Schnappt Shorty - Elmore Leonard - E-Book

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Elmore Leonard

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  • Herausgeber: Kampa Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Chili Palmer, Geldeintreiber der Mafia in Miami, hat es nicht leicht. Gerade erst hat er einem Schuldner einen Haufen Kohle abgenommen, als er, vom Teufel geritten, alles in einer Nacht in Las Vegas verspielt. Bei seinen Bossen kann er sich vorerst nicht blicken lassen. Aber für einen wie Chili hat zum Glück auch ein Kasino Verwendung: Er soll beim Regisseur Harry Zimm Spielschulden eintreiben. Chili macht sich auf nach Los Angeles, in Hollywood liegt das Geld ja bekanntlich auf der Straße. Und er hat auch selbst eine Idee für ein Drehbuch in der Tasche. Vielleicht sollte er sich ohnehin aufs Filmgeschäft verlegen, wo die ganz großen Scheine winken? In L. A. zeigt sich: Zimm hat Probleme in ganz anderen Preisklassen, sein nächster Film muss ganz an die Spitze. Dann fällt sicher auch für Chili was ab. Doch zuvor muss Hollywoodstar Michael Weir, »Shorty« genannt, gewonnen werden. Er hat noch jeden Film zum Erfolg gebracht. Dass er nicht mitspielen will, betrübt Chili natürlich. Aber was er sich in den Kopf gesetzt hat, zieht er durch - notfalls um jeden Preis.

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Seitenzahl: 407

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Elmore Leonard

Schnappt Shorty

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Hans M. Herzog

Kampa

Für Walter Mirisch,

einen der guten Kerle

1

Als Chili vor zwölf Jahren zum ersten Mal nach Miami Beach kam, war dort gerade einer der seltenen kalten Winter: ein Grad über Null an dem Tag, als er sich mit Tommy Carlo im Vesuvio’s an der South Collins zum Essen traf und seine Lederjacke geklaut wurde. Die hatte ihm seine Frau ein Jahr vorher zu Weihnachten geschenkt, ehe sie hier runter gezogen waren.

Chili und Tommy stammten beide aus Ray Ridge, Brooklyn, alte Kumpel, die jetzt im selben Geschäft waren. Tommy Carlos Beziehungen zu einer Gang in Brooklyn stammten von seinem Onkel, einem gewissen Momo, dem Tommy die Bücher führte und dessen Wettscheine er abholte, bis Momo ihn nach Miami schickte, ihn und hunderttausend Dollar, die er auf der Straße verleihen sollte. Chili hatte seine Beziehungen zum Gewerbe von Verwandten mütterlicherseits, den Gebrüdern Manzara. Gewöhnlich arbeitete er für Manzara Umzüge & Lagerung in Bensonhurst, wo er Großabnehmer für Dinge wie Zigaretten, Fernseher, Videorecorder, Trittleitern, Kleider oder gefrorenen Orangensaft auftrieb … Übrigens konnte er selbst nie Karriere machen, weil väterlicherseits ein wenig puerto-ricanisches Blut in seinen Adern floss, auch wenn er italienisch erzogen worden war. Aber Chili legte sowieso keinen Wert darauf, Karriere zu machen und an dem ganzen Mist mit dem Ehrenkodex teilzunehmen. Es war schon schlimm genug, dass er diese Leute behandeln musste, als wären sie seine Helden, und zu lächeln hatte, wenn sie irgendeine dämliche Bemerkung machten, die sie für witzig hielten. Andererseits war es wirklich nett, ein Restaurant an der 86th oder der Cropsey Avenue zu betreten, wo sie seinen Namen kannten, auch damals, als er noch ein junger Bursche war, und sich den Arsch aufrissen, um ihn zu bedienen. Seine Frau Debbie konnte nicht genug davon kriegen, bis sie nach ein paar Jahren Ehe schwanger wurde. Dann war es etwas anderes. Debbie sagte, jetzt, wo ein Kind in ihrer beider Leben treten würde, müsse er sich eine reguläre Arbeit zulegen und dürfe nicht mehr mit »diesen Leuten« verkehren, und sie lag ihm so lange in den Ohren, bis er schließlich sagte, also schön, Herrgott noch mal, und die Sache mit Tommy Carlo in Miami einfädelte. Debbie machte er weis, er verkaufe an die großen Hotels wie das Fontainebleau Restaurantzubehör, und sie glaubte ihm – bis ihm nach nicht einmal einem Jahr da unten seine Jacke geklaut wurde.

Sie hatten damals bei Vesuvio’s gegessen, Tommy sagte, er werde ihn im Friseursalon treffen – wo sie im Hinterzimmer ein Telefon hatten –, schlug den Kragen seiner Palm-Beach-Freizeitjacke hoch, wozu auch immer das gut sein mochte, und zog ab. Als Chili in die Garderobe ging, um seine Jacke zu holen, hingen da bloß noch ein paar Regenmäntel und eine lederne Fliegerjacke, bestimmt aus dem Zweiten Weltkrieg. Als Chili den Geschäftsführer kommen ließ, einen älteren Italiener im schwarzen Anzug, sah der sich in dem beinahe leeren Garderobenraum um und fragte Chili: »Sie können sie nicht finden? Ist nicht eine von denen?«

Chili sagte: »Sehen Sie vielleicht eine schwarze Lederjacke, halblang, mit Revers wie an einem Mantel? Wenn nicht, schulden Sie mir dreihundertneunundsiebzig.« Der Geschäftsführer wies ihn auf ein Schild an der Wand hin. FÜR ABHANDENGEKOMMENE GEGENSTÄNDE KÖNNEN WIR KEINE HAFTUNG ÜBERNEHMEN. Darauf Chili: »Sie können’s bestimmt, wenn Sie’s nur versuchen. Ich bin nicht ins sonnige Florida gezogen, um mir den Arsch abzufrieren. Können Sie mir folgen? Entweder beschaffen Sie die Jacke, oder Sie geben mir die dreihundertneunundsiebzig Dollar, die meine Frau bei Alexander’s dafür bezahlt hat.«

Also schnappte sich der Geschäftsführer einen Kellner, mit dem er sich eine Weile auf Italienisch unterhielt, dabei wurde der Kellner nervös oder konnte es vielleicht auch nur kaum erwarten, weiter Servietten zu falten. Chili verstand ein wenig von dem, was gesagt wurde, und bekam einen Namen mit, der ein paarmal fiel, Ray Barboni. Den Namen kannte er, den Burschen nannten sie Bones, er hatte ihn im Cardozo Hotel am Strand herumlungern sehen. Ray Bones arbeitete für Jimmy Capotorto, der kürzlich eine ortsansässige Firma von dem verstorbenen Ed Grossi übernommen hatte – doch das war eine andere Geschichte. Der Geschäftsführer sagte zu dem Kellner: »Erklären Sie ihm, Mr. Barboni hat sich die Jacke geliehen.«

Der Kellner gab sich alle Mühe, unbeteiligt zu wirken. »Jemand hat seine Jacke genommen, wissen Sie, hat diese alte hiergelassen. Also hat sich Mr. Barboni Ihre Jacke genommen, passte ihm ziemlich gut. Er sagt, er leiht sie sich.«

Chili sagte: »Moment mal«, und ließ sich von dem Kellner, der es offenbar für nichts Ungewöhnliches hielt, dass sich irgendein Arschloch eine Jacke griff, die ihm nicht gehörte, das Ganze noch einmal erzählen.

»Er hat sie nicht weggenommen«, sagte der Kellner, »sondern geliehen. Sehen Sie, sobald wir ihm seine Jacke wiederbeschaffen, gibt er die geliehene zurück. Oder wenn es Ihre ist«, fuhr der Kellner fort, »gibt er sie vielleicht Ihnen. Er hat sie nämlich für den Heimweg getragen, verstehen Sie. Er wollte sie nicht behalten.«

»Meine Wagenschlüssel sind in der Tasche«, sagte Chili.

