Fragmente über das Überleben - Elsa Fernandez - E-Book

Fragmente über das Überleben E-Book

Elsa Fernandez

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Beschreibung

›Die ›Fragmente über das Überleben‹ schaut aus einer romani-Perspektive auf Gadje-Rassismus, Zeug*innenschaften und die Schöpfungen unterschiedlicher Sprachformen über das Überleben. Es ist ein Versuch, Geschichten von Überlebenden zusammenzudenken, ohne Vergleiche anzustellen und Opferkonkurrenz zu erzeugen. Der gesellschaftliche Umgang mit Zeug*innenschaften ist durch Entpolitisierung geprägt, durch Verschweigen und Verleugnen. Elsa Fernandez dekonstruiert institutionalisierte Diskurse über individuelle und kollektive Traumata und macht Formen des Revisionismus und der Unschuldsinszenierungen sichtbar. Wenn sie nicht länger von Klassismus, Ableismus, Rassismus, Transfeindlichkeit und all den anderen Formen der Unterdrückung zum Schweigen gebracht würden, könnten die Subversivität, Kraft und Schönheit der Positionen der Überlebenden vielleicht den gesellschaftlichen Rahmen sprengen. Fragmente über das Überleben möchte diese Positionen würdigen. »›Die ›Fragmente über das Überleben‹ sollten Standardlektüre sein für Studierende der Sozial- und Geisteswissenschaften.« – Sémil Berg, analyse & kritik »Die Autorin hat mit dem Buch ein Beitrag zur Aufdeckung der Gewalt-Geschichte geleistet … « – Marlene Pardeller, salto.bz

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Seitenzahl: 286

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Elsa Fernandez ist in Südfrankreich aufgewachsen, lebt in Berlin und hat hier in mehreren romane Projekten gearbeitet (u.a. im Rroma Info Centrum und im Archiv RomaniPhen). Für das Buch Gespräche über Rassismus von Zülfukar Çetin und Savaş Taş hat sie ein Interview über »Gadje-Rassismus und Erinnerung« gegeben und für das Online-Buch Perspektiven und Analysen von Sinti und Roma in Deutschland von Jane Schuch und Isidora Randjelović einen Text über den Pharrajmos geschrieben.

Elsa Fernandez

Fragmente über das Überleben

Romani Geschichte und Gadje-Rassismus

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Elsa Fernandez:

Fragmente über das Überleben

1. Auflage, November 2020

eBook UNRAST Verlag, April 2021

ISBN 978-3-95405-089-5

© UNRAST-Verlag, Münster 2020

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

Einleitung

Verletzung und Bezeugen

Die Medien und die Illusion des Bezeugens

Die Gewalt der Vorstellung von ›Authentizität‹

Instrumentalisierung von Überlebenden

Sprachen, um der Toten zu gedenken

Jiddisch und Romanes

Romanipe

Überleben und Beziehungen

Gewürdigtes Bezeugen in Melanie Spittas Filmen

Psychoanalyse und Überlebende

Individuelle und kollektive Traumatisierungen

Persönlich und kollektiv

Entpersonalisierung von Traumatisierung

Täter*innen-Opfer-Umkehr

Verfolgung, Traumata und Selbstmorde

Überleben und kollektive Selbstmorde

Falsche Politiken des Bezeugens

Gedenkpolitik und relationaler Revisionismus

Nicht-Wissen als Unschuldsinszenierung

Die Ideologie der Familie und der Unschuld

Unterdrückung durch Pädagogik und Bildungsprojekte

Entpolitisierung, Enthistorisierung und Verleugnung: Romane-gadje Beziehungen

Romane-gadje Geschichten im Gadje-Rassismus

Hexenkunst, Hexenverfolgung und romani Geschichte

Romane-gadje Geschichten und relationaler Revisionismus

Epilog: Wider die Versöhnlichkeit

Danke!

Glossar

Anhang: Englischsprachige Originalzitate

Literaturhinweise

Anmerkungen

Einleitung

Wenn wir gut hinhören, können wir Zeug*innenschaften überall im Alltag hören: in den Worten der Kinder und Erwachsenen, im unmittelbaren ›Sich-Selbst-Erzählen‹, das aus Zeichen, Schriften, Gesten oder Tönen besteht. Die Dringlichkeit des Sprechens über überlebte Katastrophen und das zwingende Bedürfnis zu bezeugen prägen das ganze Leben.

Manchmal gibt es Dinge, die wir (auch ohne es zu wissen) unbedingt sagen wollen. Sie sind unendlich, kehren immer wieder, sind auf der Suche nach Orten, Ansprechpartner*innen oder Materien. Die Versuche des ›Sich-Selbst-Erzählens‹ werden jedoch oft übersehen, überhört, ignoriert und allein gelassen.

Bestimmte Leben und Worte werden von majorisierten[1] Menschen und Gruppen überhört und negiert. Diese verschweigen, verleugnen und verleumden die Gegenwart von Erzählungen, Recherchen, Verletzungen und des Bezeugens unterdrückter Geschichten. Hegemonie und Unsichtbarmachung verdecken minorisierte[2] Geschichten. Sie verdecken auch, was Menschen zu sagen haben. Die Fragen »Wer bist du?«, »Wie nennst du dich?« oder »Wie ist deine Geschichte?« werden im Westen selten mit Langsamkeit und Geduld gestellt.

Überlebensgeschichten werden meistens erst dann angehört und wahrgenommen, wenn in der majorisierten Gesellschaft die Bedingungen dafür vorhanden sind: wenn die Gefährlichkeit der unterdrückten Aussagen entschärft wurde oder ein langwieriger Kampf um Anerkennung das Ignorieren seitens der Majorisierten entkräftet hat. Unsichtbarmachungen haben mit Klassismus, Ableism, Rassismus, Heteronormativität, Transfeindlichkeit und allen anderen Diskriminierungsformen zu tun. Sie sind bewusste oder internalisierte Handlungen, die auf alltäglichen, ökonomischen, politischen und sozialen Ebenen stattfinden. Erzählungen, Wissen und Geschichten werden minorisiert oder majorisiert; Machtverhältnisse, Institutionen und Menschen machen etwas mit ihnen. Sie existieren nicht an sich, sind weder unabhängig von den Menschen, die sie hervorrufen und weitertragen, noch von den majorisierten Menschen, die diese unterdrücken.

