Freaky Deaky - Elmore Leonard - E-Book

Freaky Deaky E-Book

Elmore Leonard

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Beschreibung

Chris Mankowski ist es endgültig leid, für das Bombendezernat in Detroit zu arbeiten. Aber mit seiner Versetzung in die Abteilung für Sexualdelikte gehen die Probleme erst richtig los. Gleich am ersten Tag stolpert er in einen brisanten Fall hinein: Die junge Schauspielerin Greta Wyatt erstattet Anzeige gegen Woody Ricks. Der Millionär soll sie auf einer Party vergewaltigt haben. Doch nicht nur Mankowski hat Ricks im Visier: Auch die beiden ehemaligen Bombenbauer Robin Abbott und Skip Gibbs haben es auf den Millionär abgesehen, der sie an das FBI verraten haben soll. Wieder auf freiem Fuß planen Abbott und Gibbs, ihre explosiven Fähigkeiten erneut einzusetzen …

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Elmore Leonard

Freaky Deaky

Kriminalroman

Aus dem amerikanischen Englisch von Uwe Anton

Kampa

Für meine Frau Joan,

die mich auf den Titel brachte

und mich immer mit einem bestimmten Blick

ansieht, wenn ich zu weitschweifig schreibe.

1

Um zwei Uhr mittags an seinem letzten Arbeitstag, zwei Stunden bevor er endgültig aufhörte, bekam Chris Mankowski den Anruf, er müsse eine Bombe entschärfen.

Ein Bursche namens Booker, fünfundzwanzig, zweimal verurteilter stadtbekannter Rauschgifthändler, saß im Whirlpool, als sein Telefon klingelte. Er rief seinem Leibwächter, Juicy Mouth, zu, er solle rangehen. »He, Juicy?« Sein Leibwächter, sein Fahrer und sein Hausangestellter mussten irgendwo herumlungern. »Geht jemand mal ans Telefon?«

Das Telefon klingelte weiter. Es musste fünfzehnmal geklingelt haben, bevor Booker aus dem Whirlpool war, den grünen Satinbademantel übergezogen hatte, der genau zu dem Smaragd in seinem linken Ohrläppchen passte, und den Hörer abhob.

»Wer ist da?«, fragte Booker.

Eine Frauenstimme sagte: »Sitzt du?«

Das Telefon stand auf einem Tisch neben einem grünen Ledersessel. Booker liebte grün.

»Baby, bist du’s?«, sagte er. Es schien Moselle zu sein, seine Frau.

»Sitzt du? Bei dem, was ich dir zu sagen habe, ist es besser, wenn du sitzt.«

»Baby, deine Stimme klingt so komisch«, sagte Booker. »Was ist los?« Er setzte sich in den grünen Ledersessel, runzelte die Stirn und schob seinen Hintern ein Stück zur Seite, um es bequemer zu haben.

»Sitzt du?«, fragte die Frauenstimme.

»Ja, ich sitze«, sagte Booker. »Verdammt, ich hab mich gesetzt. Was willst du mir denn sagen?«

»Ich will dir nur sagen, Schatz«, erwiderte Moselles Stimme, »wenn du jetzt aufstehst, wird das, was von deinem Arsch noch übrig ist, glatt durch die Decke fliegen.«

 

Als Chris ankam, ließ ihn ein Beamter in Uniform herein. Vor dem Haus standen Streifenwagen des dreizehnten Reviers und ein Panzerwagen. Der Beamte erklärte Chris, Booker habe die Polizei angerufen. Die Zentrale habe ihn über Funk hierhergeschickt, und als er feststellte, um wen es sich handelte, habe er die Drogenfahndung angerufen. Die Jungs hätten sich nicht lange bitten lassen; sie hätten schon lange von der Chance geträumt, das Haus mal mit ihren Hunden zu durchstöbern.

Ein Bursche von der Drogenfahndung, der wie ein junger Penner aussah, erklärte Chris, Booker sei der Erfolg nur so zugeflogen: Er habe sich bei den Organisationen hochgedient, die den Stoff auf der Straße verteilten, bei den Young Boys Incorporated und den Pony Down Boys, und stehe nun auf der dritthöchsten Ebene des Verteilerrings. »Sehen Sie sich doch mal um, ein Bursche von fünfundzwanzig Jahren und lebt in einem Haus am Boston Boulevard, einem wahren Landsitz, der früher mal einem der Automobil-Pioniere von Detroit gehört hat.« Welchem, wusste der Beamte von der Drogenfahndung nicht. »Sehen Sie doch mal, wie Booker das Haus verschandelt hat. All die schönen Eichentäfelungen hat er kackgrün angestrichen!« Er fragte Chris, wieso er allein gekommen sei.

Chris sagte, die anderen Jungs der Abteilung seien unterwegs, um illegale Feuerwerkskörper einzusammeln, doch es würde noch ein Kollege kommen, Jerry Baker. »Wissen Sie, was heute für ein Tag ist?«, fragte Chris und wartete, bis der Beamte von der Drogenfahndung sagte: »Nein, was für einer?«

»Heute ist mein letzter Tag in der Abteilung. Nächste Woche werde ich versetzt.« Und er wartete wieder.

»Na, und?«, sagte der Bursche von der Drogenfahndung.

Er kapierte nicht.

»Es ist das letzte Mal, dass ich eine Bombe entschärfen muss, wenn es hier wirklich eine gibt, und ich hoffe bei Gott, dass ich keinen Fehler mache.«

Der Bursche kapierte immer noch nicht. »Tja, Booker hat gesagt, es ist eine Bombe«, entgegnete er. »Er steht auf, und die Bombe geht los. Was für eine Bombe ist das?«

»Das weiß ich erst, wenn ich sie mir angesehen habe«, sagte Chris.

»Booker meint, es sind die verdammten Italiener, die ihm eine Warnung zukommen lassen wollen«, sagte der Bursche von der Drogenfahndung. »Klingt einleuchtend … sonst hätten sie das Arschloch ja gleich umlegen können. Bookers Leibwächter werden wir wohl auf irgendeinem Parkplatz in der Innenstadt finden. Im Kofferraum seines Wagens, mit zwei Löchern im Kopf. Booker ist ein verdammter Drogenschieber, Mann. Wenn es noch so was wie Gerechtigkeit auf der Welt gäbe, würden wir ihn einfach auf seinem Arsch sitzen lassen. Soll er doch sehen, wie er selbst damit klarkommt.«

»Schaffen Sie Ihre Leute aus dem Haus«, sagte Chris. »Und wenn mein Partner hier eintrifft, halten Sie kein Plauderstündchen mit ihm, ja? Ich lasse Sie wissen, ob wir die Feuerwehr oder einen Krankenwagen brauchen oder ob wir auch die Häuser in der Nachbarschaft evakuieren müssen. Wo ist Booker?«

Der Bursche von der Drogenfahndung führte Chris den Gang entlang zum hinteren Teil des Hauses. »Warten Sie mal, bis Sie sehen, was der Knallkopp mit der Bibliothek angestellt hat. Die sieht aus wie ein verdammtes Zelt.«

Genauso sah sie aus. Grünweiß gestreifter, grober Stoff fiel von der Mitte der hohen Decke zu den Wänden hinab. Der Whirlpool blubberte in der Mitte des Zimmers vor sich hin, eingerahmt von grünen Fliesen. Booker saß hinter dem tiefer gelegten Becken in einem grünen Ledersessel. Er umklammerte mit gespreizten Fingern die abgerundeten Lehnen. Hinter ihm war eine Glastür, die auf einen Innenhof ging.

»Ich warte auf Sie«, sagte Booker. »Wissen Sie, wie lange ich schon auf Sie warte? Ich habe keine Ahnung, wo die andern sind, ich hab nach ihnen gerufen … haben Sie Juicy Mouth gesehen?«

»Wer ist Juicy Mouth?«

»Angeblich mein Leibwächter. Mann, ich muss aufs Klo.«

Chris trat zu ihm und musterte die Unterkante des Sessels. »Was hat die Frau am Telefon gesagt?«

»Es war das Miststück, das mich angeblich liebt.«

»Was hat sie gesagt?«

»Dass ich in die Luft fliege, wenn ich aufstehe.«

»Das ist alles?«

»Ob das alles ist? Mann, das ist endgültig, das ist alles, was es noch gibt, sonst nichts mehr.«

»Aha, und glauben Sie ihr?«, fragte Chris.

»Du Arschloch, erwartest du etwa, dass ich aufstehe und es ausprobiere?«

Chris trug einen beigen Tweedmantel, einen alten mit ausgebeulten Taschen. Er holte eine Mini-Mag-Taschenlampe aus der linken Seitentasche, legte sich flach auf den Boden und richtete den Lichtstrahl auf den zehn Zentimeter tiefen Raum zwischen Sessel und Boden. Da war nichts. Er richtete sich auf die Knie auf, legte die Taschenlampe auf den Boden, holte ein rostfreies Spider-Co-Taschenmesser aus der rechten Seitentasche und klappte die kurze Klinge mit einer schnellen, geübten Bewegung der rechten Hand auf.

