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Der Kapitalismus versagt vor seinen eigenen Ansprüchen, sagt Sahra Wagenknecht. Sie nimmt Ludwig Erhard beim Wort: Wohlstand für alle! In ihrer Analyse unseres Wirtschaftssystems entwirft sie ein Zukunftsmodell, das dort weiterdenkt, wo die meisten Marktwirtschaftler auf halbem Wege stehen bleiben. Ein Plädoyer für politische Handlungsfähigkeit – Grundvoraussetzung für echten Wettbewerb, echtes Unternehmertum und echte Leistung. »Gute Krisenanalyse … Wagenknecht demaskiert die Mythen und Schwachstellen des globalen Hyperkapitalismus.« Max Otte »›Freiheit statt Kapitalismus‹ formuliert den Zweifel, den viele mit sich herumtragen.« DeutschlandRadio »Sahra Wagenknecht zeigt ein tieferes Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge als viele Politiker aus Parteien, denen man gemeinhin Wirtschaftsnähe und -kompetenz zuspricht.« Handelsblatt
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Veröffentlichungsjahr: 2012
Leseprobe
Sahra Wagenknecht
Freiheit statt Kapitalismus
Über vergessene Ideale, die Eurokrise und unsere Zukunft
Leseprobe
Über das Buch
Der Kapitalismus versagt vor seinen eigenen Ansprüchen, sagt Sahra Wagenknecht. Sie nimmt Ludwig Erhard beim Wort: Wohlstand für alle! In ihrer Analyse unseres Wirtschaftssystems entwirft sie ein Zukunftsmodell, das dort weiterdenkt, wo die meisten Marktwirtschaftler auf halbem Wege stehen bleiben. Ein Plädoyer für politische Handlungsfähigkeit – Grundvoraussetzung für echten Wettbewerb, echtes Unternehmertum und echte Leistung.
»Gute Krisenanalyse …Wagenknecht demaskiert die Mythen und Schwachstellen des globalen Hyperkapitalismus.« Max Otte
»›Freiheit statt Kapitalismus‹ formuliert den Zweifel, den viele mit sich herumtragen.« DeutschlandRadio
»Sahra Wagenknecht zeigt ein tieferes Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge als viele Politiker aus Parteien, denen man gemeinhin Wirtschaftsnähe und -kompetenz zuspricht.« Handelsblatt
Über die Autorin
Sahra Wagenknecht, geboren 1969 in Jena, ist Politikerin und Publizistin und arbeitet an einer volkswirtschaftlichen Dissertation. Sie ist Mitglied der Partei Die Linke. Von Juli 2004 bis Juli 2009 war sie Mitglied des Europaparlaments. Seit Oktober 2009 ist sie Abgeordnete des Deutschen Bundestages und seit November 2011 Vize-Vorsitzende ihrer Fraktion, seit Mai 2010 stellvertretende Parteivorsitzende. 2008 erschien ihr Buch »Wahnsinn mit Methode«, 2011 die Erstausgabe von »Freiheit statt Kapitalismus«.
Wer möchte eigentlich noch im Kapitalismus leben? Wenn wir aktuellen Umfragen glauben, allenfalls noch eine Minderheit. Bei einer repräsentativen Erhebung des Meinungsforschungsinstituts emnid vom August 2010 gaben 88 Prozent der Bundesbürger an, dass sie sich eine »neue Wirtschaftsordnung« wünschen. Der Kapitalismus sorge weder für »sozialen Ausgleich in der Gesellschaft« noch für den »Schutz der Umwelt« oder einen »sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen«. In die gleiche Richtung weist eine Umfrage der Universität Jena vom Herbst 2010, nach der 45 Prozent aller Befragten und 52 Prozent aller unter Dreißigjährigen die Aussage unterstützen: »Der Kapitalismus richtet die Welt zugrunde.« Eine Allensbach-Umfrage vom Februar 2012 zeigt, wie gravierend sich die Auffassungen zu dieser Frage in den vergangenen zwanzig Jahren verändert haben. Während im Jahr 1992 immerhin noch 48 Prozent der Bundesbürger Kapitalismus mit Freiheit verbanden, tun dies heute nur noch 27 Prozent. Assoziationen von Kapitalismus mit Fortschritt sind im selben Zeitraum sogar von 69 auf 38 Prozent zurückgegangen.
Ein deutliches Zeichen für eine Gesellschaft im Aufwind ist es, wenn die Eltern daran glauben, dass es ihren Kindern besser gehen wird als ihnen selbst. Befindet sich ein System im Niedergang, verschwindet dieser Glaube nicht nur, er verkehrt sich ins Gegenteil. Wer traut dem Kapitalismus heute noch zu, dass er künftigen Generationen ein besseres Leben ermöglicht?
Selbst die Kapitalisten scheinen nicht mehr uneingeschränkt von ihrer Ordnung überzeugt zu sein. »Man kann durchaus sagen, dass das kapitalistische System in seiner jetzigen Form nicht mehr in die heutige Welt passt«, bemerkte im Winter 2012 der Chef des glamourösesten Treffens der kapitalistischen Entscheidungselite, der Gründer des Weltwirtschaftsforums in Davos, Klaus Schwab.
Tatsächlich gibt es auch in Deutschland für die meisten Menschen immer weniger Grund, das bestehende Wirtschaftsmodell für attraktiv zu halten. Kein Arbeitsplatz ist mehr sicher, nicht einmal im Wirtschaftsboom, seit es als normal angesehen wird, dass Firmen auch bei bester Gewinnlage tausende Stellen streichen und die Dividenden im Gleichschritt mit der Zahl der Leiharbeiter steigen. Der Unterschied zwischen Aufschwung und Krise reduziert sich heute für einen nicht geringen Teil der Bevölkerung auf den Wechsel zwischen Hartz-IV-Aufstockerleistungen und Hartz IV pur. Noch nie gab es in Deutschland so viele Millionäre und noch nie so viele Tafeln und Suppenküchen, vor denen sich in immer größerer Zahl die Ausgestoßenen und Fallengelassenen drängen. Darunter viele Kinder, denen diese Gesellschaft keine Chance geben wird. Noch nie war der Reichtum weniger so groß, aber auch noch nie die Zukunftsangst und Unsicherheit vieler.
