Freiheit und Glück - Berndt Waltje - E-Book

Freiheit und Glück E-Book

Berndt Waltje

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Beschreibung

Eine Gesellschaft, die utopielos ist, geht unter. Wie Wanderer in der Wüste brauchen wir einen Stern am Firmament, einen Kompass, der uns den Weg weist. (Ulrike Guérot) Das hat man am Anfang des 20. jahrhunderts und auch in den 1960er Jahren besser verstanden als heute, obwohl wir heute - in dieser krisengeschüttelten Welt - ebenso dringend wie damals der Utopie bedürfen, um uns darüber klar zu werden, wohin wir uns entwickeln wollen. Dieses Buch stellt zwei Utopien aus dem letzten Jahrhundert vor: Moving the Mountain von Charlotte Gilman und Eiland von Aldous Huxley. Beide sind trotz ihres Alters hochaktuell und können uns heutigen viele Anregungen geben für unsere Suche nach dem guten Leben. Sowohl Gilman als auch Huxley fanden im Laufe ihrer Karrieren zum Mittel der positiven Utopie, um ihren Mitmenschen zu zeigen, dass die bestehende Form von Gesellschaft zerstörerisch und eine andere Art zu leben möglich ist. Fortschritt und Konsum-Zentriertheit verstellten damals (wie heute) den meisten Menschen den Blick auf mögliche Veränderungen, ließen sie den je bestehenden Zustand als die beste aller möglichen Welten sehen. Und doch blieben diese Gesellschaften weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, waren in vielen Bereichen ungerecht und boten kein gutes Leben. Gilman zeigte auf, dass der Einfluss und die Mitarbeit von Frauen fehlte, um eine Gesellschaft der Menschlichkeit zu verwirklichen. Huxley betonte einen weiteren Aspekt von Humanität: die Ganzheitliche Entwicklung des Menschen, die auch den spirituellen Bereich und die Naturnähe umfasst. Er stimmte mit Gilman in vielen Punkten überein, die eine gute Gesellschaft ausmachen: der hohe Stellenwert von Bildung, die Schädlichkeit des Militärs, die Notwendigkeit der Bewahrung der Natur und anderes mehr. Auf der Ebene des Individuums aber setzten die beiden unterschiedliche Schwerpunkte: sie die Emanzipation der Frauen von einer Männer-dominierten Machtpolitik, er die Emanzipation der spirituellen Entwicklung von der Dominanz autoritärer christlicher Religion. Beide waren sich wiederum einig, dass der (utopische) Weg zu einer wirklich humanen Gesellschaft führen müsse. Dieses Buch führt beide Utopien zusammen, weil sie jeweils im anderen eine gute Ergänzung finden und eine gemeinsame Sehnsucht nach Veränderung ausdrücken, die auch uns anregen kann, die Suche nach einem guten Leben wiederaufzunehmen.

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Seitenzahl: 343

Veröffentlichungsjahr: 2023

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vorbemerkungen

FREIHEIT UND GLÜCK behandelt vor allem zwei positive utopien des letzten jahrhunderts:

Moving the Mountain (1911) von Charlotte Gilman und Eiland (1962) von Aldous Huxley

Eiland ist wie viele andere bücher von Aldous Huxley auch im deutschsprachigen raum im buchhandel erhältlich, während Charlotte Gilman gerade erst wieder entdeckt wird. Von ihr war lange zeit nur ihr erstlingswerk Die Gelbe Tapete bekannt, evtl noch Herland, der zweite teil ihrer utopie-trilogie. Der erste teil dieser trilogie, eben Moving the Mountain, war zwar in den USA 1911 verlegt worden, geriet aber später in vergessenheit. Der ein-FACH-verlag aus Aachen, der neuerdings bücher von und über Charlotte Gilman übersetzen lässt und herausgibt, hat diesen band noch nicht entdeckt.

Allerdings sind alle werke von Charlotte Gilman in den USA archiviert und können online gelesen werden, z.b. Moving the Mountain unter dem link https://archive.org/details/movingmountain00gilmgoog. Da ich keine gedruckte ausgabe verfügbar hatte, zitiere ich aus dieser online-version.

Auch bzgl Bellamys Looking Backward verwende ich einen archivierten text: https://archive.org/details/lookingbackward0000bell/mode.

Die übersetzungen aus dem englischen sind großenteils von mir, teilweise aus vorhandenen übersetzungen bzw deutschen ausgaben. Ich hoffe, die 1975 verstorbene Marlys Herlitschka verzeiht mir, dass ich ihre übersetzungen von Eiland teilweise bearbeitet habe.

INHALT

LOOKING BACKWARD – RÜCKBLICK AUS DEM JAHR 2075

GILMANS UTOPIE 1910

das gesellschaftliche umfeld 1910

Charlotte Perkins Gilman (1860 - 1935)

der roman

Moving the Mountain

gedanken zur aktualität von

Moving the Mountain

EIN (fiktives) GESPRÄCH MIT CHARLOTTE GILMAN

50 JAHRE SPÄTER HUXLEYS UTOPIE

EILAND

das gesellschaftliche umfeld 1960

Aldous Leonard Huxley (1894 - 1963)

Eiland

– ein utopisches projekt

PALAS WIEDERERLANGTE FREIHEIT

ZWEI UTOPIEN – EIN GEMEINSAMES ZIEL

LOOKING BACKWARD – RÜCKBLICK AUS DEM JAHR 2075

LITERATURVERZEICHNIS

Von einer wirklichen krise muss man sprechen, wenn unsere gesellschaften unfähig geworden sind, eine vorstellung von sich selbst zu entwerfen, wenn sie nicht mehr wissen, was sie sind und was sie aus sich machen können.

Alain Touraine1

LOOKING BACKWARD – RÜCKBLICK AUS DEM JAHR 2075

Kannst du dich eigentlich noch daran erinnern, wie alles anfing?

Sicher, als 2000er-kind bin ich ja alt genug. Und vor allem – ich war dabei, als es losging.

Erzähl mal …

In den 20er jahren herrschte eine ziemliche verzweiflung bei vielen menschen. Es war eine zeit, in der etliche krisen gleichzeitig wirkten. Am schlimmsten war der sogenannte klimawandel, der durch die lebensweise von uns menschen quasi hausgemacht war. Das nettte wort versteckte die tatsache, dass die naturkreisläufe durcheinander gerieten, weil die menschheit weit über ihre verhältnisse lebte. Immer zahlreicher traten katastrophale ereignisse auf: heftige stürme, starkregen mit hagel, der ernten vernichtete, überschwemmungen. Am anderen ende der skala aber auch extreme hitze und dürren, die ebenso viele schäden anrichteten.

Was meinst du damit, dass die menschen über ihre verhältnisse lebten?