Nun sahen ihn beide, der Geschäftsführer und der Kellner, an, als verstünden sie kein Englisch.

»Mit anderen Worten«, sagte Chili, »wie soll ich meine Jacke bekommen, wenn ich die Autoschlüssel nicht habe?«

Der Geschäftsführer sagte, sie würden ihm ein Taxi rufen.

»Damit wir uns recht verstehen«, sagte Chili, »Sie übernehmen zwar keine Haftung für irgendwelche abhandengekommenen Gegenstände wie eine teure Jacke von mir, aber Ray Bones’ Jacke wollen Sie finden oder ihm eine neue beschaffen? Hab ich Sie richtig verstanden?«

Eigentlich begriff er, dass sie ihm keinen Mist erzählten; Ray Bones war eben ein guter Kunde, der zwei-, dreimal die Woche vorbeikam und der für Jimmy Cap arbeitete. Sie kannten seine Adresse nicht, im Telefonbuch stand er auch nicht. Also rief Chili im Friseursalon an, schilderte Tommy Carlo die Lage und fragte ihn mehrmals, ob er so was für möglich hielt und vorbeikommen und ihn abholen würde.

»Ich will meine Jacke wiederhaben. Außerdem diesem Typ den Kopf aus seinem Arsch ziehen und ihm eine verpassen.«

Tommy sagte: »Morgen, das kam im Fernsehwetterbericht, wird ein schöner, warmer Tag. Du brauchst deine Jacke nicht.«

Chili sagte: »Herrgott noch mal, Debbie hat sie mir zu Weihnachten geschenkt. Wenn ich nach Hause komme, will sie wissen, wo das Ding abgeblieben ist.«

»Dann sagst du ihr halt, du hast sie verloren.«

»Seit der Fehlgeburt liegt sie im Bett. Man kann nicht mit ihr reden. Will sagen: Nicht vernünftig reden, wenn man was erklären muss.«

Tommy sagte: »Hey, Chil? Dann erzählst du’s ihr eben nicht, verflucht noch mal.«

Chili sagte: »Der Typ greift sich meine Jacke, und ich soll sie nicht zurückverlangen?«

Tommy Carlo holte ihn im Restaurant ab, und sie machten bei Chilis Wohnung an der Meridian halt, wo der damals mit seiner Frau wohnte, damit er nach oben laufen und etwas holen konnte. Er versuchte, sich leise ein Paar Handschuhe aus dem Schrank zu nehmen und zu verschwinden, aber Debbie hörte ihn.

Aus dem Schlafzimmer sagte sie: »Ernie, bist du das?« Sie nannte ihn nie Chili. Wenn sie etwas wollte, nannte sie ihn mit ihrer leidenden Stimme Schatz. »Schatz? Würdest du mir bitte von der Spüle in der Küche meine Tabletten und ein Glas Wasser holen, solange du auf bist?« Pause. »Ach nein … Schatz? Bring mir lieber ein Glas Milch und ein paar von diesen Keksen, die du bei Winn-Dixie gekauft hast, die mit den Schokostückchen?« Das gab sie langsam in dem schleppenden Tonfall zum Besten, den sie sich seit ihrer Fehlgeburt drei Monate zuvor zugelegt hatte. Dann brauchte sie ewig, ihn zu fragen, wie viel Uhr es sei, dabei stand der Wecker eine halbe Armlänge entfernt auf dem Nachttisch. Die beiden kannten sich seit der High-School, wo er Basketball gespielt und sie den Majorettenstab und ihren hübschen Arsch geschwungen hatte. Chili verriet ihr, es sei halb vier und er müsse dringend zu einem Termin; tschüs. Er hörte sie sagen: »Schatz? Würdest du …«, doch er war schon weg.

Auf der Fahrt die paar Blocks zum Victor Hotel am Ocean Drive sagte Tommy Carlo: »Hol meinetwegen deine Jacke, aber bring den Typ nicht auf die Palme, okay? Falls es Komplikationen gibt, müssten wir Momo anrufen, um die Sache wieder hinzubiegen. Klar? Dann wird Momo sauer, weil wir seine kostbare Zeit stehlen, und das können wir nicht brauchen. Stimmt’s?«

Chili überlegte sich gerade, wie Debbies Tabletten eigentlich immer wieder in die Küche kamen, nachdem er sie ihr gebracht hatte. Doch er hörte Tommy und sagte: »Keine Sorge. Ich sag nicht mehr als unbedingt nötig, wenn überhaupt.«

Während er die Treppe zum dritten Stock hochging, zog er seine schwarzen Lederhandschuhe an, klopfte dann dreimal an die Tür, und als Ray Bones öffnete, verpasste Chili ihm eine. Bloß einen Schlag, für die Linke sah er keine Notwendigkeit. Dann holte er seine Jacke von einem Stuhl im Wohnzimmer, warf einen Blick auf den zusammengekrümmt daliegenden Ray Bones, der sich Mund und Nase hielt, Hände und Hemd blutverschmiert, und ging. Ohne ein Wort.

 

Ernesto Palmer bekam den Spitznamen Chili ursprünglich, weil er als Jugendlicher so ein jähzorniger, scharfer Hund gewesen war. Den Namen hatte ihm sein Dad verpasst, der im Hafen für die Bull Schifffahrtslinie arbeitete, wenn er nicht gerade soff. Inzwischen war der hitzige, scharfe Chili abgekühlt, sagte Tommy Carlo, sozusagen eiskalt. Er brauchte einen säumigen Schuldner nur ausdruckslos anzustarren, nicht mehr als drei Worte zu sagen, und schon verkaufte der den Wagen seiner Frau, um seinen Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Chili sagte, das Geheimnis sei, wie man den Kreditnehmer vorbereite.

»Wenn einer zu dir kommt, ist es ganz egal, wie viel er will oder wofür er es braucht, doch bevor du ihm zehn Cent gibst, sagst du: ›Wollen Sie das Geld auch ganz bestimmt haben? Sie brauchen bei mir nicht Ihr Haus zu verpfänden oder irgendwelche Papiere zu unterschreiben. Sie geben mir nur Ihr Wort, dass Sie mir soundso viel die Woche mit Zinsen zurückzahlen.‹ Du sagst: ›Wenn Sie meinen, Sie könnten nicht wenigstens die wöchentlich fälligen Zinsen bezahlen, nehmen Sie das verfluchte Geld bitte nicht, Sie hätten sowieso nichts davon.‹ Wenn der Mann auch nur ein klein wenig zögert (›Tja, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es schaffe …‹), wenn er etwas in der Art sagt, bekommt er von mir zu hören: ›Nein, ich rate Ihnen, nehmen Sie das verfluchte Geld nicht.‹ Der Typ wird betteln und einen Eid auf seine Kinder schwören, dass er dich rechtzeitig bezahlt. Dass er in der Klemme steckt, weißt du, sonst würde er sich ja gar nicht erst an einen Kredithai wenden. Also sagst du zu ihm: ›Na schön, aber wenn Sie auch nur eine einzige Zahlung versäumen, wird es Ihnen leidtun, dass Sie je zu mir gekommen sind.‹ Du sagst dem Typ nie, was ihn erwarten könnte. Soll er seine Phantasie spielen lassen, ihm wird schon was Schlimmeres einfallen. Mit anderen Worten: Sprich nicht mit ihm, wenn es nicht sein muss. Was bringt’s?«

Genauso war es, als er sich die Jacke zurückholte. Was gab es da groß zu reden?

Jetzt lag es an Ray Bones. Wenn er sauer war, weil er eins auf die Nase und in die Zähne bekommen hatte, musste er etwas unternehmen. Manche Sachen ließen sich nicht verhindern. Tommy Carlo riet Chili, eine Weile unterzutauchen, in den Keys fischen zu gehen. Aber was sollte er mit der kranken Debbie machen, die Angst davor hatte, beim Pinkeln Blut zu sehen?

