Fremdgehen - Lisa Elsässer - E-Book

Fremdgehen E-Book

Elsässer Lisa

4,9

Beschreibung

Er ist als Gastdozent in einer europäischen Metropole, sie lebt in der Pampa, von Bergen umgeben. Nur einmal haben sich ihre Wege zufällig gekreuzt, aber irgendetwas muss aus dem »freundlichen Dunkel seiner -Augen« übergesprungen sein, denn sie beginnen, sich zu schreiben. Aus E-Mails werden Briefe, werden langsam Liebesbriefe. Die Liebe verleiht Flügel, aber stürzt die Schreibenden, beide gebunden, auch in einen großen Zwiespalt. Was halten sie, was hält so eine Ehe aus?

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Lisa Elsässer

Lisa Elsässer

Roman

Dieses Buch erscheint mit finanzieller Unterstützung von

Der Verlag bedankt sich hierfür.

© 2016 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich

www.editionblau.chwww.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: photocase / maria_a, Montage Widmer & Fluri, Zürich

ISBN 978-3-85869-718-9

1. Auflage 2016

Diese Narren, die glauben, Treue sei, wenn das Leben aufhört und sich gleichsam in den einen festgebissen hat. Sie bringen sich nicht nur um das gemeinsame Leben, sondern sogar um das Leben überhaupt. Wenn es nicht so gefährlich wäre, sollte man der Welt doch einmal erzählen, was eine Ehe wirklich ist.

Hannah Arendt

Spätherbst 2008

Es war bei ihren tagelangen Wanderungen durch dichte Auenwälder, durch Herbstfarben, Blätter, die teils den Boden wie einen Teppich belegten und teils noch in den Bäumen hingen, über Lichtungen, am Ufer sehr träger Flüsse, die stillzustehen schienen, wenn sie an ihnen entlangliefen; blieben sie einmal stehen, sahen sie, dass das Wasser nicht stillstand und darauf die Herbstblätter wie Mosaikfetzen aus Papier oder Stoff schimmerten, die Mühe hatten, sich zu einem schönen Ganzen zu fügen – dort, auf dem Weg im Wald erwogen sie zum ersten Mal die Trennung.

So unverständlich wie der Anfang war, so unverständlich wird das Ende sein, sagte er.

Sie schaute auf den Fluss, schaute ihm in die Augen, und zwischen Augen und Fluss schienen die Wochen, die Monate, die Jahre auf wie nicht vergangene Zeit. Durch die hohe, halb entlaubte Buche sah sie das unverschämte Blau des Himmels, die Kondensstreifen eines Flugzeugs, von dem sie nicht wusste, ob es sich im Sinkflug befand oder in höhere Höhen zu fliegen bestrebt war.

Sie lehnte sich an ihn, er hielt sie mit beiden Armen umschlungen. So standen sie eine Weile da und liefen dann weiter, vertraut und in die Vorstellung eines Endes versunken, an das sie beide nicht glauben wollten und das die Kraft eines vom Wind getriezten Halms hatte.

Vor-stell-bar: Un-vor-stell-bar! Und doch – ja, dachte sie.

In den verbleibenden Tagen sprachen sie nicht mehr darüber, aber sie erinnerte sich an die Schnittstellen, wo die E-Mails zu Briefen, die Briefe zu Liebesbriefen wurden. Es war ihnen passiert, wie den Bäumen im Frühjahr die Blätter, im Sommer die Früchte, im Herbst die Farben passieren. Ganz natürlich. Nur kamen die Bäume nicht auf andere, verrückte Ideen. Selbst in ihrer großen Nacktheit nicht. Sie waren zufrieden mit sich und der Welt und warteten auf den nächsten Frühling.

Das war der Unterschied!

Man sollte in der Liebe bei den Briefen bleiben, hatte sie einmal geschrieben. Ob das wieder möglich war, das wusste sie nicht.

Zu Hause setzte sie sich an ihren Schreibtisch, ordnete die von Hand geschriebenen Notizen, die E-Mail-Briefe, das ganze schriftliche Durcheinander, das sie vor ihrer Reise über den Atlantik in eine große Mappe gesteckt und im Schrank versorgt hatte, und las die in der Großstadt in den Laptop eingetippten und nun ausgedruckten Versuche wieder.

Sie versuchte akribisch, die Chronologie der Ereignisse herzustellen, was ihr nur mit großer Mühe gelang. Tag für Tag, Woche für Woche erlebte sie die jetzt geschriebene Geschichte wieder.