Nun, sie produzierten und verbrauchten weit über das maß, das für die erde erträglich war. Sie eigneten sich den reichtum der natur an, ohne etwas zurückzugeben, rodeten die wälder, die für alle lebewesen wichtig waren, verbrauchten und vergifteten das wasser, vernutzten die böden, die ihre fruchtbarkeit nach und nach verloren. Die erde konnte all diese schäden nur bis zu einer bestimmten grenze ausgleichen, so dass die menschen praktisch auf kosten der zukünftigen generationen lebten. Und dabei waren sie noch nicht einmal glücklich.

Ich hab hier ein flugblatt aus jener zeit. Darin heißt es: das spektakel ist die inszenierung von wohlstand und ‚guter laune‘ angesichts von armut und hunger weltweit, es ist die illusion, alles haben zu können selbst dann, wenn man es gar nicht benötigt. Es ist das schaffen von bedürfnissen, die keiner wirklich hat, die uns aber per dauerbeschallung nahe gelegt werden.2 Das hat es ziemlich gut getroffen. Und obwohl das wissen um diese bedingungen vorhanden war, waren die regierungen, waren die meisten menschen zu träge um umzusteuern. Die kapitalistischen strukturen, die früher vorherrschten, benötigten ständiges wachstum, d.h. ständigen verbrauch von gütern, immer mehr produktion und konsum, egal von was. Es war wie eine sucht.

Und die menschen kamen davon nicht los und blieben im zerstörungsmodus?

Viele menschen kamen zu tode in diesen krisen, aber auch die anderen lebewesen auf der erde litten ungemein. Mit dem insektensterben fing es an, aber die insekten sind nahrungsgrundlage für vögel, eingebunden in einen nahrungs-kreislauf, der nun zerstört wurde. Das artensterben war eins der größten probleme, das aber von den menschen, geschweige denn den regierungen gar nicht richtig registriert wurde. Pandemien traten in unschöner regelmäßigkeit auf und rafften hunderttausende hin, sowohl in der tierwelt als auch in der menschenwelt. Und wenn die regierungen nicht mehr weiterwussten, fingen sie gerne kriege an, um von ihren fehlern abzulenken. All das erreichte in den 20er jahren einen unheilvollen höhepunkt, und zwar überall auf der erde.

Das klingt aber eher nicht nach aufbruch, sondern danach, dass die menschheit einem abgrund entgegen steuerte.

Ja, so empfanden wir es damals auch. Probleme über probleme, aber die regierungen kümmerten sich viel zu wenig. In Osteuropa eskalierte ein krieg, den eigentlich niemand wollte, aber eben auch niemand verhinderte. In anderen teilen der welt war es ähnlich: überall versuchten regierungen, durch kriege und gewalt ihre macht zu vergrößern, obwohl es klar war, dass kriege nur verlierer kennen. Das ergebnis war eine enorme politikverdrossenheit in der bevölkerung.

Und die führte dann zum umsturz?

Es war kein umsturz im sinne einer gewaltvollen revolution, wie man es von früher, z.b. von der Französischen Revolution kannte. Es war eher ein schleichender prozess. Immer mehr menschen wandten sich von ihrem staat ab, waren zwar nach außen hin ‚brave bürger‘, aber innerlich sah es ganz anders aus. Sie suchten zunehmend nach anderen formen des lebens, nach formen, die nicht so zerstörerisch waren, oder besser gesagt, die lebensfördernd waren. Es gab im grunde genügend informationen, wie die menschen leben sollten, um die regeln der erde einzuhalten. Es gab utopische erzählungen vom guten leben, die viele menschen inspirierten. Es gab völker, die sich nie in die kapitalistischen strukturen integriert hatten, sondern versuchten, ihr modell des buen vivir zu leben. Und es gab bei uns zahlreiche initiativen und organisationen, die solche lebensweisen schon lange ausprobierten, auf deren erfahrungen man aufbauen konnte.

Statt sich gegen die zerstörungen und die staatliche untätigkeit immer nur zu wehren, arbeiteten diese initiativen von meist jungen menschen daran, ein netzwerk des guten lebens aufzubauen, immer mehr menschen einzubeziehen, parallelstrukturen zu entwickeln. Das geschah in allen möglichen bereichen, in der landwirtschaft, beim wohnen, in der produktion von gütern, in der erziehung und ausbildung, ja sogar in der religion. Menschen schlossen sich zu immer größeren gemeinschaften zusammen, handwerk und kleinbäuerliche landwirtschaft blühten auf, regionale wirtschaftliche strukturen wurden entwickelt, die die menschen unabhängig vom kapitalistischen markt machten.

Zuerst wurde diese bewegung, dieses netz von alternativen zum staat von diesem gar nicht bemerkt, nicht ernst genommen oder als willkommenes alibi für die eigene untätigkeit angesehen. Und als man schließlich sah, was da herangewachsen war, gab es kein zurück mehr, war dieses netz des guten lebens schon so stark geworden, dass es die initiative übernehmen konnte. Der staat, der immer die privilegien der reichen verteidigt hatte und dadurch letztlich jegliche reputation verspielt hatte, wurde übernommen – in einem letzten akt von wahlen, die das netzwerk für sich entschied – und dann nach und nach umgestaltet.

Lässt sich ein staat einfach umgestalten?

Einfach nicht. Die regierenden hatten viele privilegien zu verlieren und wehrten sich natürlich. Aber sie hatten nichts mehr anzubieten außer der alten zerstörerischen ökonomie mit all ihrer ungerechtigkeit, während das netzwerk eine neue lebensweise aufzeigte, die sich schon in vielen sogenannten nischen bewährt hatte und den menschen ein leben zeigte, das nicht aus katastrophen und mühsal und krankheit bestand, sondern aus lebensfreude, freiwilliger und befriedigender arbeit, kooperation mit anderen, sinnvollem tun. Du kannst dir vorstellen, was die menschen wählen, wenn ihnen diese beiden alternativen vor augen stehen. Natürlich kostete es bei vielen überwindung, die gewohnten geleise zu verlassen, aber als es immer mehr menschen wurden, die sich der neuen lebensweise zuwandten, als die ‚kritische masse‘ überschritten war, ging es auch sehr schnell. Trotzdem dauerte dieser prozess natürlich jahre. Und im grunde arbeiten wir ja auch immer noch daran, denn ein gutes leben muss ständig neu diskutiert und neu gestaltet werden.

Heute leben wir ganz selbstverständlich in gemeinschaftlichen und kleinen, überschaubaren strukturen, die sozial und ökologisch ausgewogen agieren können, wir kennen weder armut noch extremen reichtum, ja wir definieren reichtum ganz anders als frühere generationen, weil uns nicht geld und eigentum am wichtigsten sind, sondern werte wie zusammenarbeit, respekt, nachhaltigkeit, teilen. Wir leben selbstverständlicher in der natur, arbeiten mit ihr zusammen an einem guten leben. Heute steht kein staat mehr über uns, der unser leben bestimmt, sondern wir alle entscheiden gemeinsam darüber, wie wir leben wollen – und lassen den menschen dabei die freiheit, selbst zu wählen, wie weit sie sich einbringen. Und vor allem schauen wir beruhigter in die zukunft.