Er stellte sich vor, was Ray Bones möglicherweise mit ihm anstellen konnte. Wie er gerade im Vesuvio’s säße, aufschauen würde, und da stünde Ray Bones, eine Knarre auf ihn gerichtet. Oder wie er aus dem Friseurladen an der Arthur Godfrey Road käme, wo sie in einem Hinterzimmer das Büro hatten. Oder nein – wie er auf einem der Stühle säße und mit Fred und Ed plauderte, was er manchmal tat, wenn gerade kein Kunde im Laden war. Das würde dem leicht beschränkten Ray Bones gefallen: In Friseursalons waren schon andere umgelegt worden, beispielsweise Albert Anastasia, das wusste Ray Bones bestimmt. Chili sagte »Scheiße« und fuhr in die S.W. Eighth Street, wo er von einem Kubaner eine stupsnasige Achtunddreißiger kaufte. »Die berühmte Smit und Wayson, Modell treintaseis.«

Es passierte, als Chili im Hinterzimmerbüro war und Eintragungen in das Inkassobuch machte. Durch das Wandregal hörte er Fred sagen: »Paris? Ja, da war ich schon oft. Liegt direkt an der Neunundsiebzig.« Ed widersprach: »So’n Quatsch, es liegt an der Achtundsechzig. Nur siebenundzwanzig Kilometer von Lexington.« Darauf entgegnete Fred: »Was meinst du eigentlich, Paris in Kentucky oder Paris, Tennessee?« Dann folgte Schweigen, die Frage wurde nicht beantwortet.

Chili sah von dem Inkassobuch auf, lauschte einen Moment auf nichts, öffnete die Schreibtischschublade, nahm die Achtunddreißiger heraus und zielte damit auf die Türöffnung. Dann sah er Ray Bones im hinteren Flur, Bones in der Tür zum Büro, überrascht, eine Waffe auf sich gerichtet zu sehen. Bones feuerte, vielleicht nicht ganz vorbereitet, den großen Automatik-Colt ab, wobei die Kanone einen furchtbaren Lärm machte, als Chili seinerseits den Abzug betätigte und ihn in den Kopf schoss. Die Achtunddreißigerkugel streifte Ray Bones, wie sich herausstellte, vom Haaransatz bis zum Scheitel und zog ihm eine Furche durch die Kopfhaut, die im Mt. Sinai mit über dreißig Stichen genäht wurde … Chili hörte später davon. Er pulte zwei Kugeln aus der Wand und entdeckte eine weitere im Aktenschrank, die er Tommy Carlo zeigte.

Tommy rief Momo an, und Momo setzte sich mit Jimmy Cap in Verbindung, stellte die Sachlage sozusagen zur Diskussion, ob Ray Bones von dem Angehörigen einer anderen Gang ehrenrührig behandelt worden war oder ob er sich die Verwundung selbst zuzuschreiben hatte. Hätten sie die Sache auf sich beruhen lassen und kein Urteil gefällt, wäre sie womöglich außer Kontrolle geraten. Die beiden Bosse entschieden diese Lederjackengeschichte, und heraus kam Blödsinn, vergiss es. Jimmy Cap sollte Ray Bones sagen, er könne von Glück reden, dass er nicht tot sei, schließlich sei die Jacke des anderen Burschen ein Weihnachtsgeschenk seiner Frau gewesen. Das war das Ende dieser Geschichte, die sich vor zwölf Jahren zugetragen hatte, wenn man von einem unerwarteten Ereignis absah, das sich anschließend daraus ergab, und von etwas anderem, das jetzt geschah, in der Gegenwart.

Das unerwartete Ereignis war, dass Debbie Chili sitzenließ und nach Bay Ridge zurückging, um mit ihrer Mutter über einem Bekleidungsgeschäft zu wohnen.

Dazu kam es, weil Momo während der Erörterung Chili anrief, um seine Version zu hören – um Tommy Carlo einen Gefallen zu tun, sonst hätte er sich nie mit ihm persönlich unterhalten –, und Debbie am Nebenapparat mithörte. Momo sagte Chili lediglich, er solle mit dem Schulhofquatsch aufhören und erwachsen werden. Doch das reichte Debbie, um zu merken, dass Chili immer noch seine alten Verbindungen unterhielt. Sie kletterte sogar aus dem Bett, lief hinter ihm her, wollte wissen, was er mit Momo und »diesen Leuten« zu schaffen habe, und wurde so schrill, dass er schließlich zugab, er arbeite nun mal für Momo, na und? Er glaubte, das würde ihr die Sprache verschlagen und er würde zur Strafe etwa einen Monat lang mit Schweigen bestraft werden, was ihm gut in den Kram gepasst hätte. Doch stattdessen wurde sie hysterisch, schrie: »Darum hatte ich die Fehlgeburt, ich wusste es. Ich wusste, dass du dich wieder auf diese Sache eingelassen hast, und das Baby wusste es von mir und wollte nicht geboren werden!«

Was? Weil sein Papa im Schnellkreditgeschäft tätig war? Armen Teufeln behilflich war, denen die Bank nichts gab? Wie redete man mit einer Frau, die glaubte, dass ein ungeborenes Kind so etwas wissen konnte? Er versuchte es. Er sagte, sie solle zum Arzt gehen, ihr beschissenes Gehirn nachsehen lassen. Debbies letzte Worte an ihn waren: »Wenn du dich für so schlau hältst, dann sieh mal zu, wie du eine Scheidung bekommst, Großmaul.« Mit anderen Worten: Sie würde auf die Alimente verzichten, mit ihrer Mutter über einem Bekleidungsgeschäft wohnen und verhindern, dass er je wieder heiratete. Debbie, zu dämlich, um zu begreifen, dass sich die Welt mit Rock ’n’ Roll und der Pille verändert hatte, glaubte so zu verhindern, dass er je wieder vögelte.

Von da an ging Chili mit einer ganzen Reihe Frauen, mit einigen war es ernst, mit anderen nicht. Eine hieß Rose, eine Bardame, die ein paar Jahre mit ihm zusammenlebte. Eine andere Vera, eine Go-Go-Tänzerin, in die er sich verliebte, doch er ertrug es nicht, dass andere Männer sie anstarrten, und so trennten sie sich. Er ging mit Kellnerinnen, Kosmetikerinnen, Verkäuferinnen aus der Dadeland Mall aus, lud sie zum Essen oder ins Kino ein und manchmal ins Bett. Es gab eine Sängerin namens Nicole, die er sehr, sehr mochte, doch ihr Leben schien dem Rock ’n’ Roll zu gehören, und er wusste nie, wovon sie gerade sprach. Chili mochte Frauen und fühlte sich in ihrer Gegenwart wohl, ohne sich verstellen zu müssen. Er war, wer er war, und sie schienen ihn so zu mögen. Einige Frauen mochten allerdings nicht, dass sie so oft ins Kino gingen, praktisch jedes Mal, wenn sie ausgingen. Sie hatten wohl das Gefühl, dass ihm Filme mehr bedeuteten als sie.

Was sich noch aus der Jackengeschichte ergab, und zwar heute, zwölf Jahre später, geschah kurz nachdem sie erfahren hatten, Momo sei erschossen worden, als er ein Restaurant an der 56th Street in Manhattan verließ, und Tommy Carlo an seiner Beerdigung teilnahm. Am Tag danach tauchten im Laden zwei Besucher auf, die Chili sprechen wollten, ein großer Schwarzer, den er noch nie gesehen hatte, und Ray Bones.

 

»Werden hier auch normale Haare geschnitten«, fragte Bones Chili, »oder bloß die von Schwuchteln?«

Die Zeiten hatten sich geändert. Fred und Ed waren weg, und zwei Burschen namens Peter und Tim frisierten beide Geschlechter in einer einem Art-déco-Garderobenraum ähnlichen Umgebung, Glühbirnen um rosafarbene Spiegel. Die beiden waren in Ordnung. Sie sorgten dafür, dass Chili die Haare zurückkämmte, ungescheitelt, wie Michael Douglas in dem Film Wall Street.

