Frauen auf der Flucht - Tina Ackermann - E-Book

Frauen auf der Flucht E-Book

Tina Ackermann

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Beschreibung

Zehntausende geflüchteter Frauen sind Richtung Europa unterwegs. Sie existieren im Nirgendwo zwischen Herkunftsland, Durchgangsland, vielleicht bereits im Ankunftsland. Sie sind im wahrsten Sinn des Wortes flüchtend, flüchtig. Bekannt sind sie als Zahlen, als bedrohliche Masse, benannt werden sie nach ihren Fluchtländern. Dieses Buch hält die persönlichen Geschichten von Frauen auf der Flucht fest, gibt diesen Frauen ein Gesicht, lässt sie wieder zu Individuen werden. Die Erlebnisse flüchtender Frauen unterscheiden sich von denjenigen von Männern. Flucht ist für Frauen und Mütter oftmals noch gefährlicher, beschwerlicher und belastender. Frauen auf der Flucht sind besonders verletzlich und mit vielfältigen Risiken konfrontiert, insbesondere wenn Frauen allein flüchten müssen. Viele Frauen sind zum Beispiel geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt, im Herkunftsland, auf der Flucht und in Flüchtlingslagern. Frauen auf der Flucht sind junge Mütter, junge Witwen, hoffnungsvolle Teenager, entwurzelte Großmütter, Studentinnen, gebildete Frauen, transsexuelle Frauen, Frauen, die ein schönes Leben hatten, Analphabetinnen, Sexsklavinnen, Frauen, die in Flüchtlingslagern Kinder bekommen, Frauen, die von ihren Familien zur Flucht gezwungen wurden, Frauen, die nach traumatisierenden Erfahrungen wieder ins Leben zurückkehren. Traurige Frauen, verschlossene Frauen, aber auch Frauen mit Humor, Würde und Selbstbewusstsein. Ihnen gemeinsam ist die Angst, die Unsicherheit, aber auch die Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit und Freiheit, von dem sie oft nur vage Vorstellungen haben.

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Tina Ackermann

Frauen auf der Flucht

Wer sie sind und was sie erlebt haben

Rotpunktverlag

Dieses Buch erscheint mit freundlicher Unterstützung von:

Paul Grüninger Stiftung

Der Verlag bedankt sich dafür.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021 bis 2024 unterstützt.

© 2022 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: IMAGO / Zuma Press / Panayotis Tzamaros

Korrektorat: Sarah Schroepf

eISBN 978-3-85869-971-8

1. Auflage 2022

Inhalt

Wie es zu diesem Buch kam

Frauen auf der Flucht

Ghazaleh, Iran

Wenn Flucht bedeutet, sich scheiden lassen zu können

Farnaz Ahmadi, Afghanistan

Der Wunsch zu heiraten

Amira, Kamerun

Lesbisch in Kamerun

Eric und Philippa Kempson, Flüchtlingshelfer, Lesbos, Griechenland

Die Unerschütterlichen

Konstantina Papaioannidou, Psychologin, Lesbos, Griechenland

Du bist deine Gefühle

Yvette, Kamerun

Die Schwierigkeit zu erzählen

Farah, Somalia

Böse Zweitfrau

Sahar, Afghanistan

Kannst du mir helfen?

Hamdi, Somalia

Die tragische Flucht eines liebenden Paars

Sadio, Somalia

Zigarettenverkäuferin im Visier der Al-Shabaab

Fabiola Velasques, Physiotherapeutin, Lesbos, Griechenland

Physiotherapie für Flüchtlinge

Raha, Afghanistan

Alleinerziehend und selbst noch ein Kind

Vanessa Schröter, Flüchtlingshelferin, Schweiz

Wild engagiert

Maryan, Somalia

Fliehen ohne Beine

Gerhard Trabert, Notfallarzt, Deutschland

Gesundheitsversorgung im Flüchtlingslager

Sayragul Sauytbay, Xinjiang, China

Das Licht war grell. Es ging nie aus.

Angela Mattli, Gesellschaft für bedrohte Völker, Schweiz

Doppelt bedrohte Frauen in Xinjiang

Tendöl Namling, Tibet, China

Eine Frau, die Tibet lebt und atmet

Anastasiia, Ukraine

Das ist nicht mein Krieg

Olena, Ukraine

Sie hilft immer

Ludmila, Ukraine

Unsere Zukunft ist vorbei. Unsere Kinder sind geflüchtet.

Yevgenia, Ukraine

Präsident Selenski ist unser Held

Vicky, Ukraine

Sie weint nicht, wenn sie andere tröstet

Yioula Koutsoumpou, Sozialarbeiterin, Lesbos, Griechenland

Flüchtende, die aus Weggeworfenem etwas machen

Seynab, Somalia

Früher Journalistin, heute Straßenmagazinverkäuferin

Kidane, Eritrea

Dem Nationaldienst entkommen

Libanon

Eman, Syrien

Am liebsten zurück nach Syrien

Rym, Syrien

Flucht zu einem unbekannten Ehemann

Mariam Shaar, Beirut, Libanon

Die Unabhängige

Baraa, Syrien

Dort ist Krieg, hier ist Krise

Leila Sohl Shibli, Schulleiterin, Tyros, Libanon

Unterricht für die Ärmsten

Shirine Dajjani, Palästina

Was ist Heimat, Shirine?