Ja, wir haben es geschafft, die krisenhaften jahrzehnte hinter uns zu lassen. Aber nur dadurch, dass in den 20er und 30er jahren ein bewusstseinswandel stattgefunden hat, dass wir erkannten, dass wir selbst die veränderung bewirken können und eigene ideen entwickelten, konnten wir all das erreichen, was heute unser leben ausmacht. Es war ja nicht der erste versuch einer solchen transformation, schon in den 1970er jahren war es ähnlich lebendig zugegangen. Aber diesesmal waren wir erfolgreich – vielleicht, weil uns die folgen unserer damaligen lebensweise durch die krisen und katastrophen viel deutlicher bewusst wurden.

Du gehörst zu der jungen generation, die heute die früchte der transformation erntet und darauf achten muss, dass diese erfolge nicht verspielt werden. Ihr müsst weiterhin utopisch denken, wenn ihr wollt, dass freiheit und glück euch und die nächsten generationen begleiten. Ihr müsst das erreichte stabilisieren und weiterentwickeln, so dass für alle menschen auf der erde und für alles mehr-als-menschliche leben ein gedeihliches miteinander möglich ist.

***

Nur mit einer renaissance einer utopie-kultur wird es möglich sein, auf die gegenwarts- und zukunftsprobleme zu antworten. Sonst fehlen uns worte und bilder. Ohne diese bilder des möglichen wird auch die reform immer nur korrektur bleiben und nicht entwurf von einem anderen miteinander.3

Dieser dialog aus der zukunft, der eine stattgefundene entwicklung zwischen 2025 und 2075 vage und viel zu kurz nachzeichnet, ist in der tradition einer solchen utopie-kultur gemeint. Ich will dazu anregen, von der zukunft her zu denken, also von einem zustand, den wir erreichen wollen, wenn wir von der transformation unserer gesellschaften sprechen. Früher war ein solches denken verbreiteter, wurden utopien entworfen und diskutiert. Vor allem gegen ende des 19. jahrhunderts entstanden etliche literarische utopien, und es sind einige darunter, an denen wir uns immer noch orientieren können. Wir müssen sie nur wiederentdecken.

Zwei dieser literarischen utopien möchte ich in diesem buch vorstellen.

In den frühen 1970er jahren habe ich Eiland von Aldous Huxley4 gelesen. Nachdem Schöne Neue Welt (ebenfalls von Huxley) und 1984 (George Orwell) geradezu pflichtlektüre waren, die uns die zukunft in schrillen negativen farben zeigten – und wie sehr sollte dies unser denken beeinflussen! –, war dieser doch relativ unbekannte roman, in dem Huxley eine positive utopie zeichnete, für mich wie eine erleuchtung. Hier beschrieb einer kein fernes science-fiction-ziel, das nur durch fortgeschrittene technologie und weltraum-abenteuer zu verwirklichen ist (im landläufigen sinn utopisch, illusorisch bleibt), sondern eine handfeste gesellschaft unserer tage, von der uns keine technologische lücke, sondern nur eine soziale trennt. Eine gesellschaft aus der gegenwart, die anders tickt, die ihr zusammenleben anders gestaltet als unsere westlichen gesellschaften. Genau das versuchen ja so viele alternative gemeinschaften: das soziale miteinander zum wohle aller – einschließlich der natur – auszutarieren, miniutopien zu schaffen. Und hier war nun der große entwurf, der dem ganzen evtl ein ziel geben konnte, das nicht im kleinen stecken blieb, sondern eine ganze gesellschaft umfasste.

Ich lebte später eine zeitlang bei den Mohawk, einer Irokesen-nation in Nordamerika, die ebenfalls versuchte, auf der grundlage ihrer traditionen eine lebbare alternative zu der umgebenden ‚weißen' mehrheitsgesellschaft zu schaffen. Dort sah ich mit eigenen augen, dass solche bestrebungen, wie sie Huxley in Eiland beschreibt, abseits der dominierenden überentwickelten welt durchaus vorhanden sind. Es liegen uns berichte aus Bhutan oder Ladakh5 vor, die gesellschaften beschreiben, die ganz andere werte leben als unsere konkurrenzgesellschaften. Inzwischen haben sich auch indigene völker viel mehr zu wort gemeldet – und jene menschen, die durch den lauf der geschichte schon fast der vergessenheit anheim gefallen waren, werden für die problembewältigung in unserer krisengeschüttelten welt immer wichtiger. Sie leben nicht in einer utopie, sondern im hier und jetzt, sie leben ihr konkretes leben, ihre traditionen, und können uns menschen in den industrieländern, die wir den größten teil der heutigen zerstörungen verursachen, eine ganze menge beibringen – wenn wir denn zuhören wollten.6 Nichts anderes hat Aldous Huxley mit Eiland versucht.

Warum ist dieser roman so unbekannt geblieben? Obwohl er immer verfügbar war, wurde er kaum gelesen, wird es heute noch nicht. Stattdessen arbeiten wir uns an der Schönen Neuen Welt ab. In dem wissenschaftlichen werk Politische Utopien, herausgegeben von Arno Waschkuhn, wird Eiland wie nebenbei in gerade einem absatz erwähnt, obwohl Huxley als zeitlebens weltverbesserer und wahrheitssucher7 charakterisiert wird. Dagegen wird die Schöne Neue Welt ausführlich behandelt.

Vielleicht spielt es eine rolle, dass man mit dystopien (negativen utopien) politisch eher hantieren kann, den negativen tendenzen in der gesellschaft einen spiegel vorhalten und – wie mit 1984 immer wieder geschehen – lauthals den schleichenden überwachungsstaat anprangern kann, aber auch mit ebensolchem eifer anhand der recht groben zeichnung einer ‚schönen neuen welt 1984‘ aufzeigen kann, um wieviel demokratischer und besser es in unseren jetzigen gesellschaften zugeht und dass alle unkenrufe sich nicht bewahrheitet haben.

Ich halte es allerdings für wichtig, dass wir uns mit eu-topien, den positiven zukunftsentwürfen beschäftigen, damit wir lernen, vom ziel her zu denken. Was wollen wir mit einer gelungenen transformation erreichen – wenn wir erst einmal verstanden haben, dass es einer transformation bedarf –, welche aspekte sollte eine zukünftige gesellschaft, in der ein gutes leben möglich ist, enthalten? Auch wenn Huxley in Eiland eine uns fremde kultur beschreibt, so existiert diese doch in der gegenwart und behauptet ihr anders-sein gegenüber den industriestaaten, konfrontiert uns in den reichen ländern mit ihrem sozialen wohlstand und ihrer art, mit den schätzen der erde verantwortlich umgehen.