Der heutige Kapitalismus lässt nicht allein Oben und Unten in einer Weise auseinanderklaffen, die jeden Menschen mit normal entwickeltem Sozialgefühl entsetzen muss. Er zerstört – systematisch, hartnäckig und brutal – auch die Mitte der Gesellschaft. Das reguläre Normalarbeitsverhältnis, welches Planungssicherheit und Perspektive gibt, existiert für junge Leute fast nicht mehr. Über die Hälfte aller neuen Jobs sind befristet, immer mehr werden so jämmerlich bezahlt, dass man von ihnen nicht leben kann. Wer ein kleines Unternehmen gründet oder führt, wird immer öfter vom Kreditgeiz der Banken in die Pleite getrieben. Egal, ob die Geschäftsidee ihn hätte tragen können oder nicht.
Der Privatisierungs- und Liberalisierungsirrsinn hat die Grundversorgung deutlich verschlechtert und teilweise außer Kraft gesetzt. Private-Equity-Haie kaufen Wohnungen und lassen anschließend die Häuser verrotten. Die auf Profit getrimmte Bahn wartet Gleise und Züge so schlampig, dass bei den geringsten Witterungsunbilden ein Verkehrschaos droht. Vier große Energiemonopolisten diktieren stetig steigende Preise und verzögern nicht nur nach Kräften die Energiewende, sondern machen sie mit ihren Renditeansprüchen auch zu einem fast unerschwinglichen Projekt. In privatisierten Krankenhäusern werden Kranke zum Gegenstand einer Gewinnkalkulation, die ihre Behandlung rechtfertigen muss. Der Weg zum nächsten Postamt ist lang geworden, seit es kein Amt mehr ist.
Statt in allen Bundesländern gleiche Bildungschancen zu gewährleisten, hat im deutschen Bildungssystem die Kleinstaaterei überlebt. Soziale Unterschiede werden eher zementiert als ausgeglichen. Seit Jahren wächst die Zahl derer, die die Schule verlassen, ohne je richtig Lesen und Schreiben gelernt zu haben und bei Goethes Faust eher an die geballte Rechte eines Boxers denken. Dass Theater, Bibliotheken und Schulen zu den ersten Sparopfern finanziell ruinierter Städte und Gemeinden gehören, liegt im Trend. Nicht nur die sogenannte Unterschicht, die ganze Gesellschaft ist bildungsfern geworden.
Einst sollte privatwirtschaftliches Eigentum – durch Markt und Wettbewerb gelenkt und durch Gesetze gezähmt – Wachstum und steigende Produktivität garantieren. Heute droht den Industrieländern eine auf Jahrzehnte stagnierende Wirtschaft, deren produktive Substanz allmählich erodiert. Denn das Geld, das zur Finanzierung von Produktneuheiten gebraucht würde, wird im weltweiten Casino verzockt.
So spielen die großen Banken mit dem Wohlstand von Millionen Menschen Russisches Roulette. Und niemand stoppt sie. All die großen Versprechungen der Politik zu Beginn der Finanzkrise: vergessen und verdrängt! Alle neuen Regeln: weichgespült von der Finanzlobby bis zur Wirkungslosigkeit. Stattdessen wird weiter spekuliert, weiter gewettet, weiter getanzt auf dem unheimlich grollenden Finanzvulkan, von dem jeder weiß, dass er bald wieder ausbrechen und das wirtschaftliche Leben unter seiner Lava ersticken wird.
Alle positiven Ideen der Marktwirtschaft sind tot. Wo gibt es denn noch wirklich offene Märkte und echten Wettbewerb? Stattdessen haben sich mächtige Global Player die Märkte und die Politik unterworfen. Sie diktieren ihren Lieferanten die Konditionen und scheren sich kaum noch um die Zufriedenheit ihrer Kunden. Anstelle überlegener Qualität wird Größe und Marktmacht angestrebt, statt zu investieren Unternehmensmonopoly gespielt. Die Rendite steigt, indem wirtschaftliche Leistungsfähigkeit kleingespart wird. Mit sicheren Arbeitsplätzen verschwinden auch Fachwissen, Professionalität und Service. Gelder, die das Unternehmen für Forschung und Entwicklung bräuchte, werden im Shareholder-Value-Wahn ausgeschüttet und verbraten. Warum auch Gewinne ansparen, wenn man sich Subventionen vom Staat holen kann: für Forschung und Investitionen, oder auch für Kurzarbeit, wenn das wirtschaftliche Umfeld einmal trüber wird.
Persönliche Haftung, das Grundprinzip einer funktionierenden Wirtschaft, ist weiträumig außer Kraft gesetzt. Den Schaden tragen regelmäßig andere als die, die den Nutzen hatten. Entsprechend wenig Anlass zur Korrektur gibt es bei den Nutznießern.
Der Kapitalismus ist im Ergebnis all dessen keine Wirtschaftsordnung mehr, die Produktivität, Kreativität, Innovation und technologischen Fortschritt befördert. Heute verlangsamt er Innovation, behindert Investitionen und blockiert den ökologisch dringend notwendigen Wandel. Er verschleudert wirtschaftliche Ressourcen und lenkt menschliche Kreativität und Erfindungsgabe auf die unsinnigsten und überflüssigsten Betätigungen im Finanzbereich, die gleichwohl am höchsten bezahlt werden.
Die Regierenden Europas haben keine Ideen mehr, ebenso wenig wie die Ex-Regierenden, deren Opposition hohl und unglaubwürdig wirkt, weil sie sich in der Regel mit der Regierung in allen wesentlichen Fragen einig sind. Wie oft in niedergehenden Systemen besteht der letzte Ausweg überforderter Politiker in clownesker Realitätsverweigerung. So werden in Deutschland die Vernichtung von Millionen regulären Arbeitsplätzen und ihre Ersetzung durch immer mehr Billigjobs als »Jobwunder« gefeiert. Die europäische Rezession wird kleingeredet und wegprognostiziert, die Eurokrise von Gipfel zu Gipfel aufs Neue »überwunden«. Analysen, die auf hoffnungslos geschönten Annahmen beruhen, gaukeln uns vor, dass die Politik alles im Griff hat. Dass alles irgendwie gut enden wird. Vielleicht.
»Die Situation erinnert mich an die Endphase der DDR«, hat ein FDP-Politiker kürzlich über den Zustand seiner Partei gesagt. Das ließe sich durchaus auf den Kapitalismus insgesamt übertragen, der sich mit grotesken Ovationen feiert und dabei immer schamloser selbst belügt. Mangels Konkurrenz wird er das allerdings wohl länger durchhalten als einst die DDR.