Auch Chili hatte sich in den vergangenen zwölf Jahren verändert, war es mittlerweile leid, Leuten gegenüber Ehrfurcht zu heucheln, die er für Arschlöcher hielt. Momo war in Ordnung gewesen, doch andere Kerle aus seiner Umgebung machten in Miami Urlaub und führten sich auf wie große Macker, erwarteten, von ihm und Tommy herumchauffiert zu werden, Weiber besorgt zu kriegen. In solchen Fällen sagte Chili zu den großen Maxen: »Ey, ich spiel für euch doch nicht den Zuhälter«, und dann gingen sie Tommy auf die Nerven, weil der Momos Neffe war und sich nicht weigern konnte. Das hatte zur Folge, dass Chili sich immer mehr aus dem Kreditgewerbe zurückzog und nur noch ein paar Stammkunden bediente, die ihm keinen Ärger machten. Außerdem beschaffte er nachts im Auftrag kleiner Kreditfirmen die Autos von Kunden zurück, die ihre Raten nicht zahlten, und trieb für kleine Kaufleute und ein paar Hotels in Las Vegas die Schulden ein, stattete Höflichkeitsbesuche ab. Und war noch ein paar Grad cooler geworden.

Trotzdem konnte er es nicht lassen, zu Ray Bones zu sagen: »Da du so viele Haare verlierst, Bones, solltest du die übrigen von den beiden Jungs durchstylen lassen, vielleicht können sie ja die Narbe abdecken. Oder sie verpassen dir ein Toupet, auch eine Möglichkeit.«

Scheiß drauf. Chili wusste, was passieren würde.

Es waren keine Kunden im Laden. Ray Bones sagte Peter und Tim, sie sollten einen Kaffee holen. Sie gingen grimassenschneidend, und der große Farbige schubste Chili in einen Frisierstuhl mit den Worten: »Der Mann ist der Boss. Alles klar? Er heißt Mr. Bones, so reden Sie ihn von jetzt ab an.«

Chili sah zu, wie Mr. Bones durch den hinteren Flur zum Büro ging, und sagte zu dem Farbigen: »Sie können für jemand Besseren als ihn arbeiten.«

»Heutzutage nicht«, entgegnete der Farbige. »Außer man spricht spanisch.«

Bones kam mit offenem Inkassobuch zurück und sah sich in einem grünen Spiralblock die Namen der Schuldner, die zu zahlenden Beträge und die Zahlungstermine an. Zu Chili sagte er: »Wie macht ihr das, du kümmerst dich um die Tortillafresser und Tommy um die Weißen?«

Chili sagte sich im Stillen, jetzt sei es an der Zeit, den Mund zu halten.

Der Farbige sagte: »Der Boss redet mit Ihnen.«

»Er ist nicht mehr im Geschäft, weiß es aber noch nicht«, befand Bones und sah von dem Buch auf. »Für dich gibt’s hier nichts mehr zu tun.«

»Das merke ich auch«, sagte Chili. Er sah zu, wie Bones seine Nase wieder in das Buch steckte.

»Wie viel hast du am Laufen?«

»Etwa dreieinhalb.«

»Scheiße, zehn Riesen die Woche. Wie viel hat Momo dir überlassen?«

»Zwanzig Prozent.«

»Und du hast ihn um was, weitere zwanzig beschissen?«

Chili antwortete nicht. Bones blätterte um, las die Einträge bis ans Ende der Seite und brach ab.

»Da fehlt einer. Der Typ ist sechs Wochen überfällig.«

»Er ist gestorben«, sagte Chili.

»Woher weißt du das, hat er’s dir erzählt?«

Ray Bones blickte beifallheischend zu dem Farbigen hinüber, doch der sah sich gerade Haarspülungen und dergleichen auf dem Tresen an. Auch Chili würdigte seinen Scherz nicht. Er dachte gerade, er könne Mr. Bones in die Eier treten, wenn der näher kam, dann aufstehen und ihm eine verpassen. Falls der große Farbige vorher Leine zog.

»Er kam«, sagte Chili laut, »bei dem Absturz des TransAm-Jets in den Everglades ums Leben.«

»Wer hat dir das gesagt?«

Chili stand auf, begab sich in das hintere Büro und kehrte mit einem Stapel Miami Heralds zurück. Er ließ die Zeitungen vor Bones auf den Boden fallen und nahm wieder auf dem Stuhl Platz.

»Bedienen Sie sich. Sie finden ihn auf der Liste der Opfer. Leo Devoe. Sein Laden hieß Paris Cleaner’s, an der Federal Highway, etwa in der Höhe der 124th Street.«

Bones stupste den Zeitungsstapel mit einem Zeh an, der in cremefarbenen durchbrochenen Schuhen steckte, die zu seiner Freizeithose und dem Sporthemd passten. Auf der Titelseite stand: 117TOTE BEI TRANSAM-ABSTURZ. Chili sah zu, wie Bones sich durch Ausgaben stupste, die Schlagzeilen trugen wie WINDVERHÄLTNISSE MÖGLICHERWEISE SCHULD AN ABSTURZ, WARNUNG VOR SCHERWINDEN WAR BEKANNT, SOFORT NACH ABSCHIED BRICHT ALBTRAUM HEREIN …, bis hinunter zu einer Seite mit kleinen Fotos, Passfotos, und einem Artikel unter der Überschrift: SONDERBERICHT: DER TRAGISCHE BLUTZOLL.

»Seine Frau hat mir bestätigt, er sei in dem Flugzeug gewesen«, sagte Chili. »Das habe ich so lange überprüft, bis ich wusste, ja, es stimmt.«

»Ist sein Foto da drin?«

»Ziemlich weit unten. Sie müssen umblättern.«

Bones wollte sich nicht bücken, bloß nicht überanstrengen. Er sah von der Zeitung auf. »Vielleicht hat er eine Flugversicherung abgeschlossen. Überprüf das bei seiner Frau.«

»Das Buch gehört jetzt Ihnen«, sagte Chili. »Wenn Sie’s überprüfen wollen, nur zu.«

Der Farbige trat hinter dem Tresen vor und nahm neben dem Stuhl Aufstellung.

Ray Bones sagte: »Sechs Wochen Zinsen macht zweitausendsiebenhundert zu den fünfzehn, die du ihm gegeben hast. Die kannst du von der Frau des Typen oder aus deiner eigenen Tasche zahlen, mir ist das scheißegal. Du übergibst mir kein Buch mit einem Blindgänger drin.«

»Zeit, alte Rechnungen zu begleichen«, sagte Chili. »Erinnern Sie sich noch an die Jacke? Ich hab sie vor zwei Jahren der Heilsarmee gegeben.«

»Welche Jacke?«, fragte Bones.

Er wusste Bescheid.

Der Farbige stand dicht daneben und starrte Chili ins Gesicht, während Bones sich an dessen Michael-Douglas-Frisur zu schaffen machte, mit einer Schere eine Handvoll Haare nach der anderen abschnitt und Chili erzählte, immer wenn er in den Spiegel sähe, solle ihn das daran erinnern, dass er ihnen fünfzehn plus entsprechende Zinsen schulde, korrekt? Die Zinsen würden weiterlaufen, bis er die Schulden bezahlte. Chili saß bewegungslos da, hörte das Schnippschnapp der Schere und wusste, dass es nichts mit dem Geld zu tun hatte. Man zahlte es ihm heim, diesmal, weil er Ray Bones an seine Narbe erinnert hatte, die sich dort am Kopf, wo er kahl wurde, weiß abzeichnete. Bei solchen Burschen war es nichts als Kinderkram, wie sie den harten Mann markierten. Wie Momo gesagt hatte, Schulhofquatsch. Diese Typen wurden nie erwachsen. Aber wenn sie einem mit einer Schere vor dem Gesicht herumfuchtelten und dabei etwas erzählten, war man mit allem einverstanden. Wenigstens für den Moment.