Dieser Text handelt von romani Geschichte, von Gadje-Rassismus[3] und von anderen unterdrückten Geschichten. Er handelt auch vom Überleben und von unterschiedlichen sprachlichen Schöpfungen darüber. Was bedeutet Überleben? Was ist Überleben in einer von Gewalt, Ungleichheit und Repression geprägten Gesellschaft? Wie wirkt sich Überleben auf Überlebende und auf die Gesellschaft aus? Für meine Analyse verknüpfe ich unterschiedliche Herangehensweisen an das Überleben. Dabei konzentriere ich mich auf individuelle und kollektive Formen des ›Jemanden-‹ oder ›Etwas-Überlebens‹ – das Überleben von Unterdrücker*innen, Rassismus und Genoziden.

Ich weiß wirklich nicht, wann ich das erste Mal das Wort ›Gadje‹ gehört habe. Ich weiß auch nicht, wann ich als Kind verstanden habe, dass ›Gadje‹ ein kollektives Wort ist. Ich habe das aber sehr früh gewusst, wie eine geteilte Spur. Aufgrund einer kollektiven Verfolgungsgeschichte habe ich in meinem Umfeld das Wort ›Faschismus‹ häufiger gehört als die Wörter ›Gadji, Gadjo, Gadje‹. Und als ich ungefähr acht war, haben mich meine Großeltern gefragt, wie ich ›Faschismus‹ schreiben würde. Sie haben das Wort die ganze Zeit gesagt, aber nie geschrieben.

›Gadje‹ ist ein kollektives Wort über andere Gruppen, ein Romanipe[4]-Wort. Diese (nicht zwingend abwertende) Benennung bezeichnet jede Person ohne romani Geschichte oder Gegenwart. ›Gadje‹ ist, soweit ich weiß, transnational, transhistorisch und in vielen romane Sprachen und Communitys präsent.[5] Der Begriff ›Gadje-Rassismus‹ ist mein Vorschlag[6], um aus einer romani Perspektive das Netz der Verleumdungen, Verleugnungen und Zuschreibungen und das Ausmaß der Gewalt zu beschreiben, die Rom*nja, Manouches, Sinti*zze, Kalé und andere romane Communitys erlebt und überlebt haben, erleben und überleben. Ich schreibe die gadje Schimpfwörter nicht, ich verstumme sie mit ****, außer wenn sie in romane Zeug*innenschaften oder Buchtiteln vorkommen.

Ich werde in diesem Text das Substantiv ›Rom*nja‹ und die Adjektive ›romani‹ (weiblich), ›romane‹ (plural), ›romano‹ (männlich) als politische Begriffe verwenden, die viele unterschiedliche romane Communitys umfassen. Der Genozid an den Sinti*zze und Rom*nja hat verschiedene Benennungen (zum Beispiel ›Samudaripen‹ und ›Pharrajmos‹). Ich verwende hier das Wort Pharrajmos, weil es im Deutschen gängiger ist.

Mein Verständnis von Geschichte, Erinnerung und Politik ist breit gefasst: Ich verstehe sie als alltägliche und zwischenmenschliche Ereignisse, Konflikte und Gespräche, die auch in Beziehungen erzählt und konstruiert werden. Ich spreche oft von ›Sentimentalität‹ und ›Spaltung‹ im Kontext von Erinnerungspolitik und in Bezug auf Geschichte. Das Wort ›Spaltung‹ verstehe ich in Anlehnung an seine psychoanalytische Bedeutung als Abwehrmechanismus und psychischen Abtrennungsmechanismus, nicht als Trennung zwischen Menschen. Sentimentalität ist in Geschichtsdiskursen eine unterdrückerische Technik, die durch Pathos von einer Positionierung der menschlichen Beziehungen und Bindungen, von den Kämpfen minorisierter Menschen und von einer würdevollen Geschichtsschreibung ablenkt. Sie stellt die Anforderung, die eigene Geschichte zu vergessen oder zu vergessen, was Menschen anderen Menschen alles antun. Diese sozialen Formen der Spaltung und Sentimentalität betrachte ich als politisch: Sie sind individuelle, wie auch kollektive Strategien zugunsten der Täter*innen und der Herrschaftsstrukturen.

Mein Verständnis von ›Trauma‹ folgt der Herangehensweise des Psychoanalytikers Eric Dem Collec:

»Das Trauma ist nicht etwas Verdrängtes, es ist keine Erinnerung und kann auch keine Erinnerung werden. Wenn ihm nicht im eigenen Rhythmus begegnet wird, gleitet seine Zeitlichkeit in die Ewigkeit ab. Das Trauma besteht aus zwei unteilbaren aufeinanderfolgenden Momenten. Der erste Moment ist der des Ereignisses, das einen Mensch in eine gänzliche Einsamkeit, Verletzbarkeit und Hilflosigkeit versetzt, ohne die Möglichkeit zu fliehen oder sich zu verteidigen. Der zweite Moment ist der, der das Trauma fixiert: Er liegt im Verrat derer, die Hilfe hätten leisten können: der Staat, die Gesellschaft, die Erwachsenen, die Eltern, die Nachbar*innen …«[7]

Dieses Buch ist essayistisch. Die Kapitel können, wie Fragmente, unabhängig voneinander gelesen werden. Einige Werke haben mich durch den gesamten Schreibprozess hindurch begleitet und kommen in fast allen Kapiteln vor: Die Bücher der romani Schriftstellerin Ceija Stojka, des romano Autors Rajko Đurić, des jüdischen Psychoanalytikers Dori Laub und der US-sumatresischen Filmwissenschaftlerin Fatimah Tobing Rony. Laub und Tobing Rony schreiben auf Englisch und sind kaum bis gar nicht ins Deutsche übersetzt worden. Ihre Zitate wurden für dieses Buch ins Deutsche übertragen.

Meine Freude am Schreiben lag vor allem darin, verstreute romane Stimmen aus ganz unterschiedlichen Genres, Zeitabschnitten und Orten zusammenzubringen, sie miteinander und auch mit anderen POC-Stimmen in einen Dialog zu setzen.

