbe es auch die Möglichkeit, sich an eine bereits existierende Stiftung anzudocken.“
Obwohl Axel Dannenberg die Alternative lediglich andeutet, verfinstert sich Bennys Miene und er holt tief Luft zum Widerspruch.
„Lasst uns das in aller Ruhe besprechen“ mischt Sara sich hastig ein. „Später.“
„Müssen wir jetzt etwas unternehmen?“ will Marc von dem Anwalt wissen.
„Sobald die offizielle Benachrichtigung vom Nachlassgericht, dass das Testament eröffnet wurde, bei Euch, beziehungsweise Ihnen, eingegangen ist, kann der Erbschein beantragt werden. Mit diesem Schritt gilt das Erbe als angenommen. Als angenommen gilt es auch, wenn zunächst nichts unternommen wird. Möchte jemand das Erbe ausschlagen, muss er dies innerhalb von sechs Wochen nach der Testamentseröffnung aktiv beim Nachlassgericht erklären. Sollte jemand das Testament anfechten wollen, ist ebenfalls das Nachlassgericht zuständig.“
„Als ob es einer von uns anfechten würde“, negiert Benny postwendend die Möglichkeit.
„Tja.“ Dr. Dannenberg kratzt sich am Kopf. „Wenn ich mir eine persönliche Anmerkung erlauben darf… Mir kommt es so vor, als hätte Sven sich mehr Gedanken über die Inszenierung seines letzten Willens als über dessen Inhalt gemacht.“
„Axel!“ wirft Sara mit vorwurfsvoller Miene ein, doch der Anwalt untermauert seine Behauptung mit den Worten: „Sein Testament enthält ein paar handwerkliche Fehler, die man mit ein bisschen professioneller Beratung hätte vermeiden können.“
„Und wieso hast du ihn nicht beraten?“ Diesmal ist Marc der Störenfried.
„Weil er mich nicht gefragt hat? Er hat mir lediglich den verschlossenen Umschlag für alle Fälle zur Aufbewahrung übergeben.“
„Zurück zum Problem“ verlangt Sara.
„Stichwort Erbschaftssteuer, Stichwort Mutter.“
„Die erbt doch gar nichts“, wundert sich Benny.
„Nun ja“, sagt der Anwalt. „Sven war nicht verheiratet, er hinterlässt keine Kinder, demzufolge ist seine Mutter die nächste Verwandte. Theoretisch stünde ihr ein Pflichtteil zu.“
„Nein!“ Alle zucken zusammen, als Rick ohne Vorwarnung seine geballte Faust auf den Tisch hämmert. „Hat er denn nicht mal jetzt Ruhe vor ihr?“
„Das bedeutet also, die ganze Rumprozessiererei geht wieder von vorne los?“ vergewissert sich Marc.
„Es ist jedenfalls nicht ganz auszuschließen“, erklärt Dr. Dannenberg und bereitet die potentiellen Erben vor: „Möglicherweise wird noch etwas Zeit ins Land gehen, ehe wir Klarheit haben.“
* * * * *
„Merkwürdig, sich unter solchen Umständen wiederzutreffen, nicht wahr?“
Der Anwalt hat nun doch auf einem der Stühle Platz genommen und mustert Sara, die neuerdings zwanglos vor ihm auf der edlen Tischplatte sitzt.
Sara erwidert seinen aufdringlichen Blick ohne mit einer Wimper zu zucken und fragt sich zum wiederholten Mal, ob Axel sich neuerdings die Haare färbt.
Die drei jungen Männer haben sich verbschiedet, wohingegen Dr. Dannenberg seine Jugendliebe unter einem Vorwand aufgehalten hat.
