Französische Sprachwissenschaft - Elissa Pustka - E-Book

Französische Sprachwissenschaft E-Book

Elissa Pustka

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Beschreibung

Dieses Buch begeistert: für die französische Sprache, für die Wissenschaft und für die Französische Sprachwissenschaft. Faszinierende aktuelle Themen wie Comic-Sprache, Bilinguismus und politische Rhetorik regen die Leser:innen an, selbst zu entdecken, wie Sprache funktioniert. Auf einer soliden wissenschaftstheoretischen Basis führt dieses Werk in die Theorien und Modelle der Variations- und Wandelforschung sowie des Sprachkontakts ein und behandelt aus dieser Perspektive Phonetik und Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik und Pragmatik, Sprachgeschichte und Varietäten. Es regt dazu an, Faktenwissen kritisch zu hinterfragen und selbst wissenschaftlich aktiv zu werden. Zahlreiche Abbildungen, Audio-Materialien und Aufgaben innerhalb der Kapitel aktivieren die Leser:innen durchgängig mit allen Sinnen und ermöglichen mit Hilfe von Online-Musterlösungen autonomes Lernen.

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Elissa Pustka

Französische Sprachwissenschaft

Eine Einführung

Prof. Dr. Elissa Pustka ist Professorin für Romanische Sprach- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien.

 

DOI: https://www.doi.org/10.24053/9783823394624

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0941-8105

ISBN 978-3-8233-8462-5 (Print)

ISBN 978-3-8233-0334-3 (ePub)

Inhalt

Pour AmélieVorwort1 Faszination Französisch1.1 Alltagsfranzösisch1.1.1 Gesprochene Sprache1.1.2 Langage texto1.1.3 Inszenierte Mündlichkeit1.2 Weltsprache Französisch1.2.1 L1, L2, Fremdsprache und offizielle Sprache1.2.2 Linguistic landscape2 Faszination Sprachwissenschaft2.1 Was ist Wissenschaft?2.1.1 Prinzipien der Wissenschaftlichkeit2.1.2 Wissenschaft als soziales System2.1.3 Wissenschaftliches Arbeiten2.2 Geschichte der Sprachwissenschaft2.2.1 Anfänge2.2.2 Frühe Neuzeit2.2.3 Das 19. Jahrhundert2.2.4 Das 20. und 21. Jahrhundert3 Sprachdynamik3.1 Was ist Sprache?3.1.1 Sprache als Zeichensystem3.1.2 Sprache als Ergebnis des Sprechens3.2 Funktionen des Sprechens3.2.1 Technische Kommunikation3.2.2 Sprachliche Kommunikation3.2.3 Natürliche Kommunikation3.2.4 Menschliche Kommunikation3.3 Wandel3.3.1 Innovation3.3.2 Diffusion3.3.3 Inflation3.4 Variation und Varietäten3.4.1 Sprache vs. Dialekt3.4.2 Dialekte und français régionaux3.4.3 Soziale und stilistische Variation3.4.4 Varietäten als kognitive Repräsentationen4 Sprachkontakt4.1 Individuum: Bilinguismus4.1.1 Konstellationen4.1.2 Sprachdominanz4.1.3 ‘Doppelte Halbsprachigkeit’4.1.4 L1-Erwerb vs. Fremdsprachenlernen4.2 Gesellschaft: Diglossie4.3 Sprechen: ‘Sprachmischungen’4.3.1 Code-Switching4.3.2 Entlehnung4.3.3 Interferenz bzw. negativer Transfer4.3.4 Substrat, Superstrat und Adstrat4.4 Sprache: ‘Mischsprachen’4.4.1 Pidgin: Lingua Franca4.4.2 Kreol: Guadeloupe-Kreol4.4.3 Mixed language: Michif5 Sprachgeschichte und -politik5.1 Von Rom zum Römischen Reich5.1.1 Gründung Roms5.1.2 Romanisierung Galliens5.1.3 Römisches Reich und Romania5.2 Das Vulgärlatein5.2.1 Definition5.2.2 Quellen5.2.3 Struktur5.3 Sprachkontakte in Gallien5.3.1 Kelten5.3.2 Germanen5.4 ‘Geburt’ des Französischen5.4.1 Konzil von Tours (813 n. Chr.)5.4.2 Straßburger Eide (842 n. Chr.)5.4.3 Koineisierung in Paris5.5 Verbreitung des Französischen in Frankreich und in der Welt5.5.1 Ordonnance de Villers-Cotterêts (1539)5.5.2 Französische Revolution5.5.3 Urbanisierung, Militärdienst, Schulpflicht5.5.4 Kolonisierung und Dekolonisierung6 Phonetik und Phonologie6.1 Phonetik6.1.1 Artikulation, Akustik und Perzeption6.1.2 Lautschrift und Transkription6.2 Phonologie6.2.1 Phonemsystem6.2.2 Phonologische Prozesse7 Morphologie7.1 Bausteine der Sprache7.1.1 Das Wort7.1.1 Morphem, Morph, Allomorph7.2 Wortbildung7.2.1 Typen7.2.2 Motiviertheit und Produktivität7.3 Flexion7.3.1 Deklination und Konjugation7.3.2 Wortarten7.3.3 Grammatische Kategorien7.4 Einfache vs. komplexe Sprachen7.4.1 Wissenschaftsgeschichte7.4.2 Aktuelle Diskussion8 Syntax8.1 Grundlagen der Grammatik8.1.1 Der Satz8.1.2 Konstituenten und ihre Funktionen8.2 Grammatiktheorien im Vergleich8.2.1 Generative Grammatik8.2.2 Gebrauchsbasierte Grammatik8.3 Charakteristika des gesprochenen Französisch8.3.1 Negation8.3.2 Subjektpronomina8.3.3 Fragekonstruktionen9 Semantik und Pragmatik9.1 Sprache und Denken9.1.1 Dinge, Konzepte, Bedeutungen9.1.2 Sapir-Whorf-Hypothese9.2 Semantische Theorien im Vergleich9.2.1 Strukturalistische Merkmalssemantik9.2.2 Kognitive Prototypensemantik9.3 Struktur des Wortschatzes9.3.1 Horizontale Relationen9.3.2 Taxonomien und basic level9.4 Metapher und Metonymie9.5 Manipulation9.5.1 Familienmetaphern in der US-Politik9.5.2 Newspeak in George Orwells Dystopie 19849.5.3 Gleichberechtigung durch Sprache?10 Variation und Varietäten10.1 Regionale Varietäten10.1.1 Südfranzösisch10.1.2 Québécois10.2 Sozio-stilistische Variation10.2.1 Français populaire10.2.2 Jugendsprache10.3 Die Frage der Norm(en)10.3.1 Geschichte der Normierung10.3.2 Plurizentrik?BibliographieAbbildungsverzeichnis

Pour Amélie

Vorwort

Ist ein Lehrbuch noch zeitgemäß in Zeiten von YouTube-Tutorials, Podcasts und MOOCs (Massive Open Online Courses)? Wer nur liest, lernt weniger als wer auch zuhört, spricht und schreibt, nachdenkt, sich mit anderen austauscht und – vor allem – selbst forscht, unterrichtet und in der Praxis ausprobiert. Den größten Erfolg verspricht Lernen mit allen Sinnen und eine Kombination verschiedener Aktivitäten. Hierfür bleiben Lehrbücher zentral. Sie führen Anfänger*innen durch den Dschungel einer ihnen noch unbekannten wissenschaftlichen Disziplin, liefern einen ersten Überblick und schaffen Orientierung.

Aber ist ein Lehrbuch nicht ein Nürnberger Trichter, der nur Wissen in die Lernenden stopft? Nein! Ein Lehrbuch ist kein abgelesener Frontalunterricht ohne Ton. Lesen ist ein aktiver Prozess. Und Lesen aktiviert: Es ist anstrengend, es berührt, es bringt uns zum Lachen. Ein Buch verführt erst gar nicht zur Illusion, man könne durch ‘Berieselung’ ganz bequem schlauer werden. Der enorme Vorteil eines Lehrbuchs ist: Es ermöglicht differenziertes individualisiertes Lernen. Je nach Vorwissen, Interessen und Zielen kann man ein Buch von vorne bis hinten durcharbeiten oder nur einzelne Kapitel lesen, es zunächst einmal überfliegen oder in Ruhe darin schmökern, vor- und zurückspringen, Absätze bei Bedarf immer wieder lesen und dabei sein eigenes Tempo finden. Während eindimensionale Lautketten zum einen Ohr rein und zum anderen wieder herausgehen und Hin- und Herspulen in Audio- und Videomaterial mühsam ist, führen uns Texte und Graphiken mehrdimensional vor Augen, worum es geht. Es entstehen Bilder im Kopf – eine wunderbare Merkhilfe. Doch wo bleibt die Vermittlung von Kompetenzen, mit denen man sich in einer sich ständig verändernden Welt zurechtfinden kann, wo bleiben eigene Analysen und Bewertungen von Zusammenhängen? Lehrbücher bemühen sich schon lange, mit Übungsaufgaben ihre Leser*innen in unterschiedlichen Wissensdimensionen zu aktivieren. Musterlösungen ermöglichen es ihnen, durch Feedback aus ihren Fehlern zu lernen.