»He«, sagte Booker und grub sich tiefer in den Sessel.

»Legen Sie sich was über«, sagte Chris. »Ich will Ihnen nicht aus Versehen was abschneiden.«

»Mann, passen Sie ja auf«, sagte Booker und nahm die Arme von den Sessellehnen, um den Bademantel zwischen seinen nackten Beinen bis zum Zwickel zusammenzuraffen.

»Fühlen Sie irgendwas unter sich?«

»Als ich mich setzte, fühlte es sich … na ja, anders an.«

Chris schlitzte den Polster des Sessels auf, zog die Ecken auseinander und sah hinein. »Hmmmmm«, sagte er.

»Was meinen Sie, hmmmmm«, sagte Booker. »Sparen Sie sich Ihr Hmmmmmm. Verdammt, was ist da drin?«

Chris sah zu Booker auf. »Zehn Stangen Dynamit«, sagte er.

Booker umklammerte wieder die Lehnen, und sein Oberkörper ruckte steif hoch. »Holen Sie die Scheiße da raus, Mann«, sagte er zu Chris, »holen Sie sie raus, holen Sie sie raus!«

»Irgendjemand mag Sie nicht, Booker«, sagte Chris. »Zwei Stangen hätten vollauf gereicht.«

»Holen Sie diese Scheiße jetzt endlich raus?«, sagte Booker. »Machen Sie schon.«

Chris kauerte sich auf die Fersen und sah zu Booker hoch. »Ich fürchte, wir haben da ein Problem.«

»Was für ein Problem? Wovon reden Sie?«

»Na ja, der größte Teil der Schaumfüllung wurde herausgenommen. Und jetzt liegt etwas auf dem Dynamit, das ganz nach einer ziemlich dünnen, leicht brennbaren Gummifolie aussieht.«

»Nun ziehen Sie die Scheiße doch raus, Mann. Kapieren Sie nicht? Sie sollen sie rausziehen!«

»Ja, aber ich sehe den Zünder nicht. Er muss im hinteren Teil sein, da, wo man den Reißverschluss des Kissens öffnen kann.«

»Dann öffnen Sie das verdammte Ding.«

»Das kann ich nicht, Sie sitzen drauf. Es ist wahrscheinlich ein beidseitig funktionierender Druckzünder oder so. Ich kann’s nicht genau sagen, aber ich vermute es.«

»Sie vermuten es?«, sagte Booker. »Sie meinen, Sie wissen nicht genau, was Sie zu tun haben.«

»Es gibt alle möglichen Arten von Zündern«, sagte Chris. »Ich muss ihn sehen, erst dann kann ich sagen, was für einer es ist … und ob ich ihn entschärfen kann oder nicht. Verstehen Sie?«

»Jetzt warten Sie mal. Haben Sie gesagt, ob Sie ihn entschärfen können?«

»Und ich komme nur an ihn ran«, sagte Chris, »wenn ich die Lehne des Sessels aufschneide.«

»Dann schneiden Sie sie gefälligst auf! Der Sessel ist mir scheißegal.«

»Tja, wenn wir die Lehne aufschneiden … all diese schwere Holzwolle und die Federn …« Chris hielt inne. »Ich weiß nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf.

»Hören Sie, Sie Arschloch«, sagte Booker. »Holen Sie diese Scheiße unter mir weg. Schneiden Sie den Sessel auf, machen Sie, was Sie wollen, aber holen Sie sie unter mir weg.«

»Andererseits«, sagte Chris, »ist es vielleicht gar keine Bombe. Vielleicht ist nur Dynamit da drinnen. Verstehen Sie, um Ihnen Angst zu machen, damit Sie nicht aus der Reihe tanzen. Ich meine, hätte irgendwer einen Grund, Sie umzubringen?«

»Sie meinen, die haben das bloß da reingestopft, wollen mich aber gar nicht wirklich in die Luft jagen?«

»Ja.«

»Nur, um mir zu zeigen, was passieren könnte?«

»Vielleicht.«

»Sie meinen, ich könnte einfach aufstehen, und das, was sie am Telefon zu mir gesagt hat, war nur Quatsch?«

»Wäre möglich«, sagte Chris, »aber ich würde das Risiko nicht eingehen.«

»Ach, würden Sie nicht?«

»Mal sehen, was mein Partner davon hält, wenn er kommt.«

»Mann«, sagte Booker, »ich muss dringend aufs Klo.«

 

Chris sah, wie Jerry Baker die Größe des Hauses einzuschätzen versuchte, als er den Bürgersteig entlangkam, ein Stück abseits von den uniformierten Beamten und den blauen Streifenwagen der Polizei von Detroit, die beide Fahrbahnen der Straße blockierten. Jerry hatte heute seinen freien Tag. Er trug eine schwarze Popelinjacke und eine Baseballkappe mit dem Emblem der Detroit Tigers: ein großer Mann, größer und älter als Chris, seit fünfundzwanzig Jahren bei der Polizei, fünfzehn Jahre davon als Bombenentschärfer. Ihm fiel ein, was heute für ein Tag war, und er sagte zu Chris: »Du solltest nicht hier sein.«

In der Tür berichtete Chris ihm von dem grünen Ledersessel, in dem Booker saß.

Und Jerry sagte es noch mal und sah auf die Uhr. »Nein, du solltest nicht hier sein. In vierzig Minuten ist für dich Schluss.«

Er schaute hinaus auf den Burschen von der Drogenfahndung, der auf der Veranda wartete, winkte ihn herbei und sagte ihm, er solle die Feuerwehr und einen Krankenwagen rufen und alle Leute aus der Nähe des Hauses fortschaffen. »Werdet ihr mit der Bombe nicht fertig?«, fragte der Bursche von der Drogenfahndung.

»Wenn nicht, werden Sie’s schon hören«, entgegnete Jerry. »Was meinst du«, sagte er zu Chris, als sie durch den Gang zu dem Raum mit dem Whirlpool gingen, »wird dieses Arschloch es zu würdigen wissen, wenn wir ihm das Leben retten?«

»Du meinst, ob er sich bedanken wird?«, sagte Chris. »Warte, bis du ihn gesehen hast.«

Sie betraten das Zimmer. Jerry blickte zu dem grünweißen Zeltstoff hoch, und Booker sagte: »Habt ihr Arschlöcher euch endlich entschlossen, was zu unternehmen?«

Chris und Jerry sahen einander in aller Ruhe an. Sie enthielten sich jedes Kommentars. Jerry bückte sich, um den aufgeschlitzten Polster zwischen Bookers muskulösen Beinen zu untersuchen, und machte »Hmmmmm«.

»Noch einer, der nur hmmmmm macht«, sagte Booker. »Ich sitze hier auf Dynamit, und das Arschloch macht hmmmmm.«

Jerry stand auf und sah Chris wieder an. »Na ja, der Bursche ist ganz cool. Das ist schon mal erfreulich.«

»Ja, er ist ganz cool«, sagte Chris.

Als Jerry zur Lehne des grünen Ledersessels trat, hob Booker den Kopf. »He, ich muss dringend aufs Klo, Mann.«

Jerry griff über die Rückenlehne und legte Booker die Hand auf die Schulter. »Warte damit lieber. Ich glaube nicht, dass du’s bis dahin schaffst.«

»Du bist gut, warte damit. Ich muss wirklich.«

»Scheint ein flinker Junge zu sein«, sagte Jerry über Booker hinweg zu Chris.

»Ist früher in seinen Joggingschuhen vor der Drogenfahndung abgehauen«, sagte Chris. »War bei den Pony Down Boys. Ja, kann mir vorstellen, dass er ziemlich flink ist.«

Booker saß noch immer kerzengerade und mit erhobenem Kopf da. »Augenblick mal. Was soll das heißen, ob ich schnell bin? Mann, ich bin schnell, darauf kannst du wetten.«

»Wir wollen nur nicht, dass Sie auf die Idee kommen, Sie könnten von Ihrem Sessel in Ihren kleinen Swimmingpool springen und es überleben.«

»Der Whirlpool?«, sagte Booker. »Im Whirlpool kann mir nichts passieren?«

»Das bezweifle ich«, sagte Chris. »Wenn das, worauf Sie sitzen, scharfgemacht ist und sich nicht einer Ihrer Freunde einen Scherz erlaubt hat …«

»Oder wenn’s kein Blindgänger ist …« sagte Jerry.

»Ja, und?«, sagte Booker.