„Mich hat schon damals fast der Schlag getroffen, als ich gehört habe, dass Marc ausgerechnet dich ins Boot geholt hat.“ Sara schneidet eine kleine Grimasse. „Aber mir ist nur Lob zu Ohren gekommen.“
„Hast du etwas anderes erwartet?“
„Er wird es dir teuer genug bezahlt haben.“
„Du kannst es einfach nicht lassen, wie?“, schnaubt der Anwalt. „Als ob es bei dem, was ich für Sven und ihn getan habe, jemals um Geld gegangen wäre!“, ereifert er sich. „Und ich wäre ihm auch ein guter Vater gewesen!“
„Axel!“ ruft Sara vorwurfsvoll. „Meinst du wirklich, das ist der richtige Moment jetzt?“
„Es ist nie der richtige Moment, oder? Jedenfalls nicht, wenn es nach dir geht!“
„Apropos gehen…“ Sara rutscht von der massiven Tischplatte.
„Warte!“ Axel springt auf und tritt ihr in den Weg. „Es tut mir leid, das mit Sven und das meine ich ehrlich. Du mochtest ihn wohl sehr gern?“
„Für mich war Sven so was wie ein zweiter Sohn“, versetzt Sara. „Und für Marc ist mit seinem Tod ein Lebensabschnitt unwiderruflich zu Ende gegangen. Wir gehen hier alle grade ziemlich auf dem Zahnfleisch.“
„Wenn ich irgendwas für euch tun kann…“
„Du hast genug getan, danke. Und ich muss jetzt wirklich los. Die anderen warten sicher schon.“
* * * * *
Benny ist der erste gewesen, der die Anwaltskanzlei verlassen hatte. Er hatte nicht mit Marc und Rick auf den Lift gewartet, sondern war die Treppen hinuntergestürzt und hatte gleich darauf einen Sprint mit dem Rad hingelegt.
Grund dafür ist nicht der Regen gewesen – der hatte freundlicherweise eine Pause eingelegt – sondern der Wunsch, den anderen wenigstens ein paar Minuten zu entkommen.
Ehe die Versammlung sich aufgelöst hatte, hatte Sara ihre Einladung zu Kaffee und Kuchen wiederholt, aber niemand ist in der Stimmung für einen Cafébesuch gewesen. Da abgesehen von Benny keiner von ihnen in Koblenz wohnt, hatten die anderen es als selbstverständlich vorausgesetzt, sich nach dem offiziellen Termin in seiner Wohnung zu treffen.
Unter Missachtung der Ampel am Ende der Schloßstraße hatte er die zweigeteilte Straße namens „Neustadt“ gekreuzt und war über den parallel zum Schloss verlaufenden Radweg durch die Unterführung unter der Pfaffendorfer Brücke hindurch, an der Rhein-Mosel-Halle vorbei in ungefähr drei Minuten nach Hause in die Bismarck-Straße gerast.
Der kleine Vorsprung hatte gerade so ausgereicht, um schnell die Bude durchzulüften, den warmen Pulli loszuwerden und einen Schluck zu trinken.
Marc hatte mit dem Auto zwar kaum länger gebraucht, dann aber keinen Parkplatz gefunden und zwei Querstraßen entfernt parken müssen. Auf dem Weg zurück war ihm Rick entgegengekommen, der die Strecke zu Fuß hatte laufen wollen, wodurch sie nun gleichzeitig bei Benny auf der Matte stehen. Lediglich von Sara fehlt noch jede Spur.
„Kommt rein“, sagt Benny überflüssigerweise zu seinen ungebetenen Gästen, denn da sind die zwei schon halb an ihm vorbei. Dass sie sich benehmen, als wären sie hier daheim, ist zwar nervig, aber nachvollziehbar: Rick kennt die Wohnung noch als Svens ehemalige und gehören tut sie Marc.
Eine Konstellation, die Benny heute eindeutig zu kompliziert ist.
Rick latscht ungefragt nach links ins Wohnzimmer, Marc wiederum verschwindet eine Tür weiter im Bad. Benny unterdrückt einen Seufzer und schließt sich Rick an.
„Oh, du hast ein neues Sofa“, stellt dieser fest und nimmt es gleich in Beschlag.
Wie man’s nimmt, denkt Benny. Du warst lange nicht mehr hier.
Bei Svens Auszug hatte er die Wohnung samt Inventar übernommen, abgesehen von den Schlafzimmermöbeln aber Zug um Zug alles verändert.
