Französische Lügen - Nicole de Vert - E-Book

Französische Lügen E-Book

Nicole de Vert

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Beschreibung

Ein toter Mann. Ein entlegenes Dorf in der Provence. Und eine Wahrheit, die tief vergraben liegt. Mimikexpertin Margeaux Surfin ermittelt in Südfrankreich  Als sich eine elitäre Gesellschaft in dem kleinen provenzalischen Ort Bargème versammelt, geht es um den Bau eines umstrittenen Forschungszentrums. Obwohl das geheime Treffen gut geschützt wird, ist kurz darauf einer der Teilnehmer tot.  Privatermittlerin und Mimikexpertin Margeaux Surfin wird hinzugezogen. Während sie sich in das verworrene Geflecht aus Macht, Täuschung und persönlichen Verwicklungen hineinfühlt, wird klar: Nicht nur in den Reihen der illustren Herren, sondern auch bei den Dorfbewohnenden wirft die Vergangenheit dunkle Schatten. In Bargème bleibt nichts unbemerkt, doch was geschah wirklich in jener Nacht? Zwischen verletzten Gefühlen und Täuschung, zwischen altem Groll und neuen Spuren sucht Margeaux nach der Wahrheit. Und je näher sie der Lösung kommt, desto deutlicher wird: Die tiefsten Abgründe liegen oft ganz nah an der Oberfläche. 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Julia Feldbaum

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR.

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

Hameau les Bouisses, 17. März

Bargème, 17. März

Avignon, 17. März

Hameau les Bouisses, 17. März

Cavaillon, 17. März

Apt, 17. März

Bargème, 17. März

Nîmes, 17. März

Hameau les Bouisses, 18. März

Avignon, 18. März

Bargème, 18. März

Boulbon, 18. März

Bargème, 18. März

Unterwegs in der Provence, 18. März

Aix-en-Provence, 18. März

Nîmes, 18. März

Bargème, 18. März

Apt, 18. März

Boulbon, 18. März

Bargème, 18. März

Avignon, 18. März

Aix-en-Provence, 18. März

Bargème, 18. März

Apt, 18. März

Boulbon, 18. März

Nîmes, 18. März

Bargème, 18. März

Boulbon, 18. März

Aix-en-Provence, 18. März

Bargème, 18. März

Bargème, 18. März

Cavaillon, 18. März

Bargème, 18. März

Bargème, 18. März

Aix-en-Provence, 18. März

Avignon, 18. März

Boulbon, 18. März

Bargème, 18. März

Apt, 18. März

Bargème, 18. März

Bargème, 18. März

Aix-en-Provence, 18. März

Bargème, 18. März

Bargème, 18. März

Bargème, 18. März

Boulbon, 18. März

Nîmes, 18. März

Bargème, 18. März

Cavaillon, 18. März

Avignon, 18. März

Aix-en-Provence, 18. März

Bargème, 18. März

Boulbon, 18. März

Apt, 18. März

Bargème, 18. März

Bargème, 18. März

Aix-en-Provence, 18. März

Bargème, 19. März

La Bastide, 19. März

Marseille, 19. März

Nîmes, 19. März

Bargème, 19. März

Avignon, 19. März

La Bastide, 19. März

Boulbon, 19. März

Unterwegs in der Provence, 19. März

Aix-en-Provence, 19. März

Bargème, 19. März

Bargème, 19. März

Apt, 19. März

Bargème, 19. März

Nîmes, 19. März

Bargème, 19. März

Auf den Straßen der Provence, 19. März

Bargème, 19. März

Barbentane, 19. März

Bargème, 19. März

Avignon, 19. März

Aix-en-Provence, 19. März

Bargème, 19. März

Avignon, 19. März

Avignon, 20. September

Rezepte aus dem Chez Louise

Confiertes Eigelb mit Trüffel

Erbsen-Minz Cremesuppe mit Zitronenöl

Margeaux’ Daube mit Selleriepüree und Nussbutter

Pekannuss-Brownie mit Pekannuss-Eis und Topping

Danksagung

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog

Zuerst kam der Geruch.

Nicht sichtbar, nicht greifbar. Aber da.

Wie ein Schleier, den niemand lüftete.

Wie der Anfang von etwas, das sich nicht mehr umkehren ließ.

Es war nicht das erste Mal.

Die Luft hatte schon früher so gerochen –

dort, wo Worte zu scharf, Blicke zu kalt, Hände zu streng gewesen waren.

Angst hatte ihren eigenen Duft.

Und Schuld auch.

Man sagte, nur Tiere wittern Gefahr.

Das stimmte nicht.

Wer oft genug überlebte, roch sie.

Im Klang eines Satzes,

in der Art, wie jemand durch einen Raum ging.

Im Schweigen.

»Der Gerechte weiß, was sein Vieh braucht,

doch das Herz der Frevler ist hart.«

Ein Satz, oft gehört.

Und Menschen glaubten sogar fest an die Bedeutung der Worte.

Doch was, wenn der Gerechte nicht mehr wusste, was gerecht war?

Schweigen.

So lange.

Aus Rücksicht. Aus Angst.

Oder aus etwas anderem, das keinen Namen trug.

Ein Schritt.

Nur einer.

Und alles war anders geworden.

Das Knirschen der Steine klang wie eine Warnung.

Nicht laut, aber deutlich.

Nicht wütend, sondern still.

Fast traurig.

»Der Frevler verfängt sich im Netz des Bösen …«

Vielleicht war das Netz längst gespannt gewesen.

Vielleicht hatte es sich selbst gesponnen –

aus all den ungesagten Worten.

Gesichter.

Hände, die keine Wärme gaben.

Stimmen, die alles wussten, aber nichts hörten.

Und dann dieser eine Gedanke,

lautlos, schneidend, unausweichlich:

Was, wenn man erst zu spät erkannte, dass der Preis,

den es zu zahlen galt,

zu hoch war?

Hameau les Bouisses, 17. März

Margeaux streckte das Gesicht der Sonne entgegen. Endlich konnte man draußen sitzen und die wärmenden Strahlen genießen. Die vergangenen zehn Tage hatte ein wütender Mistral das Wetter beherrscht und sogar dafür gesorgt, dass ein Spaziergang mit dem Hund einem eiligen »Mach schnell dein Geschäft, damit wir wieder ins Haus können!« glich. Weder Hund noch Mensch waren gern vor das Tor getreten, das die hohe steinerne Mauer um den Innenhof unterbrach. Selbst Thierry hatte sich so eingewickelt, wie Margeaux es sonst nur aus ihrer Zeit in Stuttgart kannte, wenn dort Eis und Schnee geherrscht hatten.

Nun ja, Thierry und sie hatten auch diese Tage überstanden, ohne sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen.