Ehre und Scham

Frauenrechte

Raza, Irak

In zwei Welten

Shahinaz Bilal, Kurdistan

Von Aleppo in die Ostschweiz

Shahrazed, Afghanistan

Verkauft für fünf Millionen Toman

Nadsenet, Eritrea

Das Leid, das bleibt

Claudia Biagini, Wohnraumvermittlerin, Schweiz

Wer wohnt, schlägt Wurzeln

Die erste Generation leidet, die zweite kommt an

Nachweise

Dank

Faut juste faire bon usage de ces histoires

Auf dass diese Geschichten etwas bewegen

Amira

Ça m’touche mais j’reste debout

Ça fait mal mais j’reste debout

Es trifft mich, aber ich bleib stehn

Es tut weh, aber ich bleib stehn

Sexion d’Assaut, »J’reste debout«

Wie es zu diesem Buch kam

Wir hatten uns über ein Glas Tee hinweg angesehen, verschämt gelächelt. Mehr Austausch ging nicht. Mir war beschieden worden, dass ich als Mitarbeiterin der Hilfsorganisation, um Retraumatisierungen zu vermeiden, nicht mit den Geflüchteten über ihre Erlebnisse reden sollte. Konnte ich auch nicht. Mit den meisten gab es keine gemeinsame Sprache. Außer des Lächelns. Aber da war dieses Bedürfnis, sich kennenzulernen.

Natürlich war ich mit einem diffus heroischen Gefühl des Helfenwollens angereist. Und jetzt sollte das Lächeln alles sein? Nach der Rückkehr notierte ich die Geschichte einer geflüchteten Frau, um ihr im Asylprozess zu helfen. Eine Kulturvermittlerin übersetzte. Sie erklärte die Zusammenhänge des Bürgerkriegs in dem Land, aus dem die Frau geflüchtet war, dessen Lebensbedingungen und sozialen Gegebenheiten. Das Gespräch dauerte Stunden. Am Ende waren wir alle drei erschöpft. Aber die geflüchtete Frau hatte zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Europa über sich berichtet; sie hatte hinterfragt und beweint, was ihr vor und während der Flucht widerfahren war. Sie erzählte, manchmal atemlos, manchmal empört, manchmal nachdenklich, viele schreckliche Details ihrer Lebensgeschichte, die sich in ihr Hirn eingebrannt hatten. Entscheidend war, dass sie in ihrer Sprache erzählen konnte. Zum Schluss sagte sie: »So, jetzt weißt du alles.«

Daraus entstand die Idee zu diesem Buch. Ich habe im Laufe von zwei Jahren geflüchtete und noch flüchtende Frauen aufgesucht, ihre Erlebnisse getreu ihren Angaben festgehalten. Sie haben selbst entschieden, was und wie viel sie mir mitteilten. Ich habe gefragt, aber nicht nachgebohrt. Es sollten ihre Geschichten sein, die ich notierte. Die Frauen haben von ihren Erfahrungen, von schrecklichem Leid berichtet. Durch das Festhalten ihrer Geschichten sollten sie und ihre Erlebnisse gewürdigt werden. Carolin Emcke schreibt in ihrem Buch Gegen den Hass, dass das Festhalten der Geschichten geflüchteter Menschen zu deren Reindividualisierung führe. Ziel dieses Buches ist es, zum Verständnis beizutragen, dass sich hinter den enormen Flüchtlingszahlen lauter einzelne Schicksale verbergen.

Meine Perspektive hat sich im Laufe des Sammelns dieser Geschichten verändert. Respekt bedeutet auch zu akzeptieren und sich einzugestehen, dass flüchtende Frauen Ziele, Absichten und Ansprüche haben, die nicht ins Schema des devot dankbaren Flüchtlings passen.

Es gab Absagen, Frauen, die nicht über ihre Erlebnisse sprechen wollten oder sich vor Repressionen fürchteten. Diejenigen, die sich mir anvertrauten, haben die Gespräche als befreiend und bereichernd empfunden. Sie haben jeweils entschieden, ob sie mit ihrem Namen oder unter einem Pseudonym in dieser Sammlung erscheinen wollen, ob mit Foto oder, zu ihrem eigenen Schutz, ohne.

Die Frauen habe ich in der Schweiz, in Schweden, in Griechenland und in Libanon getroffen. Immer waren die Gespräche von gegenseitiger Sympathie geprägt. Es war nicht möglich, jede Aussage zu überprüfen. Vielleicht wurde Wesentliches weggelassen, mal unter-, mal übertrieben. Vielleicht habe ich manches falsch verstanden oder, ohne Absicht, interpretiert. Ich bin keine Wissenschaftlerin; dieses Buch ist keine Studie. Es will vielmehr eine Chronik sein. Ich fragte, hörte zu, schrieb auf. Insbesondere fehlte und fehlt es mir an emotionaler Distanz.

Diese Sammlung ist mit meinem großen Dank den außergewöhnlichen Frauen auf der Flucht gewidmet, die mir ihre Geschichte erzählt haben. Und denjenigen, die, wie ich, neugierig sind und sich freuen, nicht Flüchtlinge, sondern Menschen kennenzulernen.

August 2022

Frauen auf der Flucht

Hundert Millionen Menschen, schätzt das Hohe Flüchtlingskommissariat (UNHCR), werden 2022 auf der Flucht sein. Ein Viertel bis die Hälfte davon sind Frauen. Was die Zahlen verbergen, sind die einzelnen Schicksale – von alleinstehenden Frauen, Ehefrauen, zwangsverheirateten Frauen, verstoßenen Frauen, vergewaltigten Frauen, beschnittenen Frauen, behinderten Frauen, alten Frauen, jungen Frauen, Mädchen, Müttern, Großmüttern, ausgebombten Frauen, kriegsverletzten Frauen, von Studentinnen, Analphabetinnen, Frauen, die ihren Schwager heiraten mussten, Frauen, die den Schleier tragen, Frauen, die ihre Burka ablegten, verstörten Frauen, großartigen, mutigen, starken, selbstbewussten Frauen.