Zuallererst hatte er die Wohnzimmermöbel rausgeworfen, die wuchtigen, deckenhohen Schränke, die den ganzen Raum erschlagen hatten und die ausladende, durchgesessene Couchgarnitur.
Letztere hatte Benny ersetzt durch ein eher schlankes Dreisitzersofa mit grauem Stoffbezug im Würfeldesign, einen passenden Sessel und ein viereckiges Fußteil, welches man flexibel hin- und herschieben kann. Ein niedriger Glastisch ist vor dem Sofa platziert.
In der anderen Raumhälfte, wenn man vom Flur aus reinkommt links, befindet sich Bennys „Esszimmer“, bestehend aus einem runden Tisch mit vier Stühlen in Alteiche bianco und der dazu passenden halbhohen Vitrine an der Wand.
Zwei Stehlampen in den Ecken der jeweiligen Raumhälften ergänzen die Deckenbeleuchtung und ein hoher Blumenkübel mit einer riesigen Grünpflanze komplettiert die Einrichtung,
Vielleicht abgeschreckt durch die einstige Enge, existiert heutzutage nicht einmal mehr ein Viertel des früheren Stauraums, aber für Bennys Habseligkeiten langt es dicke – er besitzt nicht mal einen Fernseher.
„Wie habe ich diesen Raum früher gehasst“, sinniert Rick. „Es war immer so ungemütlich und düster hier.“
Was er von Bennys Möbeln hält, verrät er nicht. Ricks Blick wandert weiter in Richtung Fenster und Benny vollzieht die Kopfbewegung automatisch mit. Mangels Gardine blicken beide hinaus auf das kleine Gartenviereck, welches das Grau seiner Umgebung angenommen hat. Auf die Terrasse pladdert nun wieder der Regen.
„Kann ich ein Glas Wasser haben?“ bittet Rick nach einer Weile, ohne Benny dabei anzusehen. „Kranenwasser genügt.“
„Sicher. Ich hab auch Sprudel da“, offeriert Benny und springt fast ein wenig zu eifrig auf.
„Nee, passt schon.“
„Wenn du meinst.“
Benny macht sich auf den Weg in die Küche, welche sich diagonal gegenüber auf der Straßenseite befindet. Er hantiert noch mit dem Wasserhahn, wobei er bewusst ein bisschen trödelt, als Marc aus dem Bad ruft: „He Benny, komm mal grade!“
„Ja, gleich.“
Das etwas zu voll geratene Glas vor sich her balancierend, schaut Benny nach seinem anderen Gast.
„Was ist denn?“
„Der Spülkasten hat eine Macke. In der Toilette läuft ständig Wasser“, reklamiert Marc.
„Weiß ich.“ Benny verdreht die Augen. „Ich kümmere mich die Tage drum, aber ich kam noch nicht dazu.“
„Wie lange geht das denn schon so?“
„Was regst du dich auf? Zahle ich die Wasserrechnung oder du?“
„Das ist aber Wasserverschwendung“, beharrt Marc bockig.
„Mann, Marc!“ explodiert Benny. „Wegen mir steck den Kopf in die Kloschüssel, wenn es dich glücklich macht, aber lass mich gefälligst in Frieden! Was ist denn heute los mit dir?“
Er lässt den renitenten Besucher stehen und macht Anstalten, Rick endlich sein Wasser zu bringen, aber er hat die Rechnung ohne Marc gemacht.
„Das fragst du ernsthaft?“ ruft dieser ihm hinterher.
Kurz vor der Wohnzimmertür drängt Marc sich an Benny vorbei und stellt sich breitbeinig in den Türrahmen. Ohne jede Vorwarnung herrscht er Benny an: „Konntest du nicht besser aufpassen?“
Benny wird blass. Er macht einen Schritt rückwärts, das Wasser schwappt in hohem Bogen über und tropft von seiner Hand auf den Fußboden.