Auch wenn dieses Buch sich nicht vorrangig mit dem Pharrajmos befasst, lag für mich der Ausgangspunkt des Schreibens in der Geschichte des Genozids an romane Menschen und im Bezeugen vom Überleben und Weiterleben danach.

Deswegen möchte ich schon jetzt auf die Verfolgungen während des Genozids eingehen und auf zwei Texte über die Gewalt und Unsichtbarmachung des Pharrajmos, deren Subjekt die majorisierte Gesellschaft ist, hinweisen.

Der Pharrajmos ist nur im Zusammenhang mit der kontinuierlichen gadje-rassistischen Gewalt in Europa seit dem Spätmittelalter zu verstehen. 1899 gründete Alfred Dillmann die ›Reichszentrale zur Bekämpfung des ****unwesens‹ in München. Ihre Mitarbeiter*innen waren verantwortlich für Personenauflistung, Überwachung, alltägliche Verfolgung und Assimilierungsmaßnahmen. Auch in den 1920er-Jahren prägte der Gadje-Rassismus grundlegend die deutsche Gesellschaft:

»Bereits in der Weimarer Republik waren Sinti und Roma polizeilicher und behördlicher Verfolgung ausgesetzt. 1927 wurde für ganz Preußen die Fingerabdrucknahme aller als ›Zigeuner‹ erfassten Personen entschieden. In Hessen wurde 1929 anschließend an das bayrische ›Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen‹ das sogenannte ›Hessische Zigeunergesetz‹ erlassen. Bereits in diesem wurden von der Polizei als ›Zigeuner‹ wahrgenommene Personen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Im selben Jahr wurde in Frankfurt am Main an der Stadtgrenze zu Bad Vilbel ein Lager für Sinti und Roma eingerichtet. Bestehende städtische Pachtverträge von Sinti und Roma und Personen mit fahrendem Gewerbe wurden aufgelöst und es gab lediglich in diesem Lager die Möglichkeit eines legalen Aufenthaltes. Damit wurde von Seiten der Stadt die Absicht verfolgt, dass die betroffenen Menschen über die preußisch-hessische Grenze nach Bad Vilbel ausreisen würden. Die Nationalsozialisten konnten in ihren Gesetzen und der Erfassung von Sinti und Roma auf eine große Sammlung an Daten, Gesetzen und auch Einstellungen gegenüber Sinti und Roma zurückgreifen. Es lässt sich somit nicht von einem klaren Bruch zur vorangegangenen Politik der Weimarer Republik sprechen, vielmehr nutzten die Nationalsozialisten zunächst die bereits bestehenden diskriminierenden Gesetze und verschärften sie.«[8]

Die ersten Gesetze des Pharrajmos wurden offiziell 1935 in Nürnberg verabschiedet. 1936 wurde dann vom ›Reichsministerium‹ des Innern, die ›Rassenhygienische Forschungsstelle‹ unter der Leitung des Arztes Robert Ritter gegründet, um romane Menschen zu verfolgen und zu vernichten. Ihr Personal bestand aus ›Rassenkundler*innen‹, ›Volkspfleger*innen‹, Ärzt*innen, ›Genealog*innen‹, Fotograf*innen, Stenotypist*innen und weiteren Hilfskräften. Sie alle haben romane Menschen erfasst, kategorisiert und mit ihnen experimentiert. Sie haben die Vernichtung vorbereitet, legitimiert und über Deportationen entschieden. Die romani Autorin Isidora Randjelović schreibt über die Phase der ununterbrochenen Deportationen:

»Ab 1941 wurde, aufgrund der Doppelfunktion von Robert Ritter als Leiter der ›Rassenhygienischen Forschungsstelle‹ (RHS) und des Kriminalbiologischen Institutes der Sicherheitspolizei und des SD, die Zusammenarbeit zwischen Reichsgesundheitsamt und Reichssicherheitshauptamt intensiviert, was zur Folge hatte, dass die ›Rassengutachten‹ der RHS maßgeblich über die Deportation der Sinti und Roma entschieden. Bis 1944 erstellte die RHS mindestens 24.000 solcher ›Gutachten‹. Die pseudowissenschaftliche Begutachtung der ›Rassenzugehörigkeit‹ war ein fester und wesentlicher Bestandteil der Verfolgung von Sinti und Roma und äußerte sich durch die Sammlung verschiedener physiologischer Daten […]. Mit dem Auschwitz-Erlass 1944 wurden die letzten 10.000 in Deutschland registrierten Sinti und Roma nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Die Schätzungen der Opferzahl des nationalsozialistischen Genozids variieren zwischen einer halben Million und 1.5 Millionen Sinti und Roma (vgl. Hancock 2004).«[9]

Bereits seit den 1960er-Jahren hat es bedeutende romane wissenschaftliche oder künstlerische Recherche- und Analysearbeiten über den Pharrajmos gegeben, die auch von romane Communitys initiiert wurden. Die Arbeit des 1982 gegründeten Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und anderer romane Organisationen wurde lange nicht beachtet. Nur wenige Sinti*zze und Rom*nja hatten und haben die Möglichkeit, Bücher oder Filme zu veröffentlichen. Schriften von Überlebenden erscheinen nur in kleinen Verlagen und werden wenig zitiert oder rezensiert. Nur wenige Texte aus beispielsweise Italien, Spanien, Serbien oder Rumänien werden ins Englische, Deutsche oder Französische übersetzt und umgekehrt ebenso. In vielen pädagogischen oder didaktischen Büchern und Ausstellungen bleiben tiefergehende Betrachtungen aus. Analysen zur Gegenwart von romane Menschen und zu deren Verfolgung und Ermordung in ganz Europa sind nur selten zugänglich. Die Allgegenwärtigkeit des Genozids wird bis heute verdeckt, weil es keine gesamteuropäische gesellschaftliche Analyse des Pharrajmos gegeben hat.