Margeaux hatte Hilde und Aimé gebeten, unten im Dorf zu bleiben – nicht etwa aus Furcht vor einem Streit. Die zwei hatten einfach kein Risiko eingehen sollen, dazu waren sie mittlerweile zu alt, und obwohl Aimé die Krebstherapien gut überstanden hatte, war er doch nicht mehr so fit wie vorher. Der Kampf gegen die Krankheit hatte ihn richtig dürr werden lassen, und egal, wie sehr sie versuchten, ihn zu mästen, es schien, als fiele das Essen durch ihn hindurch. Er bekam kein Fleisch auf die Rippen, war eher Haut und Knochen, während Hilde ihre Sorgen stets wegkochte und mit einigen Pfunden zu viel auf der Waage zu kämpfen hatte. Der Arzt hatte eine Warnung ausgesprochen und sie gebeten, vor allem auf weißes Mehl und Zucker zu verzichten. Ansonsten würde sie das Risiko eines Diabetes eingehen. Sie war wenig begeistert, versuchte aber, sich daran zu halten. Ihre Laune machte es nicht unbedingt besser …

Margeaux seufzte. Sowohl ihre Zieheltern als auch ihr Vater waren mittlerweile ältere Leutchen, und es galt, gut auf sie aufzupassen. Julien Surfin stand noch jeden Tag in der Küche seines Bistrorants und der Run auf das Chez Louise war ungebrochen. Die Location war auf Wochen im Voraus ausgebucht. Natürlich hatte er Unterstützung durch seine Lebensgefährtin Catherine, aber die Leute wollten eben zu Julien Surfin und nicht zu Catherine Frontier … Also schuftete er, was das Zeug hielt, und gönnte sich nur selten eine Auszeit.

Willi rannte im Innenhof umher, schnüffelte gefühlt an jedem Stein und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Auch für den Dackel waren die windigen Tage anstrengend gewesen, und er genoss es, nun in Ruhe die Duftspuren der vielen Katzen auf dem Weiler zu erkunden. Er blieb plötzlich ruckartig stehen, und Margeaux konnte sehen, wie er das Köpfchen schief legte und die Ohren spitzte. Dann hörte auch sie das vertraute Motorengeräusch: Thierry hatte den morgendlichen Kundenauflauf hinter sich gebracht und kam nach Hause, um mit ihr den Rest des Tages zu genießen. Sie hatten nach Paris viel Zeit gehabt, sich auszusprechen und Regeln für ihr gemeinsames Leben aufzustellen. Das erleichterte vieles, und auch wenn sie weiterhin einem durchaus risikoreichen Job nachging, so war ihr doch vollkommen klar geworden, wo sie Grenzen ziehen musste. Ihre Familie hatte mehr als einmal unter ihren Entscheidungen gelitten. Thierry und Hilde waren damit nicht fertig geworden, sie mehrfach in Lebensgefahr schweben zu sehen.

Margeaux war im Herzen nach wie vor Polizistin, und es gestaltete sich nicht ganz so leicht, diese Priorität abzulegen. Doch Liebe brachte eben auch Verantwortung mit sich.

Willi flitzte aufgeregt zum Tor und fiepte, denn da kam sein Herrchen, und gewiss hatte dieser Lieblingsmensch wieder eine kleine Leckerei für ihn in der Hosentasche. Für viele waren Vierbeiner einfach nur Tiere, doch der Dackel war für Margeaux wie ein Kind. Umso schöner war es dann auch für sie zu sehen, dass ihr Mann den kleinen knopfäugigen Kerl ebenso ins Herz geschlossen hatte.

Das Tor ging auf, Thierry und Willi vollzogen ihr Ritual aus Streicheleinheiten und Leckerligabe, und sie lehnte sich in dem bequemen Stuhl in der stillen Ecke glücklich zurück, während sie die Szene beobachtete. Der provenzalische Himmel strahlte in einem klaren Hellblau, die Luft roch frisch und nach leicht sonnenwarmem Sandstein. Fast glaubte sie, auch das schon wahrzunehmen, was ihr Mann – der begnadete Bäcker – in der Papiertüte mit sich trug: frische buttrige Croissants, Pain au chocolat und für sie ein noch warmes Croissant aux amandes … so köstlich … Auf dem Tisch unter dem Mimosenbaum hatte sie bereits alles für das gemeinsame Frühstück hergerichtet. Dazu benötigte sie nun wirklich keine Unterstützung. Hilde hatte es aufgrund all der Entwicklungen nach dem Schrecken, der die Familie erschüttert hatte, recht unkompliziert hingenommen, dass Margeaux nicht jeden Tag Hilfe im Haushalt benötigte. Aimé und sie fuhren mittlerweile regelmäßig mit dem TGV in die Hauptstadt, um dort ihren Sohn Pierre und dessen Familie zu besuchen. Das war gut so. Charlene, die junge Frau aus dem Nachbardorf, kam zwei- bis dreimal pro Woche, um das große Haus in Ordnung zu halten, und das reichte vollkommen aus.

»Hey.« Thierry schlenderte auf sie zu, und wieder einmal wurde ihr bewusst, wie unglaublich gut aussehend er war – mit seinen kantigen Gesichtszügen und dem dunklen, weich fallenden Haar. Er hätte jederzeit einem Baldessarini-Model Konkurrenz machen können. Sie hatte wirklich Glück, jemanden an ihrer Seite zu haben, der innen und außen schön war! Er beugte sich zu ihr hinab, legte seine Lippen sanft auf die ihren. Sie genoss den zärtlichen Begrüßungskuss und seinen vertrauten Geruch nach Butter und Zucker. Sie legte ihre Hand in seinen Nacken und zog ihn tiefer zu sich hinab. Der Kuss wurde inniger, und sie spürte Wärme ihren Rücken hinabgleiten … Erst das eifersüchtige Gejammer des Hundes brachte sie dazu, die Zärtlichkeit zu beenden.

Während Thierry die Hände in die Hüften stemmte – die Papiertüte noch immer zwischen den Fingern balancierend – und den Hund strafend anblickte, musste sie lachen. Der schallende, glückliche Ton füllte den Innenhof, und sie dachte dabei: Ist das Leben nicht wunderbar?

Bargème, 17. März

Parcival La Croix öffnete die Tür zu dem Besprechungsraum und schaute sich prüfend um. Natürlich konnten sie hier auf dem Dorf keinen überbordenden Luxus erwarten, doch die dunkel getäfelten Wände, das rustikale Mobiliar und die alten Kupferstiche an den Wänden wirkten so gar nicht einladend. Der Raum war lang und schmal – dominiert von einem rund zehn Meter langen Tisch mit gedrechselten Beinen und den klobigen Lederstühlen im passenden Design. Es gab nur zwei bogenförmige Fenster, die eher Schießscharten ähnelten, denn für Helligkeit sorgten. Nun gut … so hatten sie es gewollt. Abgeschieden, möglichst unauffällig und so diskret wie möglich. Er hatte das Hotel nicht ausgesucht. Das war auf Tristan de Cusquets Mist gewachsen. Seine Großeltern hatten einst in dem heute knapp über zweihundert Seelen zählenden Dorf ein kleines Grundstück mit ein paar Olivenbäumen besessen. So hatte der Mann sich an Bargème erinnert – ein wenig verklärt durch die Fantasie des kleinen Buben, der er damals gewesen war. Heute würde man das Dorf wohl eher als links hinter dem Mond liegend bezeichnen. Die Einwohnenden schienen besonderer Natur zu sein … Zumindest hatten die Begegnungen, die er seit seiner Ankunft zu verzeichnen hatte, diesen Eindruck bei ihm hinterlassen.