Frauen flüchten wie Männer vor Krieg, Verwüstung, Bedrohung und aus Angst um ihre eigene und die Sicherheit ihrer Kinder. Frauen flüchten darüber hinaus aber auch aus geschlechtsspezifischen Gründen – ein irritierend neutraler Begriff, mit dem unvorstellbare Qualen und Leiden bemäntelt werden, die Frauen angetan werden. Geschlechtsspezifische Gewalt bedeutet Zwangsheirat, Genitalverstümmelung, Levirat (Schwagerehe), Bedrohung und Missbrauch aufgrund sexueller Orientierung und verschiedenste Grausamkeiten mehr. Als ich zum ersten Mal von »Brustbügeln« las, dachte ich, es handle sich um einen Druckfehler, und fragte mich, was Lingèrie im Zusammenhang mit geschlechtsspezifischer Gewalt zu suchen habe.

Flucht ist keine Reise, zu der man erwartungsvoll aufbricht, über dem offenen Koffer brütet, ob eine weitere Bluse oder welche Schuhe sinnvoll wären. Flucht kennt oft keine Rückkehr, auch wenn genau das an ihrem Anfang die größte Hoffnung ist. Flucht reagiert auf Not, auf unhaltbare oder als unhaltbar empfundene, allgemeine oder persönliche Umstände im Heimatland und beginnt mit der Entscheidung zu gehen, manchmal auch unmittelbar aufgrund der Bedrohung für sich und andere. Manchmal kann sie vorbereitet werden, manchmal schon nicht mehr. Auf den Auslöser folgt die eigentliche Flucht mit ihrer Organisation, dem Fluchtweg, mit seinen Hindernissen und neuen Gefahren, bis ins Ankunftsland und dem anschließenden Asylverfahren, welches zur Niederlassung, dem Untertauchen oder der freiwilligen oder unfreiwilligen Rückkehr ins Heimatland führt. Flucht wird angetrieben von der Vision eines besseren Lebens, die sich oft erst in der zweiten Generation erfüllen kann, um den Preis der Entfremdung innerhalb der Familie, der Abkehr von Werten, welche die erste Generation als Brücke zur Heimat hochhält. Flucht basiert auf dem Bedürfnis nach einem Leben in Sicherheit und Würde, mit der Möglichkeit, für die Seinen zu sorgen. Flucht mündet meist in den Limbo eines Flüchtlingslagers oder Aufnahmezentrums und endet irgendwann mehr oder weniger am Rand der Gesellschaft eines fremden Landes.

Flüchtende sind, grob gesagt, mit zwei Helfertypen konfrontiert. Die Mitfühlenden, die viel bieten können, aber oft nicht das Entscheidende. Sie sehen in den Flüchtlingen gefährdete, benachteiligte, hilfsbedürftige Opfer, prangern, zurecht, die lebensbedrohlichen Fluchtwege und unhaltbaren Zustände in Flüchtlingslagern an. Die Empörung ergießt sich in den sozialen Medien, richtet sich an potenzielle Spender:innen und gegen Regierungen. Daneben agieren Schlepperorganisationen, die ein gefährliches, einträgliches Geschäft betreiben. Natürlich erkennen Flüchtende rasch, dass ihnen die freundlichen Helfer:innen, die sich in der Regel an die Gesetze ihrer Heimatländer halten, kaum bei der Migration helfen können. Um nach Europa zu gelangen, sind die illegalen Dienste der Schlepper unabdingbar und erfolgversprechend.

Für Frauen ist Flucht oft nicht das erhoffte Ende, sondern eine weitere Etappe auf dem Leidensweg von Unterdrückung und sexueller Gewalt. Selbstbestimmung über ihr Leben, über ihren Körper, ihre Sexualität, ihre Kinder, ihre Gesundheit ist Frauen in vielen Gesellschaften nicht gegeben. Auf der Flucht schon gar nicht. Flucht ist die Abhängigkeit von den Entscheidungen eines Vaters, Ehemanns, einer Schwiegermutter. Flucht bedeutet Gefahr von Übergriffen durch Schlepper, Helfer, Mitflüchtlinge. Flucht ist die beschwerliche, häufig die Grenzen der eigenen Kraft übersteigende, gefährliche, ungewollte Reise, in der die Flüchtende in einer Zwischenwelt lebt, ohne Zuhause, ohne Sicherheit, ohne Vorher, ohne Nachher – das Davor ist verloren, das Danach unbekannt. Omnipräsent dagegen ist der tägliche Kampf um etwas zu trinken und etwas zu essen, gar etwas Gesundes zu essen, um die Möglichkeit, sich und seine Kleider zu waschen, um einen trockenen, sicheren Schlafplatz. Dazu kommt die Angst, in einer unbekannten Welt allein, ohne Nachricht zu sein. Oder die Angst, von den Seinen getrennt zu werden, sie aus den Augen zu verlieren, sie schlimmstenfalls sterben sehen zu müssen. Eltern zermürbt die Ohnmacht, ihren Kindern die Schrecken der Flucht nicht ersparen zu können, sie Lebensgefahr auszusetzen.

Antworten von Flüchtenden darauf, was sie am Ziel ihrer Flucht erwarten, können sprachlos machen. Eine Frau auf der Flucht aus Afghanistan sagte mir, ihr reiche ein Fleckchen Land für ein kleines Haus, eine Ziege, ein paar Hühner und um etwas Gemüse anzubauen. Ob es denn genug regne in der Schweiz.