Silvio Peritore äußert sich über die Leugnung des Pharrajmos und die Gewalt gegenüber den Überlebenden wie folgt:

»Allmählich begannen auch die Zeitzeugen über ihre Erlebnisse zu berichten und sie fanden zunehmend öffentliches Gehör. Für einige bedeutete dies eine Form der inneren Befreiung, andere hingegen litten aufgrund der hervorgeholten Erinnerungen nun noch mehr. Für Sinti und Roma hat sich lange Zeit keiner interessiert, und wenn, dann wurden ihre Berichte angezweifelt. Es wurde ihnen unterstellt, sie würden vieles nur konstruieren, weil sie nicht in der Lage seien, die eigenen Erlebnisse intellektuell zu verarbeiten und zu kommunizieren. Das erinnerte an ›Argumente‹, die bereits in den NS-Rassengutachten zur ›Beurteilung der geistigen und charakterlichen Fähigkeiten‹ der Sinti und Roma verwendet wurden, und hatte wiederum das Ziel, die Menschen in ihrer Zeitzeugenschaft – und damit vor allem Zeugenschaft gegenüber den Tätern – als unglaubwürdig zu stigmatisieren.«[10]

Stets haben Menschen Sprachen und Gesten erfunden, um der Toten zu gedenken, um eigene Wahrheiten zu suchen, um die Verfolgungen und das Überleben zu überleben und zu benennen, um widerständig zu handeln. Wir können nicht in der Sprache der Täter*innen gedenken. In dieser Sprache kann nichts gedacht werden. Würdiges Gedenken beruht auf den Beziehungen und Verbindungen, die es zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schafft. Es ist ›Leben trotz des Todes‹, genauso wie die Stimmen des Bezeugens. Die Subversivität, Singularität und Schönheit der Positionen der Überlebenden könnten den gesellschaftlichen Rahmen erschüttern, wenn sie nicht durch Unterdrückung zum Schweigen gebracht oder zerstört würden. Diese Schönheit, Subversivität und Singularität möchte ich durch mein Buch würdigen.

Verletzung und Bezeugen

»Die vielen Zeugenberichte, denen ich zugehört habe, und meine Arbeit mit Überlebenden und ihren Kindern haben mich davon überzeugt, dass das Gegenteil genauso stimmt. Die Überlebenden mussten nicht nur überleben, um ihre Geschichte erzählen zu können; sie mussten ebenso ihre Geschichte erzählen, um überleben zu können. Jede Überlebende hat das unbedingte Bedürfnis, ihre eigene Geschichte zu erzählen und kennenzulernen, ohne dabei von den Gespenstern ihrer Vergangenheit ausgebremst zu werden, gegen die man sich schützen muss. Man muss seine verschüttete Wahrheit kennen, um sein Leben leben zu können.

Diese Notwendigkeit, zu erzählen und gehört zu werden, kann selbst zu einer alles verzehrenden Lebensaufgabe werden. Doch man scheint nie genug erzählen zu können, um diesem inneren Zwang gerecht zu werden. Es gibt nie genug Worte oder die richtigen Worte, es ist nie ausreichend Zeit oder es ist nie der richtige Zeitpunkt, und nie wird einem ausreichend oder richtig zugehört, sodass man seine Geschichte, die vom Gedächtnis und von der Sprache nie vollständig erfasst werden kann, zur Sprache bringen kann. So wirkt der Druck unablässig fort, und wenn die Sprache inadäquat oder nicht vertrauenswürdig ist, kann das Leben selbst, für das man sich entschieden hat, das Vehikel werden, das den Kampf ums Erzählen weiter vorantreibt. Die eben erwähnte Überlebende tat das, indem sie ihr Leben in einer so schicksalhaften Art konstruierte, dass es ein Zeugnis ihrer Einsamkeit und ihrer Verluste wurde, obwohl sie von liebenden Menschen umgeben war und bemerkenswerte Fähigkeiten hatte – ihre Kreativität, ihre Wärme, ihre Eloquenz und ihre Liebe zum Leben.«[11]

Dori Laub

Sinti*zze Überlebende erzählen in zahlreichen Gesprächen, dass sie außerhalb ihrer Communitys nie etwas über den Genozid gefragt wurden. Und dass sie mit weißen[12] Deutschen nicht darüber sprachen, weil sie aus Erfahrung wussten, dass ihnen nicht geglaubt worden wäre[13]: Die ehemaligen Täter*innen arbeiteten nach wie vor in den Sozialämtern und bei der westdeutschen Polizei und der Genozid wurde 37 Jahre lang vom Staat negiert – was die Überlebenden alltäglich zu spüren bekamen. Romane Communitys wurden vom deutschen Staat für die nationalsozialistischen Verfolgungen und Ermordungen verantwortlich gemacht und nicht als Opfer einer genozidalen Politik anerkannt. Erst 1982 traf der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt Vertreter*innen des neu gegründeten Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und erkannte bei diesem Treffen die Verfolgung von romane Menschen im Nationalsozialismus an. Diese Worte bedeuteten allerdings noch lange keine Konsequenzen auf staatlicher Ebene und auch keine gesellschaftliche Anerkennung des Genozids. Anerkennungsprozesse sind für Opfer immer langwierig und gewaltvoll. Sie sind von Verrat, Manipulation und Instrumentalisierung durch Majorisierte bestimmt. Es sollte persönlich und gesellschaftlich hinterfragt werden, wie eine individuelle und kollektive ›Anerkennung‹ tatsächlich aussehen kann.

Es ist zumeist nicht einmal so, dass das Leid der Verfolgung und des Überlebens unaussprechbar wäre; aber nur die eigenen Leute sind da, um es wahrzunehmen und um zuzuhören. Manchmal gibt es Menschen an der Seite der Überlebenden, aber oft kein Gegenüber. Dann werden sie lange in einer retraumatisierenden Einsamkeit gelassen. Die Idee der Unaussprechlichkeit (nicht gleichzusetzen mit Undarstellbarkeit) ist oft Betrug an menschlichen Katastrophen und an ihrem Bezeugen. Sie wurde von den Majorisierten verdreht, um ihre Täter*innenschaft, ihr Wegschauen und ihr Ignorieren während der Genozide zu rechtfertigen. Der Diskurs über das angeblich Unsagbare verleugnet, bagatellisiert und rechtfertigt außerdem das lange Verweigern eines Gesprächs mit Überlebenden. So erklärten zum Beispiel weiße Menschen aus europäischen und nordamerikanischen Staaten die Shoah für undenkbar, um sie nicht verhindern bzw. stoppen zu müssen. Hinterher wurde die Vorstellbarkeit der Shoah bestritten, um sich von Schuld freizusprechen und die Auseinandersetzung mit Überlebenden zu vermeiden. Für Roosevelt und die USA war die Shoah angeblich undenkbar, weil die Menschheit noch nie eine so umfassende Vernichtung erlebt hatte. Dabei gründet die Errichtung der USA auf dem Genozid an den Native Americans, den verschiedene weiße Gruppen jahrhundertelang fortgeführt haben, während die Verantwortung und Schuld der weißen Kolonisator*innen und der US-amerikanischen Staatspolitik sorgfältig negiert wurde. Und das, obwohl schon das revisionistische Filmgenre des ›Westerns‹ zeigt, dass den Staatspolitiker*innen des 20. Jahrhunderts der Genozid an den Native Americans nicht unbekannt sein konnte.