Wo jede Lebensregung sich rechnen muss, bleiben Freiheit und Menschenwürde auf der Strecke. Demokratie stirbt, wenn Banken und Wirtschaftskonzerne ganze Staaten erpressen und sich die Politik kaufen können, die ihnen nützt. Der Kapitalismus ist alt, krank und unproduktiv geworden. Wir sollten unsere Intelligenz und Phantasie nicht länger auf die Frage verschwenden, wie wir ihn wieder jung, gesund und produktiv machen können. Viel dringender ist eine gesellschaftliche Debatte darüber, wie wir eine Zukunft jenseits des Kapitalismus gestalten können.
Das klingt provokativ, ist auch so gemeint. Zugleich aber ist es eine Einladung zum Dialog zwischen echten, nämlich auch geistig liberalen Marktwirtschaftlern auf der einen und ebensolchen Sozialisten und Marxisten auf der anderen Seite. Nach Veröffentlichung meines Buches zur Finanzkrise (Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft, Berlin 2008) habe ich etliche positive Erfahrungen in der Diskussion mit offenen und fairen Marktwirtschaftlern gemacht, mit einigen Wirtschaftsprofessoren und Journalisten. Mit diesem Buch nun will ich die Diskussionsbasis verbreitern.
Ich weiß, für manche Pseudokonservative und Pseudoliberale bin ich immer noch der Gottseibeiuns, die finstere Kommunistin, die zurück will in die alte DDR. Ich habe auch deshalb zunehmend gespürt: Es wird Zeit, einen positiven Gegenentwurf zu schreiben, zumindest diesen Entwurf zu beginnen. Es wird Zeit, den typischen FDPlern, die von Ökonomie nicht mehr verstehen als die auswendig gelernten Sprüche aus ihren eigenen Wahlwerbungsprospekten, entgegenzuhalten, wie Marktwirtschaft tatsächlich funktioniert. Und es wird Zeit zu zeigen, wie man, wenn man die originären liberalen Ideen zu Ende denkt, direkt in den Sozialismus gelangt, einen Sozialismus allerdings, der nicht Zentralismus, sondern Leistung und Wettbewerb hochhält.
»Wir müssen es schaffen, die philosophischen Grundlagen einer freien Gesellschaft erneut zu einer spannenden intellektuellen Angelegenheit zu machen, und wir müssen ihre Verwirklichung als Aufgabe benennen, von der sich die fähigsten und kreativsten Köpfe herausgefordert fühlen. Wenn wir diesen Glauben an die Macht der Ideen zurückgewinnen, der die Stärke des Liberalismus in seinen besten Zeiten war, dann ist der Kampf nicht verloren.« Diese Aufgabe, die der liberale österreichische Ökonom Friedrich von Hayek 1949 seinen Anhängern ins Stammbuch schrieb, hat nichts an Aktualität verloren.
Allerdings kommt ihre Lösung heute nicht mehr dem noch von Hayek vertretenen falschen Liberalismus, sondern einem kreativen Sozialismus zu.
Sahra Wagenknecht, April 2012
»… dass sich die meisten Politiker immer noch nicht
darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter
der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von
ihnen beherrscht werden.«
Hans Tietmeyer, Präsident der Bundesbank, 1996
»Vom organisierten Geld regiert zu werden ist genauso
schlimm wie vom organisierten Verbrechen regiert zu
werden.«
Franklin D. Roosevelt, Präsident der USA, 1936
Europa ist zu einem Schlachtfeld geworden. Es ist ein Krieg, in dem keine Soldaten marschieren, keine Bomben fallen, keine nächtlichen Explosionen die Städte erschüttern. Es ist ein Krieg, der still zerstört und leise tötet, ein Krieg, dessen Verheerungen erst allmählich sichtbar werden, der aber deshalb nicht weniger brutal und gewaltsam ist. Es ist ein Verteilungskrieg. Er wird geführt von einer sehr schmalen, sehr reichen Oberschicht, die als Eigentümer und Anleger hinter den Banken, Hedge-Fonds und großen Wirtschaftskonzernen steht. Er richtet sich gegen den Rest der Gesellschaft, deren Zusammenhalt er systematisch untergräbt. Dieser Krieg hat Europa in die heutige schwere Krise gestürzt, und er wütet umso rücksichtsloser, je verzweifelter die Situation sich entwickelt.
Seine wichtigste Waffe sind virtuelle Zahlenbeträge in Computern, die wir Geldvermögen nennen und die ihre Eigentümer befähigen, sich ohne eigene Arbeit volkswirtschaftliche Werte anzueignen. Diese Vermögen, die sich in der Hand von etwa einem Prozent der europäischen Bevölkerung konzentrieren, wachsen im Ergebnis erfolgreicher Kriegsführung seit Jahren sehr viel schneller als die reale Wirtschaft, deren Wertschöpfung ihnen eigentlich zugrunde liegen sollte. Sie sichern ihren Inhabern wachsende Macht und immer größere Stellungsvorteile im Verteilungskrieg. Und mit den Vermögen wuchsen und wachsen die Schulden, die sich auf den Schultern der Allgemeinheit türmen.
Das Europa der Nachkriegszeit sollte ein Projekt des Friedens, der Demokratie, der Freiheit und gemeinsamer kultureller Traditionen sein. Der alte Kontinent, in den vergangenen Jahrhunderten so oft Schauplatz blutiger Kriege und grausamer Metzeleien mit ungezählten Toten, sollte zur erlebten und gefühlten gemeinsamen Heimat für die nächsten Generationen werden. Ausdrücklich als Gegenentwurf zum Modell eines ungezügelten Kapitalismus wurde erdacht, was sich damals – in wacher Erinnerung an die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, an eskalierende Arbeitslosigkeit, Hunger und Massenelend – das »europäische Sozialmodell« nannte. Der große französische Staatsmann Charles de Gaulle forderte ein Wirtschaftssystem, in dem die »Schätze der Nation« nicht länger zum Vorteil und Profit weniger ausgebeutet werden können. In Deutschland erklärte Ludwig Erhard »Wohlstand für alle« zu seinem Ziel und gab an, die »alte konservative soziale Struktur«, die die Gesellschaft in wenige Superreiche und eine breite verarmte Unterschicht teilte, überwinden zu wollen. Weitgehende Chancengleichheit, unabhängig von der Herkunft, und soziale Absicherung bei Krankheit und im Alter waren die großen Versprechen der »sozialen Marktwirtschaft«. Nie wieder sollte Wirtschaftsmacht so groß werden, dass sie Märkte beherrschen und die Fundamente der Demokratie untergraben kann.