Zum ersten Mal hatte sie die Kraft, zwei ganz verschiedene Leben zu leben. Das nach außen gerichtete und das im Innern geführte, ohne dass sich die beiden in die Quere kamen. Sie hatte ihre tagelang verlorene Beherrschung wiedergefunden, die ihr im Verlauf des wirklichen Geschehens abhandengekommen war.

Als sie mit den Aufzeichnungen fertig war, rief sie ihren Geliebten an.

Magst du unsere Geschichte lesen?, fragte sie, und er sagte Ja.

Sie schickte ihm das Manuskript per E-Mail.

Dann löschte sie alle Briefe, löschte sämtliche Dateien, fuhr den Computer herunter. Die Mappe verbrannte sie mit einigen dazugelegten brennwütigen Holzscheiten, hörte dem Knistern zu, sie fühlte sich apathisch und leer.

Frühling 2005

Das sind ja wunderbare Nachrichten: In dieser faszinierenden Stadt werden Sie Monate verbringen, da läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich war da auch mal für Monate, an einer Sprachschule, allerdings war es für mich vielmehr eine Stadtschule, bei der die Sprache etwas beiseite blieb. Ich wollte unbedingt das Untergrundsystem begreifen, um mehr in Konzerten und Theatern sein zu können, und so blieb eben das Lernen immer eine Option für verregnete Tage. Es hat aber dort die ganze Zeit nicht geregnet, aber das ist schon Jahre her, und letztes Jahr war ich dort für einen Monat an einem »Wiederholungskurs«, und es hat nur geregnet, jeden Tag nur Regen, und ich saß nur hinter den Büchern, und doch merke ich jetzt, dass ich trotz der Wiederholung bereits alles wieder vergessen habe …

schrieb sie ihm.

Er schrieb zurück:

Im Moment aber geht es mir wie Ihnen damals, auch ich verliere mich in der großen Stadt nur allzu gerne. Ich wandere und wandere, taumle umher, beobachte und betrachte, höre zu, sitze, warte, rieche, spüre Sonne und Wind, imaginiere mich in die unwirklichsten Gebäude hinein, träume die Geschichten der Menschen und Dinge, ganz unerklärlich untouristisch, bleibe hängen, Gedanken bleiben an mir hängen, füllen mein Notizbuch mit ganz unerwartet anderem. Und wie sollte ich das nicht zulassen …

Der Frühling war da. Obwohl die Sonne noch immer tief stand – Augenhöhe sagte sie dazu –, hatte ihr Licht bereits die Kraft eines Versprechens, das sich zunehmend an sein Wort hielt.

Es hatte schon viele Frühlinge gegeben, schon viele Versprechen, und oft hatte sie erlebt, dass sie nicht hielten, was sie versprachen. Das Versprechen blieb wie gefroren und erstarb im ersten Tau. Und Frühlinge haben manchmal eine sehr lange Leitung, die erst dann auftaut, wenn Gewitter an ihr scheppern und der Wintermantel von einem Tag auf den anderen ein Witz wird.

Dieser Frühling war entschieden anders. Eigentlich fing er schon im September des Vorjahres an. Das war in diesem Jahr seine Verspätung oder seine Eile. Er freundete sich mit dem Herbst an, mit dem Winter, der in diesem Jahr außerordentlich milde war, als ob er den Frühling neben sich nicht nur duldete, sondern ihn mitgenommen und geradezu lieb gewonnen hätte. Schon Ende Januar oder Anfang Februar krochen die ersten Buschwindröschen aus dem Laub und bald darauf die Schneeglocken, die im leichten Wind ihre Köpfe einander zuwandten, denn sobald etwas Neues in der Luft liegt, flüstern sogar die Blumen. Sie hatten genug Grund, einander Dinge zuzuflüstern. Und auch den Igel sah sie über das Gras gehen. Abgemagert und auf der Suche nach erster Nahrung nach dem Winterschlaf.

Sehr geehrter Lino K.,darf ich Sie bitten, mir nochmals Ihre E-Mail mit Ort und Zeit der anberaumten Veranstaltung zu schicken? Sie ist irgendwie zwischen afrikanischen Büffeln und Elefanten verschwunden oder in einem Krokodilmaul gelandet, die Tiere hier fressen alles … Vielen Dank und herzliche Grüße

Sie erinnert sich nicht mehr genau, wie es angefangen hat. Erinnert sich aber gut, ihn in diesem Frühjahr während ihrer Afrika-Reise schriftlich kontaktiert zu haben und ihn dann nach ihrer Rückkehr bei einer Tagung, die Thomas Bernhards Kalkwerk thematisierte, erlebt und kurz mit ihm gesprochen zu haben.