»Wenn’s nur ein Scherz ist …« sagte Chris. »Sie wissen schon, so eine Warnung … dann müssen Sie sich keine Sorgen machen. Aber wenn das Ding scharf ist, geht es in die Luft, wenn Sie aufstehen …«

»Ich könnte nicht schnell genug in den Whirlpool springen?«

»Das bezweifle ich.«

»Könnte sein, dass seine Füße auf dem Boden bleiben«, sagte Jerry. »Hier im Haus.«

»Tja«, stimmte Chris nickend zu. »Aber dass sein Arsch bis nach Ohio fliegt.«

Jerry ging vom Stuhl zu der Glastür. »Wir sollten die Sache mal gründlich besprechen.«

Bookers Kopf folgte Chris Bewegungen. »Wohin geht ihr? He, du Arschloch, ich rede mit dir!«

Chris trat hinaus und schloss die Tür. Er ging mit Jerry zum Rand des Innenhofs und sah dann zu der Glastür zurück, die im Licht der Nachmittagssonne funkelte. Sie konnten Booker leise fluchen hören. Sie gingen über den Hof, und Jerry bot Chris eine Zigarette an. Er nahm sie, und sobald sie die Einfahrt erreicht hatten und neben der Garage für drei Autos standen, ganz allein auf dem Innenhof, gab Jerry ihm Feuer. Jerry sah zu den Ulmen hoch. »He, die fangen ja endlich zu knospen an«, sagte er. »Ich dachte schon, der Winter würde sich bis in den Mai halten.«

»Das Haus gefällt mir gut«, sagte Chris. »Im englischen Tudorstil, bevor Booker es in die Finger bekam.«

»Warum kauft ihr euch nicht eins, du und Phyllis?«, fragte Jerry.

»Ihr gefallen Wohnungen besser. Die entsprechen ihrem Bild von meiner Karriere.«

»Sie muss ja wahre Luftsprünge machen, wo sie endlich ihren Willen durchgesetzt hat.«

Chris sagte nichts.

»Ich meine, dass du das Dezernat verlässt.«

»Ich weiß, was du meinst. Ich hab’s ihr noch nicht gesagt. Ich warte damit, bis ich weiß, wohin ich versetzt werde.«

»Vielleicht kommst du zur Mordkommission, hm?«

»Ich hätte nichts dagegen.«

»Tja, aber Phyllis auch nicht?«

Chris antwortete nicht. Während sie ihre Zigaretten rauchten, hörten sie, wie die Feuerwehr vorfuhr. »He, das war nur ein Witz«, sagte Jerry. »Sei doch nicht so bierernst.«

»Ich weiß, wie du es gemeint hast«, sagte Chris. »Phyllis gehört zu den Menschen, die wirklich mal aufmucken. Wenn ihr irgendwas nicht passt, reißt sie den Mund auf.«

»Ich weiß«, sagte Jerry.

»Daran ist doch nichts auszusetzen, oder?«

»Ich habe ja gar nichts gegen sie gesagt.«

»Tja, Phyllis sagt eben manchmal Dinge, die Männer auch gern sagen würden, sich aber nicht trauen.«

»Ja, weil sie eine Frau ist«, sagte Jerry. »Sie muss keine Angst haben, eins aufs Maul zu bekommen.«

Chris schüttelte den Kopf. »Ich meine damit gar nicht, dass sie jemanden niedermacht oder beleidigt. Neulich waren wir mal auswärts essen, in einem dieser schicken Restaurants, in denen die Kellner sich vorstellen. Dieser Witzbold kommt zu uns an den Tisch und sagt: ›Guten Abend, ich bin Wally. Ich bin heute Abend Ihr Kellner. Möchten Sie vor dem Essen einen Aperitif?‹ Und Phyllis sagt: ›Wally, wenn wir gegessen haben, werden Sie uns dann in die Küche führen und uns den Tellerwäscher vorstellen? Uns ist es völlig egal, wie Sie heißen, solange Sie nur hier sind, wenn wir Sie brauchen‹, sagt sie.«

Jerry grinste und schob seine Tiger-Baseballkappe zurecht. »Das ist gut, das gefällt mir. Diese Burschen gehen mir auch auf die Nerven.«

Sie zogen an ihren Zigaretten. Chris blickte auf seine, wollte gerade etwas sagen, drehte den Filter zwischen Daumen und Zeigefinger, um die Kippe wegzuschnippen, als die Glastür und ein paar Fenster explodierten und graugelbe Rauchwolken herausquollen. Sie standen da und starrten auf den zertrümmerten Eingang, beobachteten, wie Rauch und Staub sich auf Glas- und Holzsplitter senkten, auf Bruchstücke verkohlter, grün-weiß gestrichener Bretter, und die Stille klingelte in ihren Ohren. Nach einem Augenblick gingen sie die Auffahrt hinab und sagten den Leuten, die vor dem Haus warteten, dass ihnen nichts passiert war.

»Tja«, sagte Chris, »da kommt dieser Witzbold also an unsern Tisch und sagt, dass er unser Kellner ist. Aber versteh das richtig, Phyllis wollte keinen Witz reißen, sie hat es ernst gemeint. So ist sie eben.«

2

»Wenn’s nicht regnet«, sagte Skip zu Robin, »muss ich morgen oder übermorgen auf der Belle-Isle-Brücke einen Wagen in die Luft jagen. Dann bin ich fertig. Wir sagen Zssch-Aufnahme dazu, weißt du. Der Wagen fliegt von der Brücke und explodiert mitten in der Luft in einem großen Feuerball, und wenn er dann in den Detroit River stürzt, macht es Zssch, und jede Menge Rauch steigt auf.«

»Irre«, sagte Robin. »Du magst deine Arbeit, was?«

»Na ja, Kinderkram«, sagte Skip. »Du weißt ja, Filme. Aber es macht Spaß. Prima Sache, als Komparse zu arbeiten, den ganzen Tag in der Sonne zu stehen, während der Regisseur und der Star sich dauernd streiten.«

»Heute stand eine Sache in der Zeitung, bei der ich an dich gedacht habe«, sagte Robin. »Über den Typ, der in die Luft gejagt wurde.«

»Ja, hab ich auch gelesen. Jemand hat ihm ein paar Dynamitstangen untergeschoben. Aber ich war’s nicht. Ich hab gearbeitet.« Skip grinste und biss von einer Brotstange ab. »Ich habe seit … hm, ist schon eine Ewigkeit her … kein Dynamit mehr gezündet.«

»Aber du weißt noch, wie man’s macht.«

Skip grinste sie wieder an. »Worauf du wetten kannst. Aber wir haben nur selten so hochexplosives Zeug benutzt.«

Sie saßen in Marios Restaurant in der Innenstadt von Detroit und warteten zwischen weißen Tischtüchern und Ölgemälden von süditalienischen Dörfern auf den Kellner. Skip trank Wodka und knabberte an den Brotstangen, wobei er bei jedem Bissen Butter auf die Stange strich, und Robin rauchte, nippte an ihrem Rotwein und beobachtete Skip durch getönte Brillengläser.

»Bei Kriegsszenen, zum Beispiel, wenn Granaten explodieren, nehmen wir Schwarzpulver und zünden es elektrisch. Und bei der Zssch-Aufnahme, wenn ein Auto über eine Klippe rast und explodiert, schütten wir drei oder vier Gallonen Benzin in Plastikflaschen, binden Zündschnüre drum und lösen sie über Funk aus. Man drückt einfach nur einen Knopf, als würde man seine Garagentür öffnen.«

»Ich parke immer auf der Straße«, sagte Robin.

»Aber du hast mal eine Garage gehabt. Ich weiß noch, dass es früher mal Daddys Garagentür und Mammys Garagentür und Miss Robins Garagentür gegeben hat, nebeneinander in einem großen Haus in Bloomfield Hills.«

»Hast du gewusst, dass Mutter mich zum Gefängnis gefahren hat?«

»Wärst du etwa lieber allein gefahren?«

»Den ganzen Weg nach Huron Valley. Sie hat sich ein graues Nadelstreifenkostüm für die Fahrt gekauft. Sie und der Richter hatten gehofft, ich müsste die Strafe in Alderson verbüßen – mein Gott, West Virginia! – doch Daddy hat mit jemandem in Justizministerium gesprochen.«

»Nett von ihm«, sagte Skip. »Da warst du wenigstens nicht weit weg.«

»Ich hatte auf Pleasanton in Kalifornien gehofft. Dort hätte ich wenigstens etwas Sonne gehabt.«

»Hast du deine Eltern besucht?«

»Daddy ist im Himmel. Herzinfarkt. Und Mutter sehe ich kaum; das kannst du sicher verstehen. Sie ist gerade auf einer Weltreise. Das ist jetzt ihre Lieblingsbeschäftigung. Reisen.«

»Reichlich zynisch«, sagte Skip. »Du bist noch ganz die Alte.«

»Vielen Dank«, sagte Robin. Sie blies ihm Rauch ins Gesicht und trank einen Schluck Wein.