Alles vorbei und vergessen. Im Zuge der Agenda 2010 wurde in Deutschland die gesetzliche Rente zerschlagen und die Arbeitslosenversicherung durch demütigende, Armut verfestigende Hartz-IV-Almosen ersetzt. Die Qualität der Behandlung Kranker wurde zu einer Frage des persönlichen Kontostands gemacht. An die Stelle regulärer Beschäftigung traten Befristungen, Minijobs, Werkverträge und Leiharbeit. Ein ähnlicher Umbau der Gesellschaft hatte in anderen europäischen Ländern schon früher begonnen. Beispielhaft steht für ihn der Name der britischen Premierministerin Margaret Thatcher, die mit eiserner Hand die Macht der britischen Gewerkschaften zerbrach und mit radikaler Deregulierung und Privatisierung die Ära des britischen Sozialstaates ebenso beendete wie die der englischen Industrie.
Der Thatcherismus hatte viele Nachahmer. »Wohlstand für alle« ist heute kein Leitmotiv der deutschen Politik mehr, ebenso wenig wie der europäischen. Vielmehr sinkt der Wohlstand der Mehrheit, die gesellschaftliche Mitte wird schmaler, und das Wiederentstehen einer verarmten Unterschicht von beträchtlicher Größe wird uns als neue Normalität verkauft. In vielen Ländern werden die Mittelschichten heute mit der Streitaxt brutaler Sparprogramme regelrecht zertrümmert. Banken und Regierungen, allen voran die deutsche, diktieren von Athen über Rom bis Dublin sinkende Löhne, sinkende Renten und die radikale Kürzung von Bildungs-, Gesundheits- und anderen öffentlichen Ausgaben.
Was dabei im Besonderen der griechischen Bevölkerung zugemutet wird, ist geschichtlich allenfalls mit der Ausplünderung militärisch besetzter Länder nach einem verlorenen Krieg vergleichbar. Lohnkürzungen in der privaten Wirtschaft um mehr als 20 Prozent – nominal! –, drastische Eingriffe in erworbene Rentenansprüche, Massenentlassungen im öffentlichen Dienst und die Streichung der staatlichen Gesundheitsausgaben um fast die Hälfte –, solche Brutalität gab es in Europa zu Friedenszeiten noch nie. In einem Land, das einst einen mit Deutschland vergleichbaren Lebensstandard hatte, sterben heute chronisch Kranke, weil der Staat ihre Medikamente nicht mehr bezahlt. Die Wirtschaft versinkt in Agonie, Monat für Monat gehen tausende Unternehmen bankrott. Jeder zweite junge Erwachsene ist arbeitslos. Eine ganze Generation startet ohne ausreichenden Lebensunterhalt, ohne Hoffnung und Zukunft ins Leben. Familien der früheren Mittelschicht verlieren erst ihre Arbeit und dann ihre Wohnungen, weil das gekürzte Arbeitslosengeld nicht ausreicht, auch nur die Miete zu zahlen, und ohnehin nach einem Jahr gnadenlos endet. Mütter und Väter, die einst im Wohlstand lebten, müssen Angst haben, ihre Kinder nicht mehr ernähren zu können. Viele ziehen zurück zu ihren Eltern oder Großeltern, von deren Renten oft mehrere Generationen leben. Immer mehr sind auf Essensspenden und Armenküchen angewiesen. Die Obdachlosigkeit steigt beängstigend.
Dass Griechenland, die Wiege der europäischen Kultur und Philosophie und die erste Demokratie in Europa, in den Debatten unserer Zeit fast nur noch als Synonym für Schlendrian, Faulheit und Trickserei vorkommt, ist für sich ein untrügliches Zeichen für den Verfall all dessen, was in einem großen historischen Sinn unter europäischen Werten zu verstehen wäre.
Ohne Aischylos und Sophokles kein modernes Drama, kein Shakespeare, Molière oder Schiller. Ohne Platon und Aristoteles kein Descartes und kein Hegel. Aber wer denkt heute, wenn von Griechenland die Rede ist, noch an Sophokles oder Platon? Oder an Solon, den Begründer, und Perikles, den klugen Gestalter der griechischen Demokratie? Heute geht es nicht mehr um Kunst, Geist oder Demokratie. Es geht nur noch um Haushaltsdefizite, Schuldenberge und Sparprogramme, um verlorene Milliarden und die Ansprüche der Gläubiger.
Die griechische Katastrophe ist sicher die schlimmste in Europa, aber ein Einzelfall ist Griechenland nicht. Auch in anderen Ländern geht die Sparguillotine rücksichtslos auf öffentliche Leistungen, Mindestlöhne und Kündigungsschutzbestimmungen nieder. Während die Kaufkraft der Beschäftigten in Deutschland bereits seit über einem Jahrzehnt infolge schwacher Tarifabschlüsse und einer wachsenden Zahl von Hungerlohnjobs dahinschmilzt, sind die Reallöhne 2011 erstmals in der gesamten Eurozone eingebrochen. Armut lange nicht mehr gekannten Ausmaßes grassiert auch in Irland, Spanien oder Portugal. In Italien wird der Lebensstandard der Bevölkerung durch die Reformen des von keinem Italiener gewählten Ministerpräsidenten und Ex-Goldman-Sachs-Beraters Monti spürbar abgesenkt.
Der maßgeblich von der deutschen Regierung diktierte Fiskalpakt bedroht, wenn er je eingehalten werden sollte, ganz Europa mit griechischen Verhältnissen. Gemessen an der im Vertrag festgeschriebenen Neuverschuldungsgrenze waren die Ausgaben der europäischen Staaten 2011 um 235 Milliarden Euro zu hoch. Und was die deutsche Regierung gern verschweigt: Auch der vermeintliche Musterschüler verfehlte das Defizitkriterium klar. Selbst in einem konjunkturell guten Jahr wie 2011, in dem die Steuereinnahmen weit über den Prognosen lagen, hätten die Ausgaben für Bildung, Soziales oder Gesundheit in Deutschland um mindestens 20 Milliarden Euro gekappt werden müssen. Und das obwohl schon heute viele Kommunen unter dem Spardruck verzweifeln, in Krankenhäusern Pflegenotstand herrscht und das Bildungssystem, das die Basis unseres künftigen Wohlstands sein sollte, chronisch unterfinanziert ist.