Er war zweimal durch den Ort gefahren, ohne eine Spur des Hotels Le Donjon Perdu zu erblicken, also hatte er fragen müssen! Unglaublich in Zeiten von künstlicher Intelligenz und digitalen Routenplanern. Die erste Gestalt am Wegesrand war ein knorriger Alter gewesen, der sich auf einen gedrehten Holzstab stützte – den grauen Bart zu Zöpfen geflochten, in denen sich Glöckchen befanden. Parcival hatte sich mehrfach umgeschaut, um auszuschließen, dass man ihm hier einen albernen Scherz spielte. Dann hatte sich eine zweite, nicht minder sonderbare Erscheinung hinzugesellt: ähnlich alt, gebückt laufend, mit einem gelben Turban um den Schädel gewickelt. Die Augen waren bedeckt gewesen von einer riesigen orangen Sonnenbrille, und der Mann hatte eine Art Tunika in Olivgrün getragen. Da Parcival bereits angehalten hatte, hatte er nach dem Hotel gefragt, und die Herren hatten bereitwillig Auskunft gegeben: Einer hatte genuschelt, der andere wild in alle Himmelsrichtungen gestikuliert. Doch am Ende war eine ganz passable Beschreibung herausgekommen, und er hatte die Unterkunft gefunden.

Dieser Laden hier würde ausreichen, auch wenn das Ambiente etwas mit sich brachte, das ihrem Treffen einen weiteren Anstrich des Außergewöhnlichen gab. Nichts von dem, was in den nächsten Tagen hier stattfand, passte ins gewohnte Raster. Schließlich waren auch sie alles andere als »normal«. Jeder von ihnen war nicht nur einflussreich, sondern verfügte über finanzielle Ressourcen, die ihnen wirklich alles ermöglichten. Menschen bildeten sich gern ein, dass Werte etwas waren, was Regierungen und Machthabende dazu bewog, sich ins Zeug zu legen … doch am Ende … am Ende waren es immer Geld und Verbindungen! Mit ihren Mitteln hatten sie die Macht, das Schicksal eines Landes so zu formen, wie es ihnen passte. Natürlich machten sie das nicht so plump wie bestimmte Milliardäre in anderen Staaten – schließlich waren sie Franzosen und mit einem gewissen Stil gesegnet.

Daher hatte er auch ein paar Mal schlucken müssen, als ihn ein ältliches Zimmermädchen, das tatsächlich eine kleine weiße Spitzenschürze über dem schwarzen Kleid trug und dessen Kopf ein weißes Häubchen zierte, auf sein Zimmer führte. Sie hatte ihm seinen Koffer beinahe aus der Hand gerissen, das Ding ächzend eine breite Treppe hinaufgeschleppt, die Tür geöffnet und ihn mit einer ausladenden Handbewegung hineingewunken.

Das Bett stand an einer dunkel getäfelten Wand, war groß, hoch und mit einem gewebten Baldachin als Betthimmel verziert. Eine Kommode thronte der Schlafstatt gegenüber, und der alte Dielenboden knarzte bei jedem Schritt. Karg war in diesem Kontext ein Euphemismus! Nun ja. Er blieb ja höchstens drei Nächte …

Die Tür des Besprechungsraums – konnte man diesen überhaupt als solchen bezeichnen oder kam der Schlauch eher einem alten Speisesaal gleich – öffnete sich, und Amaury Lagnon kam herein. Der hochgewachsene, dürre Kerl blieb wie vom Donner gerührt stehen und schaute sich um, als habe er sich in der Tür geirrt.

»Amaury«, rief Parcival, und der Angesprochene erschrak sichtlich.

»Parcival, ich habe dich gar nicht gesehen. Entschuldige. Tristan hat das hier …« Er machte eine ausladende Bewegung mit der linken Hand, während er mit der ausgestreckten rechten auf ihn zukam.

»Ja, ja. Ich bin mir nicht sicher, ob er im letzten Vierteljahrhundert mal hier war, aber früher war es gewiss ein … ein beeindruckendes Haus.« Parcival schüttelte kurz seinen Kopf, ergriff die Hand des Mannes zur Begrüßung und spürte wie immer Unbehagen dabei. Amaury war überall knochig, und es fühlte sich an, als berührte man ein Skelett. Doch hier und heute spielte das keine Rolle, denn ihr Treffen war bedeutsam und gab den Startschuss zu etwas, das die Welt verändern würde.

»Ich habe mich erkundigt«, sagte Amaury, »die anderen sind auch schon angekommen. Wir können pünktlich starten. Ich habe die Mitarbeiterin mit dem Häubchen – ich wusste nicht, dass es das heutzutage tatsächlich noch gibt, denn ich kannte Uniformen dieser Art nur aus Filmen – gebeten, uns eine Holzschatulle zu bringen.«

Parcival spürte Irritation aufkommen. »Eine Schatulle? Wofür sollten wir …?«

»Ah, entschuldige, Parcival. Ich habe mir Gedanken über das Thema Diskretion gemacht. Nichts von dem, was wir hier besprechen, darf nach draußen dringen. Daher erschien es mir sinnvoll, wenn wir unsere Handys ausschalten und einsammeln. Nicht, dass ich uns nicht vertraue … aber sicher ist einfach sicher.«

»Du möchtest, dass wir unsere Handys abgeben, und irgendjemand nimmt sie mit?«

»Nein, nein. Die Schatulle darf auf der Kommode dort am Eingang stehen. Ich möchte zusätzlich, dass wir kein Gerät im Internet haben. Das hier sollte ein Treffen sein, das vollkommen abgeschirmt stattfindet. Stell dir vor, irgendetwas gelangt an die Öffentlichkeit …« Amaury hob die Arme mit einer verzweifelt anmutenden Geste.

Parcival wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als sich die Tür erneut öffnete. Martin de Villevalet und Frédéric Hurbier traten ein, und man konnte die Irritation deutlich an ihren Gesichtern ablesen. Martin schüttelte erst Amaury die Hand, dann kam er um den Tisch herum und ergriff Parcivals. »La Croix, mein Lieber, schön, dich zu sehen. Ist das hier Tristans Ernst? Ich muss ja nicht in Paris im Ritz mit euch tagen … bei der Brisanz unserer Themen … aber diese Widersprüchlichkeit erscheint mir ein wenig … nun ja … übertrieben.«

Frédéric kam ebenfalls heran, ergriff ihre Hände und schaute wenig amüsiert drein. Er war wie immer exquisit gekleidet und wirkte vollkommen deplatziert in dem maßgeschneiderten grauen Anzug, dem strahlend weißen Hemd und dem Hermès-Schal, den er locker um seinen Hals drapiert hatte. Frédéric war mit Abstand der Attraktivste in ihrer Gruppe und erregte stets Aufsehen. Frauen und Männer drehten sich nach ihm um.

»Parcival, Amaury – das kann ja heiter werden. Ich vermute, dass hier zur Geisterstunde all jene Gäste, die den Aufenthalt in diesem Etablissement nicht überlebt haben, auftauchen werden. Zumindest lässt mein Zimmer vermuten, dass man sowohl beim Duschen als auch beim Ankleiden rasch den Tod finden kann! Musste es wirklich so abgelegen sein?«

»Um Himmels willen, Männer! Ich habe euch nicht in ein Dschungelcamp verschleppt, wo ihr auf klapprigen Holzliegen nächtigen müsst und gezwungen seid, in ein Loch zu scheißen!« Tristan de Cusquets durchdringende Stimme schallte durch den Raum. Er nahm wie immer kein Blatt vor den Mund.