***

Ich bin bei meiner beschäftigung mit utopien im allgemeinen und den utopien von Aldous Huxley im besonderen ganz unerwartet auf Charlotte Perkins Gilman gestoßen. Sie war eine ungewöhnliche frau aus den USA, die ende des 19. und zu beginn des 20. jahrhunderts sehr bekannt war, auch über die USA hinaus8. Nach dem Ersten Weltkrieg geriet sie wie viele denkerinnen ihrer zeit in vergessenheit. Allerdings wurden ihre werke mit dem aufkommen der 2. frauenbewegung in den 1970er jahren wieder gelesen, in Deutschland wurde damals neben ihrem bekanntesten werk Die Gelbe Tapete ihr utopischer roman Herland9 verlegt. Anders als in englischsprachigen ländern kennt frau sie jedoch im allgemeinen heute nicht mehr. Mit Herland zeichnete Gilman 1915 einen reinen frauenstaat, eine ungewöhnliche komposition, die auch in frauenbewegten kreisen der 1970er jahre wegen ihres extrem utopischen charakters keinen wirklichen widerhall fand. Über Herland gelangte ich allerdings zu der vorgängerutopie Gilmans Moving the Mountain10 von 1911, in der sie eine transformierte gesellschaft in den 1940er jahren in den USA beschrieb – verändert durch die aufkeimende macht der damaligen frauenbewegung –, die durchaus als anreiz gedacht war, die ungerechte kapitalistische gegenwart von 1910 hin zu einem besseren leben für alle zu verändern. Ich finde diesen roman interessant genug, um ihn und seine autorin aus der vergessenheit zu holen, und habe deshalb beschlossen, Gilman und Huxley als zwei beispiele einer gemeinsamen sehnsucht nach veränderung zusammenzubringen.

Schließlich befinden wir uns heute in einer zeit, die – stärker denn je – des umbruchs bedarf. Unsere sattheit und trägheit führt inzwischen dazu, dass wir unsere gesellschaften und diese erde in einem ausmaß und einer schnelligkeit zerstören, die wir uns kaum klarmachen. Durch die vorstellung einer anderen, einer besseren welt – und sei eine solche vorstellung auch vor langer zeit beschrieben – können wir ermutigt werden, gesellschaft gänzlich anders zu denken und erneut in bewegung zu bringen. Die debatte um die klimaveränderung, die noch viel zu eng und uninspiriert geführt wird, zeigt ja, dass es bitter notwendig ist, über die heutige gesellschaft hinaus zu denken. Moving the Mountain und Eiland sind auch und gerade heute noch relevant, wenn wir eine lebenswerte zukunft gestalten wollen.

Positive utopien, die nicht unrealistische science-fiction zeigten, sondern lebbare alternativen zum bestehenden system, waren zum zeitpunkt ihrer entstehung immer so gemeint, dass sie die herrschende gesellschaft aufbrechen, einen gegenentwurf liefern wollten, der diskussionen und sogar aktivitäten in richtung transformation hervorbringen sollte. Anhänger von Charles Fourier (1772 - 1837) und Robert Owen (1771 - 1858) versuchten deren utopische entwürfe umzusetzen – in den USA gab es allein 16 Owen-kolonien und ungefähr 30 Fourier‘sche phalansterien, und auch in Europa gab es entsprechende versuche. Menschen haben sich also ganz praktisch mit diesen utopien befasst, haben gemeinschaften gegründet, die nach solchen gesellschaftlichen entwürfen leben wollten (und meist nach kurzer zeit gescheitert sind) – wir sehen die anziehungskraft und den vorbildcharakter dieser entwürfe. Gesellschaftlich relevant ist das alles aber nie geworden, auch nicht, als zum ende des 19. jahrhunderts Edward Bellamys Looking Backward 2000 – 188711 noch einmal zu einer renaissance der politischen utopie führte und dutzende National Clubs entstanden, die für Bellamys ideen warben. Auch diese begeisterung war nach fünf jahren vorbei – und lebte erst mit der kommune-bewegung der 1968er revolten wieder auf.

Damals haben sich zahlreiche gemeinschaften gebildet, die andere lebensentwürfe verwirklichen wollten. Viele ideen waren weitverbreitet und blieben dennoch utopisch, weil sie in der bestehenden gesellschaft keinen ort hatten. Der wunsch nach veränderung der aktuellen zustände aber war immer gegeben. Bis heute haben sich solche gemeinschaften gehalten, sind für viele vorbild für eine mögliche transformation der gesellschaft. Doch tut es der praxis gut, zwischendurch auch mal auf die ideengeber und ihre entwürfe zu schauen, um daran die praxis zu messen. Und für viele andere können utopien anregungen bieten, dass es verschiedene möglichkeiten gibt, ein gutes leben zu führen, gesellschaft zu gestalten.

Dazu müssen wir auf utopien schauen, die noch so nah an der modernen entwicklung dran sind, dass sie nicht überholt erscheinen. Wir müssen sie mit dem gewinn lesen: ja, das ließe sich machen. Gilmans Moving the Mountain und Huxleys Eiland sind solche utopien, obwohl die 60 oder gar 110 jahre, die seit entstehen dieser romane vergangen sind, schon einen zeitensprung bedeuten. Callenbachs Ecotopia12 kann man ebenfalls dazu rechnen. Ecotopia erschien 1978, spielt 1999, ist uns zeitlich also sehr viel näher. Es steht in der tradition von Gilmans Moving the Mountain, denn die handelnden personen aus Ecotopia stammen aus unserem kulturkreis, während Eiland zwar aus der westlichen welt befruchtet ist, aber von menschen mit einem ganz anderen, nämlich buddhistischen hintergrund handelt. Auch Ecotopia spielt wie Eiland und Moving the Mountain nicht in ferner zukunft und in fernen und mystischen welten, sondern ist sehr gegenwartsbezogen, Callenbach hat den roman lediglich 25 jahre in die zukunft verlegt, um seine erzählung der abspaltung Kaliforniens und Oregons von den USA realistischer erscheinen zu lassen. Aber eben doch so nahe, dass wir uns in dieser zukunftsgesellschaft wiederfinden können.

***

Im ersten teil dieses buches soll es also um eine schriftstellerin gehen, die die frauen – damals schaffte die erste frauenbewegung es, weltweite aufmerksamkeit zu erhalten – in den mittelpunkt einer wünschbaren veränderung stellte: Charlotte Perkins Gilman aus den USA.

Anschließend werde ich mich mit Aldous Huxley und seiner utopie Eiland beschäftigen, der einen anderen schwerpunkt als Gilman setzte und die persönlichkeits-entwicklung der menschen in einer kooperativen gesellschaft zum prägenden element seines alternativen entwurfs machte.