Würden die europäischen Staaten gar das ebenfalls im Fiskalpakt festgeschriebene Gesamtschuldenlimit von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung ernsthaft anpeilen, müssten bei gleichbleibenden Einnahmen in den nächsten 20 Jahren gigantische 2,8 Billionen Euro aus den öffentlichen Budgets herausgehackt werden. Derartige Sparziele würden den Staat als relevante Ordnungsinstanz gegenüber Wirtschaft und Markt endgültig erledigen. In einer solchen Zwangsjacke gibt es keine öffentliche Gewährleistung eines Mindestmaßes an sozialer Absicherung und Ausgleich mehr, obwohl das deutsche Grundgesetz genau dies zwingend vorschreibt.
Wenn die europäische Politik nur noch die Krise und die Brutalität eint, mit der sie den Staaten wahnwitzige Kürzungsprogramme aufzwingt, sollte sich niemand wundern, dass das europäische Projekt von vielen mittlerweile als Fluch empfunden wird. Aus zerstörten Lebenschancen wächst Hass. Neue Demütigung weckt die Erinnerung an alte. Während verzweifelte Griechen auf den Straßen Athens deutsche Fahnen verbrennen und auf den Titelseiten rechtsgerichteter griechischer Zeitungen Angela Merkel mit Hakenkreuz abgebildet wird, mokiert sich der deutsche Stammtisch über »faule Südländer«, die besser allein klarkommen sollten. Und dem Stammtisch sekundieren Politiker großer deutscher Parteien und nicht wenige angeblich seriöse Medien. Dass der Vorschlag, souveräne Länder über einen Sparkommissar unter deutsches Protektorat zu stellen, nicht von rechtspopulistischen Underdogs, sondern von bundesdeutschen Spitzenpolitikern in die Debatte gebracht wurde, sollte jeden, der nicht ganz geschichtsvergessen ist, schaudern lassen.
Aber kann es anders gehen? Ist es nicht eherne Verpflichtung, Schulden, die man aufgenommen hat, eines Tages auch zurückzuzahlen? Kann ein Land dauerhaft über seine Verhältnisse leben? Und haben nicht Staaten, die anderen helfen, auch ein Recht zur Aufsicht und Kontrolle, damit die bereitgestellten Milliarden nicht im Nirwana verschwinden? Sind sie es nicht ihren Bürgern schuldig, die das Steuergeld sauer erarbeitet haben?
Der heutige europäische Diskurs lebt von Lügen. Wurde Griechenland je geholfen? Wie kann es dann sein, dass das Land heute ungleich ärmer, die Wirtschaft ungleich desolater, die Arbeitslosigkeit ungleich höher und die Verzweiflung der Menschen ungleich größer ist als zu Beginn der vermeintlichen »Rettung«?
Übrigens ist auch der griechische Staat ungleich bankrotter. Denn obwohl zwischen Mai 2010 und Ende 2011 immerhin 73 Milliarden Euro an sogenannten Hilfsgeldern aus dem ersten Kreditpaket für Griechenland überwiesen wurden, sind die griechischen Staatschulden um weitere 50 Milliarden Euro angeschwollen. Daraus mögen einige nach der Logik schwäbischer Hausfrauen folgern, dass die Griechen nicht genug gespart haben. In Wahrheit rührt das Elend und auch der weitere Anstieg der Staatsschulden gerade daher, dass die gewissenlos korrupte griechische Politelite das Land exakt so brutal zu Tode gespart hat, wie es ihr die europäischen Geldgeber aufgegeben haben.
Die Härte des Sparkurses lässt sich an Zahlen ablesen. Immerhin haben die Griechen ihr öffentliches Defizit, die Zinszahlungen herausgerechnet, von 10,6 Prozent der Wirtschaftsleistung 2009 auf nur noch 2,4 Prozent 2011 abgesenkt. Das Minus im deutschen Staatshaushalt war nicht selten höher. Einschließlich Zinszahlungen ist das griechische Defizit allerdings deutlich weniger gesunken, nämlich nur von 15,8 Prozent der Wirtschaftsleistung auf 9,3 Prozent. Eine Ursache für die unverändert anwachsende Staatsschuld sind also nicht zuletzt die extrem hohen Zinsen, zu denen sich Griechenland 2009 und in den ersten Monaten 2010 refinanzieren musste und die in der Folgezeit treu bedient wurden. Inzwischen sind allein die fälligen Zinsen für einen Großteil der griechischen Neuverschuldung verantwortlich.
Es gibt aber einen noch wichtigeren Grund für die beharrlich steigende griechische Schuldenquote. Er besteht darin, dass die griechische Wirtschaft durch die radikalen Sparprogramme in eine tiefe Depression gestürzt ist und in nur zwei Jahren 11 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit verloren hat. Mit der Krise aber brechen auch die Steuereinnahmen weg und machen den fortgesetzten Kampf um Absenkung der Defizite zu einer tödlichen Spirale aus Ausgabenkürzungen, verstärktem wirtschaftlichen Niedergang und neuen Streichlisten. Am Ende dieses Trauerspiels kann nur die Zahlungsunfähigkeit eines rücksichtslos ausgeplünderten Landes stehen.
Griechenland ist damit ein erneutes trauriges und mahnendes Exempel für die gar nicht so neue Erkenntnis, dass ein Land – anders als die schwäbische Hausfrau – sich aus Schulden nicht heraussparen kann. Wäre es die ehrliche Sorge um eskalierende Schulden, die die europäische Politik umtreibt, müsste sie spätestens nach dieser Erfahrung den Sparprogrammen von Rom bis Madrid Einhalt gebieten und den Fiskalpakt in den Reißwolf werfen. Aber nichts dergleichen geschieht. Der gleiche Kurs, der Griechenland ins Elend gestürzt hat, soll Armut, Verzweiflung und Angst offenbar über den ganzen europäischen Kontinent verbreiten.
Wer gewinnt bei diesem Wahnsinn? Da nicht nur die Bevölkerung verarmt, sondern am Ende auch große Teile der Staatsschulden abgeschrieben werden müssen, scheint es auf den ersten Blick nur Verlierer zu geben. Die Profiteure bleiben gern unsichtbar, aber es gibt sie. Zu Beginn seiner »Rettung« hatte der griechische Staat etwa 300 Milliarden Euro Schulden, die von Banken, Versicherungen, Hedge-Fonds und vermögenden Anlegern gehalten wurden. Anfang 2012 hatte der griechische Staat 360 Milliarden Euro Schulden, von denen sich aber nur noch 200 Milliarden in privater Hand befanden.