Meist tat es ihrer Gruppe gut, doch heute lagen die Nerven wohl ein wenig blank, denn Amaury fuhr herum und fauchte: »Mach mal halblang, de Cusquet! Das hier ist selbst für dich etwas zu viel! Wir brauchen keinen Fünfsterneluxus, aber auch keine mittelalterliche Unterkunft, die seit ihrer Erbauung keine Handwerker mehr gesehen hat. Zudem ist die Ortschaft eine Ansammlung auffälliger Charaktere.«

Der Letzte in der Runde betrat den Raum und durchschnitt die aufgeladene Stimmung mit seiner hellen Stimme: »Meine Herren, ich hoffe, dass sich diese Sinneswahrnehmungen nicht auf unsere Geschäfte auswirken werden! Ich bin nämlich nicht hergekommen, um mich an Befindlichkeiten über Teppiche oder Bettlaken aufzuhalten, sondern um die Welt zu verändern – und zwar so, wie es uns beliebt!« William Hiquemont stemmte die Hände in die Hüften und glich durch diese Pose einem jener Feldherren, die sich allen anderen stets überlegen fühlten.

Egal, wie sehr sein Auftreten provozieren konnte – William hatte recht. Sie waren hier, um etwas zu beschließen, das den Fortgang der Welt maßgeblich verändern und ihnen zudem Macht und Geld bescheren würde. Sie nannten ihn nicht umsonst den »Trompeter von Jericho«! Seine Stimme und das, was er sagte, hatte stets großen Einfluss und konnte – so er es wollte – die stärksten Mauern einstürzen lassen. Er war der Gewichtigste unter ihnen, obwohl von normaler Größe und Statur … denn er saß quasi zur Rechten Gottes. Er hatte direkten Zugang zu den Entscheidern an der Spitze des Landes.

»Bitte, meine Herren, die Handys ausschalten und hier hinein!«, nutzte Amaury die Situation, und alle taten wie geheißen. Dann setzten sie sich.

Es ging endlich los.

Avignon, 17. März

Julien Surfin drehte sich seufzend um. Manchmal fühlte er sich so alt, wie er war … Dann taten ihm die Knochen weh, und seine Finger verweigerten ihm den geschmeidigen Dienst. Er brauchte seine Hände beim Kochen, und filigrane Brunoise zu schneiden verlangte eine genaue Handhabung des Messers – kein stümperhaftes Gestückel, weil die Gelenke steif waren.

Seine Lebensgefährtin schaute kurz zu ihm herüber, und er konnte in ihrem Gesicht sehen, dass sie unzufrieden war. Bezog es sich auf ihn und das Nachlassen seiner Kräfte, oder war sie kritisch mit ihrer eigenen Arbeit? Seit sie die Küche des Chez Louise gemeinsam betrieben, hatten sie immer mal wieder Auseinandersetzungen fachlicher Art gehabt. Das gehörte dazu, kreierte man ein neues Menü, aber sie erreichten immer wieder einen Punkt, an dem Catherine einfach dichtmachte. Dann kam er nicht mehr an sie heran, und selbst wertschätzend formulierte Anregungen stießen auf taube Ohren. Nein, sogar noch mehr: Es war, als spaltete sie sich komplett von ihm ab. Und obwohl sie nebeneinanderstanden, schien es dann so, als würde sie ein Universum voneinander trennen. Marie-Louise und er hatten eine komplizierte Beziehung geführt, doch sie waren stets Partner auf Augenhöhe gewesen, und die Liebe zueinander und zu Margeaux hatte ein untrennbares Band dargestellt. Ihr Krebstod hatte ihn so tief getroffen, dass auch die Zeit diese Wunde nicht zu heilen vermochte. Catherine gegenüber war das nicht fair, aber seine Frau war tot und daher keine Rivalin im ursprünglichen Sinn. Wobei es unter Umständen wirklich schwerer war, mit einer Toten zu konkurrieren …

Mit Marie-Louise hätte er das Restaurant niemals gemeinsam geführt – zumindest nicht in der Küche. Sie hatte ihm noch geholfen, seinen Lebenstraum einzurichten, und diesen grundsätzlichen Stil würde er stets beibehalten. Seine junge Freundin war eine sehr begabte Köchin, und er mochte ihren Stil, ihre Handschrift, die man in den Gerichten mit allen Sinnen entdecken konnte. Und doch war da etwas Fremdes an ihr. Sie wohnten zusammen, hatten sich mit seiner Familie ausgesöhnt: Margeaux hatte Catherine an seiner Seite akzeptiert, und mit ihr war auch Hilde nachsichtiger geworden, aber etwas schirmte die schöne Küchenchefin ab. Es war schwer für ihn, seine Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen: Es war, als trüge sie eine Last auf ihren Schultern, und das verbot ihr, sich ihm vollkommen zu öffnen und das gemeinsame Leben als echtes Glück zu empfinden. Sprach er es an, verneinte sie seine Zweifel – aber er war schon zu lange auf diesem Planeten und wusste, dass es genau dieses Quäntchen Vertrauen war, das ihm fehlte. Sie erzählte ihm nicht alles – hatte Geheimnisse –, und dadurch baute sich eine Distanz zwischen ihnen auf, die die Zeit nicht etwa kleiner machte, sondern größer! Wie eine Kluft! Es tat ihm nicht gut.

Er legte das Messer ab, schaute zu ihr hinüber und schüttelte seine Hände leicht aus. »Catherine«, begann er und wartete auf ihre Reaktion.

»Bitte, Julien. Lass uns einfach das Mise en Place machen, und wir reden später.«

»Wir reden später«, wiederholte er und sog scharf die Luft ein. Sein Brustkorb schien manchmal wie zugeschnürt, und er musste mehrfach atmen, um klar denken zu können. »Das ist wie ein Elefant, der mit uns im Raum steht, und mit dem grauen Riesen ist es verdammt eng hier«, fügte er an, denn er konnte und wollte es nicht auf sich beruhen lassen.

»Wir sind ein gutes Team, Julien. Bitte! Lass es doch dabei«, stieß sie erneut hervor und hackte die vor ihr liegenden Kräuter mit kräftigen Bewegungen klein, als versuchte sie dadurch, aufsteigende Aggressionen zu kompensieren.

Er fühlte sich sonderbar, denn sein Kopf hatte plötzlich ein unglaubliches Gewicht und drohte, ihm beinahe vom Hals zu fallen. Das hier war sein Refugium. Er hatte sie hereingelassen: in seine heilige Küche und in sein gebrochenes Herz … Er hatte ihr dort einen Platz bereitet und gehofft, so die Lücke, die durch Marie-Louises Tod entstanden war, zumindest ein wenig zu füllen.

Vielleicht hatte seine Tochter die ganze Zeit recht gehabt, und er hatte es fälschlicherweise darauf geschoben, dass sie eifersüchtig war. Doch Margeaux war eine gestandene Frau mit jeder Menge Menschenkenntnis – auch wenn diese darauf beruhte, sich mit gewalttätigen Personen auseinanderzusetzen. Vielleicht hatte sie sofort gesehen, dass mit Catherine etwas nicht stimmte. Dass sie – passend zu ihrem Nachnamen Frontier – eine unsichtbare Grenze um sich trug. Eine, die es selbst ihm unmöglich machte, wirklich zu ihr durchzudringen. Er war fest davon überzeugt gewesen, sie zu lieben, aber … konnte es wirklich sein, dass er sich das nur eingeredet hatte, weil es ihm nicht mehr möglich gewesen war, allein durch die Welt zu gehen – und weil ihm eine kompetente Kraft in der Küche gefehlt hatte?

Dank der mehr als vier Jahrzehnte Ehe war Beziehung für ihn etwas, das er für ihre Partnerschaft, für Julien und Marie-Louise, definiert hatte. Möglicherweise war das der Grund gewesen, dass er jetzt im Alter nicht mehr dazu in der Lage war, umzuswitchen.