Ein schöner Mann mit einer sonoren Stimme und dunklen, freundlichen Augen. Sie muss wohl einmal hinein geschaut haben, in dieses freundliche Dunkel seiner Augen. Mehr war nicht. Der Frühling kam, der Sommer und der Herbst würden auch kommen. Und der Mann ist da und der E-Mailverkehr, den er schon nach einigen hinund hergeschickten E-Mails als Briefverkehr bezeichnet haben wollte. Vielleicht hatte sie ihm nur geschrieben, dass es Eindrücke, Erlebnisse gibt, die einem bleiben. Dass diese Tagung, an der er maßgeblich beteiligt war, sie für die Werke von Thomas Bernhard, die sie alle vor Jahren geradezu verschlungen hatte, erneut zu begeistern vermochte. Sie hatte die Angewohnheit, sich immer für Dinge zu bedanken, die ihr nicht selbstverständlich schienen. Sie hatte die Selbstverständlichkeit, sich auch für Dinge zu bedanken, die bloß den kleinsten Schein erweckten, verdankt werden zu müssen. Zum Dank dafür erntete sie manchmal eine nichtige Geste, zum Beispiel ein Handerheben vom sogenannten Dankempfänger, dem dieser Dank wie eine lästige Fliege schien und die er so vertrieb. Oder vielleicht war es eine verhinderte Ohrfeige, weil gerade eine Fliege dazwischenflog? Sie glaubt manchmal allen Ernstes, an einer Dankesneurose zu leiden, aber sie lebt mit ihr vollkommen glücklich. Es käme ihr nie in den Sinn, etwas dagegen zu unternehmen. Sie denkt oft, dass eigentlich wesentlich mehr Leute unter einer Dankesneurose leiden müssten.

Und sie unternahm auch gar nichts, die plötzliche Anwesenheit dieser Briefe infrage zu stellen. Ihren E-Mailverkehr nannten sie nach kurzer Zeit Briefverkehr, weil ihnen die Briefe schön und sorgfältig geschrieben schienen, somit nicht das Wort E-Mail verdienten. Fast wie von Hand geschriebene Briefe.

Er wohnte in dieser Stadt als Gastdozent mit kleinem Pensum an einer Universität, um, wie er sagte, ansonsten nichts zu tun, als zu erfahren, was sie mit einem anstelle. Nirgends funktioniere das besser als in der Großstadt, wo dem eigenen Ich nicht zu entkommen sei. Die Straßenhöhlen führten einen direkt in die eigenen Höhlen, die Hochhäuser spiegelten das Kleinsein in geradezu prachtvoller Überhöhung, Flüsse trieben einen durch ihren steten Lauf in den Wahnsinn, weil genau da ersichtlich werde, dass man dem eigenen Quellgrund nicht wirklich entkomme, noch immer auf der Suche nach dem guten Fluss sei, ganz zu schweigen von den Parklandschaften, in denen die küssenden Paare nicht unbedingt gewillt waren, sich mit ihm auf ein Gespräch über das Nichtstun einzulassen.

Sie aber wohnte schon immer und für immer in der Pampa. So sagte sie das, wenn jemand nach ihrem Wohnort fragte: Eigentlich wohne ich an keinem Ort, sondern nur unter seltsamen Leuten.

Lieber Lino K., vielleicht muss man auf Reisen gehen (wie Sie), in unwirtliche Landschaften, in Geschichten hinein, deren Geister jederzeit erscheinen, wenn man sie ruft (oder auch nicht), um so das eigene Ursein wieder zu hinterfragen, anzuregen, in Gang zu bringen und zu beleuchten, um irgendeine Verbindung herzustellen mit dem Jetzt. Ja – ich glaube, man muss auf Reisen gehen. So wie die Träume, die hie und da ganz ohne Ausweis die Zölle durchschreiten und munter eine Fremdsprache als die eigene reklamieren. Im Urwald sitzen diese Träume einfach bei den Affen und parlieren mit ihnen. Gut und wahr. Die fehlen zwar auch hier und in der Realität nicht, aber meistens fehlt dann die grüne Lunge rundherum.Wie geht es Ihnen? Ich nehme an, dass dem ersten großen Flash der Großstadt auch der erste kleine Tauchgang folgen kann. Die Untergrundfahrten! Wie soll ich mir das alles vorstellen? Sind Sie glücklich?Julia