Beide zusammen können sich wunderbar ergänzen und uns zeigen, wie eine transformation unserer zerstörerischen überflussgesellschaften aussehen kann.

***

Natürlich ist es notwendig, die zukunftsentwürfe Moving the Mountain und Eiland aus der jeweiligen epoche heraus zu verstehen, in der sie entstanden sind. Wir müssen uns klarmachen, wie sehr auch Gilman und Huxley von ihrer zeit beeinflusst waren. Deshalb habe ich den beiden hauptteilen jeweils ein entsprechendes kapitel vorgeschaltet, in dem merkmale jener zeiten erläutert werden.

Nach der beschreibung des jeweiligen gesellschaftlichen umfeldes stelle ich in anschließenden kapiteln die lebensgeschichten von Charlotte Perkins Gilman und Aldous Leonard Huxley vor, denn auch diese sind wichtig für das verständnis ihrer werke. Darauf aufbauend, setze ich mich mit den konkreten utopien auseinander und den vielen aspekten darin, die uns auch heute noch helfen können, eine Neue Welt zu imaginieren.

Eingebettet habe ich fiktive gespräche zum thema, die einen weiteren zugang zu den zukunftsentwürfen bieten können.

***

1 Touraine et.al., Jenseits der Krise, s.16

2 Steffen Andreae & Matthias Grundmann, Gemeinsam! - eine reale utopie, s.66

3 Steffen Andreae & Matthias Grundmann, Gemeinsam! - eine reale utopie, s.151

4 Aldous Huxley, Eiland, München 1984 – die englische originalausgabe erschien unter dem titel Island, London 1962

5 z.b. Helena Norberg-Hodge, Ancient Futures, San Francisco 2009 oder Ha Vinh Tho, Grundrecht auf Glück, München 2014

6 vgl Höper/Waltje, Lernen von fremder Kultur, Kassel 1985

7 Arno Waschkuhn, Politische Utopien, München 2003, s.144

8 Ich konnte allerdings keinen beleg darüber finden, ob Huxley ihre werke kannte – sie war schon tot, als er in die USA emigrierte.

9 Charlotte Perkins Gilman, Herland, London 1979; dt. ausgabe bei Rowohlt, 1980

10 Charlotte Perkins Gilman, Moving the Mountain, New York 1911 im magazin The Forerunner

11 Edward Bellamy, Looking Backward 2000 – 1887, Cleveland 1888 – zu finden unter https://archive.org/details/lookingbackward0000bell/mode

12 Ernest Callenbach, Ecotopia, London 1978; dt. ausgabe Ökotopia, Berlin 1978

GILMANS UTOPIE 1910

Noch vor 1900 erlebten utopische romane eine blütezeit. Berühmt wurden Edward Bellamy und sein vielgelesenes werk Looking Backward – das im jahr 2000 in Boston spielt und einen vergleich zu den zuständen um 1887 zieht – und William Morris (1834 - 1896), der in England 1890 die News from Nowhere – An Epoch of Rest13 verfasste, das er im 21. jahrhundert spielen ließ. Charlotte Perkins Gilman schrieb in den 1910er jahren gleich eine utopie-trilogie, um den damaligen zuständen vor allem von seiten der frauen eine positive antwort entgegenzustellen. Bekannt sind alle drei – Moving the Mountain (1911), Herland (1915) und With Her in Ourland (1916) – im deutschen sprachraum nicht (mehr). Zuletzt wurden sie in den 1970er jahren gelesen, in einer zeit, als utopisches denken helfen sollte, eine periode des gesellschaftlichen stillstands wieder in bewegung zu bringen. Aber mit dem polemischen satz wer visionen hat, sollte zum arzt gehen14 kehrte man nur allzugern zur bürgerlich-pragmatischen, langweiligen alltagspolitik zurück, die den bloßen gedanken an eine grundlegende veränderung unserer zerstörerischen gesellschaftlichen wirklichkeit in den hintersten winkel verbannte. Die folgen solcher nicht-(be)achtung bekommen wir heute mit den verschiedenen krisen zunehmend zu spüren.

Wir haben seit jener zeit kaum noch positive utopien - eutopien - gesehen, und um solche handelt es sich bei den genannten schriften um 1900. Sie sollten in einer lebenswirklichkeit, die für den großteil der bevölkerung in den industrialisierten ländern armut und hunger bedeutete und an vielen orten gewalttätige revolten nach sich zog, ideen davon verbreiten, wie eine gänzlich andere gesellschaft aussehen könnte, die nicht nur einer reichen oberschicht dient, sondern eine gemeinschaft von gleichen und ein gutes leben für alle schafft. Der schrei nach gerechtigkeit, der in der kapitalistischen welt zu hören war, fand seinen literarischen ausdruck unter anderem in eben diesen utopien.

Der Erste Weltkrieg zerstörte den in diesen utopischen romanen aufscheinenden optimismus, das interesse an positiven utopien schwand. Dagegen blühte das genre der dystopien auf, zahlreiche werke erschienen, die die elenden zustände der damaligen gegenwart in der zukunft zwar beseitigt sahen, aber dafür die individuelle freiheit opferten. Der aufkommende individualismus, der das glück und die entfaltung des einzelnen menschen in den mittelpunkt stellte, konnte damit nicht zufrieden sein. Doch der zunehmende materielle wohlstand in den industriegesellschaften versprach damals – und verspricht es heute immer noch –, dass alle menschen (mehr oder weniger) davon profitieren würden und dies ein besserer weg sei, eine gerechte und glückliche gesellschaft zu schaffen.

Und es ja wahr, dass unsere gesellschaften heute anders aussehen als zu der zeit von Bellamy, Morris und Gilman, dass die elenden zustände der armen heute nicht mehr so direkt ins auge springen wie Charles Dickens (1812 - 1870) sie beschrieben hat. Trotzdem sind wir weit entfernt von einer gerechten welt – wir schauen nur nicht mehr genau hin. Oder wir sehen uns zynisch auf der seite der gewinner der geschichte, da es uns in diesem (West-)Europa und in diesem Nordamerika doch sehr viel besser geht als menschen in anderen teilen der welt. Wir haben armut und hunger ausgelagert. Ein bewusstsein davon, dass eine gerechte welt erst dann verwirklicht ist, wenn es allen menschen gut geht, existiert in den überentwickelten ländern auch bei denjenigen nicht, die im vergleich zur eigenen mittel- oder oberschicht arm genannt werden müssen. Und es existiert in den reichen ländern im allgemeinen auch kein traum, kein utopisches denken mehr über eine solche gerechte welt. Reine abenteuer-fantasy-romane haben den platz der utopien erobert – sie dienen der bloßen unterhaltung in einer gesellschaft, die dem individuum keineswegs glück und freiheit beschert, außer dem glück und der freiheit, die im fast grenzenlosen konsum liegen.