»Mich haben sie in einem Regierungsbus nach Milan gebracht«, sagte Skip. »Wo meine Mammy war, weiß ich nicht. Der Bus hatte Gitter vor den Fenstern, für den Fall, dass wir unsere Handschellen und Fußeisen aufbrechen würden. Ich und ein halbes Dutzend Hispanolas mit Einstichen in den Armen. Ich dachte, wie, zum Teufel, komm ich unter diese Junkies? Mann, ich war ein Politischer. Sie hätten mich in eins von diesen Country-Club-Häusern schicken müssen, in die sie diese Watergate-Arschlöcher gesteckt haben, aber sie haben mich wohl für einen ganz bösen Buben gehalten.«

»Das warst du auch«, sagte Robin. »Als du dieses staatliche Gebäude in die Luft gejagt hast, hast du’s dir endgültig mit ihnen verscherzt.«

»Ja, aber verdammt noch mal, das Geld, das sie einsackten, als wir die Kaution verfallen ließen, wird den Schaden doch wohl gedeckt haben, oder? Jedenfalls einen Teil.« Skip kaute an einer Brotstange; in seinem Bart hatten sich Krümel verfangen. »Mann, als sie uns zum zweiten Mal geschnappt haben … wenn sie da nur die Hälfte von dem gewusst hätten, was ich alles angestellt hatte … ich meine in diesen Jahren im Untergrund.«

»Tja«, sagte Robin, »dieses Zusammenleben mit der großen schweigenden Mehrheit … Ich weiß, warum sie schweigt. Weil sie nichts zu sagen hat. Ich hab Ladendiebstähle begangen, bloß um irgendwas zu tun. Einmal hab ich sogar einen BH gestohlen.«

»Ich hab in einer Kommune in der Nähe von Grants in New Mexico gelebt«, sagte Skip, »mit ein paar übrig gebliebenen Blumenkindern, die sich immer nur angemeckert haben, bis ich’s schließlich nicht mehr ertragen konnte. Ich ging nach Farmington und bekam einen Job als Fernsehmechaniker. Du weißt ja, ich hatte schon immer ein Faible dafür, Scheiße zu verdrahten. Und dann sagte ich mir eines Tages, Mann, wenn du schon ein gesuchter Verbrecher bist, wieso begehst du dann keine Verbrechen? Damals ging ich zum ersten Mal nach L.A.«

»Siehst du dich manchmal in einem Postamt nach deinem Bild um?«

»Ja, aber ich hab’s nie entdeckt.«

»Ich meins auch nicht«, sagte Robin. Sie stützte sich mit den Armen auf den Tisch und beugte sich zu ihm vor. »Als ich schließlich deine Nummer bekam und der Auftragsdienst sagte, du bist in Detroit …«

»Da konntest du’s nicht glauben, was?«

»Weißt du, du hast dich überhaupt nicht verändert«, sagte sie.

»Ich bin vielleicht eine Spur langsamer geworden, aber ich hab noch immer alle Haare. Wenn ich zu Hause bin und dran denke, hebe ich Gewichte.«

»Dein Bart gefällt mir.«

»Ich hab ihn auch schon öfter abgenommen. Zum ersten Mal hab ich mir einen wachsen lassen, als ich drüben in Spanien war. Ich bin sofort nach meiner Entlassung rübergeflogen. Fing als Statist beim Film an und hab mich hochgearbeitet, bis ich Special Effects und Stunts machen durfte. Dieser Sidney Aaronson hat da einen großen Spielfilm mit dem Titel The Sack of Rome gedreht. Aber der Streifen war eher ein Sack Scheiße. Weißt du, wie oft ich in diesem verdammten Film umgebracht wurde?«

Robin sah, wie er dem Kellner winkte, der mit einem Tablett voller Teller an ihrem Tisch vorbeiging. Skip bestellte noch einen Drink und eine Flasche Valpolicella. »Eine Minute«, sagte der kleine, etwa fünfzig Jahre alte Kellner mit starkem Akzent, »eine Minute bitte«, und rannte weiter.

Skip blinzelte ihr zu. »Nimm sie dir. Die Minute.«

»Du hast dich überhaupt nicht verändert«, sagte Robin.

Skip Gibbs lächelte; ein achtunddreißigjähriger Junge, das stumpfe blonde Haar mit einem Gummiband zu einem kurzen Pferdeschwanz zurückgebunden, Brotkrumen im Bart, der ihm bis über die Wangen wucherte; Skip der Werwolf, in einer schwarzen Sportjacke aus Satin, auf deren Rücken in roten Buchstaben das Wort Speedball stand, der Titel eines Films, für den er die Special Effects gemacht hatte: Schwarzpulver-Ladungen hochgejagt und kleine Sprengladungen gezündet, mit denen Einschüsse simuliert wurden. »Und du siehst noch immer umwerfend aus«, sagte er und kniff seine hellblauen Augen zusammen. »Mann, ein schlankes Mädchen mit großen Titten ist schon eine Wucht.« Er starrte auf ihren beigen Baumwollpullover, dessen drei oberste Knöpfe geöffnet waren. »Wie ich sehe, sind sie noch am richtigen Platz.«

»Wenn ich Jane Fondas Aerobic-Video einlege«, sagte Robin, »dann brauch ich mich bloß vor den Fernseher zu setzen, um in Form zu bleiben.«

»Irgendwie hast du dich auch verändert«, sagte Skip. »Sag bloß nicht, dass du eine vegetarische, lesbische Frauenrechtlerin geworden bist, hm? Ich hab wunderbare Erinnerungen an uns beide im Bett … und auf dem Fußboden und in Schlafsäcken und auf den Rücksitzen von Autos …«

Nun lächelte Robin Abbott, ein freundliches Lächeln, ohne damit irgendetwas zuzugestehen; ruhige braune Augen, die durch die gefärbten Gläser vor einem bleichen, schmalen Gesicht schauten, das braune Haar zu einem Zopf zurückgeschlungen, den sie manchmal betastete und streichelte, ein Tau aus Haar, das auf ihre Brüste unter dem Baumwollpullover fiel.

»Dein Haar ist anders«, sagte Skip, »aber sonst …« Er blinzelte ihr zu. »Als ich dich das erste Mal gesehen habe …« sagte er, »damals, im Lincoln Park in Chicago … Mann, ist das lange her. Wir waren damals … wie alt waren wir, neunzehn?«

»Du«, sagte Robin. »Ich war erst achtzehn. Es war am Samstag vor dem nationalen Wahlkongress der Demokraten, am 24. August 1968.« Sie nickte, als ob sie’s vor sich sah. »Im Lincoln Park …«

»Tausende von Leuten«, sagte Skip, »aber du bist mir sofort aufgefallen: Sieh an, eine kleine Studentin von der Universität Michigan. Dabei hatte ich dich nie zuvor in der Schule gesehen. Du hattest ein gestreiftes Top an und hieltst ein Schild hoch, auf dem in großen Buchstaben stand: SCHEISSAUFDIEEINBERUFUNG. Das hast du den Bullen hingehalten Ich hab dich dauernd angestarrt, deine kleinen Warzen waren deutlich unter dem dünnen Stoff zu sehen, und dein Haar war ganz lang, fiel bis auf den Rücken. Mann, dachte ich, da möcht ich mal drin kraulen.«

»Dein Haar war auch länger«, sagte Robin. »Die Bullen zerrten immer dran und wollten dich festhalten. Danach hab ich’s dir zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.«

»Meinst du, das weiß ich nicht mehr?«, sagte Skip und berührte sein Haar. »Normalerweise trag ich’s nicht so, nur an diesem Abend.«

»Dich hätt ich mir in jedem Fall geschnappt«, sagte Robin. »Erinnerst du dich an die erste Nacht? Im Wagen deines Freundes?«

»Wie die Bullen darauf gehämmert haben …« Skip grinste. »Ein ganzer Haufen mit diesen babyblauen Schutzhelmen. Ich schau raus, und diese Schweinsgesichter starren mich an und hämmern gegen das Fenster. ›Was machen Sie da drinnen?‹ – ›Was meinst du, was ich hier drinnen mach, Mann?‹, sage ich. ›Ich bumse!‹ Und dann fangen sie an, auf den Wagen einzuschlagen. Und dann kommt der Bursche angerannt, dem der Wagen gehört, weißt du noch? Er traute seinen Augen nicht. ›He, was macht ihr mit meinem verdammten Wagen?‹ Er geht auf die Bullen los, und sie brechen ihm fast alle Knochen und werfen ihn in die Grüne Minna. Oh, Mann.« Skip rieb sich mit den Knöcheln die Augen. »Ich könnt mich kaputtlachen, wenn ich dran denke.«

»Weißt du noch, wie wir das letzte Mal hier gegessen haben?«, fragte Robin.

Der Kellner erschien mit Skips Drink und der Flasche Wein, öffnete sie und goss einen Schluck in Skips Glas. Robin sah, wie Skip den Wein im Mund behielt und ihr zublinzelte, und einen Augenblick lang dachte sie, er würde ihn ausspucken und dem Kellner eine Szene machen. Skip liebte Szenen. Doch dann schluckte er ihn und lächelte verschmitzt.