Chili saß immer noch in dem Stuhl, als die beiden New-Wave-Friseure zurückkamen und ihre Kommentare abgaben, ihm vorschlugen, den restlichen Haaren eine Dauerwelle zu verpassen oder eine gemäßigte Stoppelfrisur, an den Seiten glattrasiert, beliebt seien auch neonfarbene Streifen. Chili erwiderte, sie sollten das Geschwätz einstellen und die Haare auf gleiche Länge bringen. Während sie damit beschäftigt waren, überlegte er, ob Leo Devoe tatsächlich eine Flugversicherung abgeschlossen oder ob seine Frau daran gedacht hatte, die Fluggesellschaft zu verklagen. Das könnte er ihr gegenüber erwähnen.

Doch als er in ihrem Haus in North Miami vorbeikam – mit der Absicht, alles über mögliche Versicherungen herauszufinden –, brachte ihn Fay, die Frau, völlig aus dem Konzept. Sie sagte nämlich: »Ich wünschte, er wäre wirklich tot, der Mistkerl.«

 

Sie sagte es nicht sofort, erst als sie bei Wodka und Tonics im Dunkeln auf der Veranda saßen.

Chili kannte Fay von seinen Besuchen, um die wöchentlichen vierhundertfünfzig abzuholen, und sie hatten hier gesessen und darauf gewartet, dass Leo nach einem Arbeitstag bei Gulfstream heimkam. Fay war ein ruhiger Typ aus Mt. Dora, einem kleinen Ort im Norden Floridas, zwar nicht unattraktiv, sah in ihrem Strandkleid aber schmal aus, weil sie bei der Hitze in der Reinigung arbeitete, während Leo auf der Pferderennbahn wettete. Sie saßen da und versuchten sich zu unterhalten, mit Leo als einzigem Gesprächsthema, und in den Pausen fing Chili gelegentlich ihren Blick auf, sah ihr in die Augen und spürte, da war was, wenn er nur wollte. Allerdings konnte er sich keine erregte Fay vorstellen und auch nicht, dass sich ihr Gesichtsausdruck dabei sehr verändern würde. Worüber mochte eine schüchterne Frau, die einen Verlierer am Hals hatte, wohl nachdenken? Irgendwann tauchte Leo auf, stolzierte mit einem Bündel Geldscheinen in der Hand auf die Veranda und blätterte die vierhundertfünfzig auf den Tisch, kein Problem. Oder er schüttelte den Kopf, völlig erledigt, und sagte, morgen hätte er es bestimmt. Chili drohte ihm nie, nicht vor der Frau, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Erst wenn er ging und Leo klug genug war, ihn zu seinem neben der Straßenlaterne geparkten Wagen zu begleiten. Dann sagte er: »Leo, sieh mich an«, und gab ihm Instruktionen, wo er am nächsten Tag mit den vier fünfzig sein sollte. Leo konnte nie etwas dafür: Entweder ließen ihn die Pferde im Stich, oder Fay lag ihm ständig in den Ohren und lenkte ihn ab, wenn er versuchte, sich über die Sieger klar zu werden. Und Chili musste es wiederholen: »Leo, sieh mich an.«

An dem Abend, als er nicht nach Hause kam, war er zwei Wochen im Rückstand. Fay sagte, sie habe keine Ahnung, wo Leo sein könne. In der dritten Woche erzählte sie ihm, Leo sei tot, und ein paar Wochen danach war sein Foto in der Zeitung.

Als sie bei diesem Besuch auf der Veranda saßen, wohl wissend, Leo würde nicht kommen, weder hereinstolziert noch sonst wie, wurden die Gesprächspausen länger. Chili fragte, was sie nun vorhabe. Fay antwortete, sie wisse es nicht; sie könne chemische Reinigungen nicht ausstehen, die Arbeit in geschlossenen Räumen. Chili sagte, es müsse schrecklich heiß sein. Sie sagte, es sei unglaublich, wie heiß es sei. Schließlich erkundigte er sich nach einer Lebensversicherung. Fay sagte, sie wisse von keiner. Chili sagte, nun ja … Rührte sich aber nicht. Fay genauso wenig. Es war dunkel, ihr Gesicht war kaum zu sehen, keiner von beiden gab einen Laut von sich. Und dann sagte sie aus dem Nichts heraus: »Wissen Sie, was mir durch den Kopf ging?«

»Sagen Sie’s mir.«

»Ich wünschte, er wäre wirklich tot, der Mistkerl.«

Chili gab keinen Mucks von sich. Nicht reden, wenn du nicht reden musst.

»Seit er nach Las Vegas abgehauen ist, hat er mich zweimal angerufen, und seither hab ich nicht ein verfluchtes Wort von ihm gehört. Ich weiß, dass er da ist, er hat dauernd darüber geredet, nach Las Vegas zu gehen. Dabei habe ich den Kopf hingehalten, mir haben sie das Geld gegeben, nicht ihm. Ich rede von der Fluggesellschaft, von den dreihunderttausend Dollar, die sie mir gaben, weil ich meinen Mann verloren habe.« Fay hielt inne und schüttelte den Kopf.

Chili wartete.

Auf der dunklen Veranda sagte sie zu ihm: »Ich vertraue Ihnen. Sie sind zwar ein Gangster, aber ein anständiger Mensch. Wenn Sie Leo finden und mir meine Dreihunderttausend zurückgeben, falls er sie noch nicht ausgegeben hat, kriegen Sie die Hälfte von mir. Wenn er groß abgesahnt hat, teilen wir das oder alles, was übrig geblieben ist. Wie hört sich das an?«

Chili sagte: »So haben Sie sich das gedacht, hm? Verraten Sie mir, warum die Fluggesellschaft Leo für tot hält, obwohl er gar nicht an Bord war.«

»Aber sein Koffer war’s«, sagte Fay und erzählte Chili alles.

Es war ein gute Geschichte.

2

Harry Zimm glaubte, wenn er die Augen geschlossen ließe und nicht mehr hinhörte, müsse das von irgendwo aus dem Haus dringende Geräusch aufhören und er könne bald weiterschlafen.

Aber darauf ließ sich Karen nicht ein. Er hörte, wie sie ein paarmal »Harry?« sagte, vielleicht nicht sicher, ob sie wirklich etwas hörte. Dann »Harry …«, immer noch ein Flüstern, aber nachdrücklicher. Als er wieder keine Antwort gab, stieß sie ihn in den Rücken, fest. »Harry, verdammt noch mal, unten ist jemand.«

Seit zehn Jahren, seit sie nicht mehr zusammenwohnten, hatten sie nicht mehr regelmäßig im selben Bett geschlafen, doch Karen durchschaute ihn immer noch. Sie beide hatten seither nur ein einziges Mal zusammen geschlafen, nämlich kurz nach Karens Scheidung von Michael, als Michael, damals schon ein Star, Karen das Haus geschenkt hatte. Sie ließ sich nichts vormachen. Also drehte er sich um, und da saß sie auf der anderen Seite des übergroßen Bettes, in ihrem Lakers-T-Shirt, eine weiche weiße Gestalt im Dunkel, ein Porzellanpüppchen.

»Was ist los?«

»Sei ruhig und horch.«

Unter dem weiten T-Shirt steckte ein hartes Porzellanpüppchen.

»Ich höre nichts.« Das stimmte, jedenfalls im Moment.

»Zuerst dachte ich, es wäre Miguel«, sagte Karen. »Mein Hausmeister. Aber er besucht seine Mama in Chula Vista.«

»Du hast einen Hausmeister?«

»Miguel macht alles, putzt im Haus, kümmert sich um draußen … Da war’s wieder«, sagte Karen. »Wenn du das nicht hörst, Harry, bist du taub.«

Er hätte sie gern gefragt, wie alt Miguel war und wie er aussah. Miguel … und er dachte an Michael, ihren Ex, jetzt ein Superstar. Michael hatte hier gewohnt und in diesem Bett geschlafen. Er fragte sich, ob sich Miguel je zu ihr legte. Karen ging auf die vierzig zu, sah aber immer noch umwerfend aus. Sie hielt sich fit, nahm inzwischen Biokost statt Drogen zu sich und rauchte keine normalen Zigaretten mehr, sondern welche mit Menthol und wenig Teer.