Die Medien und die Illusion des Bezeugens

»Geschichte wird aufgehoben, wenn archetypische Momente wiederholt werden.«

Fatimah Tobing Rony

»Die eindringliche Schlussfolgerung hier ist, dass eine Rückkehr zum Naturalismus nicht möglich ist. Tatsächlich ist das Leiden in unserer unmittelbaren (westlichen) Lebenswelt in erster Linie zu einem Medienphänomen geworden. Auch unsere Wahrnehmung des Holocausts ist von seiner medialen Darstellung beeinflusst – und wenn wir dann Überlebende aus Fleisch und Blut treffen, begegnen uns diese Personen als Exemplar, als Bestätigung unserer medial vorgeformten Ansichten.«[14]

Andreas Hamburger

Seit den 1990er-Jahren häufen sich in Nachrichtensendungen, Dokumentarfilmen, Belletristik und Sachbüchern ›Zeugenberichte‹ und ›Wahrheitsmomente‹, deren Autor*innen jedoch keinen Überlebendenstandpunkt haben. Die Medien und die Kunst des 21. Jahrhunderts scheinen das Leugnen der Massaker des 20. Jahrhunderts wiedergutmachen zu wollen, indem sie häufig das Wort ›Zeuge‹ benutzen und eine Illusion des Bezeugens hervorrufen. So wurde der Krieg in Syrien 2017 von weißen europäischen Medien und Aljazeera English durch Live- und Online-Voyeurismus präsentiert. Z.B. wurde gesagt, dass jene auf dem Bildschirm sichtbare Bloggerin morgen womöglich tot sein würde. Doch die Bloggerin blieb namenlos. Wichtig war, dass die Zuschauenden die Bloggerin sahen; und nicht, was diese zu sagen hatte und gerade überlebte. Die Zuschauenden hatten mehr Wert als die Überlebende. Alles wurde verdreht: Kamera und Publikum wurden durch ein objektifizierendes und voyeuristisches System selbst zu vermeintlichen Zeug*innen und nahmen die Geschichte des*der ›Anderen‹ in Besitz.

Der Krieg und das Bisher-Überlebte der Bloggerin wurden von den Medien als anekdotisch dargestellt. Gleichzeitig wurde den Zuschauenden ermöglicht, mit einer ›Zeugin des Krieges‹ mitzufühlen. Die Regie bestärkte den Irrglauben der Zuschauenden, einen (gerade in diesem Moment) überlebenden Menschen live zu begleiten. Diese Entschuldung durch Bilder beruht auf dem Leugnen der historischen Verantwortung der Unterdrückenden für kollektive Katastrophen. Zurschaustellung und Gefühlsduselei lenken ab und helfen den Dominierenden sich nicht positionieren zu müssen. Solche Fernsehsendungen und Dokumentarfilme sind Teil einer Geschichte der Entschuldung der Dominierenden und somit der Inszenierung ihrer Unschuld. Sie sind strukturell weiße Sichtweisen und Genres, die das reale Bezeugen und die Geschichten der Überlebenden verraten und fälschen.

Die Gewalt der Vorstellung von ›Authentizität‹

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie traurig ich bin… Niemand kann sich das vorstellen; niemand, der nicht selber seinem Zuhause entrissen wurde, dessen Vater nicht gestorben und ausgestellt wurde und den man in einem fremden Land hat verhungern lassen, wo die Leute einen beleidigen, wenn man darum bittet, dass die Leiche des eigenen Vaters beerdigt oder nach Hause geschickt wird. So sind die zivilisierten Menschen; sie stehlen, morden und foltern und beten und sagen ›Wissenschaft‹.«

Minik Wallace, in einem Brief an einen Freund[15]

Die Anfänge des sogenannten Dokumentarfilms waren zugleich Folge und Produkt des rassistischen und exotisierenden Blicks. Alice Guy (1873-1968), eine weiße französische Filmemacherin, Produzentin und Feministin, wurde durch die sexistische Filmgeschichte – im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen Pathé und den Gebrüdern Lumière – unsichtbar gemacht. 1905 drehte sie einen angeblich dokumentarischen Kurzfilm mit kolonialem Blick.[16] Ihr Film Spanien zeigt ein Land, das zu dieser Zeit sehr arm war und von Frankreich, Deutschland, Britannien[17] oder den USA rassifiziert und exotisiert wurde. In der Schlusssequenz, die ein Drittel des Films ausmacht, zeigt sie Flamenco singende und tanzende Rom*nja. Im neuen Medium Film verwendet sie die aus Malerei, Literatur und Opern der vorherigen Jahrhunderte bereits bekannte Bilder und Darstellungen von Rom*nja. Alles ist stereotypisch gefilmt und inszeniert, sodass das weiße Publikum die Bestätigung bekommt, dass Rom*nja und Flamenco einzig und allein das sind, was hier gezeigt wird. Im gleichen Atemzug und ohne auch nur mit einem einzigen Wort oder Bild mit dem Weißsein konfrontiert zu werden, bekommen sie die Bestätigung der eigenen weißen Position; die Bestätigung, das zu sein, was sie zu sein glauben. Alice Guy nimmt sich für diesen Film die zwei Subjekte ›Spanien‹ und ›die Romnja‹[18], die mit der notwendigen geografischen Nähe und gleichzeitig mit der notwendigen gesellschaftlichen und ökonomischen Distanz zu ihr und ihrem Publikum konstruiert werden, um exotisierbar und genießbar zu sein: Das ist der ›weiße Abstand‹, aus dem das Weißsein quasi mit Leichtigkeit instrumentalisierte Objekte erschaffen kann. Die Exotisierung und der Konsum des konstruierten ›Anderen‹ ist immer ein Déjà-vu, ist immer schon bekannt. Hier werden Klischees produziert und reproduziert, die die Majorisierten und Weißen immer wieder verwenden können. Es ist durchaus möglich, dass die Rom*nja sich während der Dreharbeiten vor Lachen über Alice Guy und ihre Kamera in die Ecke geschmissen haben. Ob es wirklich so war, erfahren wir natürlich nicht.