„Ich?“ fragt er fassungslos. Trotz der kryptischen Worte ist ihm sofort klar, worauf Marc hinauswill. „Was hätte ich denn tun sollen?“
„Warum hast du diese Scheiß-Fahrradtour mit ihm gemacht?“
„Ich kann leider nicht hellsehen. Sonst wären wir daheimgeblieben!“
„Tu doch nicht so, als wäre es ein Unfall gewesen!“
„Haltet die Fresse!“ mischt sich Rick vom Sofa aus ein. „Natürlich war es ein Unfall. Kapiert? Ein verdammter Unfall!“
Marc presst die Lippen zusammen und macht Benny widerwillig Platz. Dieser zwängt sich durch die Lücke, ohne Marc eines Blickes zu würdigen und knallt das tropfende Glas vor Rick auf die Tischplatte.
„Hier!“
Benny wünschte, dieser würde austrinken, gehen und Marc gleich mitnehmen.
Rick allerdings reagiert überhaupt nicht. Mit hängendem Kopf sitzt er zusammengesackt auf dem Sofa, als hätte der Ausbruch ihm den letzten Rest Energie geraubt. Dafür pflanzt Marc sich demonstrativ auf den Sessel und verschränkt die Arme vor der Brust. Mit einem Stoßseufzer zieht sich Benny das lose Fußteil auf die gegenüberliegende Seite des Couchtischs, um den größtmöglichen Abstand von den beiden anderen zu haben.
„Was für eine Schwachsinnsidee, ausgerechnet uns drei über den Umweg einer Stiftung zusammenzuschweißen“, fasst Marc den Vormittag zusammen, und niemand widerspricht.
Wenn wenigstens Sara endlich käme, wünscht sich Benny. Sonst explodiert hier gleich irgendetwas.
„Wusstest du von diesem Testament?“ erkundigt er sich vorsichtig bei Rick.
„Dass er eines gemacht hat, ja. Aber ich war nicht dabei und ich kannte auch den Inhalt nicht“, lautet die mürrische Auskunft.
„Aber warum hast du ihn nicht einfach gefragt?“ wundert sich Benny.
„Wenn er gewollt hätte, dass ich es kenne, hätte er es in meiner Anwesenheit verfasst und nicht bei einer Bekannten hier in Koblenz.“
„Er hatte eine Bekannte hier?“ vergewissert Marc sich skeptisch.
„Ja. Die zwei haben sich gelegentlich verabredet.“
„Klingt unlogisch“, stellt Benny fest. „Sven hat sich hier mit niemandem getroffen außer mir.“
„Davon hätte er doch mal was erzählt.“ Auch Marc klingt nicht überzeugt. „Vielleicht jemand aus seiner Schulzeit? Erinnerst du dich an den Namen?“
„Diana irgendwas“, erwidert Rick und runzelt grüblerisch die Stirn. „Es war kein deutscher Name. Barista? Ach, nein, Barisa. Oder Barisi?“
„Barisic?“ Marc reißt die Augen auf. „Diana Barisic!“
„Ja, genau. Woher weißt du das?“
„Ich krieg die Motten.“ Marc reibt sich die Ohren, als hätte er sich verhört, dabei hat er den Namen doch selber ausgesprochen. Im nächsten Moment greift er nach seinem iPhone, welches er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. „Moment mal.“ In Windeseile wählt er eine Nummer an. Nach zweimaligem Klingeln meldet sich jemand am anderen Ende.
„Hey, Süße. Wie geht es dir?“ sagt Marc und tippt auf das Lautsprecher-Symbol.
„Genauso wie heute Morgen. Gut“, antwortet eine weibliche Stimme. „Du musst echt nicht dreimal am Tag anrufen.“
Marcs zur Schau gestellte Lässigkeit erhält einen sichtlichen Dämpfer und er scheint ein wenig zu bereuen, die Konversation vorschnell öffentlich gemacht zu haben. Benny und Rick wiederum verstehen nur Bahnhof.