Die utopie hat also einen schweren stand. Sich die zukunft als besseren, wünschenswerteren ort vorzustellen, fällt offenbar schwer. Es ist heute üblich geworden, darauf zu verweisen, dass es unseren kindern und enkeln vermutlich schlechter gehen wird als uns selbst. Der positive blick nach vorne wird vermieden. Wenn aber die sicht in die zukunft verstellt ist, kann der umweg über die vergangenheit helfen. Um 1900 waren die zustände noch so elend, dass davon nicht nur die armen betroffen waren, sondern auch viele menschen aus den oberen klassen sich gedanken darüber machten, dass es anders gehen müsste und wie es anders gehen könnte. Natürlich spielte die angst vor den revoltierenden arbeitern eine rolle und – zumindest bei der aufkommenden frauenbewegung – das bewusstsein davon, dass die hälfte der gesellschaft von dem allgemeinen streben nach einer besseren zukunft ausgeschlossen war. Auch die vernunft gebot, die gesellschaft anders zu denken. Und so entstanden werke, die vielfach gelesen und rezipiert wurden und die den geist anregten, immer weiter zu denken. Utopien können beflügeln. Etliches in diesen werken ist so weit gedacht, dass wir auch heute noch daraus schöpfen und lernen können. Es ist längst nicht alles verwirklicht, was dort beschrieben ist. Wir müssen uns nur wieder trauen, einen leitspruch der rebellion 1968 erneut mit leben zu füllen: – die phantasie an die macht.

Utopien sind für die gesellschaft unverzichtbar, ohne sie sind wir darauf beschränkt, den moralisch unerträglichen status quo resigniert zu akzeptieren. Was für die letzten utopisten galt, gilt auch heute noch: visionen von einer veränderten welt und das bemühen, einen teil davon im hier und jetzt zu verwirklichen, sind entscheidend für eine bessere zukunft.15

13 William Morris, News from Nowhere, London 1890; erste dt. ausgabe Kunde von Nirgendwo, Leipzig 1901

14 Helmut Schmidt, westdeutscher bundeskanzler von 1974 bis 1982

15 Michael Robertson, The Last Utopians, s.182

das gesellschaftliche umfeld 1910

Wie sahen die gesellschaftlichen bedingungen aus, die die zeit um 1900 in den USA und damit auch Charlotte Gilman geprägt haben? Die USA hatten 1776 in der Unabhängigkeitserklärung (Declaration of Independence) festgehalten, dass alle menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen rechten ausgestattet sind, darunter leben, freiheit und das streben nach glück – dieses glücksversprechen zog sehr viele menschen aus anderen teilen der welt in das ‚land of the free' und es prägte die menschen auch noch um 1900. Aber in der realität gab es demokratische freiheitsrechte lange zeit vor allem für weiße männer protestantischen glaubens aus der ober- und mittelschicht, die landbesitz hatten. Glücklich waren die wenigsten. Der traum vom glück war jedoch immer gegenwärtig.

Nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861 - 1865) wurden die USA zu einer der stärksten industrienationen der welt. Neue technologien veränderten das leben der menschen, der wohnsitz verschob sich für viele vom land in die stadt. War zu anfang des 19. jahrhunderts noch die agrarwirtschaft, das bäuerliche leben, prägend für gesellschaft und wirtschaft, nahm die bedeutung des industriellen sektors im laufe des 19. jahrhunderts immer schneller zu. Maschinen veränderten die bestehende industrie wie im bergbau oder im textilsektor, neue bereiche wie maschinenbau und stahlerzeugung traten ihren siegeszug an, die dampfturbine half dabei. Zum ende des jahrhunderts erlebten die menschen den beginn der automobilindustrie, nachdem schon die eisenbahn die möglichkeiten des reisens verändert hatte – 1869 wurde die erste transkontinentale eisenbahnstrecke fertiggestellt und bis 1900 vergrößerte sich das eisenbahnnetz auf 322.000 kilometer, mehr als alle linien in Europa zusammen. Straßenbahnen prägten das gesicht der städte. Das telefon wurde 1876 in den USA patentiert, hier zeigte sich aber auch, dass die moderne ökonomie mit ihrem patentrecht zur ausschaltung von konkurrenten genutzt werden konnte und sinnvolle entwicklungen damit abgewürgt wurden. Die glühbirne und die schreibmaschine wurden erfunden, ebenso kam der film und damit das kino und das radio in mode. Museen und öffentliche bibliotheken verbreiteten sich. Traktoren erleichterten das leben der bauern, der zeppelin revolutionierte die luftfahrt. Allerdings wurden auch dynamit, das maschinengewehr, stacheldraht, coca-cola und der taylorismus erfunden. Krieg als mittel der politik geriet aber zunehmend in die kritik und es wurde versucht, erste internationale vereinbarungen zur einhegung von kriegen zu treffen. Die menschen hatten durch diese entwicklung das gefühl des aufbruchs in eine neue moderne zeit voller möglichkeiten und reichtum.

Vor allem die ‚middle-class'-Amerikaner profitierten durch diese wirtschaftliche blütezeit – the gilded age. Allerdings gab es auch die andere seite, die geprägt war von extrem langen arbeitszeiten, unmenschlichen arbeitsbedingungen und löhnen, die kaum zum leben reichten. Große armut und arbeitslosigkeit waren weit verbreitet. Am eindrucksvollsten schilderten Emile Zola in Germinal und Upton Sinclair in Der Dschungel diese andere seite anhand des nordfranzösischen bergbaus (auch in Europa sah es nicht besser aus als in den USA) und den schlachthöfen von Chicago16. Sinclairs Dschungel wurde zuerst in einer sozialistischen zeitung veröffentlicht, als buch wurde es millionenfach gelesen und in 17 sprachen übersetzt.

Zehntausende von frauen arbeiteten neben männern und kindern in textilfabriken unter umständen, die sich von den heutigen in den asiatischen oder mexikanischen sweatshops in nichts unterschieden. Allein in New York gab es 500 solcher fabriken, daneben aber auch ebenso heimarbeit, an der die gesamte familie mit den kindern beteiligt war. Sie mussten billiger produzieren als die fabriken, damit man ihre ware abnahm. 70 bis 80 stunden wurden in der woche gearbeitet, samstag und sonntag inklusive, unter gesundheitsschädlichen umständen. 1911 forderte ein brand in einer fabrik der Triangle Company in New York 146 todesopfer, weil behördliche brandschutz-bestimmungen nicht ausreichend waren17.

Arbeiteraufstände, denen es anfangs insbesondere um die verkürzung des 12-stunden-arbeitstages ging, wurden letztlich mit militärischer gewalt niedergeschlagen – international bekannt geworden ist der Haymarket aufstand 1886 in Chicago, der die tradition des 1. mai als kampftag der arbeiterklasse begründete.