Die enorme Willenskraft, die nötig ist, um sich aus den meist ernüchternden Gegebenheiten im Ankunftsland ein neues Leben aufzubauen, wird kaum gewürdigt. Nicht alle schaffen es. Traumatisierungen, bedrückende neue Lebensumstände, die Entfremdung und die Abkehr von Traditionen nachkommender Familienmitglieder, nicht zuletzt die Schwierigkeiten einer neuen Sprache werden zu unüberwindbaren Hürden. Glück hat, wer in der neuen Heimat bereits Verwandte hat oder auf eine hilfsbereite Diaspora trifft. Pech hat, wer auf Landsleute trifft, welche die Neuankömmlinge nach exakt den althergebrachten Vorstellungen verurteilen, vor denen sie geflüchtet sind. Es gibt soziales und kulturelles Widerstreben bei Migrant:innen. Warum sich integrieren, wenn man in Ruhe gelassen werden möchte? Warum die Sprache lernen, wenn sich immer jemand findet, der etwas erklärt? Warum seine Rechte als Frau wahrnehmen, wenn es einfacher ist, einen Ehemann zu finden und Kinder zu bekommen, die einen womöglich absichern? Warum sich an gesellschaftliche Normen und Werte anpassen, die einen verunsichern, die man nicht versteht, die den eigenen widersprechen? Warum arbeiten, wenn die Sozialhilfe für den Unterhalt sorgt? Warum offen sein, wenn in der Heimat Ausdruckslosigkeit das Überleben sicherte?

Wie oft drängte sich mir die Frage auf, ob ich eine Situation aushalten könnte, in der ich auf der untersten gesellschaftlichen Stufe versuche, meinen Kindern eine Lebensperspektive zu schaffen, kaum verstehe, was um mich vorgeht, wo ich hart und viel arbeiten muss, mich täglich fremd und entwurzelt fühle, mit dem Klima, der Wohnsituation, den Gepflogenheiten Mühe habe, mich Heimweh und Verzweiflung quälen und ich vielleicht nicht einmal eine Freundin habe, mit der ich mich austauschen kann.

Ghazaleh mit ihrer Tochter, Lesbos, 2021 (Foto: Tina Ackermann)

Ghazaleh, Iran

Wenn Flucht bedeutet, sich scheiden lassen zu können

Sie weiß, dass sie gut aussieht, dass sie aus gutem Haus kommt.Auch wenn sie in der Heimat unterdrückt, gedemütigt und entmündigt wurde. Vormachen lässt sie sich nichts mehr. Auch wenn sie zum ersten Mal auf eigenen Beinen stehen muss.

Ghazaleh, Jahrgang 1992, ist fünfzehn und zum ersten Mal verliebt. Ihr Freund geht wie sie in Teheran noch zur Schule. Irgendwie haben sie es geschafft, Telefonnummern auszutauschen. Das war nicht einfach, weil es heimlich geschehen musste. Schließlich sollen es die anderen nicht mitbekommen. Dass es sogar verboten sein könnte, kommt Ghazaleh nicht in den Sinn. Die Vorträge ihrer Mutter und ihrer Tanten über Schande und Ehre ließen keine Schlüsse darauf zu, dass damit auch das Mobiltelefon gemeint sein könnte. Ghazaleh und ihr Freund texten sich häufig und telefonieren heimlich. Viel mehr als »Wie geht es dir?«, »Was machst du gerade?« und »Wie war dein Tag?« wird nicht ausgetauscht, aber es ist für beide überwältigend schön, dieses Gefühl von Zusammengehörigkeit zu spüren.

Ghazalehs Vater starb, als sie vier Jahre alt war. Ein Onkel wurde neues Oberhaupt der Familie. Von ihm waren Ghazaleh, ihre Schwester und ihre Mutter von da an abhängig, finanziell und gesellschaftlich. Dass Frauen von Männern misshandelt werden, hatte Ghazaleh bereits erfahren. Auch der Onkel schrie die Mutter an, die sich duckte, wartete, bis es vorüber war. Ghazaleh und ihre kleine Schwester versteckten sich in ihrem Zimmer, hielten sich die Ohren zu, bis Mama zu ihnen kam, eisgekühlten Saft mitbrachte, lächelte. So sind die Dinge eben.

Dann wird Ghazaleh erwischt. Ihre Mutter hört zufällig, wie sie am Telefon kichert. Die Mutter stellt Ghazaleh zur Rede, ohrfeigt sie. Die Verbindung zu ihrem Freund wird sofort gekappt. Seine Telefonnummer auf ihrem Handy gelöscht. Und natürlich spricht die Mutter mit dem Onkel und sagt, dass Ghazaleh bereit sei, verheiratet zu werden. Dass man das junge Paar erwachsen werden lässt und es dann womöglich heiraten darf, kommt nicht infrage. Ghazaleh sagt: »Verliebte heiraten einander in Iran grundsätzlich nicht. Das hat etwas Anstößiges, Ungebildetes. Liebe gibt es nur in der Literatur, in Versen, als Verklärung.«

Hektisch wird ein Ehemann für Ghazaleh gesucht. Sie bekommt davon nichts mit, sehnt sich nach ihrem Freund. Schon wenige Tage nach der Ohrfeige der Mutter muss Ghazaleh sich im Repräsentationsraum der Wohnung einfinden. Dort sitzen zwei fremde Frauen, die sie unverblümt mustern, miteinander tuscheln, aber kein Wort mit ihr wechseln. Ghazaleh soll gerade stehen, ihre Hände, ihren Hals zeigen. »Am liebsten hätten sie mir in den Mund geschaut.« Nach der Inspektion wird Ghazaleh aus dem Raum geschickt. Die beiden Frauen unterhalten sich allein mit ihrer Mutter. Sie sind die Mutter und die älteste Schwester des Bräutigams.