„Deswegen rufe ich gar nicht an“, wehrt Marc an die Adresse seiner geheimnisvollen Gesprächspartnerin ab. „Ich hab dir doch erzählt… Wir kommen grade vom Anwalt. Wegen Svens Testament.“
„Und?“
„Du hast mit keinem Wort erwähnt, dass du davon wusstest. Du hast nicht mal verraten, dass ihr noch Kontakt hattet.“
„Wird das ein Verhör, Marc? Wir haben uns mal zufällig in der Stadt getroffen, einen Kaffee zusammen getrunken und unsere Nummern ausgetauscht. Dann rief er mich irgendwann an und hat mich um einen Gefallen gebeten.“
„Aber du hast mir nichts davon gesagt.“
„Warum sollte ich auch? Es war nichts Besonderes, nur eine Unterschrift! Und ich muss dir nicht alles sagen.“
„Alles gut, Süße, ich habe nicht angerufen, um zu streiten. Ich versuche nur zu kapieren, was er sich dabei gedacht hat.“
„Es hatte irgendwas mit seiner Mutter zu tun. Er dachte, es sei sicherer, wenn eine weitere Person mitunterschreibt. Eine, die nicht als Erbe eingesetzt ist.“
„Weißt du noch, wann das war?“
„Ich bin mir nicht ganz sicher, Ende Juni oder Anfang Juli. Das Datum wird doch draufstehen. Aber ich finde, du gehst grade echt zu weit!“
„Entschuldige, Diana“, beschwichtigt Marc. „Ich bin ein bisschen von der Rolle heute. Ich melde mich morgen wieder, okay? Danke dir.“
Er beendet das Gespräch, ohne auf eine Antwort zu warten und starrt danach geistesabwesend auf das schwarze Display.
Rick und Benny beobachten ihn neugierig und zunehmend ungeduldig.
„Du kennst sie?“ bricht Benny schließlich das Schweigen und Rick fragt im selben Augenblick: „Würdest du uns jetzt verraten, wer diese mysteriöse Diana ist?“
„Meine…“, Mutter, hätte Marc fast gesagt, weil er immer noch so perplex ist. „Die Mutter meines Kindes.“
„Du hast ein Kind???“ Jetzt guckt Rick noch entgeisterter als Marc vorhin. „Seit wann denn das?“
„Mehr oder weniger. Diana ist im 6. Monat.“
„Du wirst Vater?“ vergewissert sich Benny. „Wieso das?“
„Wieso nicht?“
„Und das ist so richtig deins? Ich meine, du willst es nicht adoptieren oder so was?“
Marc bedenkt ihn mit einem grimmigen Blick und bestätigt: „Ich bin der biologische Vater.“
„Aber du… Ich meine… Hab ich was verpasst?“
„Aber ich?“ Marcs Tonfall variiert in Richtung spöttisch. „… bin immer noch schwul, bin mittlerweile 33 Jahre alt und hatte das Bedürfnis, eine Familie zu gründen.“
„Und die Mutter ist jetzt wer?“
„Eine gute Freundin von mir.“
„Und wie teuer ist diese Freundschaft?“, wirft Rick hämisch ein.
„Geht dich das was…“
Mitten in Marcs gereizte Erwiderung lärmt die Türglocke.
„Scheiße. Kein Wort davon zu Sara!“ kommandiert Marc hastig. „Sonst bring ich euch um!“
Es ist Benny, der die Türe öffnen geht, und als er kurz darauf mit Sara zurückkommt, hüllen die beiden anderen sich in demonstratives Schweigen. Fragend blickt sie von einem zum anderen: „War irgendwas?“
„Wo warst du denn so lange?“ stellt Marc postwendend die Gegenfrage.
Mit einem Aufseufzer setzt Sara ein in Papier gehülltes Tablett vor ihm auf dem rechteckigen Tisch ab und schüttelt ihre Arme aus.
„Erst hat Axel mich festgequatscht, dann war beim Konditor ne Riesenschlange und schlussendlich war hier rundum nirgends ein freier Parkplatz. Ich stehe jetzt im Parkhaus von der Rhein-Mosel-Halle.“
„Sicher, dass du dich nicht wieder mit Axel gezofft hast?“
Hinter dem Rücken der beiden wechseln Rick und Benny einen fragenden Blick.
„Mir ist heute wahrlich nicht danach, mich mit irgendwem zu zoffen“, wehrt Sara ab. „Alles was ich will, ist ein Stück Kuchen und einen starken Kaffee!“
Vorsichtig beginnt sie damit, das Tablett aus dem Papier zu wickeln.