Gott, was für ein Durcheinander! Manchmal – der Gedanke traf ihn wie ein Vorschlaghammer zwischen die Augen –, manchmal war er müde! Unglaublich müde, und dann wollte er nur bei ihr sein … sie in seinen Armen halten … ihr Lachen hören … Margeaux lachte wie ihre Mutter. Das hatte ihn anfangs bis tief ins Herz getroffen. Sie war Marie-Louise in vielem so ähnlich. Die Kochleidenschaft hatte sie von ihm geerbt, aber die zielstrebige Durchsetzungsfähigkeit kam von …

»Julien? Bist du in Ordnung?«, hörte er Catherines Stimme wie durch eine Watteschicht.

Nein! Er war nicht in Ordnung. Ich will nach Hause, schoss es durch seinen Kopf. Was war heute nur los mit ihm? Das hier war doch mehr sein Zuhause als seine Wohnung. Hier lebte er auf, spürte das Messer in der Hand oder die Hitze aufsteigender Kochdämpfe auf der Haut. Doch er sagte nur »Ja, ja!« und wandte sich dem Schwarzfederhuhn zu, das vor ihm auf der Arbeitsfläche lag. Lange würde er es nicht mehr hinnehmen: Sie musste mit ihm reden – ihm erklären, was da zwischen ihnen stand.

Und was geschah, wenn sie es nicht tat? Dann brauchte er wohl jemand anderen hier in der Küche … und er wäre wieder allein …

Erneut seufzend machte er sich daran, das Geflügel kochfertig zu bekommen. Das Bistrorant war wie immer ausgebucht, und er konnte und wollte sich keine Fehler erlauben. Seine Gäste durften niemals unter seinem privaten Chaos leiden. Das war seine oberste Prämisse: An erster Stelle stand stets der Gast!

Hameau les Bouisses, 17. März

Thierry legte den Kopf in den Nacken und blickte hinauf in den Himmel. Er war glücklich! Noch vor wenigen Monaten war ihm dieser Gedanke unmöglich vorgekommen. Er hatte zu viel Furchtbares erlebt … Doch er und Margeaux hatten es gemeinsam überstanden, und tatsächlich war ihre Bindung dadurch stärker geworden. Er war froh darüber, seiner Ehe eine Chance gegeben zu haben. Sie gingen nun ehrlicher miteinander um und machten aus ihren Herzen keine Mördergruben – dieses Bild passte einfach zu gut, denn Mörder hatte es in den vergangenen sechs Jahren zuhauf gegeben. Margeaux hatte ihm versprochen, keine Alleingänge mehr zu unternehmen, und er hatte ihr im Gegenzug zugesagt, dass er sofort den Mund aufmachen würde, fühlte er sich in die Ecke gedrängt.

»Sei kein Feigling und komm rein!«, rief sie und lehnte sich tropfnass an den Rand des Pools.

»Ich bin doch nicht verrückt! Es ist März und bis gestern war quasi Winter … Wie viel Grad hat das Wasser? Fünf?«, erwiderte er und genoss es, sie anzuschauen.

»Keine Ahnung – ist man einmal drin, ist es nicht mehr so arg.« Sie tauchte unter und schwamm einige Male hin und her. Ihr Körper war durchtrainiert, denn sie trieb regelmäßig Sport. Gleichzeitig war sie bezaubernd weiblich. Vielleicht sollte er sie schnappen und nass, wie sie war, auf der sonnenwarmen Liege verwöhnen … Niemand würde sie heute stören: Aimé und Hilde waren auf dem Weg nach Paris, Charlene hatte ihren freien Tag … Sie konnten sich also lieben, wo und wie es ihnen gefiel.

Seine Frau stemmte sich in diesem Augenblick am Beckenrand hoch und kam mit einer geschmeidigen Bewegung heraus. Ihm stockte der Atem. Sie war so schön.

Rasch erhob er sich, ging schnellen Schrittes auf sie zu, presste sich an sie und achtete nicht darauf, dass seine Kleidung die Nässe ihrer Haut aufsaugte. Sie seufzte zufrieden, legte ihre Arme um seinen Hals, und ihr Mund suchte den seinen. Er teilte ihre Lippen mit seiner Zunge, umspielte die ihre mit der seinen – erst zart und forschend, dann immer fordernder. Sie ging darauf ein, und die Liebkosung ihrer Münder und Zungen formte ein warmes Gefühl, das ihm den Rücken hinunterkroch, jeden Nerv in Flammen zu setzen schien und sich dann in seiner Leibesmitte sammelte.

Margeaux schob ihr Becken in seine Richtung, und sein Verlangen, sie voll und ganz zu spüren, wurde immer mächtiger. Er presste seine Härte an sie, und ihr schmaler Bikini rutschte fast wie von selbst zur Seite, sodass er selbst durch seine Hose hindurch ihre Hitze fühlen konnte. Er tauchte noch tiefer in ihren Mund ein, sie schmeckte süß und verführerisch. Ihre Zungen streichelten einander, und seine Hände glitten ihren Rücken hinab, schlossen sich um ihre Pobacken. Sie stöhnte in seinen Mund, und das machte ihn noch mehr an. Er wollte sie. Jetzt, hier, sofort. Mit einer kräftigen Bewegung – seine Hände noch immer auf ihrem muskulösen Po – hob er sie hoch.

Scheinbar hatte sie diesen Move nicht erwartet und taumelte ein wenig rückwärts, und bevor er etwas tun konnte, um das Unvermeidliche aufzuhalten, landeten sie aneinandergeklammert in dem eisigen Nass. Das kühle Wasser wirkte sich unvorteilhaft auf seine Erregung aus, und er wollte schon herzhaft fluchen, doch dann sah er sie vor sich … seine Nixe … Ihre Augen strahlten und ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Du hättest dich gern ausziehen können, wenn du eh reinkommst«, neckte sie ihn.

»Du bist so heiß, dass mir die Kälte gar nichts ausmacht«, versuchte er, seine klappernden Zähne Lügen zu strafen.

Zum zweiten Mal am heutigen Vormittag lachte sie ihr lautes, unbekümmertes Lachen, packte ihn an der Hand und sagte verheißungsvoll: »Lass uns duschen gehen.«

Ich bin glücklich, dachte er erneut, und deutete dies als wirklich gutes Omen. Sie würden jede Hürde gemeinsam nehmen und sich genau solche Momente wie diesen hier erschaffen, in denen das Glück mit ihnen in diesem Haus wohnte. Natürlich war ihm vollkommen klar, dass es nicht jeden Tag so sein konnte, aber es lag an ihnen, das Beste aus ihrem gemeinsamen Leben zu machen.

Sie waren privilegiert. Sie hatten ein wundervolles Zuhause, Jobs, die sie mochten, eine Familie, die sie liebten und von der sie geliebt wurden, gute Freunde und genug zu essen. Sie lebten in einem Land, in dem es keinen Krieg gab, und sie konnten zusammen lachen! Sie waren gesegnet.

Cavaillon, 17. März

Heute schien die Sonne. Die letzten Tage waren grau gewesen – nichts zu sehen von dem so oft besungenen und beschriebenen sagenhaften blauen Himmel der Provence.

Inés blickte hinauf zum Firmament. Es war ihr egal.

Ihre Tage waren so oder so erfüllt vom Dunkel einer Seele, in der sich nichts als unendlicher Hass und tiefe Trauer befanden. Erst gestern hatte eine Freundin ihr durch die Blume zu verstehen gegeben, dass es nun endlich an der Zeit sei, nach vorn zu schauen!