Von den bis zu diesem Zeitpunkt ausgezahlten 73 Milliarden Euro vermeintlicher Griechenland-Hilfen wurden 70 Milliarden allein dafür verwandt, auslaufende Anleihen zum vollen Nennwert zu tilgen und fällige Zinszahlungen zu begleichen. Anleihen also, die am Markt mit einem Wertabschlag von 60 bis 70 Prozent gehandelt wurden, konnten die Gläubiger so in 100 Prozent bares Geld verwandeln, ein blendendes Geschäft für die Finanzbranche. Auch für die griechischen Staatsanleihen im Wert von etwa 70 Milliarden Euro, die die EZB und die nationalen Notenbanken zwischen 2010 und Ende 2011 aufgekauft haben, wurden den Banken gute Preise gezahlt.
Bei dem im Frühjahr 2012 beschlossenen neuen Griechenlandpaket von 130 Milliarden soll sogar ein extra eingerichtetes Sperrkonto garantieren, dass sich kein müder Euro etwa nach Athen verirrt. Die Summe ist erneut nahezu ausschließlich zum Freikaufen der Banken und Anleger bestimmt. Läuft bei der sogenannten »Gläubigerbeteiligung« alles nach Plan, wird Griechenland zwar am Ende immer noch über 300 Milliarden Euro Schulden haben, davon werden sich allerdings nur noch gut 60 Milliarden Euro in privater Hand befinden. Für den Rest bürgt dann der europäische Steuerzahler. Der Begriff »Gläubigersanierung« wäre daher angebrachter gewesen.
Hätte sich Griechenland bereits im Mai 2010 für zahlungsunfähig erklärt, wären die Verluste der Finanzbranche und der privaten Anleger groß und die Verluste der europäischen Steuerzahler klein gewesen. Mit jeder freigegebenen Kredittranche aus den vermeintlichen Griechenlandhilfen wurden die potentiellen Verluste der Finanzbranche und der privaten Anleger geringer und die potentiellen Verluste der europäischen Steuerzahler größer. Schon 2010 war klar, dass die griechischen Schulden und die Zinssätze viel zu hoch waren, um auf Dauer bedient werden zu können. Aber jeder Monat, um den die Hilfspakete den Staatsbankrott aufgeschoben haben, hat sich für die Banken, Hedge-Fonds und Spekulanten ausgezahlt. Denn in jedem Monat wurden Zinsen kassiert, die sonst nicht geflossen, und Anleihen zurückbezahlt, die andernfalls wertlos gewesen wären.
Wenn der griechische Staatsbankrott schließlich kommt, wird von verlorenem Steuergeld und verbrannten Milliarden die Rede sein. Aber diese Milliarden sind nicht verbrannt. Sie haben nur den Besitzer gewechselt. Was früher dem Staat gehörte, gehört jetzt der Finanzindustrie und ihren Aktionären und Anlegern. Zahllose Euros in ihren Vermögensportfolios hat die »Eurorettung« auf jeden Fall gerettet.
Die »Hilfen« für Irland und Portugal beruhen auf derselben Logik. Ebenso die aller Länder, die künftig noch auf die zwei großen Rettungsfonds – den ESFS und den ab Sommer 2012 einsatzbereiten ESM – zurückgreifen werden. Wer glaubt, der europäische Rettungsschirm würde eine europäische Transferunion nach dem Vorbild des deutschen Länderfinanzausgleichs begründen, irrt. Es ist viel schlimmer. Tatsächlich zahlt der deutsche Steuerzahler statt griechischer Renten oder portugiesischer Sozialausgaben internationalen Banken die Extremzinsen, die sie auf Anleihen dieser Länder nur deshalb verlangen können, weil deren Zahlungsfähigkeit ständig infrage steht. Und er übernimmt einen immer größeren Teil ihrer Schulden, damit der Staatsbankrott, auf den der explosive Mix aus hohen Zinsen, radikalem Sparen und Wirtschaftsrezession unweigerlich hinausläuft, für den Finanzsektor am Ende verschmerzbar ist.
Das ist in etwa so, als wenn es in der Bundesrepublik weder einen Haftungsverbund noch einen Länderfinanzausgleich gäbe, Bayern und Baden-Württemberg allerdings den dadurch zu Pleitekandidaten gewordenen finanzschwächeren Bundesländern – etwa Bremen und Berlin – sehr viel Geld dafür überweisen würden, die eskalierenden Zinsen auf ihre Schulden zu bezahlen und, wo nötig, auslaufende Kredite zu tilgen. Um den Irrsinn auf die Spitze zu treiben, könnten sie von Bremen und Berlin auch noch die Einrichtung eines Sperrkontos verlangen, um sicherzustellen, dass die »Hilfsgelder« auf keinen Fall zweckentfremdet – also etwa für Bremer Schulen oder Berliner Kita-Plätze – verwandt werden. Dieses System wäre allerdings nicht nur verrückt. Es würde für Bayern und Baden-Württemberg auf Dauer auch teurer werden als der heutige Finanzausgleich.
Aber der Wahnsinn hat Methode. 2008/2009 hatten die europäischen Staaten im Zuge der ersten großen Rettungsaktion den Banken Verluste aus Giftpapieren, die auf verbriefte Privatkredite zurückgingen, im Volumen von mehreren Billionen Euro abgenommen. Die meisten Finanzhäuser kamen in der Folgezeit schnell wieder auf die Beine und machten 2010/2011 erneut Milliardengewinne, während die aus dieser Aktion entstandenen Schulden den Staaten noch heute wie Mühlsteine am Hals hängen. Im Ergebnis wurden die Anleihen mehrerer Eurostaaten selbst zu Giftpapieren. Der daraufhin gegründete Eurorettungsschirm ist eine große staatliche Bad Bank, die der Finanzbranche dabei helfen soll, absehbare Verluste aus diesen staatlichen Giftpapieren auf die noch zahlungsfähigen Euroländer abzuwälzen. Die Eurorettung ist schlicht Teil II der großen Bankenrettung. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie die Staatsverschuldung noch weiter in die Höhe treibt und die Anleihen von immer mehr Ländern zu Giftpapieren macht. Irgendwann dürfte kein solventer Retter mehr zur Verfügung stehen. Der Crash wird auf diesem Weg also nicht verhindert, sondern nur hinausgeschoben. Es wird teure Zeit gekauft. Zeit, in der die Allgemeinheit ärmer und die Banken und Vermögenden reicher werden.