»Keine Angst, ich hatte nichts vor. Der Bursche ist ein echter Kellner – trägt einen Smoking und arbeitet wahrscheinlich schon sein Leben lang hier.«

Robin versuchte es geduldig noch einmal. »Weißt du noch, wie wir das letzte Mal hier gegessen haben?«

Skip überlegte. Er sah sich um, vielleicht, um sich besser erinnern zu können. »78 hat man uns geschnappt … Du meinst, nachdem sie uns wieder rausgelassen haben?«

»Davor. Bevor wir in den Untergrund gingen.«

»Mann, das ist aber lange her.«

»Wir waren am 15. Dezember 1971 hier«, sagte Robin, »etwa eine Woche, nachdem wir aus New York zurückgekommen sind.« Sie wartete wieder, während Skip die Stirn runzelte und überlegte. »Wir sind wegen dieser Friedensveranstaltung nach New York gefahren.«

Es fiel ihm ein. »Ja, in dieser großen Kirche.«

»St. John the Divine«, sagte Robin. »Du hast an der Tür Eintrittskarten verkauft und bist mit ungefähr neunhundert Dollar abgehauen.«

»Ich glaube, es war mehr.«

»Neunhundert, hast du mir gesagt.«

»Dieser Volkskongress für irgendwas …«

»Für Frieden und Gerechtigkeit.«

»Ja, sie haben eine Menge Prominente aufgetrieben, die Reden gehalten haben. Es war so gottverdammt langweilig – deshalb hab ich sie beschissen. Ich dachte, die hören überhaupt nicht mehr auf, und so bin ich abgehauen.«

»Aber als wir dann hier gegessen haben, hattest du keinen Cent.«

»Ich hatte inzwischen eine Tonne Acid und ein paar Pfund Gras gekauft.«

»Du sagtest: ›Sieht so aus, als ob wir nach dem Essen schnell verduften müssen‹, und ich sagte: ›Warum gehst du nicht sammeln?‹ Weißt du noch?«

Er blickte sich wieder um. »Ja, Scheiße, ich erinnere mich.«

Robin sah, wie sein Blick durch das Lokal streifte und dann auf einem Musikertrio haften blieb, schwergewichtige Jungs in roten Jacken, zwei mit Gitarren, einer mit einem Bass. Sie sangen an einem Tisch am anderen Ende des Raums »The Shadow of Your Smile«, doch die Gäste ignorierten sie.

»Ich nahm das Brot aus dem Korb, und du bist mit dem Korb von Tisch zu Tisch gegangen«, sagte Robin.

Skip grinste. »Ja, genau. Ich ging zu diesem Pärchen. ›Entschuldigung‹, sagte ich, ›aber hätten Sie etwas Brot für mich?‹ Der Bursche dachte, ich meine wirklich Brot. ›Sagen Sie’s dem Kellner, der bringt Ihnen Brot‹, sagte er todernst. Ich wär am liebsten gestorben.«

»Du redest wie ein Junge von einer Farm in Indiana«, sagte Robin.

»Das kommt davon, dass ich so viel mit diesen beiden Stuntmännern aus Texas herumgehangen hab. Zwei Hinterwäldler, aber nette Jungs. Ich glaube, bis Mr. Mario mir sagte, ich soll mich setzen, habe ich so um die fünfzig, sechzig Mäuse kassiert.«

»Siebenunddreißig«, sagte Robin, »und das Essen und die Getränke machten zweiunddreißig fünfzig. Ich weiß nicht mehr, ob du ein Trinkgeld gegeben hast, aber ich glaub nicht.«

»Na komm … du erinnerst dich an die genaue Summe?«

»Nachdem wir telefoniert haben, habe ich in meinem Tagebuch nachgesehen. Es waren zweiunddreißig fünfzig.«

»Genau, deine Tagebücher. Du hast eine Menge davon vollgekritzelt, wie du deine … hm … Kolumne geschrieben hast.«

»Steht alles drin, was wir angestellt haben«, sagte Robin, »vom Sommer 68 in Chicago bis zum Juni 72, als sie uns geschnappt haben und wir die Kaution verfallen ließen. Ich hab auch noch die Namen von jedem Einzelnen, mit dem wir zu tun hatten.«

»Mir hat dein Zeug immer gefallen, du hattest einen guten Stil. Schreibst du immer noch?«

»In den ersten paar Jahren hab ich die ›Notizen aus dem Untergrund‹ geschrieben. Der Liberation News Service vertrieb sie für mich an die Zeitungen. Nach Huron Valley hab ich vier historische Romane geschrieben, das übliche Zeug mit Romantik und Sex. Hast du mal von Nicole Robinette gehört? Emerald Fire? Diamond Fire?«

»Ich glaub nicht.«

»Ich bin Nicole.«

»Warum hast du nicht deine eigene Geschichte aufgeschrieben? Die wär doch viel aufregender.«

»Ich hab eine bessere Idee«, sagte Robin.

Sie wartete auf Skips Reaktion, beobachtete, wie er nach seinem Wodka griff, das Glas fast austrank und dann mit dem Eis klimperte. Er hörte ihr zu, achtete aber nicht auf jedes Wort, sondern grinste in seinen Bart.

»Mann, wir haben vielleicht die Sau rausgelassen, was? Drogen, Sex und Rock ’n’ Roll. Der alte Mao und Karl Marx versuchten mitzuhalten, hatten aber keine Chance gegen Jimi Hendrix, die Doors, die Dead, Big Brother und Janis. He, und meine Lieblingsband – weißt du, welche? MC>5. Mein Gott, diese irren Typen, Mann …«

Robin hörte, wie das Trio zum Ende von ›Don’t Cry for Me, Argentina‹ kam. »Was war das mit diesen Dynamitfahrten?«, sagte sie. »Warst du völlig stoned?«

»Das musstest du sein«, sagte Skip, »bei einem Wagen voller Sprengstoff. Als ich das erste Mal von Yale in Michigan zurückkam, auf der zweispurigen M-19, da sah ich auf einmal, wie die Straße verschwand, als ob sich ein großes Loch vor uns auftat, und ich dachte: Oh, Scheiße, jetzt krepieren wir. Aber ich wusste ja, dass ich mir was geworfen hatte, und hielt einfach das Steuerrad fest, bis die Knöchel ganz weiß wurden. Aber ich hatte nie im Leben das, was man einen schlechten Trip nennt. Wenn ich mir was geworfen hab, meine ich. Die einzigen schlechten Trips, an die ich mich erinnern kann, hatte ich, wenn ich nicht stoned war. Wenn ich in irgendeiner verdammten Gefängniszelle aufwachte, und diese Arschlöcher machten das Friedenszeichen.«

»Ich hab gemerkt, dass du ein bisschen high warst, wie du reingekommen bist«, sagte Robin.

»Gut beobachtet. Ich hab nach der Arbeit bloß ein paar Bier getrunken und ein bisschen Hasch geraucht. Ich steh immer noch auf Acid, konnte aber keins auftreiben. Na ja, in L.A. kann ich mir dann und wann ein paar Plättchen Löschpapier beschaffen. Aber Owsleys Preemo Purple oder auch nur Windowpane, das bringt dich in Kontakt mit deinen Vorfahren. Auf der Straße wollen sie dir nur Crack andrehen, und das ist ein schlimmes Zeug, macht dich kaputt. LSD ist okay – ich meine, wenn man’s nicht übertreibt und ausbrennt. Es ist wie ein Abführmittel fürs Gehirn, es macht einen benebelt und klärt einem gleichzeitig den Kopf.«

Robin nippte an ihrem Wein. »Ich hab was«, sagte sie und sah, wie Skip verschlagen grinste und seine blassen Augen funkelten.

»Weißt du, ich leide an Anti-Akrophobie, der Angst, nicht high zu sein.«

»Ich wohne gleich um die Ecke.«

»Verdammt, was fürn Zeug hast du?«

»Löschpapier mit LSD. Mit einer kleinen Eins darauf.«

»Scheiße, ich muss noch arbeiten. Wir haben noch eine Menge Nachtaufnahmen.«

»Das Zeug ist jederzeit für dich da«, sagte Robin.

Skip grinste sie an. »Du willst mich reinlegen, was? Du hast irgendwas im Sinn und brauchst den alten Skipper, um es durchzuziehen.«

Robin lächelte bloß.

Als das Trio in den roten Jacken an ihren Tisch kam, entschloss sie sich, Skip das Ganze zu überlassen und nichts zu sagen. Sie sah, wie er aufblickte, als der Bandleader mit italienischem Akzent fragte, wie der Abend sei und ob sie einen Musikwunsch hätten. Vielleicht ihr Lieblingslied? Sie bemerkte Skips ausdruckslose Miene und sah es kommen. »Erinnert ihr euch an eine Gruppe, die mal ganz groß war, die MC5?« Der Bandleader runzelte die Stirn. MC5? Er war sich nicht sicher. Was sie denn gespielt hätten? Skip sagte mit hellen, unschuldigen Augen: »›Kick Out the Jams, Motherfuckers.‹ Habt ihr das drauf?« Und Robin dachte: Oh, Mann, hast du mir gefehlt.