Ghazalehs Onkel und der Vater des Bräutigams kommen zusammen, um den Handel abzuschließen. Ghazaleh wird selbstverständlich nicht gefragt, ob sie heiraten möchte. Es sei ihrer Familie schon hoch anzurechnen, dass sie sich in der Schule habe von ihren Kameradinnen verabschieden dürfen.

Kurz vor der Hochzeit sitzt ihr die neue Familie im Repräsentationsraum gegenüber. Diesmal ist auch ihr zukünftiger Mann dabei. Mahmud ist fast doppelt so alt wie sie, dreizehn Jahre älter. Ghazaleh erschrickt, muss aber mitspielen. Ihre Familie gehört zur Oberschicht. Ghazaleh ist streng erzogen worden. Die Regeln sind klar. Frauen haben zu gehorchen, sich gut zu verheiraten, weil das ihr höchstes Glück bedeutet. So sind die Dinge. So sind sie in Ghazalehs Kopf verankert. Ehre kann sie der Familie nur durch die vorbestimmte Heirat bringen. Mit diesem Glaubenssatz ist sie aufgewachsen, sie selbst hält ihn für richtig. Ihren Freund zu vermissen, kommt ihr inzwischen unreif vor. Bald wird sie eine respektable Frau sein.

Am Tag ihrer Hochzeit wird Ghazaleh aufgeklärt, vor allem darüber, dass Mahmud jetzt ihren Körper besitzt und deshalb alles mit ihr tun darf, zu jeder Zeit. Was sich an die pompöse Hochzeitsfeier anschließt, ist ein Martyrium von zwölfeinhalb Jahren. Ghazaleh ist als Jugendliche völlig überfordert von ihrem erwachsenen Ehemann, der im Schlafzimmer Dinge von ihr verlangt, die sie anwidern und erschrecken. Als sie sich zu verweigern versucht, wird sie zum ersten Mal von ihm geschlagen. Kurze Zeit nach der Hochzeit ist Ghazaleh bei ihrer Mutter zu Besuch. Sie fleht sie an, zurückkehren zu dürfen. Sie hält es mit dem brutalen, fordernden Mann nicht aus. Die Mutter macht Ghazaleh unmissverständlich klar, dass das unmöglich sei, die Familie einen solchen Reputationsschaden nicht hinnehmen könne. Es werde besser mit der Zeit, ist alles, was ihr die Mutter mitgeben kann.

Ghazaleh wird von Mahmud wegen Kleinigkeiten beleidigt und beschimpft, was auch die Nachbarn mithören. Er schlägt sie oft ohne Grund, aber vor allem, wenn sie versucht, sich zu verweigern. Zur Strafe vergewaltigt er sie, oft mehrmals in der Nacht. Mit siebzehn ist Ghazaleh Mutter eines Sohnes. Seine Geburt war schwer.

Mahmud handelt sich mit seiner aggressiven, aufbrausenden Art bei seiner Beamtenstelle Schwierigkeiten ein und entscheidet, dass die Familie das Land verlassen solle. Ghazaleh ist inzwischen auch Mutter eines kleinen Mädchens geworden. Sie hat heimlich Schwangerschaften abgebrochen, weil sie keine Kinder mehr von ihrem Mann wollte. Ghazaleh versucht erneut, sich von ihm zu trennen, will nicht mit ihrem Mann in ein fremdes Land fliehen. Doch auch diesmal macht ihr die Mutter klar, dass sie ihren Mann nicht verlassen könne. Sie werde sonst ihre Kinder nie wiedersehen. Kinder gehören gemäß islamischem Recht zur Familie des Mannes. Im Falle einer Scheidung bleiben sie in dessen Familie.

Dann ist der Tag da: Ghazaleh und Mahmud fliegen mit den beiden Kindern nach Belgrad. Ihre Flucht soll von dort auf dem Landweg nach Deutschland führen. In Belgrad trifft Mahmud auf einen Landsmann, der ihm von der Flucht über die Balkanroute abrät und ihm den Weg über Griechenland empfiehlt. Heute greift sich Ghazaleh an den Kopf, wie dumm ihr Mann gewesen sei. »Wir waren doch schon viel weiter. Dann sind wir zurückgefahren und auf Lesbos gestrandet.«

Im Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos kommt Ghazaleh in Kontakt mit einer Sozialarbeiterin, die ihr erklärt, dass sie die gleichen Rechte wie ihr Mann habe, sich nichts von ihm gefallen lassen müsse und sich jederzeit scheiden lassen könne, ohne ihre Kinder zu verlieren. Ghazaleh fasst Mut und reicht den Scheidungsantrag ein. Darauf schenkt ihr Mahmud zum ersten Mal im Leben eine Blume. Ghazaleh wirft sie auf den Müll und hält an der Scheidung fest. Ihr Mann ist außer sich und droht, sich umzubringen. Er legt sich einen Strick um den Hals und versucht, sich an einem Baum im Flüchtlingslager zu erhängen. Der Sohn entdeckt den Vater und fleht die Mutter an, die Familie wieder zu vereinen. Doch Ghazaleh bleibt bei ihrem Entschluss. Sie setzt ihrem Sohn auseinander, dass sie in ein Land gekommen seien, in dem Frauen nicht hinnehmen müssten, von ihren Ehemännern entwürdigt zu werden. Sie könne und werde das nicht mehr aushalten. Sie stellt es dem Zehnjährigen frei, mit seinem Vater zu leben. Ihr Sohn entscheidet sich für sie und seine kleine Schwester. Ghazaleh und die Kinder werden vom Vater getrennt und bekommen in einem Frauenhaus in Mytilini, der Hauptstadt von Lesbos, ein Zimmer für sich.