Einer Studie zufolge wachsen die Finanzvermögen deutscher, schweizerischer und österreichischer Millionäre um aktuell 8 Prozent pro Jahr, die der Milliardäre um 10 Prozent.1 Die Volkswirtschaften dieser Länder wuchsen seit der Jahrtausendwende im Schnitt um 1 Prozent pro Jahr. Die Löhne stiegen gar nicht, in Deutschland sanken sie sogar um etwa 5 Prozent. Die Renten wurden um 10 Prozent entwertet. Wer lebt über seine Verhältnisse? Die Allgemeinheit? Hat sie das je irgendwo in Europa getan?
Wer die Staatsschuldenkrise auf unverantwortliches Ausgabeverhalten der Staaten zurückführt und fordert, sie endlich zum Sparen zu zwingen, sollte miterwähnen, dass es nur einen staatlichen Ausgabeposten gab, der in den letzten Jahren unverantwortlich aus dem Leim gegangen ist: Ausgaben zur Rettung einer maroden Finanzindustrie, welche sich in Geschäftsmodelle verrannt hat, die in schöner Regelmäßigkeit existenzgefährdende Verluste herbeiführen. Offenbar ist es nicht der Staat, der nicht wirtschaften kann, sondern die Banken. Dass diesem Missstand allerdings durch gekürzte Renten, gestrichene Gesundheitsausgaben und gesenkte Mindestlöhne abzuhelfen ist, steht nicht zu erwarten.
Naheliegender wäre es, den Tollheiten der Banker einen Riegel vorzuschieben. In vielen Fällen wäre das sogar im Wortsinn angebracht. Keine Branche ist in den vergangenen Jahrzehnten so stark gewachsen wie der Finanzsektor. Und keine ist im Gros ihrer Betätigungsfelder volkswirtschaftlich überflüssiger. Vieles ist hochexplosiv und gemeingefährlich. Aus einstigen Finanziers der Realwirtschaft sind selbstherrliche Wettbuden geworden. Krude Finanzpapiere, Staatsanleihen, Öl und Mais – alles taugt und dient als Material für ihre Hochrisikospiele. »Finanzielle Massenvernichtungswaffen« hat der Großinvestor und Hedge-Fonds-Manager Warren Buffett solche Wetten schon vor zehn Jahren genannt. Aber mit ihnen lässt sich prächtig Geld verdienen – solange man nicht haften muss, wenn sie am Ende detonieren. Deshalb pflegen die Banken ihren Gewinn schnell in Form von Boni und Dividenden auszuschütten. Damit bloß keine Geldpolster da sind, wenn die Party vorüber ist. Denn für größere Verluste die Allgemeinheit in die Pflicht zu nehmen, ist fester Bestandteil des Geschäftsmodells.
Wenn ein Faktor am Anstieg der öffentlichen Verschuldung unbeteiligt war, dann ist es ausgerechnet der am meisten der Verantwortung geziehene: der Wohlfahrtsstaat. Tatsächlich ist das Gros der staatlichen Schulden zu einer Zeit entstanden, in der der Sozialstaat in Europa nicht aufgebaut, sondern abgerissen wurde. Die Bundesrepublik brauchte 50 lange Jahre, um eine Staatsverschuldung in Höhe von 1 Billion Euro zu erreichen. In diese 50 Jahre fielen die Etablierung eines umfassenden Sozialstaats und die mit erheblichen Kosten verbundene deutsche Wiedervereinigung. Die zweite Billion öffentlicher Schulden kam in einem Zeitraum von nur 15 Jahren hinzu. Das waren die Jahre der Agenda 2010, der Riester-Rente und der Hartz-IV-Gesetze. Besonders schnell stiegen die öffentlichen Schulden in Deutschland übrigens, nachdem CDU und SPD die »Schuldenbremse« erfunden hatten – eine wirklich überzeugende Werbung für ein Konzept, an dem heute ganz Europa genesen soll!
Die Schulden in den meisten europäischen Ländern haben sich ähnlich entwickelt wie in Deutschland. Sie haben sich in den zurückliegenden 15 Jahren verdoppelt und sind seit 2008 steil angestiegen. Neben der Bankenrettung ist auch die aktuelle Verfasstheit Europas ein Grund dafür. Die europäischen Verträge seit Maastricht haben zwar einen einheitlichen Binnenmarkt mit freiem Waren- und Kapitalverkehr und im Euroraum sogar mit gemeinsamer Währung etabliert. Es wurde aber auf jede europäische Angleichung der direkten Steuern verzichtet. Dieses Nebeneinander unterschiedlichster Steuersysteme in einem gemeinsamen Währungsraum lud Konzerne und Anlagekapital zur Steuervermeidung geradezu ein und setzte Länder mit überdurchschnittlichen Sätzen unter Druck. Die Folge war ein europaweiter Steuersenkungswettlauf, der den alten Kontinent mehr und mehr zu einem Steuereldorado für Unternehmen, Spitzenverdiener und Vermögende werden ließ.
Heute ist die Zahlung von Steuern zweifelhaftes »Privileg« der kleinen Leute, während sich Konzerne und Millionäre aus der Finanzierung der Gemeinwesen weitgehend verabschiedet haben. Die daraus resultierenden Einnahmeausfälle wurden teils durch Ausgabenkürzungen und steigende Verbrauchssteuern, großenteils aber durch steigende Verschuldung ausgeglichen.
Ganz im Trend wurden auch in Deutschland zwischen 2000 und 2010 eine Reihe von Steuerreformen zum Vorteil der Oberschicht durchgesetzt. Der Spitzensteuersatz sank um mehr als 10 Prozentpunkte und die Konzernsteuern sogar auf weniger als die Hälfte ihres ursprünglichen Werts. Kapitalerträge sind seit Einführung der Abgeltungssteuer gar nicht mehr einkommenssteuerpflichtig und die Erbschaftssteuer wurde bis zur Bedeutungslosigkeit ausgehöhlt. Im Ergebnis verringerten sich die öffentlichen Einnahmen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt um fast drei Prozentpunkte. Das bedeutet, dass Bund, Länder und Gemeinden heute 75 Milliarden Euro pro Jahr weniger einnehmen, als sie es mit den Steuergesetzen von 1998 tun würden.