Das didaktische Konzept dieser neuen Einführung ist, seine Leser*innen ausgehend von ihrem Vorwissen induktiv an die französische Sprachwissenschaft heranzuführen. Das Buch ist spiralförmig aufgebaut: Es führt Beschreibungen und Begriffe in kleinen Häppchen ein und ordnet sie erst einmal in die großen Zusammenhänge ein, um sie später im Detail zu vertiefen. Die Aufgaben befinden sich nicht am Ende der Kapitel (wo sie oft weggelassen werden), sondern Fragen zum Nachdenken und kleine Übungen (mit Audio-Materialien und Musterlösungen zum Download unter www.meta.narr.de/9783823384625/Zusatzmaterial.zip) aktivieren die Leser*innen an den entscheidenden Stellen zwischendrin – wie im Präsenzunterricht.

Inhaltlich ist weniger mehr. Diese Einführung soll vor allem eines: motivieren – für die französische Sprache, für die Wissenschaft und für die französische Sprachwissenschaft. Faszinierende aktuelle Themen wie Comic-Sprache, Mehrsprachigkeit und politische Rhetorik regen die Leser*innen an, selbst zu entdecken, wie Sprachlaute, Grammatik und Bedeutung funktionieren. Daneben enthält das Buch zahlreiche Tipps für populärwissenschaftliche Podcasts, Filme und Spiele. So kann man das Gelernte auch mit Personen teilen, die nicht Französisch studieren und sich mit ihnen darüber austauschen. Wer die vorgestellten Teilgebiete vertiefen möchte, sei auf die darauf jeweils spezialisierten Einführungsbücher verwiesen (z. B. PUSTKA22016 für die Phonologie, KAISER 2020 für die Syntax). Während die Anzahl der Fachbegriffe in diesem Buch auf diejenigen begrenzt ist, die in der aktuellen Forschung auch wirklich relevant sind, spart es nicht daran, Zusammenhänge zu anderen Sprachen (insbesondere Deutsch und Englisch) und wissenschaftlichen Disziplinen (jenseits der Französistik und der Romanistik) herzustellen. Französisch-Student*innen dürfen sich von Anfang an umfassend sprachwissenschaftlich bilden!

Auch wenn Wissenschaft nach Objektivität strebt, ist die Auswahl der Themen für ein Einführungsbuch nie neutral. Dieses Buch ist auf Basis meiner persönlichen Erfahrungen nach 23 Jahren an der Universität geschrieben. Es liefert keinen Überblick über sämtliche Theorien und Methoden, Forschungs- und Anwendungsfelder; es nimmt vielmehr die Perspektive der kognitiven (Varietäten-)Linguistik ein. Dabei ist es mir besonders wichtig, die französische Sprachwissenschaft auf ein solides wissenschaftstheoretisches Fundament zu stellen. In der Wissenschaft geht es nicht um Fakten, die richtig oder falsch sind, sondern darum zu verstehen, wie Wissen entsteht. Die Leser*innen lernen Ergebnisse von Forschung kritisch zu hinterfragen und durch eigene Forschung selbst neues Wissen zu produzieren.

Dieses Buch ist Ergebnis meines eigenen Studiums und meiner Lehrerfahrung, meiner Lektüren, Forschungsaktivitäten und Diskussionen mit vielen Kolleg*innen und Student*innen, die mich geprägt und inspiriert haben. Ihnen allen sei an dieser Stelle gedankt! Bei der Erstellung des Manuskripts und beim Korrekturlesen haben mich Cornelia Arbeithuber, Helga Auer, Linda Bäumler, Patricia de Crignis, Christoph Gabriel, Elisabeth Heiszenberger, Georg Kaiser, Thomas Krefeld, Eva Remberger, Barbara Tiefenbacher und Verena Weiland unterstützt. Herzlichen Dank dafür!

Und wie immer – Daniel, Linus, Jonas und Amélie – Danke für die Inspiration!

1Faszination Französisch

Romantisch und unbezwingbar – dem Klischee nach schreckt ein Labyrinth von Regeln und Ausnahmen Schüler*innen davor ab, Französisch zu lernen. Gleichzeitig zieht sie eine sanfte Melodie an, die die Wörter elegant aneinanderbindet. Die französische Sprachwissenschaft blickt hinter die Kulissen dieser faszinierenden Sprache: Sie beschreibt ganz genau, zwischen welchen Wörtern die liaison stattfindet und erklärt, warum auch native speaker schon seit Jahrhunderten Probleme mit dem accord haben. Während Schulbücher Sprache zu einem begreifbaren Gegenstand vereinfachen, taucht die Wissenschaft ein in das pulsierende Treiben hinter der starren Fassade. Die elitäre Schriftsprache der Literatur interessiert dabei nur am Rande; im Zentrum steht, wie Menschen im Alltag miteinander sprechen. Wir wagen daher mit diesem ersten Kapitel den Sprung ins kalte Wasser und schauen uns dieses Ihnen vielleicht noch unbekannte Alltagsfranzösisch an, das Hauptgegenstand der Sprachwissenschaft ist (Kapitel 1.1). Natürlich wird es nicht nur in Frankreich gesprochen, geschrieben, gehört und gelesen, sondern in der ganzen Welt. Entsprechend stellt Kapitel 1.2 vor, wer wo und wie Französisch als Erstsprache (L1), Zweitsprache (L2) und Fremdsprache erwirbt und lernt.

1.1Alltagsfranzösisch

[ʃpɔmwa], <chépa>, je ne sais pas: Das Französische hat viele Gesichter. Während man im Französischunterricht je ne sais pas lernt, finden Sprachwissenschaftler*innen [ʃpɔmwa] und <chépa> interessanter. Dementsprechend geht es im Linguistik-Studium an der Universität weniger darum, was korrekt ist, sondern mehr um die Frage, wie man wirklich spricht und schreibt – also um authentische Sprache. Während Sie bislang im Fremdsprachenunterricht gelernt haben, wie man Französisch sprechen und schreiben sollte, ist für die Sprachwissenschaft besonders spannend, was von der Norm abweicht.

Im Fall von <chépa> und [ʃpɔmwa] sind das gleich eine ganze Reihe von Phänomenen. Ausgehend von der Standardform je ne sais pas [ʒənəsɛpa] kommt man wie folgt zu den Varianten der Alltagssprache:

Die Negationspartikel ne (< lat. non ‘nicht’) fällt im gesprochenen Französisch schon seit Jahrhunderten weg.

In der Verbalphrase je sais [ʒəsɛ], die man häufig [ʒəse] ausspricht, fällt das Schwa [ə] weg: [ʒse]. Das stimmhafte [ʒ] gleicht sich anschließend an das stimmlose [s] an, das verschwindet: [ʃe]. In Chats und Comics findet sich entsprechend die Schreibung <ché>.

pas sprechen viele mit [ɔ] statt [a] aus. In Comics findet man daher auch die Schreibung <pô>.

je sais pas [ʃepɔ] lässt sich zu [ʃpɔ] verkürzen.

Das Personalpronomen je lässt sich schließlich noch durch moi verstärken.

Die große Herausforderung der Sprachwissenschaft ist, diese Dynamik in all ihren Dimensionen zu verstehen. So fällt das ne etwa nach Pronomina wie je öfters weg als nach Nominalphrasen wie mon frère (dazu mehr in Kapitel 8.3.1). Zudem findet sich die Aussprache von pas als [pɔ] besonders häufig im français populaire und im québécois (vgl. Kapitel 10.2.1 und 10.1.2). Um herauszufinden, wer wann wie spricht, reicht Intuition nicht aus, denn vieles davon läuft unbewusst ab und oft macht die Frequenz den Unterschied. Die Sprachwissenschaft sammelt daher große Mengen von Sprachdaten, bereitet diese digital auf und analysiert sie statistisch (vgl. Kapitel 2.1.1). Ein Forschungsgegenstand unter vielen kann natürlich auch das korrekte Französisch sein. So untersucht man etwa sprachsoziologisch und -politisch, warum sogar viele Franzosen und Französinnen in Bezug auf die Norm verunsichert sind und wie die Kanadier*innen ihr eigenes Standardfranzösisch entwickeln (vgl. Kapitel 10.3.2).

1.1.1Gesprochene Sprache

Seitdem die Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert eine eigene Universitätsdisziplin geworden ist, gibt sie – zumindest theoretisch – der Mündlichkeit den Vorrang (zur Geschichte der Sprachwissenschaft vgl. Kapitel 2.2).

Das Primat der gesprochenen Sprache

Ein deutliches Bekenntnis zum sogenannten Primat der gesprochenen Sprache (d. h. Vorrang gegenüber der geschriebenen Sprache) findet sich im Cours de Linguistique Générale des Schweizers Ferdinand de Saussure (1857–1913):

Langue et écriture sont deux systèmes de signes distincts ; l’unique raison d’être du second est de représenter le premier ; l’objet linguistique n’est pas défini par la combinaison du mot écrit et du mot parlé ; ce dernier constitue à lui seul cet objet. (CLG1: 30)

Für dieses Primat der gesprochenen Sprache gibt es zwei Gründe. Erstens ist die gesprochene Sprache phylogenetisch älter als die geschriebene Sprache: Während Menschen bereits seit mindestens 40000 Jahren sprechen, schreiben sie erst seit ca. 7300 Jahren. Zweitens ist die gesprochene Sprache auch ontogenetisch primär: Alle Menschen lernen zunächst – schnell, mühelos und perfekt – sprechen (vgl. Kapitel 4.1) und erst in der Schule schreiben: langsam, mühsam, fehlerhaft – wenn überhaupt. Selbst in Deutschland gibt es schätzungsweise 15 bis 20 % funktionale Analphabet*innen2 (DOHMEN 2019: 40). Von Schrift unberührte Kulturen existieren allerdings heute nicht mehr: Der Coca Cola-Schriftzug ist auf der ganzen Welt bekannt.