Ghazaleh findet eine Stelle bei einer Hilfsorganisation und arbeitet vier Vormittage in der Woche. Mit ihrem Gehalt kann sie sich schon bald eine eigene kleine Wohnung leisten. Die Iranerin blickt voller Zuversicht auf ein neues Leben, in dem sie unerwartet die Freiheit geschenkt bekommen hat. Plötzlich ist alles möglich – Selbstbestimmung, Kinder, die sie erziehen kann nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Ghazaleh hat in Griechenland Asyl erhalten. Zwangsehe und sexuelle Gewalt sind anerkannte Asylgründe. Ihr Mann ist in die Türkei ausgereist. Eine neue Bekanntschaft mit einem Mann, der ebenfalls aus Iran geflohen war, hat Ghazaleh nach kurzer Zeit wieder abgebrochen. Sie möchte keinen Mann mehr, der nur Sex von ihr will, sie als Objekt oder Trophäe betrachtet, mit dem es keinen Austausch auf Augenhöhe gibt, keine Gemeinsamkeit entstehen kann. Am meisten vermisst sie ihre Mutter, ihre Schwester und ihre Freundinnen. Noch findet sie es schwierig, allein für alles verantwortlich und zuständig zu sein, für die Wohnung, das Einkommen, die Schulen der Kinder. Niemand hat das je von ihr verlangt oder ihr zugetraut. Und es gibt so vieles zu entscheiden, zu organisieren, zu bestimmen. Manchmal ist sie verzagt, möchte jammern und muss sich zusammenreißen.

Farnaz Ahmadi, Zürich, 2022 (Foto Patrizia Grab)

Farnaz Ahmadi, Afghanistan

Der Wunsch zu heiraten

Die Sofas an den Wänden der modernen Wohnung in der Zürcher Agglomeration erinnern an einen arabischen Repräsentationsraum. Javid hat die Haare blond gefärbt. Farnaz begegnet ihm auf Augenhöhe. Ich bin unsicher, ob ich die beiden duzen soll, bleibe beim Sie. Sie sind so jung und so beeindruckend.

Farnaz Ahmadi ist Afghanin, wurde 1997 in Iran geboren. Ihre Eltern sind lange vor ihrer Geburt ausgewandert, auf Arbeitsuche. Afghanistan hat Farnaz nur zweimal besucht. Da war sie noch ein kleines Kind; sie kann sich nicht daran erinnern. Sie, ihre Eltern und die vier Brüder leben illegal in Iran, wie das viele Afghan:innen tun. Sie sind dort geduldet.

Eine Freundin von Farnaz lernt Javid in Qum, einer Stadt nördlich von Teheran, kennen. Er ist Schneider und sucht nach Möglichkeiten, seine Kleider im touristischen Kashan zu verkaufen, wo Farnaz wohnt. Die Freundin schlägt vor, dass er Farnaz kennenlernen soll; sie schneidere viel für ihre Familie, kenne Stoffhändler und könne ihm vielleicht auch Kund:innen vermitteln. Und Farnaz kann Javid helfen. Sie vermittelt ihm Kontakte, spricht mit ihm Qualitäten und Preise ab. Er liefert die bestellten Kleider.

Bei den Muslimen gibt es zwei große Glaubensrichtungen, Schiiten und Sunniten. Farnaz gehört den in Afghanistan mehrheitlich vertretenen Sunniten an, Javid ist Schiit. Sie stammt aus der Volksgruppe der Paschtunen, er ist Hazara. Kein Gedanke, dass sie sich näherkommen könnten; zu groß sind die religiösen und gesellschaftlichen Unterschiede. Und doch verlieben sie sich ineinander. Farnaz ist sechzehn, Javid ein Jahr älter. Eineinhalb Jahre gelingt es ihnen, ihre Liebe geheim zu halten. Sie wohnen in verschiedenen Städten, und wenn Javid Farnaz besucht, muss sie sich eine Ausrede einfallen lassen, um das Haus verlassen zu können und ihn zu treffen. Sie gibt meist vor, Stoff einkaufen zu wollen. Kontakt halten sie per Smartphone.

Obwohl es eigentlich unmöglich ist, dass sie heiraten könnten, spricht Javid bei Farnaz’ Familie vor und bittet um die Hand der einzigen Tochter. Farnaz’ Vater ist empört und lehnt den Antrag rundweg ab. Er nimmt seiner Tochter das Smartphone ab. Javid beschafft ihr heimlich ein neues. Die beiden sind ernüchtert, geben sich aber nicht geschlagen.

Javids Vater war General in der afghanischen Armee. Vielleicht hilft sein Prestige, Farnaz’ Vater zu beeindrucken. Javid hat seine Familie jedoch im Streit verlassen. Er muss sich erst mit seinem Vater aussöhnen, um ihn bitten zu können, ihnen zu helfen. Der Exgeneral lässt Javid zappeln, willigt aber schließlich ein, von Vater zu Vater, um die Hand von Farnaz anzuhalten. Die beiden Väter verschanzen sich im Wohnzimmer. Hinter verschlossenen Türen brüskiert Farnaz’ Vater den General mit übertrieben hohen Mitgiftforderungen. Der ehemalige General fühlt sich beleidigt. Die beiden Väter geraten in Streit. Die Sache steht schlimmer als zuvor.