Der bekannteste US-amerikanische Dokumentarfilm der 1920er-Jahre ist Nanook of the North von Robert Flaherty, ein Film mit einer enormen rassistischen und voyeuristischen Gewalt gegenüber First Nation Menschen aus Québec. Er wurde auf kolonialen Expeditionen gedreht und die Menschen, die der Film zeigt, sind Erb*innen eines Genozides und jahrhundertelanger Verfolgungen. Strukturell betrachtet konnte der Film gerade aufgrund dieser Vernichtungsgeschichte entstehen. Er wurde in einem von der Verfolgung des Inuit[19]-Lebens geprägten Kontext konzipiert. Parallel zum Morden der kolonisierenden Armeen verursachten koloniale Forscher*innen, Industrielle und Wissenschaftler*innen Krankheiten, Hungersnöte und die Zerstörung sozialer Bindungen. Sie entführten Native Americans und First Nation Menschen nach Europa und beschleunigten durch das Einführen ihrer Währung eine ökonomische Destabilisierung und Destrukturierung. Flaherty selbst nahm mit seiner Kamera an mehreren von Industriellen finanzierten Expeditionen teil.

Fatimah Tobing Rony stellt fest:

»Hätte Flaherty aus ›Nanook of the North‹ nicht die Geschichte verbannt, hätte er seine eigene Rolle als Akteur des Wandels im Leben der Inuit anerkennen müssen.«[20]

Flahertys kulturelle und visuelle Aneignung beruht auf einer rassifizierenden Romantisierung und auf der Vorstellung einer verlorenen archaischen Tradition, die in der vermeintlichen ›Modernität des Westens‹ verloren gegangen ist. Fatimah Tobing Rony schreibt über Flahertys Filme und über andere koloniale und revisionistische Filme aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts:

»Das pittoreske Tableau wurde durch Details als etwas Authentisches angeordnet, wobei die konventionalisierten Details dazu dienten, der dem ›Exotischen‹ innewohnenden Vielheit eine Einheit aufzuzwingen. Als Maske, unter der man das koloniale Unbehagen verbergen konnte, war das Pittoreske ein Mittel, um das ›Ferne‹ zu katalogisieren. Suleri beschreibt diesen Diskurs als ›ungehemmten Ästhetizismus, der Fragen nach kolonialer Schuld verschleiert und absondert, dabei aber seiner eigenen abstrakten Schuld zum Opfer fällt‹. Durch die pittoreske Katalogisierung melanesischer, amerikanischer und weiterer Menschen lieferte die Anthropologie die Rechtfertigung für etwas, das in vielen Fällen ein Genozid war: Eine verbreitete und zentrale Annahme der Anthropologie besagte, dass das Native immer schon im Verschwinden begriffen sei und den Anthropolog*innen in ihrem Rennen gegen die tickende Uhr der Evolution gar nichts anderes übrig bleibe, als das Dokumentieren und Rekonstruieren. Oft wurde diese Grundannahme allerdings von abstrakt gewordener Schuld begleitet, als Nostalgie für verlorene Ursprünge und als Angst – eine Kontemplation des Todes im Abstrakten, die zur Kontemplation des eigenen Todes führte.« [21]

Auch das heutige Publikum beschäftigt sich nicht mit der Entstehungsgeschichte und dem sozialen Kontext von Flahertys Film. Der Anthropologe Bronisław Malinowski verbreitete das verlogene Konzept der ›participant observation‹ (teilnehmenden Beobachtung), das Anthropologie und Dokumentarfilm bis heute nutzen. Als sein Zeitgenosse wird auch Flaherty als ›participant observer‹ gesehen. Dieses Konzept erschafft den Mythos, dass Authentizität existiert: Die unterdrückende weiße Inszenierung der Kleidung, der Jagd, des Essens, des Lächelns, des Zuhauses wird zugunsten des guten Gewissens, des Genießens und der Romantisierung verdrängt. Der Film und sein Publikum ergötzen sich an einer angeblichen Objektivität und Neutralität, einem angeblich uneigennützigen Humanismus und an der Lüge einer rationalen Subjektivität, die behauptet, dass Wissenschaft und Kunst eine unschuldige Wahrheit schaffen.

Nur wissen erfahren wir in solchen Inszenierungen nichts über die Geschichte der Menschen, die in der (weißen) ›teilnehmenden Beobachtung‹ gefangen sind, da nach ihren Meinungen und Sichtweisen nicht gefragt wird. Die zeitgenössische Idee der weißen ›politischen oder kollaborativen Kunst‹ ist auch eine Augenwischerei, da die minorisierten Mitgestalter*innen nicht die Autor*innen des fertigen Produkts sind und wenn doch, nicht als solche dargestellt oder genannt werden.[22]

In einem Film von Claude Massot aus dem Jahre 1988, Nanook revisited, sind Spuren der Sichtweise von Inuit auf Nanook from the North sichtbar. Inuit-Bewohner*innen des Dorfes Inukjuak und der Belcher Islands sprechen über ihre Perspektiven auf Flaherty und über den Filmdreh. Anwesend sind Nachfahren eines der Kinder, das Flaherty gezeugt und ausgesetzt hat.[23] Fatimah Tobing Rony beschreibt ihre Perspektive wie folgt:

»In den Interviews macht sich eine auffällige Spannung bemerkbar: Die westliche Rezeption des Films als großes Kunstwerk und das Bedürfnis der lokalen Inuit, eine Aufzeichnung ihrer Vorfahren und ihres Landes zu sehen, reibt sich mit der Tatsache, dass die Inuit den fiktionalen Charakter vieler Szenen klar erkennen, von denen sie eine ganze Reihe lächerlich finden. Bei einer Filmvorführung von Nanook of the North krümmten sich Mitglieder der Inukjuak-Community während der berühmten Robbenfang-Szene, die Bazin so toll fand und die von einem westlichen Publikum meist mit großer Ernsthaftigkeit rezipiert wird, vor Lachen. Die Fehler des Films werden von Moses Nowkawalk, dem Intendanten des dortigen Fernsehsenders, und von Charles Nayoumealuk, dessen Vater mit Allakariallak befreundet war, benannt. Nowkawalk erklärte, Flaherty habe Szenen gefälscht; er habe Inuit-Darsteller*innen in Eisbärkostüme gesteckt, ein Filmset-Iglu bauen lassen und die Robbenjagd zu einem absurden Ausmaß falsch dargestellt, damit die Bilder der südlichen [nicht-Inuit oder weißen] Vorstellungswelt entsprechen können. Die Szene mit dem Grammofon war inszeniert.«[24]

Es ist traurig, dass die Filmgeschichte mit der Ethnologie, mit Beleidigungen und Entführungen von Überlebenden des Rassismus begann. Es hätte auch anders laufen können. Erstaunlich ist das trotzdem nicht, das zeigt ein Blick auf die Anfänge der Fotografie. Der Dokumentarfilm ist in einem historischen Moment entstanden, in dem es moderner, bequemer und politisch effizienter wurde, den Voyeurismus der Jahrmärkte, Museen und Zoos, in denen POCs gewaltvoll eingesperrt und zur Schau gestellt wurden, durch den filmischen Voyeurismus zu ersetzen:

»Das Kino ist ein mächtiges Instrument, mit dem sich die Bedrohung der Blickumkehrung indirekt umschreiben lässt. Als die Kosten der Prohibition, die zwei Weltkriege und das Ende des Imperialismus dazu führten, dass keine native villages mehr ausgestellt wurden, übernahm das Kino viele dieser Funktionen. Kino ist schließlich ein viel kostengünstigerer Weg, nichtwestliche Körper ›vor Ort‹ statt in rekonstruierten ›Dörfern‹ zirkulieren zu lassen. Im frühen Kino mit seiner Vielzahl von Reiseberichten, wissenschaftlichen Forschungsfilmen, Safarifilmen, Spielfilmen und kolonialen Propagandafilmen zeigte sich eine Faszination für den Gegenstand der native, nicht-europäischen Communitys. Wie die Ethnografie ist auch das Kino ein Ort, in dem Wissenschaft und Fantasie aufeinandertreffen. Das Kino beseitigte jedoch die potenzielle Bedrohung durch das Zurückblicken der Darsteller*innen, die in den Ausstellungen noch persönlich anwesend gewesen waren, und hatte damit einen noch perfekteren wissenschaftlichen Voyeurismus zu bieten. Filme über die Bräuche und Sitten der Menschen aus ›X‹ fokussierten auf die Familie und ihren Lebensraum, wie es auch die Jahrmärkte getan hatten. Die Kinoleinwand wurde das, was der Zaun des Jahrmarkts vorher gewesen war, und die Position des europäischen Publikums wurde erneut bestärkt. Und schließlich wurden die dargestellten Communitys im Film als abgekapselte, eingefangene ›Dörfer‹ präsentiert. So wurde der ethnografische Film, genau wie der ethnografische Jahrmarkt, zu einer wunderbaren Zeitmaschine, die ihr Publikum dazu einlud, zeitlich und räumlich rückwärts durch die evolutionäre Zeit in die ›Kindheit‹ des modernen weißen Menschen zu reisen und den native Körper dabei als Hieroglyphe der Sprache und Geste oder als erstarrtes ethnografisches Tableau konstruierte.«[25]

Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert war die Zurschaustellung von POC-Körpern in Zoos, Museen, Expositionen, im Showbusiness und auf Jahrmärkten für die Unterhaltung von Weißen normalisiert. Beispielsweise hat der weiße Showbusinessstar Buffalo Bill das Massaker an Native Americans in Wounded Knee, Nebraska (USA), 1891 auf Shows und Jahrmärkten in einer verdrehten, falschen Darstellung der Ereignisse inszeniert. Bis in die 1920er-Jahre ist er mit mehreren sehr erfolgreichen Shows getourt und war mit berühmten Personen wie zum Beispiel Theodor Roosevelt befreundet. Der bekannte Native American Thathanka Iyothanka (auch Sitting Bull genannt) wurde in Wounded Knee ermordet. Davor war er mit Buffalo Bill auf internationalen Tourneen unterwegs, bevor er in seinen Herkunftsort zurückkehrte. Buffalo Bill besuchte 1891 die Überlebenden und entwickelte anschließend eine Inszenierung des Massakers für seine ›Wild West Show‹. Das Massaker wurde infolge der Instrumentalisierung und des Verrats an den Ermordeten und Überlebenden, infolge seiner Leugnung und Verleumdung durch die weißen Majorisierten und infolge des Revisionismus und des rassistischen Kapitalismus (und der Unterhaltungsindustrie) zu einer ›Schlacht‹ erklärt, obwohl die Gewalt nur von einer Seite ausgegangen war, nämlich von den Weißen. Armee, Polizei, Ranger und Farmer beteiligten sich am Morden. Weiße Politiker, Buffalo Bill mit seinen Shows, Charles Bristol, der in aller Rechtmäßigkeit die Gegenstände und Skalps der Ermordeten in der ›Weltausstellung‹ von 1893 in Chicago zur Schau stellte, und viele andere sind für die Fälschung der Geschichte und Herabwürdigung der Überlebenden verantwortlich. Shows über dieses ›Massaker ohne Massaker‹ tourten bis 1916 durch Frankreich, Britannien, Italien und die USA.

Die Kontinuitäten des dokumentarischen Films im 20. und 21. Jahrhundert stehen in einem bewussten oder unbewussten Dialog mit diesen Geschichten der Zerstörung und Unterdrückung.