„Oh Sara! Kein Mensch mag Buttercremetorte! Und schon gar nicht zum Mittagessen!“
„Doch. Ich!“ platzt Benny heraus.
„Danke.“ Sara grinst. „Mir war danach. Ich brauche jetzt was Süßes. Um nicht zu sagen: eine Zuckerbombe! Außerdem hab ich auch noch andere Sachen mitgebracht.“
„Ja.“ Marc inspiziert das randvolle Papptablett und verzieht das Gesicht. „Nougatringe. Dasselbe in grün. Gab’s keine Obstplatte?“
„Nimm halt ein Stück Apfelkuchen.“
„Da sind Rosinen drin.“
„Ich geh mal Kaffee kochen“, murmelt Benny.
„Warte, ich helfe dir.“ Sara, die sich gerade erst hingesetzt hat, springt wieder auf, als hätte sie nur auf die Chance gewartet.
Im Gänsemarsch gehen die beiden in die Küche. Sara zieht hinter sich die Tür zu.
„Alles okay?“
„Nichts ist okay. Marc dreht jetzt völlig am Rad. Er macht mich für den Unfall verantwortlich.“
Sara seufzt leise.
„Das tut mir leid, Benny. Ich entschuldige mich für meinen Sohn“, sagt sie mit ernster Miene. „Er benimmt sich heute rundweg zum Kotzen, aber ich weiß, er meint es nicht so. Svens Tod hat ihn tief erschüttert und der heutige Tag hat das alles noch einmal aufgewühlt.“
Was du nicht sagst, denkt Benny. Und was ist mit mir?
„Ich weiß“, sagt Sara, obwohl er gar nichts gesagt hat. „Du schlägst dich echt tapfer.“
Mit ausgebreiteten Armen kommt sie auf ihn zu, aber er weicht ihr aus und überkreuzt seine Arme vor der Brust.
Ihm ist grade alles zu viel, er will bloß seine Ruhe haben. Das hier sind Svens Leute, die seine Wohnung bevölkern, nicht seine. Abgesehen von Marc kennt Benny sie überhaupt erst seit Svens Beerdigung.
„Wärst du so lieb, den zu Tisch decken?“ fragt er mit belegter Stimme. „Den Kaffee kriege ich alleine hin.“
„Sicher“, erwidert Sara, lässt ihre Arme sinken und streicht stattdessen mit den Fingern der rechten Hand über den Küchentisch aus hellem Buchenholz. „Das ist alles Handarbeit, oder?“
Benny bestätigt ihre Annahme mit einem kurzen Nicken. Normalerweise ist er echt stolz auf sein Werk, aber heute hat er keinen Blick und keinen Sinn dafür.
Ungeachtet dessen versichert Sara: „Sven war stolz wie Bolle auf dich. Er hat Riesenstücke auf dein Können gehalten. Zu Recht. Die ganze Küche ist wirklich traumhaft schön geworden.“ Mit einem Lächeln ergänzt sie: „Nur, wo du darin das Kaffeegeschirr versteckst, müsstest du mir noch verraten.“
„Im Hängeschrank über der Spüle“, erwidert Benny, nimmt die Glaskanne aus der Kaffeemaschine und murmelt entschuldigend: „Ein Vollautomat lohnt sich für mich nicht.“
„Macht eh nur Arbeit“, befindet Sara achselzuckend und lobt dann: „Oh, das Service gefällt mir! Ich mag es, wenn Tassen und Teller unterschiedliche Farben haben. Aber es ist trotzdem dezent und kommt nicht ostereierbunt rüber.“
Benny zuckt verlegen mit den Achseln.
Das Kaffeeservice ist ein Sonderangebot im Möbelgeschäft gewesen, als er eigentlich auf der Suche nach einer Wohnzimmerlampe gewesen war.
Sven hatte es nie übers Herz gebracht, sich von den Besitztümern der verstorbenen Vormieterin zu trennen, aber Benny hatte nach dessen Auszug radikal ausgemistet.