Nun wird Farnaz’ Vater aktiv. Er will seine Tochter so schnell wie möglich verheiraten, und zwar nicht etwa in Iran, wo die Familie lebt, sondern in der alten Heimat Afghanistan. Farnaz’ Mutter ahnt nichts Gutes. Sie stammt aus Kabul, hat die Schule besucht und war vor der Machtübernahme der Taliban gewohnt, ohne Burka auf die Straße zu gehen. Farnaz’ Vater kommt aus der Provinz, aus einem kleinen Dorf südlich von Kabul. Die beiden wurden verheiratet, weil man dem früh mutterlos gewordenen jungen Mann eine lebenslustige Frau zur Seite stellen wollte. Farnaz’ Mutter wurde nicht gefragt, was sie davon hielt. Sie befürchtete damals, im Dorf des Vaters ans Haus gebunden zu sein und keine Kontakte nach außen mehr haben zu dürfen. Die gemeinsame Flucht nach Iran erlaubte ihr dann ein freieres Leben. Nun bangt sie um die Tochter, die das Schicksal ereilen könnte, das ihr erspart geblieben ist: das Leben einer verheirateten Frau in einer traditionellen Dorfgemeinschaft im ländlichen Afghanistan, wo Frauen das Haus nur in Begleitung von männlichen Verwandten verlassen dürfen, verhüllt von einer Burka. Hier werden Frauenrechte, anders als in den Städten oder in gebildeteren Schichten, noch weniger respektiert. Die Mutter erklärte Farnaz, dass Frauen, die gemeinsam ohne männlichen Begleiter auf der Straße gesehen würden, Gefahr liefen, von den Religionshütern geschlagen zu werden, egal ob sie die Burka trügen oder nicht. Wer zu den Taliban gehörte, sei während der westlichen Präsenz in Afghanistan, als sich die Taliban bedeckt hielten, nicht an der Kleidung zu erkennen gewesen. Frauen trauten sich auf dem Land deshalb kaum allein vor die Tür. Jeder Passant könnte sich als Religionshüter entpuppen, einen Stock nehmen und auf sie einschlagen. »Auf dem Land«, zitiert Farnaz ihre Mutter, »soll jeder Zweite ein Taliban sein. Und die andere Hälfte sei eingeschüchtert und arbeite mit ihnen zusammen.«

Der Vater findet einen Bräutigam. In sechs Monaten wird Farnaz in Afghanistan heiraten. Die Mutter hat in dieser Sache nichts zu sagen, Farnaz sowieso nicht. Sie lernt ihren Zukünftigen nicht kennen; ihr wird nur gesagt, dass die Familie reich und angesehen sei und sehr traditionell. Für den Vater bedeutet diese Heirat eine große Ehre. Sie soll ihn wieder enger mit seinem Heimatland und seinem Dorf verbinden. Er hatte es als Halbwaise verlassen, wurde von der neuen Frau seines Vaters vertrieben, wanderte auf Arbeitsuche mit seiner jungen Frau nach Iran aus.

Javid erkennt, dass er handeln muss, um Farnaz eine Zwangsehe in Afghanistan zu ersparen. Er ruft sie aus Qum an und schlägt ihr vor, gemeinsam zu fliehen. »Er sagte, wir gehen nach Europa. Ich dachte, er macht Spaß.« Zwei Tage später steht Javid bei ihr vor der Tür. Er hat seinen ganzen Besitz verkauft und ist bereit. Eine Woche bleibt er heimlich in der Stadt, um die Flucht zu organisieren. Farnaz freundet sich schnell mit dem Gedanken an. Es gibt keinen anderen Ausweg, sie müssen fliehen, wenn sie der Heirat in Afghanistan entgehen will. Und dann ist es so weit. Farnaz sagt zu ihrer Mutter, dass sie noch kurz aus dem Hause müsse, um etwas zu besorgen – und geht. Für immer. Ohne Abschied. Sie ist achtzehn Jahre alt.

Am selben Abend erreicht das junge Paar Teheran. Sie haben keine Papiere. Aber Javid hat sich informiert. Der Azadi-Platz unter dem pompösen Freiheitsturm (Azadi bedeutet Freiheit auf Farsi) ist ein beliebter Treffpunkt in Teheran. Der Platz ist auch der Ort, wo man Schlepper findet, eine Art Freiluftreisebüro. Kontaktleute der Schleuserorganisationen machen hier diskret ihre Angebote. Fluchtwillige wägen die Offerten ab, vergleichen Preise, Transportmittel, Fluchtrouten und Sicherheitsaspekte, fragen Fakten ab, über die Größe der Gruppen, die Erfolgsquoten. Es herrscht Konkurrenz unter den Schleppern. Aber vor allem ist Vorsicht geboten. Auf dem Platz sind iranische Spitzel unterwegs, die Fluchtwillige aufgreifen. Flucht ist Landesverrat.

Javid und Farnaz kommen mit einem Anbieter überein, der vertrauenswürdig wirkt und ihnen die Flucht von Teheran nach Athen zum Preis von zweitausend US-Dollar pro Person verkauft. Zahlbar bei Ankunft in Athen. Das Geld ist bei einer Vertrauensperson in Iran hinterlegt. Diese wird den Schleppern das Geld aushändigen, wenn sie von Javid aus Athen den Anruf erhält, dass alles gutgegangen ist. Die Schlepper arbeiten auf eigenes Risiko, verstehen aber keinen Spaß. Wer versucht, sie auszutricksen, und nach überstandener Flucht nicht bezahlen will, wird umgebracht. Ein Mann soll erschossen worden sein, weil er seine Vertrauensperson in Teheran nicht kontaktieren konnte und die Schlepper ihm das nicht glaubten. In diesem Hochrisikogeschäft werden keine Unregelmäßigkeiten geduldet.