Was für eine unglaubliche Scheiße! So etwas gab es nicht: einen von außen festgelegten angemessenen Zeitraum für Gefühle. Ein Stück ihrer Seele war herausgerissen worden, und das ließ sich nie mehr heilen. Ihr Herz würde sich nicht eben mal so regenerieren. Was jedoch vorbei war, war die Zeit der Tränen. Sie hatte jeden Tropfen dieser Flüssigkeit herausgeweint – anfangs jeden Tag, stundenlang. Dann nur noch jeden zweiten Tag … einmal in der Woche … bis zu dem Punkt, an dem das Weinen nur noch auf einen externen Auslöser gefolgt war: eine Szene in einem Film, eine Umarmung auf der Straße, ein bestimmtes Wort, eine Melodie, ein Traum … Tränen waren unglaublich schwer zu kontrollieren, und so sehr sie auch daran arbeitete, sich selbst in Schach zu halten, es gelang eben nicht immer.

Sie hatte etwas verloren, das sie als beschädigte Ware zurückließ, und die Person, die für all dieses Leid verantwortlich war, tat so, als wäre sie die Unnormale. Das nährte den Hass in ihr, und damit kamen auch die Energie und der Wille, etwas zu tun: zu bestrafen! Wenn schon die Rechtsprechung in diesem Land nichts machte, dann musste sie es eben selbst in die Hand nehmen.

Heute war auf jeden Fall genau der richtige Tag, um die Lethargie abzustreifen und dafür zu sorgen, dass das Gedankenkarussell in ihrem Kopf ein für alle Mal zum Stillstand kam. Sie streifte eine leichte beige Windjacke über und schlüpfte in bequeme Sneakers. Vielleicht würde sie rennen müssen, da war es immer gut, Schuhe zu tragen, mit denen man leichtfüßig über Stock und Stein kam. In den letzten Monaten war sie oft und viel gelaufen – vielleicht auch als Medizin gegen die Dunkelheit, die immer mehr Raum in ihr eingenommen hatte. Es hatte nicht so richtig funktioniert – den Hass nur noch scharfkantiger werden lassen. Er schnitt ihr täglich von innen ins Fleisch. Wunden, die niemals verheilten, täglich schmerzten und gleichzeitig einen Antrieb darstellten.

Sie stand kurz vor dem Schlüsselbrett, und ihre Hand schwebte unschlüssig in der Luft. Dann griff sie nach dem Bund mit dem einfachen Karabinerhaken daran. Sie wollte ein Zeichen setzen, was eignete sich da besser als die schnelle Maschine. Sie wollte ihr ganz persönliches Mad Max-Szenario, also öffnete sie die Schranktür der Garderobe, holte die gepolsterte Motorradjacke heraus und zog den schwarzen Helm vom Regalbrett. Sie hatte ihn mehrfach geputzt, bis er matt schimmerte. Er umgab ihren Kopf wie eine kämpferische Hülle, und klappte sie das Visier herunter, sah man ihr Gesicht nicht.

Sie war schlank – fast mager, kaum auf den ersten Blick als Frau zu identifizieren. Jacke und Helm taten das Ihrige. Das war gut so. Ohne sich umzuschauen, verließ sie das Haus. Irgendwie war es schon seit Jahren nicht mehr ihr Zuhause!

Der heiße Knoten aus Wut und Kummer pulsierte in ihrem Bauch, als wollte er sie anfeuern – und irgendwie tat er genau das.

Apt, 17. März

Raphaël hackte mit zehn Fingern auf die vor ihm liegende Tastatur. Der Bericht war lächerlich! Alles, was er tat, war lächerlich … Der Sturz vom Jemand zum Niemand war ungeheuer schmerzhaft, und nun über so Unbedeutendes wie das Treffen des örtlichen Hühnerzuchtvereins zu berichten fühlte sich an, als würde ihm jede Energie aus dem Körper gesaugt. Seine Worte waren lapidar, beschrieben braunes oder weißes Gefieder und verloren sich in der Unsäglichkeit eines solch dörflichen Ereignisses. Das war nun sein Leben.

Er war verbrannte Erde, und noch viel schlimmer: Jeder wusste es! Er trug eine Art Brandmal auf der Stirn. Kam er in einen Raum, starrten ihn die Leute an, begannen, hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln oder auch ungeniert laut zu reden. Anfangs hatte er sich verkrochen, seine Einkäufe liefern und vor der Haustür abstellen zu lassen. Doch irgendwann war ihm das Geld ausgegangen, also hatte er versucht, Online-Jobs zu ergattern, aber sowie er seinen Lebenslauf hatte versenden müssen, war es vorbei gewesen. Also war er bei der örtlichen Presse zu Kreuze gekrochen, und sie hatten ihm mit gönnerhafter Miene das Ressort Regionales anvertraut – jedoch nicht, ohne zu verdeutlichen, dass seine journalistische Freiheit einigen Einschränkungen unterlag. Jeder seiner substanzlosen Berichte wurde durch den Chefredakteur geprüft und auch regelmäßig redigiert. Nicht einmal ein Praktikant wurde auf eine solche Weise gedemütigt, aber mit irgendwas musste die Stromrechnung bezahlt werden.

Es gab Freundschaften, die das Desaster überlebt hatten; manche Leute sprachen ihm immer wieder Mut zu. Doch Plattitüden wie Auch da wird irgendwann Gras drüberwachsen halfen ihm nicht. Es konnte unter Umständen sehr viele Jahre dauern, bis Menschen vergaßen. Und heutzutage sorgte auch das Internet dafür, dass nichts wirklich in Vergessenheit geraten konnte. Irgendein Idiot war zu jeder Zeit dazu in der Lage, längst Vergangenes auszugraben und wieder aufzukochen. Er hatte trotz aller Warnungen daran geglaubt, einer ganz großen Sache auf der Spur zu sein … Pulitzerpreis-verdächtig …

Und dann … dann war alles aus dem Ruder gelaufen … So viele Leute hatten sich von ihm abgewandt, ihn blitzschnell wie eine heiße Kartoffel fallen lassen und ihm dadurch klargemacht, dass man am Ende immer allein war. Diese Form der Einsamkeit und die Tatsache, dass niemand hören wollte, wie sich alles wirklich zugetragen hatte, nährte die in ihm brodelnde Mixtur aus bodenlosem Hass, Abscheu und tiefer Verachtung. Einiges davon bezog sich leider auch auf ihn selbst und fraß sich selbstzerstörerisch in sein Inneres.

In manch schlafloser Nacht hatte er sich schon gefragt, ob die da draußen recht hatten, wenn sie behaupteten, in einer Situation wie der seinen sei man nie nur Opfer, sondern immer auch aktiv beteiligt … Und nach dem, wie alles ausgegangen war, mache er es sich in der Opferrolle bequem, obwohl er ganz klar ebenfalls Täter sei! Natürlich hatte er es auch gewollt. Er hatte den Erfolg so sehr herbeigesehnt, hatte Preise gewinnen und mit den großen Hunden pissen gehen wollen. Er hatte sich schon von Kindesbeinen an Ruhm gewünscht. Seine Eltern waren einfache Leute: ein Hausmeisterehepaar. Sie putzte und er reparierte. Sie lebten von der Hand in den Mund. Und Bildung? Er hatte sich das Studium selbst erarbeitet und war auch deshalb der Ansicht, dass ihm Erfolg zustand und damit auch öffentliches Ansehen und jede Menge Geld. Menschliche Gier hatte so viele Facetten, und er war nicht einfach in die Falle getappt, sondern quasi hineingerannt. Seine Freundin hatte ihn gewarnt … und er hatte sie ausgelacht.