„Hier, nimm am besten das Tablett.“
Ohne sie anzusehen, drückt er ihr ein weißes Plastiktablett in die Hand und Sara tut ihm den Gefallen, es ohne neuerlichen Annäherungsversuch entgegenzunehmen. Routiniert stapelt sie das Geschirr darauf und macht sich damit auf den Weg hinüber zu Marc und Rick. Mit dem Ellbogen drückt sie die Türklinke herunter und wird unmittelbar Zeugin einer handfesten Auseinandersetzung, die bis in die Küche zu hören ist.
Soeben faucht Marc: „Und warum? Nur weil er ständig hier bei Benny rumhing, weil du ihn pausenlos allein gelassen hast.“
„Was hab ich?“ keilt Rick zurück. „Wir waren das letzte halbe Jahr fast nonstop zusammen. Aber ich kann mich nicht dran erinnern, dass du dich in der Zeit mal gemeldet hättest!“
In der Küche kneift Benny die Augen fest zusammen und hält sich die Ohren zu.
Macht so weiter und ich schmeiße euch achtkantig aus meiner Wohnung. Alle beide. Doktor hin und Vermieter her.
* * * * *
Benny hatte nicht zum Äußersten greifen müssen.
Saras Plan (sofern es denn einer gewesen war) war aufgegangen und mit dem Bauch voller Kuchen hatte sich allenthalben die große Trägheit breitgemacht.
Sogar Marc dürfte satt geworden sein und aller Unkerei zum Trotz hatte auch die Buttercremetorte ihre Liebhaber gefunden.
„Möchte noch jemand etwas?“ erkundigt sich Sara.
„Ich platze“, verkündet Benny, der bis zum ersten Bissen noch angezweifelt hatte, überhaupt etwas herunterzubringen.
Marc schüttelt stumm mit dem Kopf und Rick sagt: „Ich nehme gern noch eine halbe Tasse Kaffee, aber bloß nichts mehr zu essen.“
Benny schiebt ihm die Kanne zu und fängt an, die Teller zu stapeln, auf denen lediglich ein paar Krümel und, in Marcs Fall, ein paar einsame Rosinen verblieben sind. Sara erhebt sich langsam, um den kläglichen Rest der Kuchenschlacht, ein Stückchen Torte und einen halben Nougatring, in den Kühlschrank zu bringen.
„Wieso ist die Rheinwiese am Weindorf eigentlich auf einmal ein Parkplatz?“ erkundigt sie sich bei ihrer Rückkehr in die Runde.
„Weil die BIMA-Parkplätze wegen der Brückenbaustelle weggefallen sind“, weiß Benny zu berichten. „Kann ja nicht sein, dass die Damen und Herren plötzlich drei Schritte zu Fuß laufen oder gar den Bus nehmen müssen. Da asphaltiert man lieber mal eben eine Wiese.“
„Ohne Worte“, meint Sara kopfschüttelnd und regt an: „Wollen wir noch mal über die Stiftung reden?“
„Mein Zug fährt in einer Dreiviertelstunde“, erklärt Rick.
„Ich fahre dich zum Bahnhof, dann haben wir noch ein paar Minuten“, bietet Sara an.
„Worüber willst du reden?“ erkundigt Marc sich bissig. „Ehe wir das Bärenfell verteilen, sollten wir vielleicht wissen, wieviel davon am Ende noch übrig ist. Du hast doch gehört, was Axel gesagt hat“, erinnert er sie. „Svens Mutter hat drei Jahre lang Zeit, ihren Pflichtteil einzufordern. Und boshaft, wie ich sie einschätze, tut sie dies genau drei Tage vor Ablauf der Frist.“
„Es wäre wirklich ein Witz, wenn seine Mutter jetzt auch noch von seinem Tod profitiert“, murmelt Rick düster. „Zuletzt gab es ein gerichtlich verhängtes Kontaktverbot!“
„Mich hat am meisten überrascht, dass Sven überhaupt noch so viel Geld hatte“, lässt sich wiederum Marc vernehmen. An Ricks Adresse äußert er: „Ich dachte immer, ihr hättet das Haus von seinem Erbteil gekauft.“
„Wie kommst du denn auf die Idee?“ wundert sich der andere. „Das Haus war gemietet! Außerdem… Seine Mutter hat bis in die letzte Instanz geklagt und selbst danach noch die Auszahlung mit allen Mitteln verzögert. Sven hat die ganze Kohle aus dem Erbe seines Vaters erst im Juni diesen Jahres bekommen.“
„Aber… das kann nicht sein. Er hat mir das Geld, welches ich ihm vorgestreckt habe, schon vor drei Jahren zurückgezahlt!“
„Wir haben einen Kredit aufgenommen“, stellt Rick klar. „Sven wollte es so.“
„Dann reden wir bei der Erbschaft doch über dein Geld“, merkt Marcs Mutter kritisch an.