Wie sieht gesprochenes Französisch aus?

Auch wenn wir täglich Sprache(n) sprechen und hören, ist den meisten Menschen nicht bewusst, was gesprochene Sprache ausmacht. Im Alltag achten wir nicht darauf. Daher bringt das Sprachwissenschaftsstudium viele Überraschungen mit sich, die Sie den Alltag mit einer ganz neuen Aufmerksamkeit erleben lassen werden! Ein Beispiel für französische Spontansprache liefert die Audio-Datei ‘Paris-Province’, die Sie unter www.meta.narr.de/9783823384625/Zusatzmaterial.zip herunterladen und anhören können. Die orthographische Transkription des Interviewausschnitts ist im folgenden Kasten abgedruckt.

Interview mit einer Brasserie-Besitzerin in Paris (*1961)

 

E : Et pour vous, quelles sont les différences de mentalité les plus importantes entre les Aveyronnais et les Parisiens ?

 

L : (…) C’est surtout euh, ben, moi je vais dans ma, dans la, dans ma belle-famille euh, les enfants, c’est comme les lapins et les poulets. On les nourrit, on leur change la cage régulièrement, donc euh la couche, mais pour le reste, pour ce qui est de jouer avec eux, de, de, de leur faire faire les devoirs, de leur euh, de les inscrire à la danse, au judo euh, de les emmener à Pétaouchnock pour faire ou pour voir tel musée ou telle euh, c’est du superflu, c’est du, c’est un truc de Parisien. <E : Hum, hum.> C’est un truc de Parisien. (…) Et puis bon, il y a des choses moi qui me, qui m’horripilent, mais qui me choquent aussi, c’est le, les garçons sont complètement euh, on se croirait retourné cinquante ans en arrière quoi. Les garçons, c’est euh ‘Ne touche pas à la vaisselle !’, on leur sort le, leur petit linge, euh, mais alors quand moi mes belles-sœurs me voient parler à mon fils euh ‘Maman, tu as pas vu mes basquets ?’ ‘Ben, tu te les cherches, elles sont où tu les as trou/, où tu les as posés.’, elles me regardent avec des grands yeux euh. (…) C’est, bon euh, des choses, bon, peut-être parce que j’ai trois enfants et que je travaille, j’ai, je suis plus rigide sur certaines choses, mais euh.

(Korpus PUSTKA; PFC-Code 75wcn1; vgl. PUSTKA2007)

Hier besteht kein Zweifel: Es handelt sich ganz eindeutig um gesprochenes Französisch. Insbesondere finden wir die Negation ohne ne wieder („tu as pas vu“ in der Transkription oben) sowie die Verstärkung von je durch moi („moi je vais“). Daneben springen einem in der Transkription eine Reihe von Wörtern ins Auge, die man in schriftlichen Texten nicht gewohnt ist: bon, ben, quoi. In der Mündlichkeit strukturieren diese den Diskurs, da man ja ‘ohne Punkt und Komma’ redet. Beim Anhören des Tondokuments fällt außerdem auf, dass die Sprecherin oft zögert, sei es durch Dehnungen der Vokale, Pausen oder euh. Manchmal bricht sie ihre Sätze ganz ab, korrigiert sich selbst und setzt wieder neu an (z. B. „C’est surtout euh, ben, moi je vais…“). Daran erkennt man, dass das Gesprochene ganz spontan aus ihr ‘heraussprudelt’.

In anderen Fällen ist die Einordnung der Kommunikationssituation und der Sprache dagegen nicht eindeutig. Überlegen Sie selbst!

À vous !

Wie würden Sie eine Vorlesung an der Universität oder eine Rede im Parlament einordnen? Hören wir dort eher gesprochene oder geschriebene Sprache? Inwiefern?

Medium und Konzeption

Vorlesungen und Parlamentsreden werden von Mund zu Ohr übermittelt. Sie sind also eigentlich mündlich. Dennoch wirken sie irgendwie ‘schriftlicher’ als Alltagssprache, selbst wenn sie weder abgelesen noch auswendig gelernt sind. Diese Beispiele zeigen uns, dass die Begriffe gesprochen und geschrieben zweideutig sind. Sie bezeichnen zum einen das Medium, das durch eine einfache Dichotomie (Zweiteilung) charakterisiert ist: Phonie vs. Graphie. Hier ist ganz einfach zu bestimmen, ob Sprache über Schallwellen von Sprecher*innen zu Hörer*innen gelangt (phonisch) oder ob Schreiber*innen sich in Textform – sei es auf Papier oder dem Smartphone-Bildschirm – an Leser*innen wenden (graphisch). Ein alltägliches Gespräch unter Freund*innen und eine Rede im Parlament sind beide eindeutig phonisch, ein Chat und ein Verwaltungsformular ganz eindeutig graphisch. Daneben bezieht sich die Opposition zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit aber auch auf die Konzeption. Hier ist die Einordnung nicht ganz so einfach, denn zwischen dem Pol der kommunikativen Nähe und dem Pol der kommunikativen Distanz besteht ein Kontinuum. Nähe bedeutet dabei neben physischer Nähe (face-to-face-Kommunikation) auch psychische Nähe (Vertrautheit). So stellt ein Gespräch unter Freund*innen einen Extremfall von Nähesprache dar, ein Verwaltungsformular einen Extremfall von Distanzsprache; Vorlesungen und Parlamentsreden dagegen können sich an unterschiedlichen Punkten dazwischen ansiedeln.

Das Schema in Tab. 1.1 bildet dies ab, indem der Strich zwischen phonischem und graphischem Medium durchgezogen ist, der zwischen Nähe- und Distanzkonzeption dagegen nur gestrichelt.

 

Konzeption

 

Nähe

Distanz

Medium

phonisch

Alltagsgespräch:

[ʃpɔmwa]

Rede:

[ʒənəsɛpa]

graphisch

Chat:

<chépa>

Verwaltungsformular:

<je ne sais pas>

Tab. 1.1:

Gesprochenes und geschriebenes Französisch (in Anlehnung an SÖLL [1974] (31985) und KOCH/OESTERREICHER [1990] 22011).

In diesem Vierfelderschema sind grundsätzlich alle Kombinationen möglich. Allerdings kommen einige häufiger vor als andere. So bestehen ganz klar Affinitäten zwischen dem phonischen Medium und der Nähekonzeption (z. B. Alltagsgespräch) und dem graphischen Medium und der Distanzkonzeption (z. B. Verwaltungsformular). Zur Verdeutlichung sind diese beiden Kästchen in Tab. 1.1 dunkler hinterlegt als die anderen beiden. Die zwei übrigen Kombinationen sind seltener, aber ebenfalls möglich. Dies zeigt allein schon die Möglichkeit des Medienwechsels: Jedes Gespräch lässt sich transkribieren und jeden Text kann man laut vorlesen. Manche Texte sind sogar aus mündlichen Erzählungen entstanden, zum Beispiel die Volksmärchen von Charles Perrault oder der Gebrüder Grimm. Andere wiederum werden speziell geschrieben, um vorgelesen zu werden, insbesondere Kinderbücher. Zudem können einige Menschen (speziell manche Professor*innen und Politiker*innen) auch ohne Manuskript ‘sprechen wie gedruckt’ – was Student*innen und Journalist*innen das Mitschreiben erleichtern kann. Letzten Endes lässt sich Mündlichkeit auch inszenieren, beispielsweise im Comic (vgl. Kapitel 1.1.3).

Auch wenn die Idee der Nähe- und Distanzsprache sehr intuitiv ist, so müssen in der Wissenschaft subjektiv ‘gefühlte’ Kategorien intersubjektiv nachvollziehbar gemacht werden. Dazu dienen sowohl sprachexterne als auch sprachinterne Kriterien. Sprachextern sind dies die „Kommunikationsbedingungen“ (KOCH/OESTERREICHER22011: 6), d. h. die Charakteristika der Situationen kommunikativer Nähe und Distanz, und sprachintern die „Versprachlichungsstrategien“ (KOCH/OESTERREICHER22011: 6), mit denen Nähe- und Distanzsprache produziert wird. Beides sehen wir uns im Folgenden genauer an.

Situationen zwischen Nähe und Distanz

Tab. 1.2 gibt einen Überblick über die wichtigsten Kriterien zur Definition von Kommunikationssituationen:

Nähe

Distanz

Dialog

Monolog

Vertrautheit

Fremdheit

Emotionalität

keine Emotionalität

Situations- und Handlungseinbindung

Situations- und Handlungsentbindung

face-to-face

raum-zeitliche Trennung

freie Themenentwicklung

Themenfixierung

Privatheit

Öffentlichkeit

Spontanität

Reflektiertheit

Tab. 1.2:

Kriterien von Nähe- und Distanzsituationen (vgl. KOCH/OESTERREICHER22011).