»Harry, schlaf mir nicht ein.«

Er sagte: »Habe ich das je gemacht?« Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Hast du irgendeine Ahnung, was das ist?«

»Das sind Stimmen, Harry. Leute, die reden.«

»Tatsächlich?«

»Im Fernsehen. Jemand ist reingekommen und hat das Gerät angeschaltet.«

»Bist du sicher?«

»Hör doch hin.«

Harry hob gehorsam seinen Kopf vom Kissen und hörte ein leises monotones Geräusch, aus dem sich nach und nach Stimmen herausschälten. Sie hatte recht, zwei Personen unterhielten sich. In der Stille des Schlafzimmers hielt er den Kopf schräg und sagte nach einer Weile: »Weißt du, wie sich der Typ anhört? Wie Shecky Greene.«

Karen drehte langsam den Kopf und musterte ihn über die Schulter. »Du bist immer noch breit, stimmt’s?« Das war eine Feststellung, klang keineswegs abschätzig, eher ein wenig traurig.

»Mir geht’s bestens.«

Vielleicht angetrunken, aber durchaus wachsam, und er verspürte ein wohliges Glühen. Die Kopfschmerzen kamen dann später, falls er nichts einnahm. Er musste vorhin die halbe Flasche Scotch niedergemacht haben, unten im Arbeitszimmer bei laufendem Fernseher, als er Karen von seiner Situation berichtet hatte, von den dreißig Jahren im Filmgeschäft immer am Abgrund. Er würde entweder ein ganz Großer werden oder womöglich in der Versenkung verschwinden. Und sie saß da und hörte ihm zu wie ein verdammter Funktionär der Transportarbeitergewerkschaft, keinerlei Sympathie, keinerlei Mitgefühl.

Er dachte an etwas anderes und sagte: »Verstehst du, manchmal geht man morgens nach unten, und die Bilder hängen schief an den Wänden. Man denkt sich: Wow, hab ich ’nen Kater! In den Nachrichten sieht man dann, dass nachts irgendwo bei Pasadena die Erde gebebt hat. Kein großes Erdbeben, vielleicht vier Komma zwei. Verstehst du? Vielleicht war es was in der Art, eine atmosphärische Störung hat die Glotze eingeschaltet.«

Karen hörte zwar zu, aber nicht ihm; sie starrte, den hübschen schlanken Rücken vorgebeugt, auf die offene Schlafzimmertür, hinter der es stockfinster war.

»Vielleicht ist es nur der Wind«, sagte Harry.

Das brachte sie dazu, ihn wieder anzusehen, da sie diesen Satz kannte, aus Grotesk, Teil II, einem seiner Filme, die am meisten eingespielt hatten. Der Irre auf dem Dach reißt mit bloßen Händen die Ziegel runter; im Inneren des Hauses glotzt der sehr lockige männliche Hauptdarsteller grimmig zur Decke hoch, während Karen, die das Mädchen spielt, zu ihm sagt: »Vielleicht ist es nur der Wind.« Sie hatte diesen Satz nicht ausstehen können, hatte ihn nicht sagen wollen, bis er ihr eingeredet hatte, dass er okay war und funktionierte.

»Ich finde deine Haltung großartig«, sagte Karen. »Was kümmern dich Einbrecher, ist ja schließlich nicht dein Haus.«

»Warum rufst du nicht die Polizei, wenn du glaubst, dass ein Einbrecher im Haus ist?«

»Weil ich mich nicht vorsätzlich lächerlich mache«, antwortete Karen, »wenn ich es verhindern kann. Das war einmal.«

Wie sie ihn unverwandt ansah, über die Schulter, gab eine prima Einstellung ab. Dunkles Haar vor blasser Haut. Die Ausleuchtung war auch nicht schlecht, Karen mit der Hintergrundbeleuchtung der Fenster. Das machte sie mindestens zehn Jahre jünger; die zähe kleine Frau in ihrem weißen T-Shirt wurde wieder zu einem süßen jungen Ding. Mit nachdenklicher Stimme sagte sie nun zu ihm: »Als ich nach oben ging, bist du geblieben, weil du noch einen Schluck im Glas hattest.«

»Aber den Fernseher hab ich nicht angestellt.«

»Du wolltest ein paar Minuten Carson gucken, hast du gesagt.«

Sie hatte recht. »Ich hab ihn aber abgedreht.«

»Harry, wie kannst du das so genau wissen?«

»Ich weiß es genau.«

Weil er nämlich in dem Moment abgedreht hatte, als ihm der Gedanke kam, zu Karen ins Bett zu steigen, statt im Gästezimmer zu schlafen: Er hatte vor, das Gespräch wieder aufzunehmen, an ihr Mitleid zu appellieren …

»Ich habe das Fernbedienungsdings benutzt und es auf den Fußboden gelegt«, sagte Harry. »Weißt du, was passiert sein könnte? Der Hund ist reingekommen, draufgetreten und hat den Fernseher wieder eingeschaltet.«

»Ich habe keinen Hund.«

»Nicht? Was ist aus Muff geworden?«

»Harry, gehst du nun runter, oder soll ich es tun?«

Ihm wäre lieber gewesen, sie wäre gegangen, aber er musste nett sein, zuvorkommend, wenn er sich die Chance nicht verderben wollte, sie für seine Zwecke einzuspannen.

Als er aus dem Bett stieg, rutschten seine Boxer-Shorts nach oben, und er musste sie wieder hinunterziehen, das Gummiband unter den Bauch rücken. Karen hielt ihn für dick.

Vorher hatte er ihr im Arbeitszimmer von der Story erzählt, auf die er sich eine Option gesichert hatte und die sein Leben verändern konnte, ein Originaldrehbuch: keine Psychopathen oder Monster, dies hier war eine unverfälschte, anspruchsvolle Sache. Als er ihr sagte, er wolle sie einem großen Studio anbieten, reagierte Karen mit einem »Ach ja?« Er sagte – sodass es wie ein spontaner Einfall klang – jawohl, und wer wohl das Skript gelesen habe und total begeistert sei? Michael. Kein Scherz, ist hingerissen. Ihr Ex, aber sie sagte kein einziges verfluchtes Wort dazu, machte nicht mal »Ach ja?« oder irgendein Geräusch. Sie starrte ihn bloß an und zog an ihrer Zigarette. Er räumte ein, er habe gewisse Probleme. Das eine sei, an Michaels Agenten, dem Ekel, vorbeizukommen, der verhindere, dass Michael sich mit ihm traf. Dann gebe es noch eine heikle Angelegenheit zu regeln, die – selbstredend – mit Geld zu tun habe, ganz zu schweigen davon, dass er sich seine Kapitalgeber vom Hals schaffen müsse, ein paar zwielichtige Figuren, die ihn finanzierten. Was er ausführlich schilderte.

Seine Karriere lag auf der Abschussrampe, würde entweder abheben oder sich in Rauch auflösen; doch Karen saß einfach da, ließ das Eis in ihrem Drink schmelzen und blies ihm Mentholrauch entgegen. Gab von diesem »Ach ja?« abgesehen keinen Kommentar ab, stellte auch keine Frage, nicht mal über Michael, bis er fertig war, und sagte dann: »Harry, wenn du nicht dreißig Pfund abnimmst, wirst du sterben.« Schönen Dank. Er sagte, zum Glück sei er vorbeigekommen, jetzt wisse er wenigstens, dass er sich bloß den Weight Watchers anschließen müsse, um seine Haut zu retten.

»Harry? Was machst du da?«

»Ich ziehe mein Hemd an.«

Er ging zum Fenster rüber, um sich zu bewegen, um irgendetwas zu tun, während er sich mit den verfluchten Knöpfen abplagte.