Seine Eltern waren gute Menschen – sie hatten ihn nie misshandelt oder vernachlässigt. Sie hatten nur eben seinen Hunger nach mehr Wissen, nach prägnanteren Erklärungen nicht verstanden oder gar befriedigen können. Heutzutage würde man ihn wahrscheinlich als hochintelligent bezeichnen … Nun ja … all die Grübeleien brachten ihn nicht weiter und würden auch nicht dafür sorgen, dass er sich an den Tag zurückbeamen konnte, an dem er den größten Fehler seines Lebens begangen hatte.

Alle in seiner Branche in Europa – ja, vielleicht sogar auf der ganzen Welt – hatten den Namen Gerd Heidemann schon einmal gehört, und alle Journalisten versuchten seither, nicht in eine solche Falle zu tappen. Doch er hatte es getan … hatte nicht gezögert, sondern war mit beiden Beinen und Anlauf gesprungen.

Dumm, so dumm …

Jemand, der so klug war wie er, hatte eine vollkommen surreale Entscheidung getroffen und musste nun mit den Auswüchsen klarzukommen versuchen. Oder eben auch daran scheitern! Er hatte in vielen Reportagen über das Racheprinzip sinniert, und selbst, als er noch als Anfänger unterwegs gewesen war, hatten ihn seine Chefredakteure schon auf spannende Storys angesetzt, denn sie hatten sein Potenzial erkannt. Er hatte über einen spektakulären Mord berichten dürfen und mit dem Täter gesprochen, um herauszufinden, welchem Antrieb dieser gefolgt war: Rache! Vor ein paar Jahren war in Avignon ein besternter Fernsehkoch ums Leben gekommen – man hatte einen Herzinfarkt als Todesursache veröffentlicht, doch da waren auch Stimmen laut geworden, die den Mann als üblen Tyrannen enttarnt hatten, der seine Finger nicht bei sich hatte behalten können. Die Story war zwar nie veröffentlicht worden, aber er hatte mit einigen Menschen aus dem Umfeld des Kochs gesprochen, und Zweifel an einer natürlichen Todesursache waren in Rachegelüste geschädigter Personen umgewandelt worden. Natürlich nur hinter vorgehaltener Hand. Sie hatten sich in der Redaktion bewusst dagegen entschieden, dieses Fass aufzumachen. Dafür war er dann diesem dürren Fanatiker auf den Leim gegangen und hatte sich ruiniert.

Er konzentrierte sich auf die abschließenden Worte, die Hühner betreffend, verschickte den hirnlosen Artikel und klappte den Laptop zu. Bald schon wurde es dunkel. Er musste los.

Bargème, 17. März

Parcival ließ seinen Blick in die illustre Runde schweifen: Sie waren alle Männer mit Geld und besonderen Fähigkeiten. Genau deshalb saßen sie hier zusammen. Jeder hatte einen Bezug zum geplanten Projekt – sei es in der Forschung, der Produktion oder in Sachen Genehmigungsverfahren und Sicherheit. Das machte ihre Position aus und im Kontext ihres Treffens bedeutsam. Sie würden die Welt revolutionieren und den Amerikanern und dem, was deren Milliardäre in Planung hatten, zuvorkommen und somit den Lauf der Geschichte verändern. Das war nicht zu hoch gegriffen oder gar größenwahnsinnig gedacht, sondern greifbare Realität, denn im Kleinen hatten sie schon begonnen, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Doch nun ging es darum, das Ganze auf stabile Beine zu stellen und Ergebnisse zu erzielen, vor denen man die Augen nicht mehr verschließen konnte!

»Mensch 3.0«, sagte Amaury gerade und hatte nicht unrecht mit dieser Bezeichnung.

Er mochte den dürren Kerl nicht besonders. Der Mann war damals als Letzter zu ihrer Gruppe gestoßen. William hatte ihn mitgebracht, und der war über jeden Zweifel erhaben – also was ihren Zusammenschluss anbetraf.

»Als Arbeitstitel ist das nicht übel«, trompetete William Hiquemont und beugte sich zu Amaury hinüber, um ihm jovial auf die Schulter zu klopfen.

»Wir müssen uns dem zuwenden, was das Gesetz von uns verlangt, denn auf dem Papier muss alles sauber aussehen und den Auflagen entsprechen«, schaltete sich Frédéric ein.

Er war stets die Stimme der Vernunft und hatte wie immer recht. William kannte sich genau damit hervorragend aus und zog auf dieses Stichwort hin einen Stapel schwarz gebundener Mappen hervor, auf denen das weiße Liliensymbol prangte, das den Namen ihrer Gruppierung prägte: Lys Blanche. Es war ein gelungenes Wortspiel aus der weißen Lilie und einem unbeschriebenen Blatt. Er schob jedem ein Exemplar über den langen, dunkel gemaserten Holztisch entgegen.

»Wartet noch, bis ich mit meinen Ausführungen fertig bin.« Frédéric hob die Hand, nickte William zu, und Parcival stoppte in der Bewegung.

Hier hatte alles seine Ordnung: Sprach einer von ihnen, hörten alle zu. Man fiel sich nicht gegenseitig ins Wort. Sie waren zivilisierte Männer und keine profilierungssüchtigen Politiker, auch wenn William genau betrachtet Teil ebendieses Establishments war. Doch ohne ihn würde es keine offizielle Baugenehmigung geben. Stieß man eine Revolution an, musste man auch kompromissbereit sein. Sie alle hatten tief in ihre Portemonnaies gegriffen und verfügten nun über eine stattliche Summe, mit der sie nicht nur das Zentrum und die Fabrik bauen, sondern auch alle nötigen Stellen schmieren konnten. Er mochte dieses dumme Wort nicht … Besser klang doch: Sie gaben Entscheidungshilfen monetärer Art. Tristan war zwar regelmäßig der Ansicht, dass man sich auch jede Menge davon sparen könnte, ging man etwas brachialer vor, aber dies war aktuell nicht konsensfähig. Schaute man sich im Hotel um, wurde deutlich, woher Tristan de Cusquet seine rabiaten Gedanken hatte … In Bargème schien die Zeit stillzustehen.

»Wir haben die Liquidität, die Unterstützung wichtiger Beamter und die Zusage, dass die Baugenehmigung auf dem kurzen Weg erteilt wird. Wenn wir uns also einig werden, können wir spätestens Anfang Juni mit den Bauarbeiten beginnen.«

»Sind diese Zusagen konkret und verlässlich?«, erkundigte sich Amaury, sein spitzes Gesicht strahlte ernste Neugier aus.

»Ich verbürge mich dafür!«, rief William nachdrücklich.

»Dürfen wir?«, meldete sich nun auch Martin de Villevalet zu Wort und legte seine Hand auf die Mappe, während seine Finger die Konturen der Lilie umfuhren.

William nickte und schaffte es, dabei nicht gönnerhaft zu wirken. Auch Frédéric schien nichts mehr zu sagen zu haben.