Mit Hilfe dieser Kriterien können Kommunikationssituationen genauer bestimmt werden. So lässt sich beispielsweise eine Rede im Parlament wie folgt definieren:

Nähe-/Distanzprofil einer Rede im Parlament

Monolog, evtl. z. T. Dialog aus Rede, Zwischenrufen und Reaktionen darauf;

Vertrautheit z. T. mit den anderen Parlamentarier*innen und Zuschauer*innen, aber Fremdheit eines Großteils des Fernsehpublikums und der Zeitungsleser*innen;

Emotionalität: je nach Thema unterschiedlich;

Situations- und Handlungseinbindung: meist ohne;

face-to-face mit dem Präsenzpublikum, dagegen nicht über die Massenmedien;

Themenfixierung, evtl. mit spontanen Ergänzungen;

Öffentlichkeit über die Massenmedien, aber eingeschränkter Kreis vor Ort;

Reflektiertheit der (schriftlich vorbereiteten) Rede, aber auch spontane Ergänzungen.

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass das Kontinuum zwischen Nähe und Distanz mehrdimensional ist. Fälle in der Mitte des Kontinuums können daher nicht pauschal als näher oder entfernter vom Nähe- bzw. Distanzpol eingeordnet werden. Sie sind dies möglicherweise in Bezug auf eines der Kriterien, aber nicht in Bezug auf andere. So kann beispielsweise eine Rede im Parlament sehr emotional sein, obwohl sie öffentlich ist, ein Chat mit dem Kundenservice der Bank rein sachlich, aber gleichzeitig höchst vertraulich. Außerdem ist jede Parlamentsrede verschieden, und auch innerhalb derselben Rede kann sich die Situation immer wieder ändern. Nähesprache im engeren Sinne definiert KREFELD (2015) daher nur über das folgende zentrale Merkmal: face-to-face-Situation ohne Zuhilfenahme technischer Medien.

Merkmale gesprochener Sprache

Die Verteilung der sprachinternen Charakteristika gesprochener und geschriebener Sprache ist ebenfalls vielschichtig. Der Sprachvergleich zeigt, dass sich eine Reihe von Merkmalen in allen Sprachen der Welt wiederfinden. Diese universellen Merkmale der Nähe- und Distanzsprache lassen sich aus den Kommunikationsbedingungen ableiten. Nähekommunikation findet parallel auf zahlreichen Kanälen statt: neben der Sprache auch durch Gestik und Mimik, den situativen Kontext und geteiltes Wissen. Dagegen ist Distanzkommunikation oft auf die Sprache beschränkt. Aus diesem Grund ist Distanzsprache präziser in der Wortwahl, komplexer in der Syntax und deutlicher in der Phonologie. In der Nähesprache reichen oft sogenannte passe partout-Wörter aus (die so heißen, weil man sie für alles mögliche einsetzen kann), z. B. fr. truc, machin, mec, Aneinanderreihungen von Hauptsätzen und eine reduzierte Aussprache. Im Französischen sind Formen wie <chépa> [ʃpɔ] für je ne sais pas (s. o.), <quat’> [kat] für quatre oder <t’as> [ta] für tu as allerdings komplexeren einzelsprachlichen Regelmäßigkeiten unterworfen (vgl. Kapitel 6.2.2). Zusätzlich finden sich in der Nähesprache viele Deiktika, mit denen man direkt auf die Umgebung zeigen kann: ici, là-bas, celui-ci, celui-là etc.

Da Nähesprache im Gegensatz zu Distanzsprache nicht sorgfältig vorbereitet und korrigiert ist, sondern spontan produziert wird, erscheint sie – wenn man sie als Transkription vorliegen hat – oft chaotisch, provisorisch, bruchstückhaft oder sogar falsch: Man findet hier Häsitationsphänomene wie leere und gefüllte Pausen (euh), Dehnungen und Wiederholungen, abgebrochene Sätze, Selbstkorrekturen (eingeleitet durch enfin, bon etc.) und Unsicherheitsbekundungen (z. B. durch je sais pas, je veux dire). Im Alltag fällt uns das aber gar nicht auf. Denn ganz so chaotisch ist die Nähesprache auch nicht: Statt mit Punkt und Komma ist sie durch Gliederungssignale strukturiert. Das sind Öffnungssignale wie et und alors und Schließungssignale wie hein und quoi. Zu ihrem auf den ersten Blick chaotisch wirkenden Satzbau gehören auch die sogenannten Rechts- und Linksversetzungen, d. h. Abweichungen von der üblichen Subjekt-Verb-Objekt-Reihenfolge. So findet man statt Le chat mange la souris eher il mange la souris, le chat oder le chat, il mange la souris.

À vous !

Welche sprachlichen Gliederungssignale (connecteurs) der französischen Distanzsprache kennen Sie? Wie leitet man einen Gedanken ein, wie fügt man einen hinzu, wie schließt man ab und wie stellt man Parallelen her? Erstellen Sie eine Vokabelliste, die Ihnen beim Verfassen französischer Texte hilft!

Da Nähesprache typischerweise im Dialog vorkommt, finden sich hier auch Kontaktsignale von Sprecher*in (z. B. hein, tu sais, tu vois, écoute) und Hörer*in (z. B. hum, d’accord, tiens).

Das Kriterium der Emotionalität kann sich schließlich unterschiedlich niederschlagen. Einerseits machen Emotionen sprachlos bzw. drücken sich in sprachlich marginalen Interjektionen aus, wie beurk ! für Ekel und aïe ! für Schmerz. Zu dieser direkten Ausdrucksweise gehören auch die Onomatopoetika (‘Lautmalereien’), z. B. crac, boum. Auf der anderen Seite lassen sich durch besonders aufwändige Versprachlichungsstrategien Emotionen bei den Hörer*innen wecken, u. a. durch Metaphern und Übertreibungen (vgl. Kapitel 9.4). Beim mündlichen Erzählen sorgen außerdem das Präsens und die direkte Rede für Lebendigkeit (z. B. « ‘Maman, tu as pas vu mes basquets ?’ » im Interviewausschnitt oben).

Nähe und Distanz beeinflussen jedoch nicht nur die Sprache, sondern auch die nichtsprachliche Kommunikation. So kommt man sich bei einer Umarmung näher als beim Händeschütteln. Viel ist hier allerdings auch kulturell bedingt, wie etwa in Frankreich die Anzahl der bises je nach Region.

Merkmale des gesprochenen Französisch

Neben den universellen Merkmalen der gesprochenen Sprache existieren auch einzelsprachliche Merkmale. Im Französischen ist der Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Grammatik ganz besonders groß. Vergleicht man die Konjugation der regelmäßigen Verben auf -er (z. B. chanter in Tab. 1.3), so sieht man, dass Endungen fast nur im graphischen Medium existieren; im phonischen Medium erkennt man Person und Numerus dagegen v. a. am vorangestellten Personalpronomen, das oft verdoppelt wird.

Phonie

Graphie

[mwaʒəʃɑ̃t]

<je chante>

[twatyʃɑ̃t]

<tu chantes>

[lɥiiʃɑ̃t]/[ɛlɛlʃɑ̃t]

<il/elle/on chante>

[nuɔ̃ʃɑ̃t]

<nous chantons>3

[vuvuʃɑ̃te]

<vous chantez>

[øiʃɑ̃t]/[ɛlɛlʃɑ̃t]

<ils chantent>

Tab. 1.3:

Verbkonjugation in phonischem und graphischem Medium.

Auf Ebene der Konzeption sind die Unterschiede besonders deutlich in Morphologie und Syntax (vgl. Kapitel 7 und 8). So ist die Anzahl der Tempi und Modi in der Nähesprache geringer: Das passé simple, der imparfait du subjonctif und das futur simple kommen hier (fast) nicht vor, und häufig wird an Stelle des subjonctif der Indikativ verwendet. Bei den Pronomina kann das unpersönliche il in (il) faut und (il) y a wegfallen und nous durch on ersetzt werden (was auch die Konjugation vereinfacht; vgl. Tab. 1.3); gleichzeitig ist eine Verdoppelung möglich (z. B. nous on chante; vgl. Tab. 1.3). Typisch für das gesprochene Französisch ist außerdem die Verkürzung von cela zu ça und von qui vor Vokal zu qu’ (z. B. c’est qui qu’a fait ça ? statt qui a fait). In der Verbalphrase fällt auf, dass die Negation ohne ne erfolgt (vgl. <chépa> statt je ne sais pas; s. o.). Zudem kann der accord fehlen, beim participe passé, aber auch beim Präsentativ c’est (z. B. c’est pas des pizzas statt ce ne sont pas des pizzas). Auf Satzebene ist il y a X qui eine speziell französische Konstruktion (z. B. « il y a des choses moi qui me, qui m’horripilent » in der Transkription oben). Schließlich werden im gesprochenen Französisch Fragen üblicherweise allein durch die Intonation ausgedrückt (z. B. Tu viens ?), während in der Distanzsprache die Inversion vorherrscht (z. B. Pourriez-vous m’envoyer votre adresse ?). Wir vertiefen diese Phänomene noch in Kapitel 8.3.3.

Im Gegensatz zu den universellen Versprachlichungsstrategien ergeben sich die einzelsprachlichen Versprachlichungsstrategien nicht automatisch aus den Kommunikationsbedingungen. Im Gegenteil: Sie konstruieren diese mit. Da beispielsweise eine Negation ohne ne als mündlich eingeordnet wird, kann dieses Phänomen in einer Rede oder einer E-Mail Nähe herstellen.