Die bevölkerung der USA nahm im 19. jahrhundert stark zu: als Charlotte Gilman 1860 geboren wurde, zählte sie 31 millionen menschen, 50 jahre später - 1910 - waren es 92 millionen, fast dreimal so viel. Mit verantwortlich für das bevölkerungswachstum war die einwanderung, zwischen 1860 und 1910 siedelten 22 millionen menschen vor allem aus Europa in die USA um. Das sagt viel über die zustände in Europa aus: Das ‚land of the free' lockte mit seiner größeren religionsfreiheit, politischen freiheit und wirtschaftlichen möglichkeiten, großenteils kamen menschen, die aus der not oder politischer verfolgung heraus einen neuanfang jenseits des ozeans suchten. Und wie in der heutigen zeit entstand dadurch eine fremdenfeindliche stimmung – in der angloamerikanischen bevölkerung wurde die immigration zunehmend kritisch diskutiert. Zum teil lag das daran, dass viele immigranten bereit waren, für allzu geringe löhne zu arbeiten und damit eingesessene arbeitskräfte verdrängten bzw das lohnniveau drückten.

Im allgemeinen vergrößerten diese einwanderer das heer der armen. In einem artikel der US-botschaft in Deutschland zur US-geschichte steht geschrieben, dass ende des 19. jahrhunderts noch bis zu 50% aller industriearbeiter in armut [lebten] – viele davon frauen und kinder.18 Die einwanderer landeten in ihrer neuen freiheit mehrheitlich in den slums der großen städte, die sich rasant vergrößerten: zwischen 1860 und 1910 wuchs New Yorks bevölkerung von 850.000 auf vier millionen, Chicago wuchs in dieser zeit von 110.000 auf zwei millionen menschen, und ähnlich verhielt es sich mit anderen großen städten. Die lebensbedingungen für den armen teil der bevölkerung, zu dem die meisten ungelernten arbeiter gehörten, waren katastrophal und geprägt von unhygienischen zuständen, kinderreichtum, krankheiten. Frauen und kinder aus der armen bevölkerung arbeiteten genauso wie männer, bekamen aber weniger lohn, ersetzten deshalb auch oft die männer in den fabriken oder bergwerken. Viele frauen wussten nicht anders zu überleben als durch prostitution.

Alkohol wurde zum großen thema, weil alkoholmissbrauch vor allem in der arbeiterschaft verbreitet war und von den auswirkungen viele frauen und kinder betroffen waren. In der sich daraufhin bildenden abstinenzlerbewegung (temperance-societies) waren vor allem bürgerliche frauen aktiv, die die verbreitung christlicher werte und ein alkoholverbot in den mittelpunkt ihrer bemühungen stellten. Auch die frühe frauenbewegung war stark davon geprägt. Diese bewegung, die ebenso andere soziale arbeit einschloss, gab vielen frauen, die im allgemeinen keine politischen und wirtschaftlichen rechte hatten, die möglichkeit, sich außerhalb des eigenen haushalts zu engagieren. Jane Addams, ebenso wie Charlotte Gilman 1860 geboren, gilt als eine der vorreiterinnen der sozialarbeit in den USA, sie war in mehreren karitativen organisationen tätig, betreute afroamerikanische waisenkinder und gründete in Chicago 1889 das Hull House, eines der ersten nachbarschaftszentren der USA. Charlotte Gilman wohnte hier eine zeitlang. Im Hull House wurden bildungs- und sozialleistungen angeboten: eine abendschule für erwachsene, ein kindergarten, vereine für ältere kinder, eine öffentliche küche, eine kunstgalerie, ein kaffeehaus, eine turnhalle, ein schwimmbad, eine buchbinderei, eine musikschule, eine schauspieltruppe, eine bibliothek und verschiedene arbeitsmaßnahmen19. Ähnliche bestrebungen fanden sich auch in anderen US-amerikanischen städten. Jane Addams kämpfte in der frauenbewegung für das frauenwahlrecht und gründete zusammen mit anderen 1915 unter dem eindruck des Ersten Weltkrieges die Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF), die noch heute eine der führenden internationalen frauenorganisationen ist. 1931 erhielt sie als erste frau nach Bertha von Suttner den friedensnobelpreis.

Die frauenfrage entstand entlang der linien der ‚sozialen frage'. Frauen waren im 19. jahrhundert rechtlich abhängig, erst vom vater, dann vom ehemann. Sie waren strikten moralischen vorstellungen unterworfen, denen männer nicht unterlagen, andererseits wurden sie im industriekapitalismus als billige arbeitskräfte missbraucht und zusätzlich oftmals in die prostitution getrieben. Sie waren vom politischen leben ausgeschlossen, besaßen kein wahlrecht und waren finanziell vom vater oder ehemann abhängig. Die suffragetten der ersten frauenbewegung erkannten, dass es nicht ausreichte, gegen alkoholmissbrauch und prostitution anzugehen, sondern dass soziale bedingungen geändert werden mussten und dass frauen dazu eine politische stimme benötigten. Wie bei den kämpfen um die abschaffung der sklaverei, an denen viele frauen beteiligt waren, sollte das recht zu wählen die unterdrückten zu einem gleichberechtigten teil der gesellschaft machen.

Im hintergrund jener zeit zeigten sich aber auch die eroberungskriege und die auseinandersetzung um die sklaverei. Der Amerikanische Bürgerkrieg um die abschaffung der sklaverei 1861 bis 1865 war noch nicht so lange vorbei, und die rechtliche gleichstellung der schwarzen war längst noch nicht erreicht. 1910 lebten zehn millionen negroes in den USA, davon eine million im norden. Rassismus war nicht nur im süden verbreitet, in der progressive era wurden dagegen etliche bürgerrechtsorganisationen von schwarzen menschen gegründet. Charlotte Gilman war damit durchaus konfrontiert.

Die indianerkriege hatten mit dem massaker am Wounded Knee 1890 einen unrühmlichen abschluss gefunden, die indigenen völker waren in einem beispiellosen völkermord auf einen bruchteil der urspünglichen bevölkerung dezimiert und in sogenannte reservate abgedrängt worden. Im bewusstsein der weißen gesellschaft 1910 waren sie unsichtbar. Zwar verstanden sich die USA von ihren ursprüngen her als eine anti-koloniale gesellschaft, aber im inneren gab es gerade gegenüber indigenen und schwarzen brutale kolonialistische verhältnisse.