»Geht das in Ordnung? Damit ich mir keine Erkältung hole? Aber ich werde mich nicht für irgend ’n Freund von dir in Schale werfen, der sich einen Scherz erlaubt.«

»Freunde brechen nicht ein, Harry, sie klingeln.«

»Tatsächlich? Wenn sie high sind vielleicht doch.«

Karen äußerte sich dazu nicht; sie war inzwischen clean, stand über solchen Dingen. Harry schaute aus dem Fenster auf den Garten hinter dem Haus, der an den Rändern zugewachsen war, ein Pflanzengewirr und alte Bäume umstanden das blasse Oval des Swimmingpools. Offenbar war er voller Laub.

»Schöpft Miguel den Pool ab? Er könnte es vertragen.«

»Harry …«

Er sagte: »Ich geh ja schon«, kam aber nur bis zur Tür. »Wieso ist die Alarmanlage nicht losgegangen, wenn jemand eingebrochen ist?«

»Ich habe keine Alarmanlage.«

»Hast du sie ausbauen lassen?«

»Ich hatte noch nie eine.«

Stimmt, das war ja in dem Haus in Westwood gewesen, wo er zusammen mit Karen gewohnt hatte. Sie hatte die Tür geöffnet und vergessen, die Zahlen einzutippen, mit denen man die Anlage abstellte … Jetzt hatte Marlene besagte Alarmanlage samt dem dazugehörigen Haus. Er hatte Marlene, seine Filmentwicklungsleiterin, geheiratet, nachdem Karen sich aus dem Staub gemacht und Michael geheiratet hatte. Als dann beide Ehen ungefähr zur gleichen Zeit in die Brüche gingen, sagte er zu Karen, das sei ein Zeichen, sie sollten sich wieder zusammentun. Karen entgegnete, sie glaube nicht an Zeichen. Was gelogen war, sie las täglich ihr Horoskop. Marlene war nun mit einem verheiratet, der früher Produktionsleiter bei der Paramount gewesen war und jetzt Komödienserien fürs Fernsehen produzierte, darunter eine Serie über eine Familie mit einem sprechenden Chihuahua. Klitzekleiner Hund mit klitzekleinem getürktem puerto-ricanischem Akzent. Warrum kuukst tu miesch so an? Der Hund baute permanent Scheiße. Harry stellte sich Karen in dem Haus in Westwood vor statt in diesem, ihrem eigenen pseudofranzösischen Château hoch oben in Beverly Hills, über den Lichtern von L.A., Ende der Zwanzigerjahre für einen Filmstar erbaut und später an andere weitergereicht.

Als er in der Tür stand, sagte er zu Karen: »Warrum lähst du miesch dahs maken?«

»Weil ich ein Mädchen bin«, antwortete die blasse Gestalt auf dem Bett, »und du größer bist als ich. Viel größer.«

In Hemd und Boxer-Shorts begab Harry sich die Treppe hinunter, während das monotone Stimmengewirr deutlicher wurde; mittlerweile konnte er einzelne Stimmen heraushören und etwas, das wie Publikum klang, da das Gerät so laut aufgedreht war, dass es bis in den ersten Stock hoch plärrte. Er hielt es für die Letterman-Show. Unter seinen nackten Füßen spürte er die kalten Fliesen des Flures. Jetzt waren es mexikanische Fliesen und primitive Kunst, Hartholzböden außer im Arbeitszimmer; die ganzen ausladenden Möbel mit Schonbezügen aus der Zeit mit Michael waren verschwunden. Und doch fanden sich Fotos von ihm im Arbeitszimmer, zwischen den zig Aufnahmen von Filmleuten und Filmplakaten an den getäfelten Wänden.

Er ging hinüber zum Arbeitszimmer, dessen Tür einen Spalt offen stand; drinnen war es dunkel, vom Leuchten des Sony mit Fünfundfünfzig-Zentimeter-Bildschirm abgesehen. Da unterhielt sich David Letterman mit jemandem … nicht mit Shecky, die Stimme gehörte einem anderen.

Harry konnte den Schreibtisch nicht sehen, an dem er und Karen mit der Flasche Scotch gesessen und geklönt hatten, wo Karen ihm erzählt hatte, sie lese gerade ein Skript, das sie vielleicht interessiere. Ach wirklich? Möchtest wohl wieder zurück ins Geschäft, was? Prima. Er passte den richtigen Moment ab, bis er schließlich mit seinem Anliegen herausrückte: Hier ist meine einmalige Chance, aber das sind die Schwierigkeiten. Pause. Dann darauf warten, dass sie sagte: Vielleicht kann ich behilflich sein. Aber nein, sie sagte bloß, er müsse abnehmen.

Doch es gab noch Hoffnung. Dass sie ihn einlud, die Nacht über zu bleiben, war ein gutes Zeichen. Dass sie sich um ihn kümmerte, sagte, er könne in diesem Zustand nicht Auto fahren. Das hieß, er bedeutete ihr etwas. Wenn auch nicht genug, um, wie er vorgeschlagen hatte, mit ihm zu schlafen, als eine Art Reise in die Vergangenheit. Unverfroren hatte sie erwidert: »Wenn du glaubst, du kannst mich mit Nostalgie flachlegen – vergiss es.« Er könne das Gästezimmer nehmen oder ein Taxi. Also gut, mit ihr zu schlafen, war ohnehin nicht so wichtig; sie verkehrten ohnehin wieder vertraut miteinander. Als er zu ihr ins Bett schlüpfte, sagte Karen: »Ich meine es ernst, Harry, zwischen uns spielt sich nichts ab.«

Aber sie schmiss ihn nicht raus.

Daher fühlte er sich ziemlich gut, als er die Tür zum Arbeitszimmer aufstieß und sich selbst einredete, da sei niemand. Und wenn, dann höchstens einer von Karens Freunden, zweifellos mit Drogen vollgedröhnt, irgendein Nebenrollenschauspieler, der sich für komisch hielt. Na gut, er würde dem Typen betont lässig zunicken, den Fernseher abdrehen und wieder gehen.

Während er auf das Leuchten des großen Sonys zusteuerte, das Zimmer lag weitgehend im Dunkeln, sah er, dass David Letterman sich mit Paul Shaffer unterhielt, seinem musikalischen Leiter; die beiden gaben sich irre schlau. Harry spürte seine Füße in dem warmen Teppichboden. Er spürte, wie er aufschreckte und »Großer Gott!« sagte, als Letterman und Paul Shaffer verschwanden und der Schirm im gleichen Augenblick schwarz wurde, in dem die Schreibtischlampe anging.

Da saß ein Bursche, den Harry nie zuvor gesehen hatte, ein wenig vornübergebeugt, die Arme auf dem Schreibtisch ruhend. Ein Bursche in Schwarz. Dunkle Haare, dunkle Augen, der hagere, knochige Typ. Ein Bursche von Mitte vierzig.

»Harry Zimm, wie geht’s denn so?«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Ich bin Chili Palmer.«

3

Harry presste eine Hand gegen seine Brust. Er sagte: »Gott, hoffentlich wissen Sie, was Sie zu tun haben, wenn ich einen Herzanfall bekomme«, überzeugt, dass der Kerl ein Freund Karens war, so, wie er sich hier zu Hause fühlte und ihn aus tief liegenden, dunklen, beinahe ausdruckslosen Augen ansah.

Chili sagte: »Wo haben Sie gesteckt, Harry?«

Harry ließ die Hand über seinen Bauch gleiten, tat dies in aller Ruhe, wollte zeigen, dass er alles wieder im Griff hatte, nicht im Geringsten befangen war, wie er nur in der Unterhose dastand.

»Sind wir uns schon mal begegnet? Nicht, dass ich wüsste.«

»Gerade eben sind wir’s. Ich sagte Ihnen doch, ich bin Chili Palmer.«

Seinem Akzent nach kam der Typ von der Ostküste, New York oder New Jersey.