1.1.2Langage texto

In der computervermittelten Kommunikation verschwimmen die Grenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Auf WhatsApp sendet nicht mehr zwangsläufig ein Sender eine Nachricht, die ein Empfänger liest und erst im Anschluss beantwortet (womit sich dann die Rollen umdrehen und der Empfänger zum Sender wird). Die Kommunikationspartner können ihre Nachrichten auch häppchenweise verschicken, sich dabei ins Wort fallen, aber auch gleichzeitig tippen. Komplett synchron wie eine face-to-face-Unterhaltung ist ein Chat zwar nicht (da niemand jeden Buchstaben einzeln senden würde), aber fast. Man spricht daher von quasi-synchroner Kommunikation (vgl. DÜRSCHEID 2016) – im Gegensatz zur nicht-synchronen Kommunikation von Schriftsteller*innen, deren Werke manchmal erst mehrere Jahrhunderte später gelesen werden. Die Spontaneität, die bei der Kommunikation per Smartphone häufig vorliegt, führt dazu, dass das Geschriebene nicht genau geplant, sorgfältig elaboriert und vor der Übermittlung noch einmal gründlich Korrektur gelesen wird. Zudem ermöglichen Instant Messaging-Dienste neben reinen Sprachnachrichten auch die Übersendung von Emojis, Fotos, Audio- und Videobotschaften und Links – auf diese Weise ergibt sich eine multimediale und vielfach kontextualisierte Kommunikation. Dabei bestehen natürlich enorme Unterschiede zwischen den Nachrichten und Chats, die man austauschen kann, von der Terminerinnerung des Friseursalons bis zum Beziehungsstreit.

À vous !

Entziffern Sie die folgenden französischen SMS: « jSpR ktu va bi1 », « D-100 chuis ariV », « j’tapLdkej’pe », « C pa grav », « J’v boC », « a2m1 » (Beispiele aus SABATIER 2014).

Der französische SMS-Slang (langage texto) hat mit der Verbreitung von Handy und Internet ab Ende der 1990er Jahre schnell die Aufmerksamkeit der Sprachwissenschaft und der Massenmedien auf sich gezogen. « Parlez-vous texto ? » titeln regelmäßig Bücher, Zeitungsartikel und Blogs, um die Erwachsenenwelt in die vermeintliche Geheimsprache der digital natives einzuweihen (z. B. SABATIER 2014). Mittlerweile sind sogar mehrere Romane im Chat-Slang erschienen. Aber auch große internationale Forschungsprojekte widmen sich dem Thema, u. a. sms4science (2007–2016; www.sms4science.org) und What’s up, Switzerland? (2016–2020; www.whatsup-switzerland.ch).

Das Forschungsprojekt sms4science

 

Mit dem Aufruf « Faites don de vos SMS à la science ! » hat 2004 in Belgien die erste große SMS-Sammlung stattgefunden. Zwei Monate lang haben insgesamt 3300 Personen 75500 ihrer bereits geschriebenen SMS an ein Forschungsteam weitergeleitet. 2275 von ihnen haben zudem einen Fragebogen zu ihrem soziodemographischen Profil und ihrem Medienverhalten ausgefüllt. Die Teilnehmer*innen waren zwischen 12 und 73 Jahre alt, 76 % unter 25 Jahren. Im Anschluss wurde das Projekt auf La Réunion, die Schweiz, Québec und mehrere französische départements ausgeweitet (www.sms4science.org/). Auf dieser Datenbasis haben die Forscher*innen herausgefunden, welche der in den Massenmedien beschriebenen Merkmale des langage texto auch wirklich existieren, wie häufig sie sind und inwiefern sich die SMS von Jugendlichen und Erwachsenen unterscheiden (vgl. FAIRON/KLEIN/PAUMIER 2006).

Schreibstrategien

Wie die Beispiele zeigen, zeichnen sich französische Textnachrichten durch eine ganze Reihe von Schreibstrategien aus:

Abkürzungen: Weglassen der Vokale (z. B. bcp für beaucoup), des Wortendes (z. B. dak für d’accord) oder des Wortanfangs (z. B. net für internet);

Siglen: Reduktion auf die Anfangsbuchstaben (z. B. mdr für mort de rire);

Expressive Längungen (z. B. ke jeu taimmmmmmeu für que je t’aime);

Rebus-Prinzip: Verwendung von Ziffern, Buchstaben und Symbolen als Lautzeichen (z. B. a2m1 für À demain !, OKLM für au calme, A+ für À plus tard !);

Pseudo-phonetische ‘Transkription’ (z. B. kwa für quoi);

Anglizismen (z. B. LOL für laughing out loud);

Emoticons (z. B. :-), xD), später auch Emojis (z. B. );

Merkmale der konzeptionellen Nähesprache (vgl. Kapitel 1.1.1), u. a. Wegfall des ne der Negation (z. B. C pa grav für Ce n’est pas grave).

Der langage texto hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten mit der Veränderung der Technik aber auch rasant weiter- und auseinanderentwickelt. Als es noch darauf ankam, auf einem Handy mit neun Tasten SMS von maximal 160 Zeichen zu tippen, war der SMS-Slang durch extreme Abkürzungen geprägt. Durch die automatische Textergänzung sind diese zurückgegangen. Diese Abkürzungen waren keineswegs Innovationen, sondern bauten auf der Tradition handschriftlicher Notizen auf. Die wichtigsten davon lernt man in Frankreich sogar in der Schule. Für das Mitschreiben von Vorlesungen an der Universität sind sie besonders nützlich. Die Hauptstrategie dabei ist das Weglassen der Vokale (z. B. bcp für beaucoup). Tab. 1.4 gibt einen Überblick über die wichtigsten französischen Abkürzungen.

Abkürzung

Vollform

bcp

beaucoup

ds

dans

ns

nous

pb

problème

pr

pour

qd

quand

tjs

toujours

tps

temps

tt

tout

qqch

quelque chose

cad

c’est-à-dire

t° (z. B. solut°)

-tion

-mt (z. B. évidemmt)

-ment

même

Tab. 1.4:

Französische Abkürzungen.

Zu diesen Abkürzungen für das Mitschreiben kommen in der digitalen Kommunikation Abkürzungen in anderen Wortschatzbereichen hinzu. Dazu gehören insbesondere die Kommunikationssituation am Handy oder Computer (z. B. OCP für occupé) sowie der Ausdruck von Emotionen (z. B. dsl für désolé). Die Kürzungen von Wortanfängen und -enden, die man im langage texto findet, sind dagegen nichts Neues: aprem, ptit dèj etc. gab es schon vor der Verbreitung der computervermittelten Kommunikation.

Eine spezielle Form der Abkürzung ist die Siglenbildung, bei der aus den ersten Buchstaben der Wörter einer Konstruktion ein neues Wort gebildet wird. In SMS finden sich LOL (laughing out loud) und seine französische Entsprechung mdr (mort de rire). Sehr viel häufiger sind Siglen im Instant Messanger-Dienst Discord, in dem man beim Computerspielen chattet. Dort finden sich sowohl für diese Kommunikationssituation spezifische Ausdrücke (z. B. AFK für away from keyboard, GG für good game) als auch Flüche, Beleidigungen und Beschimpfungen – die sich durch die Emotionalität der Situation erklären lassen (z. B. BLC für je m’en bats les couilles !, FDP für fils de pute, TG für Ta gueule !).

Eine entgegengesetzte Versprachlichungsstrategie zu Abkürzungen sind expressive Längungen durch die Wiederholung von Buchstaben wie <ke jeu taimmmmmmeu> für queje t’aime. Diese haben keinerlei Entsprechung in der Phonie. Alternativ werden zur Unterstreichung der Relevanz des Gesagten sowie zur Imitation hoher Lautstärke auch Großbuchstaben eingesetzt, z. B. <JT ADOOOR> für je t’adore (Beispiele aus FAIRON/KLEIN/PAUMIER 2006: 40).

Platz einsparen lässt sich auch durch das Rebus-Prinzip. Hierbei stehen Ziffern und Buchstaben für die Lautkette, die ihnen beim Zählen und Buchstabieren entspricht, etwa <1> (un) für [ɛ̃] (z. B. in a2m1 für À demain !) und <C> für [se] (z. B. in C pa grav für Ce n’est pas grave !). Da die Aussprache des französischen Schwas [ə] (vgl. Kapitel 6.2.2) dem [ø] sehr ähnelt, wird <2> (deux) gerne für <de(-)> eingesetzt (z. B. in a2m1). Zur Sprachökonomie kommt hier aber auch ein spielerischer Effekt beim Lösen der Rebus-Rätsel. Auch dieses Prinzip existierte schon lange vor der computervermittelten Kommunikation.

À vous !

Entschlüsseln Sie den folgenden Rebus-Briefwechsel zwischen Friedrich dem Großen und Voltaire:

Tab. 1.5 liefert einige klassische Beispiele für das Rebus-Prinzip im langage texto. Ein neuerer Ausdruck ist OKLM [o.kalm]/[o.ka.ɛl.ɛm] für au calme, der durch den Rapper Booba popularisiert wurde.

Langage texto

Orthographie

Phonetische Transkription

<koi29>

Quoi de neuf ?

[kwadənœf]

<a2m1>

À demain !

[adəmɛ̃]

<a12c4>

À un de ces quatre !