Erste Fluchtetappe für Farnaz und Javid ist die Strecke von Teheran nach Urmia, in der Nähe der türkischen Grenze, gute achthundert Kilometer entfernt. Die Flucht beginnt sehr früh am nächsten Morgen. Sie treffen auf eine ganze Gruppe Flüchtender. Aus den Fluchtautos sind die Sitze entfernt worden, damit man die Köpfe der Insassen nicht sieht. Die Gruppe umfasst fünf Wagen und rund dreißig Flüchtende. Dreimal wechseln sie auf der Strecke an die türkische Grenze die Fahrzeuge und damit auch den fahrenden Schlepper. Die Schlepper gehören alle zur selben Organisation. Gefahren wird in losen Autokolonnen. Das erste Fahrzeug hat keine Flüchtenden an Bord und nur die Aufgabe, die folgenden Fahrzeuge vor Polizeikontrollen zu warnen. Gibt es eine Kontrolle, verlassen die nachfolgenden Fluchtautos die Hauptstraße und schlängeln sich auf Nebenstraßen oder fahren durchs Hinterland in großem Bogen am Kontrollposten vorbei. Der Fahrer des Wagens, in dem Farnaz und Javid sitzen, brüstet sich damit, der Polizei schon erfolgreich bei einer Verfolgungsjagd entwischt zu sein. Am Nachmittag hält der Fahrzeugkonvoi. Alle Flüchtenden verstecken sich im Haus eines Helfers. Dicht gedrängt warten sie, trauen sich kaum, sich zu unterhalten. Plötzlich das Signal, es geht weiter. Die Flüchtenden verteilen sich wieder auf die Fahrzeuge. Nacheinander treffen die Autos auf einer Wiese mit Apfelbäumen ein. Die Flüchtenden müssen auf Lastwagen umsteigen, die Apfelkisten geladen haben. Unter den Kisten versteckt, werden sie an Polizeikontrollen vorbeigeschmuggelt.

Wieder heißt es umsteigen. Für Farnaz und Javid geht die Fahrt im Personenwagen weiter. Auch diesmal müssen sie ihre Köpfe unten behalten; man soll nicht sehen, dass Menschen im Auto zusammengepfercht sind. Vor den Flüchtenden liegt eine Passstraße, an der sich Heckenschützen verstecken. Der kleine Konvoi kommt der türkischen Grenze immer näher. Mit Lichtzeichen geben sich Schlepper und lokale Helfer Signale, ob die Strecke frei ist. Einmal blinken bedeutet Gefahr. Dreimal blinken heißt, dass es losgehen kann. Dann sind sie an der türkischen Grenze. Alle Flüchtenden müssen aussteigen. Das letzte Stück soll zu Fuß bewältigt werden.

Sie sind müde und nach der langen Fahrt ganz steif. Aber der Schlepper drängt. Er hat das Sagen. Das ist Teil des Deals, den sie in Teheran eingegangen sind. Die Grenze zur Türkei ist bewacht. Der Automotor könnte zu hören sein und die Kontrollposten auf die Flüchtlinge aufmerksam machen. Auch wenn die Grenzer mitspielen, weil sie ihren Anteil erhalten, soll der Grenzübertritt so diskret wie möglich geschehen. Der Schlepper hat das Schmiergeld für den türkischen Grenzposten bereit. Er schickt die Flüchtenden los, macht sich selbst auf den Weg zur Übergabe. Die Grenze verläuft auf der Passhöhe. Farnaz, Javid und die anderen Flüchtenden steigen im Dunkeln auf einem Bergweg in die Höhe, kommen nur langsam vorwärts. Dann haben sie die Grenze vor sich. Sie ist beleuchtet und mit einem Stacheldrahtzaun gesichert. Die Flüchtenden beeilen sich in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden und das heimlich offen gehaltene Loch im Zaun schnell zu finden.

Bis in die Türkei haben Farnaz und Javid vierzehn Stunden gebraucht. Sie sind auf einer einsamen Passhöhe gelandet. Todmüde und erschöpft steigen sie in der Dunkelheit bergab und erreichen irgendwann ein Dorf, wo man die Flüchtenden bereits erwartet und sie rasch in den Häusern verschiedener Dorfbewohner unterbringt. Die Fluchthelfer arbeiten Hand in Hand. Javid vermutet, dass es kurdische Großfamilien sind, die in den Ländern entlang der Flüchtlingsrouten leben und die Menschen auf ihrer Flucht durchschleusen, um sich so vom großen Kuchen des Fluchtgeschäfts ein Stück abzuschneiden.

Eine Frau, die schon länger mit Farnaz und Javid unterwegs ist, startete in Teheran mit hohen Absätzen; sie hatte sich die Flucht einfacher vorgestellt. Auf dem Weg über den Pass zog sie ihre Schuhe aus und ging barfuß weiter. Im Dorf angekommen, bluten ihre Füße und sind geschwollen. Sie leidet furchtbar, kann nicht mehr gehen. Die Schlepper lassen die flehende Frau zurück. Die Gastgeber sind wenig begeistert; die Frau ist ein Sicherheitsrisiko. Sie darf das Haus nicht verlassen und muss sich ruhig verhalten. Man gibt ihr zwei Tage Zeit, ihre Füße zu kurieren, um mit der nächsten Gruppe Flüchtender weiterziehen zu können.

Schlepper bringen Farnaz und Javid durch die Türkei weiter bis an die Küste vor Lesbos. Sie bekommen Schwimmwesten ausgehändigt. Es ist Nacht, alles muss schnell und unauffällig gehen. Die Schlepper treiben die Gruppe Flüchtender, zu der Farnaz und Javid gehören, wie eine Viehherde auf die Schlauchboote. Und schon legen die Boote ab. Auf der anderen Seite der Meerenge sehen Farnaz und Javid einzelne Lichter. Das ist Europa!