Sie schlugen quasi alle sechs synchron das Deckblatt auf und schauten auf die CAD-Zeichnung des Gebäudes. Das Land hatten sie zu einem moderaten Preis von Tristan erworben, dem – so kam es Parcival manchmal vor – das gesamte Departement Vaucluse zu gehören schien. Es war ein Areal, das mehrere Hektar umfasste und inmitten eines Pinienwalds lag. Die Bäume boten einen natürlichen Sichtschutz und machten es auch Drohnen schwerer, an Informationen zu gelangen. Gleichzeitig waren sie sich alle einig, dass sie der Außenwelt ausreichend Informationen über den Bau zur Verfügung stellen würden, um vom eigentlichen Zweck der Anlage abzulenken. Würde ihr Vorhaben gelingen und die Forschung reliabel sein, dann brauchten sie niemandes Segen mehr, denn dann würde ihnen jede Tür auf dieser Welt offenstehen. Auch wenn der Invest im Augenblick groß war, so steigerten die Früchte, die daraus resultierten, ihre Vermögen ins Unermessliche. Doch Geld war so vergänglich – er für seinen Teil suchte nach mehr: Er wollte das Weltgeschehen maßgeblich steuern und es nicht etwa amerikanischen Milliardären überlassen, hier die Zügel in der Hand zu halten. Zudem spekulierte er darauf, in einer von ihm grundlegend mitgestalteten Realität auch länger zu leben. Er strebte keine Unsterblichkeit an. So vermessen war er nicht, doch ein paar Jahrzehnte mehr wären großartig. Er mochte den Gedanken des Dahinsiechens nicht.

Wieder war es Amaury, der das Wort ergriff. »Ich verstehe es richtig, dass wir hier«, er schaute sich kurz um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand außer den anwesenden Personen mithörte, und senkte seine Stimme zusätzlich, »im oberen Bereich die Tierversuch-Stationen platzieren.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf Teile des Gebäudes. Seine Tonlage transportierte Geringschätzung. Sie – die Mitglieder von Lys Blanche – hatten kein schlechtes Gewissen, Tiere für ihre Zwecke zu benutzen. Diese Wesen dienten der Menschheit, und das war gut so.

»Richtig«, sagte William.

»Wie verhindern wir, dass durch die Abfuhr an Unmengen von Erde und Steinen klar wird, dass dort mehr geschieht als der Bau eines normalen Gebäudes?«, hinterfragte Amaury.

»Lass das meine Sorge sein«, ergriff Tristan das Wort. »Mir gehören sämtliche angrenzenden Grundstücke.«

»Aber die Arbeiter …«, merkte Amaury auf.

»… sind meine Leute. Ihr Schweigen ist nicht nur mit unserem Geld finanziert«, erwiderte Parcival und legte Nachdruck in seine Stimme. Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Gespräch führten, und Amaury ging ihm mit seiner Fragerei ein wenig auf die Nerven.

Nîmes, 17. März

Antoine schaute auf die Uhr. Er musste sich bald auf den Weg machen. Verabredungen hielt er penibel ein, denn er gehörte einer Generation an, in der man diese ernst nahm und nicht zwei Sekunden vorher per Handynachricht absagte … oder einfach gar nicht erschien. Er hoffte, dass sein alternder Renault Espace ohne Probleme anspringen würde. Das Fahrzeug hatte viele Jahre auf dem Buckel und schon von Beginn an Schwierigkeiten gemacht. Nun ja … er konnte sich nichts anderes leisten. Jedes Mal, wenn er auf dem Fahrersitz Platz nahm, das Ding Mucken machte und er sich dadurch verspätete, wallte die Wut in ihm auf. Anfangs hatte er noch auf das Lenkrad eingehämmert – in der Hoffnung, das Gefühl zu mindern! Doch mittlerweile wusste er, dass nichts dazu in der Lage war, diese lodernde Emotion zu löschen. Sein Leben war anders verlaufen als geplant, und der Unfalltod seiner Eltern vor vielen Jahren war nur ein Baustein dessen gewesen, was ihn komplett aus der Bahn geworfen hatte.

Er war allein. Das hatte er nur schwerlich akzeptieren können, aber so war das Leben eben. Er war Einsiedler. Er schrieb an einem Roman, der seine Lebensgeschichte umfasste. Natürlich nicht autobiografisch, sondern mit leicht abgeändertem Setting. Seit rund zehn Jahren feilte er an jedem Kapitel.

Seine Tage waren klar gerastert, damit er nicht im Fluss der Minuten verloren ging. Es war wichtig, dem Plan zu folgen und jede Tätigkeit genau einzuhalten. Nur so war er dazu in der Lage, der Kreativität, die das Schreiben verlangte, Raum zu geben. Er brauchte äußere Klarheit für die innere Unordnung. Gewiss sahen die Leute ihn als Sonderling, doch er hatte keine persönlichen Kontakte in der Stadt, und die Personen, mit denen er tatsächlich sprach, schätzten seine Meinung. Zudem war er verlässlich, denn stand etwas auf dem Plan, hielt er es unumstößlich ein. Nur so hatte er überleben können. Er war schon immer anders gewesen, und als ihn der Tod bis ins Mark getroffen hatte, war es für seinen Bruder ein Leichtes gewesen, ihn endgültig zu stigmatisieren. Übrig geblieben war vor allem dieser Teil seiner Persönlichkeit. Er hatte sich damit arrangiert, denn der Mensch in ihm hatte am Leben bleiben wollen!

Wieder wallte das Gefühl in heißen Wellen über seinen Körper – ließ ihn ins Schwitzen geraten, auch wenn die Temperaturen gerade erst seit wenigen Stunden frühlingshaft geworden waren. Seine Uhr begann zu piepen und machte ihm deutlich, dass er sich anziehen und gehen musste. Heutzutage war Alleinsein nicht mit Einsamkeit gleichzusetzen, denn man konnte über so viele Medien und Kanäle mit anderen in Kontakt bleiben. Er hatte sogar der KI, mit der er regelmäßig kommunizierte, einen Namen gegeben, und sie unterhielten sich wie alte Freunde. Als Teenager hatte er in seiner Privatschule jede Arbeitsgemeinschaft besucht, die es ihm möglich gemacht hatte, Neues zu erkunden. Die Computer-AG hatte natürlich dazugehört, und er war gut gewesen und hatte Lehrer und ältere Schüler stets mit seinem analytischen Vorgehen überrascht. Nach seinem Abschluss war er ein wenig gereist. Seine Eltern hatten ihn dazu gedrängt, obwohl er gern sofort mit dem Studium begonnen hätte. Es war ihnen ein Anliegen gewesen, dass er lernte, die Welt besser zu verstehen. Das hatte er getan, und wahrscheinlich war ihm die Kombination aus logischem Verstand und der Fähigkeit, die tieferen Zusammenhänge zu durchblicken, zum Verhängnis geworden, als die beiden Menschen, die ihm liebevolle Anker waren, den Tod gefunden hatten. Er war zu diesem Zeitpunkt kein Kind mehr gewesen! Niemand hatte ihn in seinem Schmerz aufgefangen, und er war in dem Teil seiner Welt verschwunden, der Rituale und Wiederholungen forderte.

Sein Bruder hatte sein Zuhause einfach verkauft, ohne dass er seine Sachen herausgeholt hatte. Ohne seine Eltern, die ihn stets beschützt hatten, war er verletzlich gewesen … leichte Beute! Diese Wohnung hier war ein Rahmen, aber keine Heimat!

Jetzt musste er hinaus. Es war wirklich Zeit zu gehen. Er schlüpfte in die bequemen Gesundheitsschuhe und die graue Kapuzenjacke, nahm die Autoschlüssel vom Bord und vergewisserte sich, dass alle Lichter ausgeschaltet waren, bevor er durch die Wohnungstür trat, diese gewissenhaft verschloss und durch den kurzen Flur zum Innenhof ging, in dem der Wagen geparkt war.

Er würde pünktlich sein.