[aɛ̃dəsekatʁ]

<C>

c’est

[sɛ]/[se]1

<CT>

c’était

[setɛ]/[sete]

<G>

j’ai

[ʒɛ]/[ʒe]

<je t’M>

je t’aime

[ʒətɛm]

<NRV>

énervé

[enɛʁve]

<A+>

À plus tard !

[aplytaʁ]

Tab. 1.5:

Das Rebus-Prinzip im langage texto (Beispiele aus SABATIER 2014).

Auch hier lässt sich ein technikbedingter Wandel beobachten. Während Zahlen auf klassischen Handys am einfachsten einzutippen waren, ist es auf dem Smartphone umständlich, von der Buchstaben- auf die Zahlentastatur umzuschalten. Entsprechend nehmen diese Rebus-Typen ab.

Bei den pseudo-phonetischen ‘Transkriptionen’ geht es ebenfalls sowohl um Sprachökonomie als auch um Expressivität. <mwa> für moi spart beispielsweise kein einziges Zeichen ein, sieht aber witzig aus, da es gerade nicht der üblichen französischen Rechtschreibung entspricht. Besonders verbreitet ist das Fehlen stummer Buchstaben (übrigens auch ein häufiger Rechtschreibfehler): z. B. das <s> in <mé> (mais) und das <e> am Ende von <malad> (malade; vgl. Tab. 1.6). Auch der Buchstabe <k> für [k] in <keske> (qu’est-ce que) ist zwar kürzer als <qu>, v. a. aber auffällig, da er ansonsten im Französischen (fast) nicht existiert (nur in Lehnwörtern wie ketchup). Schreibungen wie <chuis> und <chépa> (vgl. Kapitel 1.1.1) haben ebenfalls eine solche ‘Schockwirkung’, während die assimilierten Formen [ʃɥi] und [ʃepa] im phonischen Medium unbemerkt bleiben. Fehlende Abstände zwischen den Wörtern (z. B. <jveu> für je veux) entsprechen schließlich der typisch französischen Aussprache von Wortgruppen als sogenanntes mot phonétique ([ʒvø]) ohne Pausen oder andere Grenzsignale dazwischen. Auch die Liaison zwischen den Wörtern findet sich im langage texto wieder: z. B. <lé zétud> für les études [lezetyd] (vgl. Kapitel 6.2.2).

Langage texto

Orthographie

Phonetische

Transkription

<keske>

qu‘est-ce que

[kɛskə]

<koi>/<koua>/<qwa>

quoi

[kwa]

<malad>

malade

[malad]

<mé>

mais

[mɛ]/[me]

<jsui>/<chui>

je suis

[ʃɥi]

<moi jveu bien kon srevoie>

moi je veux bien qu’on se revoie

[mwaʒvøbjɛ̃kɔ̃sʁəvwa]

<lé zétud>

les études

[lezetyd]

Tab. 1.6:

Pseudo-phonetische ‘Transkription’ im langage texto (Beispiele aus FAIRON/KLEIN/PAUMIER 2006).

Auf medialer Ebene imitiert der langage texto also einerseits in der Graphie die Phonie, andererseits besitzt er mit den Abkürzungen und Buchstabenwiederholungen, dem Rebus-Prinzip und den Emoticons bzw. Emojis auch ganz eigene Schreibstrategien.

Graphisch realisierte Nähesprache

Im langage texto finden wir außerdem zahlreiche Merkmale der konzeptionellen Nähesprache wieder (vgl. Kapitel 1.1.1): auf universeller Ebene Aneinanderreihungen von Hauptsätzen sowie Kontakt- und Gliederungssignale wie alors, bonben und hein, auf einzelsprachlicher Ebene der Wegfall des ne der Negation (z. B. <G c pa> für je ne sais pas), die Verdoppelung des Subjekts (z. B. <moi jveu bien> für moi je veux bien) und die Form <t’> statt tu vor Vokal (z. B. <dis qd t libre à midi> für dis quand tu es libre à midi; Beispiele aus FAIRON/KLEIN/PAUMIER 2006).

Aufgrund der raum-zeitlichen Distanz finden sich hier dagegen keine Deiktika. Häsitationen entsprechen realen zeitlichen Pausen, Selbstkorrekturen lassen sich in WhatsApp auch über das Löschen bereits abgeschickter, aber noch nicht gelesener Nachrichten realisieren – wie beim Schreiben anderer Texte am Computer – und für den Ausdruck von Emotionen gibt es die mediumsspezifischen Emoticons bzw. Emojis sowie Buchstabenwiederholungen und Großschreibungen (s. o.). Eine medienspezifische Besonderheit sind Autokorrekturen bei der Eingabe von Wörtern durch das Gerät, die manchmal auch entgegen der Absichten der Schreiber*innen zu Fehlern führen.

Variation

Die aufgelisteten Charakteristika des langage texto sollten nicht suggerieren, dass französische Textnachrichten immer und durchgehend auf diese Weise geschrieben werden. Korpora wie sms4science dokumentieren vielmehr, dass hier die Variation enorm ist. Insbesondere bestehen große Unterschiede zwischen den Schreiber*innen, wie die folgenden beiden Liebes-SMS zeigen:

Putain mon amour je t aime trop j sui trop fou d toi c pa poss je ne voi k toi mon amour t la seule ke j aime je t aime+ke tt mon bébé d amour je t aime pour la vie (15-jähriger Junge; FAIRON/KLEIN/PAUMIER 2006: 63)

Michel, je ne t’ai pas oublié, bien au contraire. Comment le pourrais-je ? Je suis folle de toi… Je n’ai pas eu l’opportunité d’envoyer un sms. Je suis prudente, je ne veux pas que Jm ait des doutes en me voyant lancer des sms en pleine nuit. Tu me manques bcp. Ta voix me manque. Je t’aime. (FAIRON/KLEIN/PAUMIER 2006: 56)

Im Korpus finden sich in der Tat die meisten in den Massenmedien kolportierten SMS-Charakteristika in der Altersgruppe von 15 bis 25 Jahren. Es zeigt aber auch, dass language texto nicht mit Jugendsprache gleichzusetzen ist. Textnachrichten schreiben Menschen jeden Alters. Allerdings geht der SMS-Slang auch in die Jugendsprache ein, z. B. die Aussprache [o.ka.ɛl.ɛm] (OKLM) für au calme (s. o.). In Comics finden sich ebenfalls typische Ausdrücke des language texto wieder (mehr zur französischen Jugendsprache in Kapitel 10.2.2, mehr zur Comic-Sprache in Kapitel 1.1.3).

Eine ungeahnte Vielfalt zeigt sich auch bei der näheren Betrachtung einzelner Wörter. So erscheint das Wort aujourd‘hui allein im belgischen sms4science-Subkorpus in insgesamt 40 Varianten: Am häufigsten sind <aujourd’hui> (191/654 Okkurrenzen), <ajd> (123 Okkurrenzen) und <auj> (118 Okkurrenzen). Dabei macht die Standard-Schreibung 29 % und die drei häufigsten Varianten gemeinsam bereits 67 % der Fälle aus. Seltenere Formen sind <aujourd hui> (ohne Apostroph), <aujourdhui> (zusammengeschrieben), <ojourdui> (mit pseudo-phonetischer ‘Transkription’ des <au> als <o>), die Abkürzung <oj> und die Form <ojrd8> fast ohne Vokale und mit Rebus sowie zahlreiche seltenere Kombinationen dieser Elemente. Durch die automatische Wortergänzung und Autokorrektur auf dem Smartphone hat diese Variation inzwischen allerdings wieder abgenommen.

WhatsApp: von der SMS zum Chat

Der technische Wandel hat schließlich zu einer Zunahme der Dialogizität geführt, wie der folgende drei Minuten andauernde Chatverlauf zwischen zwei jungen Männern aus dem Korpus What‘s up, Switzerland? zeigt.

WhatsApp-Chatverlauf (2014)

À vous !

Notieren Sie alle Merkmale des langage texto im WhatsApp-Chatverlauf im Kasten!

1.1.3Inszenierte Mündlichkeit

Die französische Nähesprache begegnet einem nicht nur im Alltagsgespräch und im texto, sondern auch in der Kunst: Literatur, Theater, Comic, Film, Fernsehen, Hörspiel und Musik imitieren und inszenieren gesprochene Sprache. Von authentischer Mündlichkeit ist diese sogenannte fingierte – d. h. vorgetäuschte bzw. erdichtete – Mündlichkeit aber weit entfernt:

Wenn Merkmale, die üblicherweise oder gelegentlich der Mündlichkeit zugeordnet werden, in Literatur auftauchen, dann verweisen sie gleichermaßen auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit: Mündlichkeit in geschriebenen Texten ist nie mehr sie selbst, sondern stets fingiert und damit eine Komponente des Schreibstils und oft auch der bewußten Schreibstrategie des jeweiligen Autors. (GOETSCH 1985: 203)

So nehmen Leser*innen und Hörer*innen beispielsweise den Wegfall des ne der Negation oder die Verdoppelung der Pronomina in moi je als mündlich wahr – auch wenn diese Phänomene graphisch realisiert sind oder zumindest schriftlich vorbereitet wurden, etwa bei Theaterstücken und Drehbüchern.