3

Chris fragte den Arzt von der St.-Antoine-Klinik, ob er die psychologische Untersuchung wirklich für notwendig hielt. Er sei ja nur in eine andere Abteilung versetzt worden. Er arbeite immer noch im Präsidium in der 1300 Beaubien, nur nicht mehr im sechsten, sondern im siebten Stock und am anderen Ende des Gangs.

Der Arzt von der St.-Antoine-Klinik, ein ernster junger Mann mit schmalen Schultern, einer Brille und wenig Haaren, blickte auf das Formular, das Chris ausgefüllt hatte. Er schien gar nicht zuzuhören. »Sagen Sie mir, wenn irgendetwas, was ich vorlese, nicht zutrifft«, sagte er. »Sie sind Christopher Mankowski, kein zweiter Vorname. Geboren am 7. Oktober 1949.«

Chris entgegnete, so weit sei alles richtig.

Der Arzt räusperte sich. Er räusperte sich ziemlich oft, schwache, leise Knurrgeräusche, die ganz tief aus der Kehle kamen. »Sie sind derzeit Sergeant, Experte für Bomben und Sprengstoffe, und arbeiten im Dezernat für Sprengstoffanschläge.«

»Ich bin ausgebildeter Feuerwerker, wenn Sie das aufschreiben möchten. Oder ich war’s. Im Augenblick weiß ich nicht genau, was ich bin.«

»Mögen Sie Waffen?«

»Ob ich sie mag? Ich weiß, wie man damit umgeht. Ich bin kein Sammler.«

»Wie viele Waffen besitzen Sie?«

»Ich trage eine .38 Special bei mir und habe eine Glock, die mein Vater mir geschenkt hat. Die bewahre ich im Präsidium auf. Ich will nicht, dass bei mir eingebrochen wird und irgendein Verrückter dann mit einer siebzehnschüssigen Automatik herumrennt.«

»Und was ist eine Glock?«

»Ein österreichisches Fabrikat, neun Millimeter. Eine sehr leichte Waffe.«

»Auch wenn sie geladen ist?«

»Auch dann.«

Kurzes Schweigen. Dann räusperte sich der Arzt wieder. »Sie sind seit Juni 1975 bei der Polizei von Detroit.«

»Stimmt«, sagte Chris. »Nächsten Monat sind es zwölf Jahre.«

»Sie müssen nichts sagen, wenn es zutrifft«, sagte der junge Arzt. »Nur, wenn es nicht zutrifft.« Und als der Arzt sagte: »Sie waren beim Militär, wurden ehrenvoll entlassen, haben aber nicht mal ein Jahr gedient«, sagte Chris gar nichts. Es stimmte. Er hatte die ersten fünf Monate in der Heimat und den Rest der Zeit bei der 3. Brigade, 25. Infanterie, in Vietnam gedient. Chris hatte das Gefühl, dass der Arzt nicht gern eine Frage stellte, wenn er die Antwort nicht schon kannte. Er war einer jener Menschen, an die Zeugen sich nie erinnern. Den Ehering trug er nicht einfach so. Wahrscheinlich wirbelte er zu Hause mit dem Staubsauger durch die gute Stube und machte in seinem weißen Kittel auch den Abwasch. Chris hatte den Eindruck, dass er einem mit dem Kittel sagen wollte, dass er Arzt war, sich selbst dessen aber gar nicht so sicher war. Warum saß er sonst in einem Kittel hinter seinem Schreibtisch und stellte Fragen? Hatte er Angst, er würde sich irgendwie bekleckern?

Warum stand der Stuhl neben dem Schreibtisch, auf dem Chris saß, verkehrt herum, statt dem Arzt zugewandt? So, dass sie beide in die gleiche Richtung blickten, auf eingerahmte Diplome an einer sonst kahlen Wand. Zwei Diplome waren es, beide von der Wayne State University. Chris hätte sich gern umgedreht und über die Schulter den Arzt angeschaut. Doch er hätte sein Gesicht auch dann nicht gesehen, wegen der Nachmittagssonne auf den Fensterscheiben, und weil der Arzt den Kopf fast immer gesenkt hielt. Warum versteckte er sich?

»Ich vermute, während Ihrer Dienstzeit wurden sie irgendwie untauglich?«

Er vermutete richtig, und so sagte Chris nichts. Sie schwiegen, bis der Arzt sich ein paar Mal räusperte und sagte: »Stimmt das?« Womit er seine eigene Regel brach. Ja, antwortete Chris, das träfe zu. Dann musste er eine Weile warten.

»Sie haben zwei Jahre lang an der Universität von Michigan studiert.«

»Ich brach das Studium ab, um zur Army zu gehen.«

»Sie haben sich freiwillig gemeldet?«

»Das ist richtig.« Es gab keinen Grund, dem Arzt zu sagen, dass er auf der Uni rausgeflogen war und sowieso eingezogen worden wäre.

»Warum?«

»Warum ich mich freiwillig gemeldet hab? Weil ich sehen wollte, wie Krieg ist.«

Es folgte eine Totenstille, die nicht einmal vom Geräusch des Räusperns unterbrochen wurde.

»Als ich entlassen wurde, habe ich wieder studiert.«

»Und Ihren Abschluss gemacht?«

»Tja, mir fehlten schließlich zehn Punkte.«

»Also haben Sie keinen Universitätsabschluss.«

Chris wartete, während der Bursche etwas eintrug und diesen Punkt abhakte.

»Sie sind alleinstehend, waren nie verheiratet.«

Das traf zu, erforderte aber eine Erklärung.

»Vielleicht sollte ich Ihnen sagen, dass ich schon ein paar Mal beinahe geheiratet hätte«, sagte Chris. »Ich will damit sagen, dass ich nicht aus eigenem Entschluss alleinstehend bin. Ich hätte schon ein paar Mal geheiratet. Aber wenn ein Mädchen erst anfängt, sich die Hände zu wringen, wissen Sie, dass es nicht klappen wird. Verstehen Sie, die Mädchen hatten schreckliche Angst.«

»Warum hatten sie Angst vor Ihnen?«

»Sie hatten keine Angst vor mir. Wissen Sie, sie hatten Angst, als Polizist könnte mir etwas zustoßen. Genau in dieser Lage bin ich jetzt auch; deshalb habe ich meine Versetzung beantragt. Ich gehe mit einer jungen Dame – eigentlich leben wir zusammen, in ihrer Wohnung. Übrigens nur ein Stück die Straße hinauf, an der East Lafayette. Ich kann zu Fuß zum Präsidium gehen, oder Phyllis setzt mich ab, wenn ich Frühschicht habe. Sie arbeitet bei der Manufacturers Bank, in der Treuhandabteilung.« Chris hielt inne. Weshalb erzählte er ihm das alles? Aber er hatte das Gefühl, ihm erklären zu müssen, weshalb Phyllis ihn zur Arbeit fuhr. »Verstehen Sie, letzten Monat ist mein Wagen gestohlen worden. Ob Sie’s glauben oder nicht, er stand direkt vor dem Präsidium. Auf der Macomb. Ein 84er Mustang. Man hat ihn nie gefunden.«

Dem jungen Arzt schien sein Mustang scheißegal zu sein. Chris hörte, wie er mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch klopfte.

»Also, um wieder auf Phyllis zurückzukommen – sie macht sich wegen meiner Arbeit Sorgen. In den letzten Monaten wurde sie immer paranoider, ich könnte meine Hände verlieren. Sie scheint sich keine Sorgen zu machen, ich könnte in die Luft fliegen, nur, dass ich meine Hände verlieren könnte. Wie würde ich essen? Wie mich anziehen? Ich sagte ihr, ich würde meine Hände nicht verlieren, ich sei sehr vorsichtig bei meiner Arbeit. Aber sollte ich sie doch verlieren, dann könnte sie mir ja helfen. Verstehen Sie, zuerst hab ich darüber Witze gemacht und ihr immer wieder gesagt, was sie für mich tun könnte. Zum Beispiel, wenn ich aufs Klo muss und so. Aber dann wurde mir klar, dass das nicht die richtige Art war, damit umzugehen. Sie wurde immer ganz blass. Ich merkte, wie sie sich die verschiedenen Situationen vorstellte. Aber sie fing so oft damit an, dass ich schließlich immerzu auf meine Hände sah«, sagte Chris und hob die Handflächen, »ohne zu merken, was ich tat. Ich sah Dinge in meinen Händen, Linien, die mir noch nie aufgefallen waren. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass es sich nicht lohnte, die ganze Zeit darüber zu reden, und beantragte meine Versetzung. Sie müssen aber wissen, mein Job ist gar nicht so aufregend. Die meiste Zeit sitzen wir nur herum.« Chris wartete. Dann warf er einen Blick über seine Schulter.