Bedenkt man, dass im gleichen Zeitraum auch erhebliche Steuererhöhungen zulasten der Normalbürger beschlossen wurden, etwa bei der Mehrwertsteuer und anderen Verbrauchssteuern, dürfte die Entlastungswirkung der Steuerpolitik für die Oberschicht sogar bei gut 100 Milliarden Euro jährlich liegen. 100 Milliarden, die der öffentlichen Hand Jahr für Jahr fehlen und die als zusätzliche Einnahmen auf die Konten der Gutbetuchten fließen! Auch diese Steuerpolitik ist Teil des europäischen Verteilungskrieges. Auch sie hat ihr Scherflein dazu beigetragen, die Allgemeinheit ärmer und die großen Unternehmen und Vermögenden reicher zu machen.
Die Einnahmebasis der öffentlichen Haushalte wurde so immer maroder. Wer dafür Verantwortung trägt, sollte rot anlaufen, wenn er das Wort Schuldenbremse auch nur in den Mund nimmt. Die Unredlichkeit des Fiskalpaktes liegt nicht zuletzt darin, eine Fiskalunion in Europa vorzugaukeln, die er gar nicht etabliert. Denn eine echte Fiskalunion wäre keine Sparunion, sondern hätte diesen gravierenden Konstruktionsfehler der Eurozone zu überwinden: den Verzicht auf eine koordinierte Steuerpolitik. Dabei müssten die nationalen Steuersätze nicht exakt angeglichen werden. Festgelegte Untergrenzen für die Besteuerung von Gewinnen, Kapitalerträgen und Vermögen, die zu unterschreiten keinem Land gestattet wäre, wären hinreichend. Vorausgesetzt, dass diese Untergrenzen deutlich höher wären als die durchschnittlichen Steuersätze, die nach anderthalb Jahrzehnten Steuerdumpingwettlauf heute in der Eurozone gelten.
Der sogenannte Fiskalpakt dagegen will durchaus nichts daran ändern, dass die einzelnen Länder sich mit ihren Steuergesetzen Konkurrenz machen. Er wird ihre Spielräume, die Einnahmen durch eine vernünftige Steuerpolitik zu erhöhen, gerade bei Kapital- und Vermögenssteuern, nicht vergrößern. Aber um jeden Preis – sogar den des Verlusts ihrer Haushaltssouveränität! – sollen die Staaten verpflichtet werden, ihre Schulden zu reduzieren. Wer solche Verträge konstruiert, der will nicht Schulden bremsen. Er will einen Ausverkauf öffentlicher Verantwortung.
Es ist nicht Dummheit, es ist Kalkül. Der Spiegel zitierte kürzlich den früheren Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Berater der Bundesregierung und Gründungsmitglied des Sachverständigenrates, Herbert Giersch, Lehrer und Lehrbuchschreiber für zahllose Generationen deutscher Volkswirte. Dieser plädierte in den neunziger Jahren freimütig dafür, den Staat auf dem Wege von Steuersenkungen so arm zu machen, dass »das Diktat der leeren Kassen« und »ein Defizit, das als anstößig gilt« am Ende einen radikalen Abbau öffentlicher Leistungen ermöglicht, ohne dass sich dagegen noch erheblicher Widerstand regt.2 Dieses Programm geht heute europaweit in seine letzte Phase.
Ein altes Bonmot lautet, die Staatsschulden seien schlicht die nicht gezahlten Steuern der Reichen. Mit Rücksicht auf die Bankenrettung müsste man heute ergänzen: Die Staatsschulden sind die nicht mehr gezahlten Steuern und die verlorenen Finanzwetten der Reichen. Und für diese Schulden sollen heute Rentner, Beschäftigte, Arbeitslose oder Kleinunternehmer mit ihrer sozialen Existenz bezahlen?
Schulden, die auf die geschilderte Weise zustande gekommen sind, muss man nicht bedienen, sondern streichen. Nicht nur in Griechenland, europaweit. Das ist keine kühne Phantasie, sondern jahrtausendealte Praxis. Die Geschichte der privaten und öffentlichen Schulden ist eine Geschichte von Schuldenerlassen. Schon im Babylonischen Reich und in der Antike wurden bei nahezu jedem Machtwechsel private Schulden gestrichen, um den Betroffenen einen Neuanfang zu ermöglichen. Als das Römische Reich diese Praxis beendete, war es bald selbst am Ende und begann, ökonomisch und politisch zu zerfallen.
Kreditgeber der Krone oder der öffentlichen Hand mussten über Jahrhunderte immer wieder ihre Ansprüche in den Wind schreiben. Für die Rechtmäßigkeit dieses Vorgangs gibt es sogar eine marktwirtschaftliche Begründung. Zinsen sind der Preis für Risiko. Die Banken haben die hohe Verschuldung Griechenlands und anderer Eurostaaten freiwillig finanziert. Niemand hat sie dazu gezwungen. Und sie haben an den öffentlichen Schulden gute Zinsen verdient. Welcher Markwirtschaftler kann sich beschweren, wenn das Risiko, dessen Preis die Staaten jahrzehntelang zahlen, irgendwann eintritt?
Es gibt aber nicht nur eine marktwirtschaftliche Begründung, sondern auch eine rechtliche. Sind etwa die erworbenen Rentenansprüche eines griechischen Pensionärs weniger wert als die Zinsansprüche einer Bank? Ist der Wohlstand, ja die soziale Existenz ganzer Völker nachrangig im Vergleich zu den Forderungen ihrer Kreditgeber? Schuldknechtschaft, die Versklavung eines säumigen oder zahlungsunfähigen Schuldners, war im alten Rom Teil der Rechtsordnung. In modernen Staaten ist Schuldknechtschaft verboten und unter Strafe gestellt. Wo der einzelne Mensch nicht versklavt werden darf, soll die Versklavung ganzer Länder rechtmäßig sein? Als die griechische Polizeigewerkschaft dazu aufrief, die Vertreter der Troika zu verhaften, war das vermutlich rechtskonformer als alles, was die griechische Regierung in den letzten zwei Jahren getan hat.
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Erstausgabe 2011
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln
Umschlagfoto: Nicole Teuber
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ISBN der Printausgabe: 978-3-593-39731-3
ISBN ePub-Ausgabe: 978-3-593-41810-0
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