Authentizität

Die naheliegendste Funktion fingierter Mündlichkeit ist die „Herstellung der Illusion einer Sprache der Nähe“ (GOETSCH 1985: 217). Die Nähesprache soll Authentizität transportieren, Lebendigkeit erzeugen und damit die Leser*innen tiefer in die Geschichte eintauchen lassen. Dieses Ziel war in der Epoche des Naturalismus besonders wichtig. Der französische Schriftsteller Émile Zola untersuchte sogar selbst die Sprache des Arbeitermilieus, bevor er diese in seinen Roman L’Assommoir (1877) einfließen ließ. Hierfür wurde er seiner Zeit heftig kritisiert. Im Vorwort des Buchs verteidigt er sich:

On s’est fâché contre les mots. Mon crime est d’avoir eu la langue du peuple. (…) ma volonté était de faire un travail purement philologique, que je crois d’un vif intérêt historique et social. (…) C’est une œuvre de vérité, le premier roman sur le peuple, qui ne mente pas et qui ait l’odeur du peuple. (ZOLA [1877] 1996: 47)

Während der Schriftsteller seinen Figuren – bzw. einigen davon an einigen Stellen – in der direkten Rede Alltagssprache in den Mund legt, verwendet er für den récit aus Perspektive des Erzählers die Literatursprache. Dies wird am folgenden Ausschnitt aus L’Assommoir deutlich: In der Rede des Arbeiters Coupeau findet sich die Negation ohne ne (aber auch mit), faut statt il faut, ça und moi je, im unmittelbar darauffolgenden récit das passé simple (disparut) und l’on statt on.

Direkte Rede im Roman: L’Assommoir von Zola (1877)

– Ah ! quand vous l’empêcherez de se miner, par exemple ! dit Coupeau, la bouche pleine. Si vous n’étiez pas là, je parie qu’elle se lèverait pour me couper mon pain… Tiens-toi donc sur le dos, grosse dinde ! Faut pas te démolir, autrement tu en as pour quinze jours à te remettre sur tes pattes… Il est très bon, ton ragoût. Madame va en manger avec moi. N’est-ce pas, madame ?

 

La sage-femme refusa ; mais elle voulut bien boire un verre de vin, parce que ça l’avait émotionnée, disait-elle, de trouver la malheureuse femme avec le bébé sur le paillasson. Coupeau partit enfin, pour annoncer la nouvelle à la famille. (…)

 

– Je t’amène la séquelle ! cria Coupeau. Tant pis ! ils ont voulu te voir… N’ouvre pas le bec, ça t’est défendu. Ils resteront là, à te regarder tranquillement, sans se formaliser, n’est-ce pas ?… Moi, je vais leur faire du café, et du chouette !

 

Il disparut dans la cuisine. Maman Coupeau, après avoir embrassé Gervaise, s’émerveillait de la grosseur de l’enfant. Les deux autres femmes avaient également appliqué de gros baisers sur les joues de l’accouchée. (ZOLA [1877] 1996: 128)

Sprachpolitisches Engagement

Im darauffolgenden Jahrhundert wagt Raymond Queneau es, einen ganzen Roman im sogenannten néofrançais zu schreiben: Zazie dans le métro (1959). Für den Autor ist das gesprochene Französisch das Französisch von morgen – so wie das Vulgärlatein, also das gesprochene Latein, das sich einst zu den romanischen Sprachen weiterentwickelte (vgl. Kapitel 5.2). Er sieht Schriftsteller als Geburtshelfer bei der Weiterentwicklung des néofrançais zur neuen Schriftsprache:

Avant d’écrire, l’écrivain choisit, autant que possible, la langue dans laquelle il va rédiger ce qui lui semble nécessaire d’être dit. […] Un problème se pose actuellement aux écrivains français, bien que la plupart d’entre eux ne s’en doutent même pas. […] il y a deux langues distinctes : l’une qui est le français qui, vers le XVe siècle, a remplacé le ‘francien’ […], l’autre, que l’on pourrait appeler le néo-français, qui n’existe pas encore et qui ne demande qu’à naître. […] L’accouchement sera laborieux. L’écrivain français doit aider à cette parturition, son travail, son œuvre doit être une maïeutique linguistique. (QUENEAU [1955] 1965: 65–67)

Sich auf die Sprachwissenschaft berufend fordert Queneau zum einen eine radikale Rechtschreibreform, damit die Orthographie der Phonie eins zu eins entspricht: <s> statt <ç> und <ss>, <k> statt <qu> etc. Zum anderen weist er darauf hin, dass morphologische Formen wie die des passé simple und des imparfait du subjonctif in der gesprochenen Sprache ausgestorben sind. Diese Ideen setzt er in mehreren Romanen um. Der bekannteste davon ist sicher Zazie dans le métro. Im folgenden Kasten ist der erste Absatz daraus abgedruckt.

Ein Roman in néofrançais: Zazie dans le métro (1959) von Queneau

 

Doukipudonktan, se demanda Gabriel excédé. Pas possible, ils se nettoient jamais. Dans le journal, on dit qu’il y a pas onze pour cent des appartements à Paris qui ont des salles de bain, ça m’étonne pas, mais on peut se laver sans. Tous ceux-là qui m’entourent, ils doivent pas faire de grands efforts. D’un autre côté, c’est tout de mȇme pas un choix parmi les plus crasseux de Paris. Y a pas de raison. C’est le hasard qui les a réunis. On peut pas supposer que les gens qui attendent à la gare d’Austerlitz sentent plus mauvais que ceux qu’attendent à la gare d`Lyon. Non vraiment, y a pas de raison. Tout de mȇme quelle odeur. (QUENEAU 1959: 9)

À vous !

Notieren Sie alle Merkmale des gesprochenen Französisch im ersten Absatz des Romans Zazie dans le métro!

Aus heutiger Sicht wirkt diese Art zu Schreiben vielleicht gar nicht mehr so revolutionär. Schließlich sind wir durch SMS (vgl. Kapitel 1.1.2) und Comics daran gewöhnt, Merkmale des gesprochenen Französisch graphisch realisiert zu sehen. Schreibungen wie <Doukipudonktan> für D’où qu’il(s) pue(nt) donc tant ? bleiben aber trotzdem eine Herausforderung für die Leser*innen.

Stereotypisierung

Im Comic sind wir mittlerweile fingierte Mündlichkeit gewöhnt. Frühe bandes dessinées wie Tintin oder Astérix wirken allerdings noch ziemlich schriftlich. Und genauso wenig wie eine SMS-Sprache gibt es auch nicht eine Comic-Sprache. Während manche Comics in literarischer Sprache verfasst sind, finden sich bei anderen einige (nicht immer dieselben) nähesprachliche Merkmale in den Sprechblasen, und wieder andere setzen diese auch in den Erzähltexten ein. So wie in Romanen dienen auch im Comic Merkmale der Mündlichkeit nicht nur dazu, Mündlichkeit zu imitieren. Oft sind die nähesprachlichen Merkmale auch mehr oder weniger auf unterschiedliche Figuren verteilt und inszenieren damit Unterschiede zwischen den Individuen und Gruppen. So ‘sprechen’ Eltern oft in geschriebener und Kinder in gesprochener Sprache, sozial hohe Milieus in geschriebener Sprache und sozial niedrige Milieus in gesprochener Sprache etc. Fingierte Mündlichkeit transportiert also nicht unbedingt Authentizität. Da mündliche Merkmale im graphischen Medium traditionell als unangebracht gelten, können sie auch der Stigmatisierung dienen. So inszeniert die Schweizer Comic-Serie Titeuf u. a. durch die Realisierung bzw. Nicht-Realisierung des ne der Negation Generationenunterschiede (vgl. Abb. 1.1):

Abb. 1.1:

Inszenierung von Generationenunterschieden im Comic (Titeuf 3: 8).

1.2Weltsprache Französisch

Französisch ist eine Weltsprache. Sie ist auf allen fünf Kontinenten verbreitet:

Europa: Frankreich, Schweiz, Belgien, Luxemburg, Monaco, das Aostatal in Italien sowie die britischen Kanalinseln Guernsey und Jersey;

Amerika: Kanada, Haiti, die französischen départements et régions d’outre-mer (DROM) Martinique, Guadeloupe und Guyana, die collectivités d’outre-mer (COM) Saint-Martin und Saint-Barthélémy in der Karibik und Saint-Pierre-et-Miquelon vor der kanadischen Küste, in den USA (Minderheiten in Louisiana und an der Grenze zu Kanada; Franco-Americans);

Afrika: Maghreb (Algerien, Marokko, Tunesien), Subsahara-Afrika (Republik Kongo, Kamerun etc.), Indischer Ozean (Mauritius, Seychellen, die DROM La Réunion und Mayotte);

Ozeanien: Vanuatu, die französischen COM Französisch-Polynesien, Neukaledonien sowie Wallis und Fortuna;

Asien: Libanon und französische Minderheiten im ehemaligen Indochina (Kambodscha, Laos, Vietnam).

Zudem ist Französisch neben dem Englischen die wichtigste Sprache der internationalen Kommunikation. So sind beispielsweise die Arbeitssprachen der Vereinten Nationen (UNO) Englisch und Französisch und die der Organe der Europäischen Union (EU) v. a. Deutsch, Englisch und Französisch.