Der französische Filmemacher und Ethnologe Jean Rouch (1917–2004) drehte in vielen von Frankreich kolonisierten und ausgebeuteten Ländern. Er bewunderte Flaherty und wird bis heute von verschiedenen intellektuellen Szenen als großer Regisseur gefeiert. Er gilt als Erfinder des sogenannten Cinéma Vérité. Man kann aber keine Wahrheit sagen oder zeigen, wenn man historische Machtverhältnisse nicht anerkennt und sich darin nicht positioniert. Bereits der Titel seines Films moi, un Noir (Ich, ein Schwarzer, 1958) ist eine Beleidigung. Er essenzialisiert und objektifiziert schwarze Menschen. Durch den unbestimmten Artikel im Titel steht ›der schwarze Mensch‹ ohne Namen da, wird entmenschlicht und enthistorisiert. Er und die anderen schwarzen Menschen im Film werden als gleich und ununterscheidbar dargestellt. »Ich, ein Schwarzer von Jean Rouch«: Der Titel spielt mit dem Gedanken, dass Rouch durch seinen Film schwarz sein oder in die Nähe schwarzer Menschen rücken könnte. Schwarzsein, POC-sein bedeutet aber, eine Geschichte zu haben bzw. zu sein, und nicht, ein Objekt zu sein. Es ist nicht austauschbar und weiße Menschen können nicht auf einmal POC werden. Diesem Titel fehlt jede Ethik. Er bezieht sich zudem auf das Voiceover der Protagonist*innen, die das kommentieren, was die Kamera zeigt. Rouch dreht in den Straßen von Abidjan, und unter dem Vorwand, ›afrikanischen Menschen‹ das Wort zu geben, verschleiert und universalisiert er seine eigene Identität und Geschichte als männlicher weißer Regisseur, der sich mit rassifizierten und voyeuristischen Kunsttheorien bewaffnet.[26] Sowohl die Kamera und der Schnitt als auch das von Rouch geschriebene und inszenierte (und von schwarzen Menschen gesprochene) Voiceover reproduzieren eine koloniale Sichtweise. Der Film richtet sich eindeutig an ein weißes Publikum; POCs zu adressieren kommt nicht infrage. Zu Beginn des Films sagt Rouch über seine Schauspieler: »Ich habe ihnen vorgeschlagen, einen Film zu drehen, in dem sie ihre eigene Rolle spielen würden, in dem sie das Recht hätten, alles zu machen und zu sagen.« Auch die Wortwahl »eigene Rolle« verdeutlicht die Objektifizierung der schwarzen Leben, die er filmt. Wir sollen denken, dass die Schauspieler dank Rouch besonders frei oder authentisch sein konnten. Die Tatsache, dass Rouch nicht nur denkt, sondern sogar behauptet, dass er die Macht und Fähigkeit besitzt, anderen Menschen ein Recht auf Freiheit zu schenken, zeugt von seiner mangelhaften Selbstreflexion und seinem strukturellen und allgegenwärtigen Rassismus.[27] Die weiße Einbildung, Anderen das Wort zu ›geben‹ (aber am Ende alleinige*r Autor*in des Filmes, der Ausstellung, des Buchs zu bleiben), ist meist verlogen und respektlos. In einem rassistischen, heteronormativen und klassistischen gesellschaftlichen Zusammenhang wird das ›Übergeben‹ des Wortes an ›Andere‹ schnell zu einem Diskurs über die Menschen, die hier doch angeblich sprechen dürfen, und erzeugt Othering und Voyeurismus. Die majorisierten oder weißen Menschen hatten schon immer mehr Zeit, Raum, soziales und ökonomisches Kapital, um in Institutionen kreativ zu sein, als minorisierte Menschen und Überlebende. Wenn ein*e Regisseur*in in einem Kontext kolonialer Befreiungs- oder Dekolonisierungskämpfe den Überlebenden wirklich das Wort geben will, sollte sie*er technische Geräte und Ausstattung zur Verfügung stellen und sich zurückziehen, damit das Wort von POCs sich entfalten kann.

In einem anderen, diesmal in Paris gedrehten Film tut Rouch so, als würde er die ethnologisierende Praxis umkehren. Er filmt schwarze Männer, die »eine Ethnografie für das Fernsehen machen«. Sein Diskurs bleibt in Stereotypen und in Rassifizierung stecken. Die Rolle des schwarzen Ethnologen kann Geschlechter nicht voneinander unterscheiden. Rouch reproduziert die ethnologisierende Praxis (ein schwarzer Mann beim Vermessen von Weißen auf der Straße), als ob diese Umkehrung der Politik und der Geschichte irgendetwas bringen könnte. Die ›Rollen‹ umzukehren ist pervers, absurd und heuchlerisch; es zeugt von einer revisionistischen Pädagogik und von einer Provokation, da die gesellschaftlichen Machtstrukturen, die Geschichte und das Leiden keineswegs umkehrbar sind.

Jean Rouch und Chris Marker werden nach wie vor von der internationalen Kunstkritik und Kunstszene bewundert. Eine Analyse ihrer Filme aus einer POC- oder minorisierten Perspektive kann jedoch ihren ›Pionier‹-Status dekonstruieren[28]. Die Filme Sans soleil (Unsichtbare Sonne) und Les statues meurent aussi (Auch Statuen sterben) essenzialisieren und verdinglichen POC-Geschichte und -Körper. In Letzterem wird 1953 behauptet »ein Schwarzer in Bewegung ist noch N.-Kunst«. In Ersterem werden Japan und Guinea ›geothert‹ und mystifiziert. Die Blicke von POCs in die Kamera werden mit langer Brennweite und geringer Tiefenschärfe gefilmt. Es sind Blicke von Weitem, die in die Nähe gerückt werden. Der Film funktioniert wie ein vermeintlich philosophischer und existenzieller Reisebericht, der die Anmaßung, dass die weißen Mittel- und Oberklassen ›Weltreisen‹ machen, um anschließend über das Gesehene nachdenken zu können, normalisiert; es wird sich von und bei den ›Anderen‹ bedient, um über sich selbst nachzudenken, und dies wird als logisch, legitim und selbstverständlich betrachtet.

In diesen drei Beispielen aus der älteren und neueren Geschichte des Dokumentarfilms inszenieren die Regisseur*innen die gefilmten Menschen mittels einer taxidermischen[29] Geste. Dabei werden das konstruierte ›Anderswo‹, POCs und alles, was sich außerhalb der weißen Mittel- und Oberklasse befindet, objektifiziert.