Der Arzt machte eifrig Notizen und schirmte das Formular mit dem linken Arm ab. »Wie lange haben Sie als Feuerwerker gearbeitet?«

»Sechs Jahre. Ich fing im zwölften Revier in einem Streifenwagen an. Manchmal trug ich Zivil. Sie wissen ja, dass es da drüben ziemlich viele Schwule gibt, um den Palmer Park herum, und wo Schwule sind, sind auch jede Menge Halsabschneider, schwere Jungs, die sich auf Schwule spezialisiert haben. Da hab ich mich wie eine Tunte angezogen und bin durch den Park geschlendert. Verstehen Sie, ich hab’s geradezu herausgefordert.«

»Das klingt ganz nach Anstiftung.«

»Ja, allerdings, wie? Ich wurde zur Brandstiftung versetzt, ich hatte schon einige Erfahrung auf diesem Gebiet. Ich habe drei Jahre als Schadensregulierer für eine Versicherung gearbeitet. Aber Brandstiftung lag mir nicht. Man stapft in ausgebrannten Gebäuden im Wasser herum, und die Kleidung stinkt dauernd danach. Das war wohl der Grund, warum auch die zweite junge Dame ausgezogen ist. Ich musste meine Sachen immer vor ein geöffnetes Fenster hängen. Also ließ ich mich zu den Feuerwerkern versetzen.«

»Warum?«

»Na, das habe ich Ihnen doch gerade gesagt – um von der Brandstiftung wegzukommen.«

»Ich meine, warum haben Sie sich ausgerechnet für das Bombendezernat entschieden?«

»Ich kannte die Burschen da, hatte schon ein paar Mal mit ihnen zu tun gehabt.«

»Gab es noch einen anderen Grund, ein wichtiges Motiv?«

Vielleicht hatte es wirklich eins gegeben. Chris war sich nicht sicher, ob er es zur Sprache bringen sollte oder nicht.

»Wollten Sie sich etwas beweisen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sagen wir, Ihre Männlichkeit unter Beweis stellen.«

»Meine Männlichkeit?« Chris blickte über die Schulter zu dem Arzt im weißen Kittel, der mit gesenktem Kopf Notizen machte. »Wieso stellt man seine Männlichkeit unter Beweis, indem man mit Sprengstoffen umgeht? Dabei kann man seine Männlichkeit ganz schnell verlieren. Wenn einem die Eier abgerissen werden.«

Sowie er es gesagt hatte, wusste er, dass es ein Fehler gewesen war.

»Deshalb habe ich ja gefragt, ob Sie es als Prüfung, als Herausforderung betrachtet haben.«

»Man bleibt nicht sechs Jahre bei einem Job, um sich etwas zu beweisen«, sagte Chris. »Der Job muss einem gefallen. Klar, es gibt Risiken. Das akzeptiert man, wenn man sich auf so einen Job einlässt, oder man lässt es von Anfang an bleiben.« Der junge Arzt versteckte sich wieder hinter seinen Aufzeichnungen, zog Schlussfolgerungen, gab Urteile über ihn ab. »Ich weiß nicht, was mich daran angezogen hat«, sagte Chris. »Ich frage mich, ob das, was in Vietnam passiert ist, irgendetwas damit zu tun hat. Wissen Sie, unterbewusst oder so.«

»Sie waren in Vietnam?«, fragte die Stimme.

»Nein, ich glaube nicht, dass da ein Zusammenhang besteht.«

»Zwischen was?«

»Na ja, als ich drüben war, wurde ich einer Spionage-Abwehr-Kompanie zugeteilt und musste viel mit der vietnamesischen Armee zusammenarbeiten. Sie verstehen? Mit den Südvietnamesen, den angeblich Guten. Zu meinen Aufgaben gehörte es, Gefangene zu verhören, die sie gemacht hatten, und dann zu entscheiden, was mit ihnen geschehen sollte.«

»Sie meinen, wie sie beseitigt werden sollten?«

»Ich meine, was mit ihnen geschehen sollte. Ob man sie freilassen sollte oder in Lager stecken … Aber darum geht es gar nicht. Na ja, vielleicht doch.«

Chris schwieg und suchte nach den richtigen Worten, dem richtigen Anfang. Eines schönen Tages saß ich in der Kantine in Khiem Hanh …

»An dem Tag, von dem ich spreche, musste ich einen Burschen verhören, von dem die Südvietnamesen glaubten, dass er für den Vietcong arbeitete. Ein Informant hatte den Burschen verpfiffen, und sie schleppten ihn aus seinem Dorf heraus. Als ich ankam, stand dieser alte Mann barfuß auf einer scharfen Handgranate, die Zehen um sie gekrampft, um den Zünder im Gleichgewicht zu halten, die Hände auf den Rücken gefesselt. Ich habe nie zuvor jemanden gesehen, der solche Angst hatte. Sie hatten ihn hinter einer Lehmmauer aufgestellt, die mal Teil eines Hauses war, für den Fall, dass sein Fuß ausglitt und die Granate hochging. Ich musste über die Wand hinweg mit dem Burschen sprechen, und mein Dolmetscher kauerte sich hinter sie und weigerte sich aufzustehen. Die andern, die Südvietnamesen, standen vielleicht dreißig Meter entfernt und rauchten. Ich stellte dem Alten also ein paar Fragen. Er wisse nichts über die Vietcong, sagte er, er sei Bauer. Er weinte und zitterte, solche Angst hatte er, und versuchte nur, den Fuß auf der Granate zu halten. Er wusste nicht mal die Namen seiner eigenen Kinder. Ich sage den Südvietnamesen, der Bursche sei sauber, und sie sollen den Bolzen wieder in die Granate stecken und ihn freilassen. Nachdem ich ihn losgeschnitten habe, blicke ich auf und sehe, dass die verdammten Südvietnamesen abhauen. Ich laufe ihnen ein Stück nach und rufe: ›Wo ist der gottverdammte Bolzen?‹ Sie wissen es nicht. Sie zeigen auf den Boden, da drüben irgendwo muss er liegen. Ich brülle sie an: ›Dann helft mir, das verdammte Ding zu suchen! Wir können den Burschen doch nicht einfach so zurücklassen.‹ Und einer von ihnen sagt: ›Soll er die Granate doch einfach wegschmeißen!‹ Es war ihnen scheißegal. Sie gingen lachend davon, fanden das Ganze bloß komisch. Einige von ihnen kannten den Alten sogar. Sie wussten, dass er nicht zum Vietcong gehörte, aber das war ihnen egal. Sie hauten ab.« Chris hielt inne. Mann, wenn er nur daran dachte …

»Ich kroch herum, suchte nach dem Bolzen, gab es schließlich auf. Der alte Mann weinte; er wusste einfach nicht, was er mit der Granate machen sollte. Und das Einzige, was mir einfiel, war: Wenn er von ihr heruntersteigen würde, dann konnte ich sie mir schnell schnappen und wegschleudern. Aber ich konnte ihm nicht sagen, was ich vorhatte, mein verdammter Dolmetscher war ja auch weg! Ich versuchte, es ihm in Zeichensprache zu erklären, aber ich sah, dass er mich nicht verstand. Der arme Kerl konnte nicht mehr klar denken. Ich konnte also nur zu ihm gehen, ihn zur Seite stoßen und mir die Granate schnappen. Aber ich musste ihn beruhigen. Ich gehe also zu ihm, rede auf ihn ein. ›Keine Angst, Alter, reg dich nicht auf.‹ Wie ich etwa so weit von ihm entfernt bin wie die Tür dort, hält er’s nicht mehr aus. Er rennt auf mich zu und umklammert mich, und in den fünf Sekunden, die uns blieben, konnte ich den alten Knacker nicht von mir runterkriegen. Ich konnte ihn einfach nicht runterkriegen. Ich habe versucht, ihn wegzuzerren …« Chris starrte auf das Diplom des Arztes, das an der kahlen Wand hing.

»Die Granate ging hoch, während der Alte sich an mich klammerte. Sie tötete ihn und riss mir beide Beine auf. Ich lag fünfzehn Wochen im Lazarett und wurde dann ausgemustert.«

Es folgte ein langes Schweigen, das schließlich von leisen Geräuschen unterbrochen wurde; der junge Arzt klopfte mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch und räusperte sich.

»Als Sie auf den alten Mann zugingen, Sergeant Mankowski, hatten Sie da Angst?«

»Ob ich Angst hatte? Natürlich hatte ich Angst, Todesangst sogar.«

»Na schön, aber ich glaube, Sie haben auch eine tiefe Feindseligkeit gegenüber den südvietnamesischen Soldaten empfunden.«

Ich muss hier raus, dachte Chris.