„Nein.“ Rick schüttelt den Kopf. „Den Kredit hat Sven als allererstes getilgt als er die Möglichkeit dazu hatte. Das war ihm ein Herzensanliegen.“
„Trotzdem…“ beginnt Sara den nächsten Einwand, aber sie bricht mitten im Satz ab. Irgendetwas wird Sven sich schon dabei gedacht haben, seinen Lebenspartner nicht als alleinigen Erben einzusetzen. „Gesetzt den Fall also, dass wir Svens Wunsch nach einer Stiftung realisieren können“, setzt sie neu an. „Ihr habt ja gehört, was Dr. Dannenberg gesagt hat. Svens Vorgabe ist möglicherweise zu kleinteilig. Vielleicht sollten wir den Stiftungszweck überdenken.“
„Das wäre das erste Mal, dass du auf Axel hörst“, wirft Marc ein.
„Danke für diesen produktiven und der Sache äußerst dienlichen Hinweis, mein Sohn“, seufzt Sara. „Worauf würdet ihr das Einsatzgebiet ausweiten?“
Erst sagt keiner etwas, dann reden plötzlich alle durcheinander.
„Stärkung der LGBTI-Rechte in anderen Ländern“, schlägt Rick vor.
„Nicht zu vergessen Unterstützung von Geflüchteten in Deutschland“, fällt Marc ein.
„Jugendarbeit“, sagt Benny. „Und Aufklärungsarbeit an Schulen.“
„Das gibt’s doch längst“, widerspricht ihm Marc.
„Bei uns an der Schule habe ich nie wen gesehen. Und an der Berufsschule auch nicht“, rechtfertigt sich Benny.
„Das ist ja auch schon ein paar Jahre her“, versucht Rick zwischen den beiden zu vermitteln. „Möglicherweise sieht es inzwischen anders aus. Das lässt sich ja rauskriegen.“
„Weitere Ideen?“ klinkt sich wieder Sara ein.
„Irgendwas mit Klimaschutz fände ich auch gut“, sagt Benny.
„Aber das passt thematisch ja wohl überhaupt nicht“, findet Marc.
„Queere Menschen mit Behinderungen?“ wirft Rick in den Raum. „Oder Senioren. Diese Personengruppen vergisst man so oft.“
„Und ich würde HIV-positive Sportler*innen einschließen“, überlegt wiederum Benny.
Marc schüttelt verständnislos den Kopf. „Die sind doch eh schon mit drin.“
„Auch wenn sie nicht queer sind“, hilft Benny ihm leicht angenervt auf die Sprünge.
„Wie wär‘s, wenn du auch mal was produktives beisteuerst und nicht nur andauernd meckerst?“ stoppt Sara ihren Sohn, dem offensichtlich schon wieder die Widerworte auf der Zunge liegen.
„Mir gefällt die ganze Idee nicht“, erklärt Marc. „Es pisst mich einfach an, dass wir so etwas im Jahr 2021 überhaupt noch diskutieren müssen.“
„So ist aber nun mal die Realität“, versetzt Benny.
„Ich glaube, wir müssen uns auf den Weg machen, Sara“, unterbricht Rick die beiden.
„Optimist“, sagt Sara und schneidet eine Grimasse. „Denkst du wirklich, dein Zug ist pünktlich?“ Sie steht auf und blickt sich suchend um. „Wo habe ich denn meine Handtasche hingetan?“