1.2.1L1, L2, Fremdsprache und offizielle Sprache

Die Organisation Internationale de la Francophonie (OIF) zählt 300 Millionen Frankophone in der Welt (2018). Nach dieser Zählung steht Französisch auf Platz 5 der Liste der meistgesprochenen Sprachen der Welt: nach Chinesisch, Englisch, Spanisch und Arabisch. Die meisten Frankophonen (59 %) leben laut OIF in Afrika – Tendenz steigend. Für 2070 prognostiziert die OIF zwischen 477 und 747 Millionen Frankophone weltweit (www.francophonie.org). Diese Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Die OIF verwendet nämlich eine sehr weite Definition von frankophon:

Revenons-donc au sens commun, qui entend par ‘francophone’ une personne capable de s’exprimer en français, quel que soit son niveau ou sa maîtrise d’autres compétences comme l’écriture ou la lecture. (WOLFF 2014: 3)

So zählt die OIF auch in Deutschland 12,2 Millionen Frankophone (15 % der Bevölkerung), in Österreich 1,1 Millionen (13 %) und in der Schweiz 5,7 Millionen (67 %). Dagegen sind nach der Schweizer Volkszählung von 2014 nur 22,5 % der Schweizer*innen frankophon (vgl. REUTNER 2017).

L1

Konzentriert man sich auf die Erstsprache (L1), dann kommt man nur mehr auf 75,9 Millionen Sprecher*innen des Französischen – und damit auf Platz 14 der meist gesprochenen Sprachen der Welt (2020, Ethnologue1). Diese leben in erster Linie in Frankreich (mit seinen DROM), Québec (vgl. Kapitel 10.1.2), den französischsprachigen Gebieten Belgiens (Fédération Wallonie-Bruxelles) und der Schweiz (Suisse romande) sowie in Monaco, in geringerem Maße auch in Luxemburg, im Libanon und den kanadischen Provinzen Ontario und New Brunswick (WOLFF 2014; vgl. Abb. 1.2 und 1.3). Dazu kommen gebildete urbane Milieus in einigen afrikanischen Staaten (z. B. Kamerun, Republik Kongo) sowie Auswanderer (fr. expats) in allen Ländern der Welt (z. B. französische und deutsch-französische Familien in Deutschland). Auch in einzelnen Staaten können die Zahlen beträchtlich variieren: So sind etwa in Luxemburg laut OIF 92 % der Bevölkerung frankophon, nach der Volkszählung von 2011 bezeichnen aber nur 12 % das Französische als ihre Hauptsprache; die Mehrheit der Bevölkerung spricht Luxemburgisch als L1 (vgl. REUTNER 2017).

Abb. 1.2:

Französisch in Europa.

L2

Von einer Zweitsprache (L2) – und nicht von einer Fremdsprache – spricht man, wenn die Sprache in einer Region auch im Alltag verwendet wird, beispielsweise zur Kommunikation zwischen Personen mit unterschiedlichen L1 oder als Unterrichtssprache an Schule und Universität (français langue de scolarisation: FLSco). Diese Rolle des Französischen in der Welt ist nicht zu vernachlässigen: Insgesamt besuchen 81 Millionen Schüler*innen weltweit eine französischsprachige Schule. Im Alltag wird L2-Französisch in folgenden Staaten am häufigsten verwendet: auf Mauritius von 73 % der Bevölkerung, in der Republik Kongo von 59 % und in Tunesien von 52 %.

Fremdsprache

Die Situation ist anders im Fall des Französischen als Fremdsprache (français langue étrangère, FLE). Hier sind die Lerner*innen im Alltag nicht von der gelernten Sprache umgeben. In Europa ist Französisch die nach dem Englischen (96 %) am zweithäufigsten gelernte Fremdsprache (26 %); in englischsprachigen Ländern rangiert es sogar auf Platz 1. Weltweit lernen ca. 51 Millionen Menschen Französisch als Fremdsprache (vgl. auch Kapitel 4.1.4). Ein besonderer Fall ist Französischunterricht für Migrant*innen in Frankreich selbst: Hier spricht man vom français langue d’intégration (FLI). Um die französische Staatsbürgerschaft zu bekommen, muss man das Niveau B1 nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GERS) vorweisen.

Abb. 1.3:

Französisch in Amerika.

Offizielle Sprache

Offizielle Sprache ist das Französische nicht nur in den Staaten, in denen es als L1 gesprochen wird, sondern auch in vielen Staaten, in denen es als L2 mehr oder weniger verbreitet ist. Auch hier ist die Zählung nicht ganz so einfach, denn in vielen Staaten gibt es keine offizielle Staatssprache. So enthält selbst die französische Verfassung erst seit 1992 den Satz « La langue de la République est le français » (Art. 2). Französisch ist in 13 Staaten alleinige offizielle Sprache und in 16 Staaten ko-offizielle Sprache, also insgesamt in 29 Staaten (vgl. Tab. 1.7).

In Belgien, der Schweiz und Kanada ist die Lage etwas komplizierter, da man hier zwischen dem Status des Französischen auf Ebene des gesamten Staates und seinem Status in den frankophonen Gebieten unterscheiden muss. Belgien hat drei Amtssprachen: Niederländisch, Französisch und Deutsch. Es gilt das Territorialitätsprinzip, d. h. in Flandern funktionieren Schule und Verwaltung auf Niederländisch, in der Wallonie auf Französisch und in der deutschsprachigen Gemeinschaft auf Deutsch. Nur die Hauptstadt Brüssel ist zweisprachig Französisch/Niederländisch. Die Schweiz besitzt sogar vier Amtssprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Auch hier gilt das Territorialitätsprinzip: Vier Kantone sind einsprachig französisch (Genève, Jura, Neuchâtel, Vaud; Suisse romande), drei sind zweisprachig deutsch-französisch (Bern, Fribourg und Valais). In Kanada schließlich sind Englisch und Französisch Amtssprachen auf Bundesebene. In der Provinz Québec dagegen ist Französisch die einzige Amtssprache. Einen ko-offiziellen Status hat es in New Brunswick (fr. Nouveau-Brunswick) sowie den drei nord-östlichen kaum bewohnten Provinzen Territoires du Nord-Ouest, Yukon und Nunavut.

Einzige offizielle Sprache

Ko-offizielle Sprache

Benin

Burkina Faso

Demokratische Republik Kongo

Elfenbeinküste

Frankreich

Gabun

Guinea

Mali

Monaco

Niger

Republik Kongo

Senegal

Togo

Belgien

Burundi

Kamerun

Kanada

Zentralafrikanische Republik

Komoren

Djibouti

Äquatorialguinea

Haiti

Luxemburg

Madagaskar

Rwanda

Schweiz

Seychellen

Tschad

Vanuatu

Tab. 1.7:

Französisch als offizielle Sprache (OIF 2019).

In der Liste in Tab. 1.7 fällt auf, dass das Französische einzige offizielle Sprache in vielen Staaten Subsahara-Afrikas ist, in denen es kaum gesprochen wird (vgl. Abb. 1.4). So gebrauchen etwa in Mali nur 17 % und im Niger nur 13 % der Bevölkerung laut OIF täglich das Französische. In einigen Ländern, in denen das Französische ko-offizielle Sprache ist, sind die Zahlen noch niedriger (Burundi: 8 %, Ruanda: 6 %). Dagegen hat das Französische in anderen Staaten, in denen es sehr präsent ist, gar keinen offiziellen Status. Mauritius steht beispielsweise nicht auf der Liste, da in der Mauritianischen Verfassung keine offizielle Sprache festgelegt ist. Englisch gilt dort de facto als offizielle Sprache, Französisch zumindest als semi-offizielle Sprache: Beide werden im Parlament gesprochen und sind Unterrichtssprachen in der Schule (vgl. dazu auch Kapitel 4.2). Auch im Maghreb (Algerien, Marokko, Tunesien) und im Libanon hat das Französische keinen offiziellen Status.

Abb. 1.4:

Französisch in Afrika.

Zu dieser Liste kommen das Aoastatal in Italien und die britischen Kanalinseln Jersey und Guernsey hinzu (vgl. Abb. 1.2). Hier ist das Französische ebenfalls Amtssprache (neben Italienisch bzw. Englisch), im Gegensatz zu Belgien, der Schweiz und Kanada aber nicht auf nationaler Ebene. Allerdings sprechen die Menschen im Aostatal und auf den Kanalinseln kein Standardfranzösisch (zur Frage der Norm vgl. Kapitel 10.3). Im Aostatal spricht eine Minderheit Frankoprovenzalisch – eine romanische Sprache, die typologisch zwischen dem Französischen und dem Okzitanischen angesiedelt ist. Auf den Kanalinseln spricht eine Minderheit einen normannischen Dialekt des Französischen. Ko-offizielle Sprache ist Französisch schließlich auch in der Stadt Pondichéry in Indien, die von 1673 bis 1954 die Hauptstadt der französischen Niederlassungen in Indien war.

Im Gegensatz zu Europa, Amerika und Afrika ist die Verbreitung und der Status des Französischen auf den übrigen beiden Kontinenten weniger bekannt. In Ozeanien ist Französisch Amtssprache der Republik Vanuatu, die 1980 von ihren beiden Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien unabhängig wurde. Von den 282200 Einwohnern sind der OIF zufolge 31 % frankophon. Daneben gibt es in diesem Gebiet noch drei collectivités d’outre mer (COM), in denen der Anteil der Frankophonen laut OIF sehr hoch ist: Französisch-Polynesien (98 %), Neukaledonien (99 %) sowie Wallis und Fortuna (83 %). In Asien