Im letzten jahrzehnt des 19. jahrhunderts wurde die propaganda für eine expansionspolitik immer lauter. Medien und politiker – mit dabei Theodore Roosevelt, ab 1901 präsident der USA – sahen eine ökonomische notwendigkeit, neue märkte zu erschließen – was ein großer teil der wirtschaft durchaus mit friedlichen mitteln erreichen wollte –, aber viele politiker sahen einen krieg auch als willkommenes ventil, um die gewalttätigen sozialen auseinandersetzungen im inland in außenpolitische ambitionen und gegen einen äußeren feind umzulenken. Roosevelt 1897: Ich würde fast jeden krieg begrüßen, denn ich denke, dieses land braucht einen.20. Ein krieg sollte die (weiße) bevölkerung der USA mit ihrer regierung und dem militär versöhnen, den focus auf den ‚feind' setzen statt auf die sozialen ungerechtigkeiten innerhalb des landes. Die gelegenheit ergab sich 1898, als die USA den Amerikanisch-Spanischen Krieg vom zaune brachen – unter dem vorwand, die unabhängigkeitsbewegung auf Kuba zu unterstützen. Im verlauf dieses, aufgrund der militärischen US-übermacht sehr ungleichen krieges vereinnahmten die USA Puerto Rico, Hawaii, die Philippinen und Guam und wurden zur imperialistischen weltmacht. Nationalistische tendenzen und ein rassistischer patriotismus wurden durch diese kriege gefördert – rassismus war durch die abschaffung der sklaverei ja nicht einfach verschwunden und um 1900 noch weit verbreitet. Die imperialistischen kriege, v.a. die kolonisierung der Philippinen, verstärkte diesen rassismus in den USA, der alles fremdländische ablehnte. Und dieser trug dann umgekehrt zum grausamen verhalten der soldaten gegenüber den Philippinos bei und zu so mancher tat, die wir heute als kriegsverbrechen bewerten würden. Berichte über die grausamkeiten fanden ihren weg in die US-amerikanische öffentlichkeit und führten zur gründung der American Anti-Imperialist League, die gegen diesen und andere kriege agitierte. Mark Twain gehörte zu ihren gründungsmitgliedern. Und ähnlich wie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg führte die ernüchterung nach dem Amerikanisch-Spanischen Krieg auch zu einer blüte sozialistischer ideen.

sozialistische ideen

Im 19. jahrhundert entwickelten sich die USA in einem wilden, grausamen kapitalismus – das eingeschränkte demokratische system, eher eine oligarchie, die sich einen demokratischen anstrich gab, hatte damit durchaus zu tun. Die reiche elite baute sich einen staat und gab sich gesetze zu ihren gunsten, das narrativ vom land der freien zog verfolgte und verarmte menschen aus aller welt an und schuf ein wachsendes proletariat in den städten, das als billiges, sich immer weiter unterbietendes arbeitskräftereservoir diente. Der bürgerkrieg 1861 - 1865 wurde zwar (auch) um die abschaffung der sklaverei geführt, aber viele weiße arbeiter im norden der USA hatten das gefühl, dass es ihnen nicht besser ging als den schwarzen sklaven, dass sie behandelt wurden wie vieh, ausgesetzt der offenen, unverschämten, direkten, dürren ausbeutung21. Ihr widerstand gegen diese zustände war zum teil heftig und in der amerikanischen gesellschaft, die von beginn an auf ellbogenmentalität und gewalt gründete, sehr gewalttätig. Anarchistische und sozialistische ideen fanden weite verbreitung.

Der sprung vom tellerwäscher zum millionär, der in der Neuen Welt so leicht möglich sein sollte, blieb eine mär, die allerdings jedes jahr zehntausende von immigranten aus Europa und Asien in die USA lockte. Das schuf probleme zwischen den verschiedenen kulturen, die aus der Alten Welt mitgebracht wurden, vermehrte konkurrenz um arbeitsplätze, parallelgesellschaften. Die Deutschen, Polen, Russen oder Italiener brachten aber auch sozialistische ideen aus Europa mit und den starken willen, sich dem zerstörerischen arbeitsregime nicht einfach zu unterwerfen. Die erste sozialistische vereinigung, die Socialist Labor Party, wurde 1876 gegründet. Arbeitskämpfe waren das hauptbetätigungsfeld der frühen sozialisten, hier fand die idee einer gleichberechtigten gesellschaft gehör, wie sie beispielsweise Helen Keller noch 1911 formulierte:

Das land wird für die reichsten regiert, für die konzerne, die bankiers, die bodenspekulanten und für die ausbeuter der arbeit. Arbeitende menschen sind die mehrheit der menschheit. Solange ihre gerechten forderungen – eigentum und die kontrolle über ihren lebensunterhalt – nicht berücksichtigt werden, kann es weder männer- noch frauenrechte geben. Die mehrheit der menschheit wird durch industrielle unterdrückung zermalmt, damit der kleine rest bequem leben kann.22

Ab mitte des 19. jahrhunderts kam es zu vielen aufständen um bessere arbeitsbedingungen und höhere löhne, sehr oft richteten sich die aufstände gegen willkürliche lohnsenkungen und längere arbeitszeiten, die die profite der unternehmer erhöhen sollten. Die arbeitszeiten von oftmals 12 oder 13 stunden waren dauerthema für die ersten gewerkschaften, die im letzten viertel des 19. jahrhunderts entstanden, aber von den besitzenden nicht anerkannt waren. Gefordert wurde der 10-stunden-arbeitstag, dann um die jahrhundertwende der 8-stunden-arbeitstag.23 Die aufstände waren von massenstreiks und gewalt auf beiden seiten geprägt, der staat griff mit militär stets zugunsten der besitzenden ein.

1880 war die gesellschaft der USA eine, wie Karl Marx und Friedrich Engels schrieben, die unfähig ist, ihrem [lohn]sklaven die existenz selbst innerhalb seiner sklaverei zu sichern.24 Es war nur folgerichtig, dass ideen aufkamen, wie diese gesellschaft zu ändern wäre, sozialistische ideen vor allem. Upton Sinclairs buch Der Dschungel sprach vom sozialismus, davon, wie schön das leben wäre, wenn die menschen die reichtümer der erde gemeinsam besitzen und teilen würden.

Jack London schilderte in seiner dystopie von 1907 The Iron Heel seine vision von sozialismus:

Zerstören wir nicht diese wunderbaren maschinen, die effizient und billig produzieren. Lasst uns sie kontrollieren. Lasst uns sie selbst betreiben. Verdrängen wir die jetzigen besitzer der wunderbaren maschinen und besitzen die wunderbaren maschinen selbst. Das, meine herren, ist sozialismus.25

1905 organisierten sich in Chicago die Industrial Workers of the World (IWW) mit dem ziel, die arbeiterklasse in den besitz der wirtschaftlichen macht und der kontrolle über die produktions- und verteilungsmittel zu bringen, ohne rücksicht auf die kapitalistischen herren26. Der IWW war nie besonders stark an mitgliedern, aber seine fähigkeit, die arbeitenden menschen zu mobilisieren und (militante) streiks anzuführen, gab ihm einen enormen einfluss auf die köpfe der menschen.