»Erzählen Sie mir, was Sie so gemacht haben.«

Harry hatte immer noch einen Kleinen sitzen, was ihn zwar nicht gerade verwegen, aber auch nicht schüchtern machte.

»Sie meinen, was ich hier mache?«

»Wenn Sie wollen, können Sie damit anfangen.«

Der andere wirkte nicht gestört oder gewalttätig. Aber falls er einen Hausschlüssel hatte – was Harry annahm –, war er für Karen mehr als irgendein Freund, und sie stand inzwischen vielleicht auf rauere Bettgesellen.

Harry sagte: »Ich bin nur zu Besuch, mehr nicht. Ich war oben im Gästezimmer, da höre ich den Fernseher … Haben Sie den eingeschaltet?«

Der Typ, Chili, starrte ihn weiter an, sagte kein Wort. Hätte Harry ihn besetzen müssen, wäre er erster oder zweiter Schurke geworden, abhängig vom Etat. Spanischer oder italienischer Abstammung. Kein psychotischer Bösewicht, eher ein cooler Bösewicht, der irgendeine Gaunerei am Laufen hatte. Aber lässig, schwarze Popelinjacke, Reißverschluss zu.

Harry kam die Erleuchtung: »Sie sind beim Film, stimmt’s?«

Der Typ lächelte. Nicht viel, aber genug, dass man ebenmäßige weiße Zähne sah, zweifellos überkront, und Harry wusste Bescheid. Der Typ war ein mit Karen befreundeter Schauspieler, und sie war eingeweiht – deshalb hatte sie so großen Wert darauf gelegt, dass er nach unten ging –, dieses getürkte Vorsprechen war eine abgekartete Sache. Der Typ jagt dir zum Beweis, dass er schauspielern kann, eine Heidenangst ein, und du gibst ihm eine Rolle in deinem nächsten Film.

»Haben Sie sich vorher überlegt, was passiert wäre, wenn ich einen Herzanfall bekommen hätte?«

Der Bursche rührte sich nicht, spielte die Rolle weiter, ausdruckslos, betont cool. Er sagte: »Ich finde, Sie sehen prima aus, Harry. Kommen Sie rüber und nehmen Sie Platz. Erzählen Sie mir, was Sie so gemacht haben.«

Der Typ war nicht schlecht. Harry schnappte sich einen der neben dem Schreibtisch stehenden leinenbespannten Regisseurstühle. Der andere sah zu; er wusste, wie man jemanden anstarrte, ohne es zu übertreiben. Die ganze Einstellung war hübsch: der schmale, dunkle Typ, die Scotchflasche, der Eisbehälter und im Vordergrund die Gläser, die er und Karen stehengelassen hatten. Harry hob eine Hand und fuhr damit über seine schütter werdenden Haare. Er spürte, dass sie die Locken verloren, sie konnten eine Dauerwelle samt Farbauffrischung gebrauchen, damit sie etwas mehr Fülle bekamen und das Mausgrau verschwand, das wieder auf dem Vormarsch war. Der Bursche hatte volles dunkles Haar, wie bei diesem Typ üblich, trug es aber ausgesprochen kurz, sodass man seine Kopfform sah, den Schädelumriss. Es war ein gelungener Effekt.

Er sagte: »Harry, sehen Sie mich an?«

Harry ließ die Hand sinken. »Ich sehe Sie an.«

»Ich möchte, dass Sie nicht von mir wegsehen, okay?«

»Wie Sie wünschen«, sagte Harry und spielte mit. Warum auch nicht? Der Typ war aus Brooklyn oder der Bronx, eins von beidem. Wenn der etwas vorspielte, kam das total echt rüber.

»Na schön, erzählen Sie mir, was Sache ist.«

Er war zwar gut, aber irritierend.

»Da ich kein Drehbuch habe«, sagte Harry, »weiß ich nicht, wovon Sie sprechen. Okay?«

»Sie haben kein Drehbuch«, wiederholte Chili. »Haben Sie denn zufällig hundertfuffzig Riesen dabei?«

Harry antwortete nicht.

»Sie schweigen. Wissen Sie noch, dass Sie am sechsundzwanzigsten November letzten Jahres in Vegas waren, im Las Mesas?«

Langsam klang es echt. »Wenn ich in Vegas bin, steige ich immer da ab, im Mesas«, sagte Harry. »Schon immer, seit Jahren.«

»Kennen Sie Dick Allen?«

»Dick Allen ist ein wirklich guter Freund von mir.« Es konnte immer noch ein Drehbuch sein, ein von Karen verfasstes. »Wie weit wollen Sie damit gehen?«

Der Bursche machte eine Geste, die Hände schlaff, sah sehr natürlich aus.

»Wir sind schon da, Harry. Sie haben Schuldscheine für hundertfuffzig unterschrieben, Sie sind seit mehr als sechzig Tagen überfällig, haben aber noch keinem erzählt, wo das Problem liegt.«

Es war kein Drehbuch.

Harry sagte: »Herr im Himmel, was sind Sie, Schuldeneintreiber? Sie kommen einfach hierher, kommen mitten in der beschissenen Nacht ins Haus spaziert? Ich dachte, Sie wären Schauspieler, würden vorsprechen, Herrgott noch mal.«

Der Typ zog eine Augenbraue hoch. »Ach was?« Er sah aus, als würde er gleich lächeln. »Wie interessant. Sie dachten, ich würde schauspielern, hm?«

»Ich fasse es nicht«, sagte Harry. »Sie brechen in dieses Haus ein, um mir zu erzählen, dass ich ein paar Schuldscheine offen habe? Ich weiß, was ich schuldig bin. Na und? Wenn ich ins Mesas gehe, kriege ich Vorzugsbehandlung, mit allem Drum und Dran. Ich habe so viel Kredit, wie ich gerade schulde …, und die schicken Sie zum Eintreiben her?« Harry verspürte den Drang, sich zu bewegen, irgendwas zu unternehmen. Er hievte sich aus dem Stuhl, damit er auf den Kerl herabsah, ihm gegenüber im Vorteil war. »Das werden wir ja sehen«, sagte Harry, nahm den Telefonhörer ab und drückte die Null. »Vermittlung, wie bekomme ich die Auskunft von Las Vegas?« Er hörte kurz zu und legte auf.

Chili sagte: »Ich gebe Ihnen einen Rat, okay?«

Harry schaute auf, den Hörer wieder in der Hand, kurz davor, die Nummer einzutippen.

»Sie sollten nicht den großen Max markieren, wie Sie so in Ihrer Unterhose dastehen. Verstehen Sie mich? Sie haben genug um die Ohren. Sie haben Schuldscheine und noch eine andere überfällige Schuld, wenn ich mich nicht irre. Sie sollten besser Ihren Kopf gebrauchen, Harry, sich hinsetzen und mit mir reden.«

Das bremste ihn. »Welche andere überfällige Schuld?«

»Legen Sie den Hörer auf.«

»Ich will wissen, wovon Sie reden«, sagte Harry, der nun verärgert klang, eingeschnappt, »wenn nicht von dem, was ich im Mesas schulde, wo man weiß, dass ich dafür gut bin.«

»Dort weiß man, dass Sie bis zu Ihrer letzten Reise gut sind. Danach, so heißt es, weiß keiner was.« Chili wartete.

Harry legte den Hörer auf. Er spürte den Stuhl an seinen nackten Beinen und setzte sich.

»Ein Schuldschein ist wie ein Scheck, Harry.«

»Ich weiß, was ein Schuldschein ist.«

»Die Leute in Vegas wollen Ihre nicht einlösen und erleben, wie sie platzen wegen ungenügender Reserven, oder dass das Konto gesperrt ist. So was ist peinlich. Daher hat Ihr Kundenbetreuer, Ihr wirklicher guter Freund Dick Allen, Sie angerufen, auf Ihrem Anrufbeantworter Nachrichten hinterlassen, aber Sie haben nie zurückgerufen. Wenn Sie also wissen wollen, warum ich hier bin … Ich arbeite nicht direkt für das Mesas,