»Also hat im Prinzip Ihre starke Wut Sie befähigt, Ihre Furcht zu überwinden.«

»Das muss es gewesen sein«, sagte Chris, »meine Feindseligkeit.«

»Doch jetzt wird Ihre Angst in vergleichbaren Situationen mit hohem Risiko nicht mehr durch, sagen wir, akutes Empfinden von Wut gedämpft. Sie tritt offen zutage, und Sie müssen mit ihr fertigwerden. Mit einer Angst, die sich spezifisch auf den möglichen Verlust Ihrer Hände bezieht.«

Chris drehte sich schnell auf dem Stuhl um und erwischte den Schleimer dabei, dass er ihn ansah. Einen Augenblick lang sah er hinter runden Brillengläsern seine Augen.

»Ich mache mir keine Sorgen um meine Hände, sondern Phyllis.«

Der Arzt hatte den Kopf wieder gesenkt und sah auf seine Aufzeichnungen. »Sie haben gesagt, ich zitiere: ›Ich sah schließlich immerzu auf meine Hände, ohne zu merken, was ich tat.‹«

»Wegen Phyllis.«

»Sie sehen sie auch jetzt an.«

Chris legte die Hände auf den Schoß, verschränkte die Finger und starrte wieder geradeaus auf das Doktordiplom des Arschlochs. Es ging darum, seine Fragen mit Ja oder Nein zu beantworten und nicht mit ihm herumzustreiten. Bring die Sache hinter dich und verschwinde, dachte er.

Einen Moment herrschte Stille.

»Ich habe gehört, dass es gestern einen Todesfall gab, als eine Bombe explodierte. Unter welchen Umständen ist dieser Mann zu Tode gekommen?«

»Wir nehmen an«, sagte Chris, »dass der Verstorbene versucht hat, vor einer Substanz davonzulaufen, die mit einer Geschwindigkeit von fünftausend Metern pro Sekunde explodiert, und es nicht geschafft hat.«

Wieder Stille.

»Haben Sie alles getan, was in Ihrer Macht stand?«

»Wenn Sie wollen, besorge ich Ihnen eine Kopie meines Berichts.«

Diesmal dauerte die Stille noch länger. In Chris keimte die Hoffnung, dass sie vielleicht fertig waren.

»Sind Sie sich anderer Ängste bewusst?«

»Zum Beispiel?«

»Haben Sie Angst vor Tieren, vor Insekten?«

Chris zögerte und überlegte lange, bevor er antwortete: »Ich mag Spinnen nicht.« Das war unverfänglich; niemand mochte Spinnen.

»Ach?«, sagte der Arzt. »Wie interessant. Angst vor Spinnen.«

»Ich habe nicht gesagt, dass ich Angst vor Spinnen habe. Ich habe gesagt, dass ich sie nicht mag.«

»Könnte es nicht sein, dass Sie Ihre Angst verharmlosen, sie als Unbehagen hinstellen wollen? Ich stelle diese Frage, Sergeant Mankowski, weil Angst vor Spinnen auf eine Funktionsstörung im Bereich der sexuellen Identifikation hindeuten kann. Oder, genauer ausgedrückt, auf die Angst, bisexuell zu sein.«

Chris stand auf. Er drehte den Stuhl herum und setzte sich wieder, nun dem Arzt zugewandt.

»Wollen Sie damit sagen, weil ich keine Spinnen mag, bin ich andersrum?«

Der junge Arzt sah auf. Zum ersten Mal hielt der Blick hinter den runden Brillengläsern stand.

»Sie scheinen sich bedroht zu fühlen.«

»Hören Sie, ich dachte, man hat mich zu einer Routineuntersuchung zu Ihnen geschickt. Bin ich meinem Job nicht gewachsen? Stehe ich unter Stress? Nein, ich will nur eine Versetzung, und zwar wegen Phyllis. Und jetzt sagen Sie, dass ich ein Problem habe.«

»Ich habe nicht behauptet, Sie hätten ein Problem.«

»Was soll das dann mit den Spinnen?«

Der junge Arzt sah ihn jetzt geradeheraus an. »Ich deute lediglich an, dass die Spinne ein Symbol ist – so lautet der Fachausdruck –, das einen bedrohlicheren Drang externalisiert. Ein Symbol, das oft auf eine prägenitale Angst vor bisexuellen Genitalien hindeutet, meist in Form einer phallischen bösen Mutter.«

Chris starrte den jungen Arzt an, der den Blick offen erwiderte und dann sagte: »Beantwortet das Ihre Frage?«

»Ja, allerdings, vielen Dank«, sagte Chris und verspürte eine gewisse Erleichterung, denn der Bursche ließ bloß den Arzt heraushängen und wollte ihm zeigen, was für ein toller Typ er war. Dieses kleine Arschloch saß da in seinem weißen Kittel, mit all diesen Worten im Kopf, mit denen es den blöden Bullen bombardieren konnte, und erzählte irgendeinen Quatsch über prägenitale Genitalien. Er kam einfach nicht gegen diesen Kerl an. Am besten, er nickte einfach und stimmte ihm zu.

Als der Arzt fragte: »Und wie stehen Sie zu Schlangen?«, da sagte Chris: »Ich mag Schlangen sehr. Ich hab niemals Probleme mit Schlangen gehabt.«

Der Arzt sah ihn immer noch an, ließ nicht von ihm ab, wollte ihn nicht vom Haken lassen. »Sie wissen, dass Ihre bisherige Arbeit psychosoziologisch destabilisierend wirken kann?«

»Klar, das kann ich mir vorstellen«, sagte Chris.

»Und dann ist da noch der Zusammenhang zwischen Ihrer Phobie vor Spinnen und dem Drang, durch den Umgang mit gefährlichen Sprengstoffen Ihre Männlichkeit zu beweisen. Sie haben ja selbst darauf hingewiesen, dass diese Arbeit kastrierend wirkt. Dass sie Ihnen, ich zitiere, ›die Eier abreißt‹.«

»Das ist doch nur so ein Ausdruck«, sagte Chris. »Das dürfen Sie doch nicht wörtlich nehmen.« Er sah, wie der Schleimer von Arzt nickte und sich etwas anderes auszudenken versuchte.

»Ach ja, haben Sie jemals unter Impotenz gelitten?«

Chris ließ sich Zeit. Er sah keine Falle, und so antwortete er: »Nein, noch nie. Nicht ein einziges Mal.«

»Wirklich?«

»Ich habe Zeuginnen.«

»Na ja, ist nicht so wichtig.«

Chris sah auf den gesenkten Kopf des Arztes, das dünne, sorgfältig gekämmte Haar. »Sie glauben mir nicht, oder?«

Ohne aufzusehen, trommelte der Doktor mit dem Kugelschreiber auf den Schreibtisch. »Sie könnten vielleicht eine dieser seltenen Ausnahmen sein.«

»Wovon?«

»Na ja, bei einer Untersuchung der Universität Münster – das liegt in der Bundesrepublik Deutschland«, sagte der Arzt und sah auf – »wurde zweifelsfrei festgestellt, dass aggressive, selbstbewusste Männer – also der Macho-Typ, wenn Sie so wollen – bei einer Ejakulation verhältnismäßig wenig Spermien erzeugen.«

»Ist ja interessant«, sagte Chris. »Sind wir jetzt fertig?« Er stand auf. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Ich muss wieder zurück, meinen Schreibtisch ausräumen …« und sah, wie das Gesicht des jungen Arztes auf einmal ganz freundlich wurde.

»Ja, Sie werden also von Bomben und Sprengstoffen in ein anderes Dezernat versetzt. Wir haben noch nicht darüber gesprochen, in welches. Wie haben Sie es ausgedrückt? ›Ein Stockwerk höher und ans andere Ende des Gangs‹?«

Der Arzt wartete, bis Chris sich wieder gesetzt hatte.

»Sie wirken irgendwie erzürnt.«

»Mir geht’s gut.«

»Bestimmt?«

»Ich bin mit Phyllis bei Galligan’s verabredet.« Chris sah auf die Uhr: Es war zwanzig nach vier. »Um fünf.«

»Es wird nicht mehr lange dauern«, sagte der junge Arzt und lächelte. Ja wirklich, er lächelte Chris zum ersten Mal an und sagte: »Mich interessiert nur, und vielleicht können Sie mir das erklären, warum Sie beantragt haben, ins Dezernat für Sexualdelikte versetzt zu werden.«

4

Skip schluckte das winzige Plättchen mit LSD getränk- tem Löschpapier, das nicht einmal so groß war wie der Nagel seines kleinen Fingers, spülte es mit einem Schluck Bier hinunter und machte es sich bequem, um darauf zu warten, dass sein Kopf frei geputzt wurde. Die Nähte des Plastikstuhls öffneten sich, aber der Stuhl war gut und tief gepolstert. Das Einzige, was ihn störte, war das Licht. Es war so hell hier an der kahlen Wand, und die Lampe hatte keinen Schirm. Es roch, als hätte Robin die Bruchbude ausgemalt, um sie zu verschönern.