Liebe Julia H.,ja, ich bin hier eigenartig glücklich; dazu gehört so vieles, nun auch Ihre Briefe, die mit mir durch diese Stadt gehen, eine Art Nachhall von Schritten im Neuland. Es ist auch ein Glück, alles ganz für sich allein zu haben, alle Dinge und die Insulaner um einen herum anzusehen wie ein kleiner Kolumbus. Sprache und Bilder aufzufinden. Das Merkwürdige auszuloten, zum Kauz zu werden. Ich lese viel, gerade die vielen verschiedenen Gedichtübersetzungen von Beckett.Nun, ich bin ja erst die zweite Woche hier, also lässt sich über ein nächstes konkretes Projekt eigentlich noch jämmerlich wenig erzählen. Aber wieso Sie mit solchem Arbeitsunsinn weiter belästigen, Sie wissen ja genauso, wie es ist, das Spannungsfeld von Ehrgeiz und Müßiggang auszuhalten.Ich grüße Sie herzlichLino

Die Postzustellung funktioniere komischerweise aus der Großstadt zu ihr hin besser als umgekehrt, schrieb er ihr, als sie ihn einmal, nach längerer Zeit, in einer E-Mail auf seine Nichtreaktion auf einen von ihr postalisch verschickten Brief ansprach.

Sie hatten angefangen, einander auch Postkarten, kurze Nachrichten zu schicken, von denen ihn einige oder die meisten nie erreichten, was umgekehrt nie der Fall war. Das ging so weit, dass sie den Postbeamten am Ort verdächtigte, ihre Briefe an ihn gar nicht abgeschickt, sondern sie gelesen und sogleich zerrissen zu haben, weshalb sie größere, auch anonymere Ämter aufsuchte, wo sie sich nicht schon am Schalter für den falschen Adressaten entschuldigen musste und sie nicht bei der immer gleichen Frage: A oder B?, rot werden musste, wenn sie laut und deutlich A sagte und es doch schon in diesem Moment sehr genau wusste, dass der Brief deshalb nicht schneller dort war. Sie hielt diesen einzigen Schaltermenschen für verdächtig, weil sie jedes Mal sah, dass er bei diesem von ihr bestätigten A grundlos zusammenzuckte, als ob die Frage des zu bezahlenden Portos seinen eigenen Geldbeutel betroffen hätte, als ob er den Adressaten bereits bei sich als ungültigen Empfänger abgestempelt hätte und ihn die zunehmende Regelmäßigkeit irritieren würde. An Orten, die in etwa so klein wie Postämter sind und in denen ein Zeitungskiosk Jahr für Jahr mehr in die Wanderwege wächst und auch für Kühe und Kälber zugänglich wird, an solchen Orten sind die Leute besonders aufmerksam!

Und sie fragt sich auch jetzt noch manchmal, was mit den nie angekommenen Briefen wohl passiert sein mochte.

Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie über die Elektronik richtig glücklich, der sie lange Zeit nicht das geringste Vertrauen entgegengebracht hatte, von der sie oftmals so zum Irrsinn getrieben wurde, dass sie mehr als einmal dachte, demnächst in einer dafür zuständigen Klinik zu landen. Kein einziger Brief ging auf diesem Weg verloren. Sie öffnete jeweils das Postfach, und schon fielen ihr zehn in die Augen. Der Pöstler des Dorfes konnte draußen ruhig so lange warten, wie er wollte, wenn er ihr ein Paket brachte, denn sie war wieder beim Lesen der Briefe, die nicht er ihr zugestellt hatte.

Ungefähr vier Wochen lang gingen harmlose, auch witzige Briefe zwischen ihnen hin und her, und sie waren erstaunt darüber, dass sie anfingen, sich Dinge aus dem Leben zu erzählen, die man sich sonst nur im persönlichen Gespräch erzählt, im Gegenübersitzen, wo sofort sichtbar wird, ob das Erzählte zumutbar ist oder nicht. Wo ein Wimpernschlag, ein Augenkneifen einen sofort zum Schweigen bringen kann oder ein lachender Mund zum Reden. Aber sie sah und hörte das auch so: seine Wimpernschläge, sein Lachen, und beides machte sie nun manchmal seltsam schweigend, weil das so nah Gefühlte ihr so fern schien.

Sommer 2005

Den ganzen Tag war ich auf einer langen Wanderung in den Bergen unterwegs, und alles andere wird dann immer so klein angesichts der grauen, heute wunderbaren, sonnenbeschienenen Riesen. Und dass man plötzlich wieder zwischen Kühen und Rindern steht, zwischen schwarzen Schafen und weißen Ziegen, ist doch auch ein Riesenglück. Ich möchte ja nur eine kleine Gegenwelt zum städtischen Riesenrad herstellen, obwohl vermutlich an den Eingängen der U-Bahn, in den Parks auch farbige Schweizerkühe aus Plastik stehen …Pfefferminze sah ich, Pilze, und bei einer Rast beim kleinen Alpenhof die frisch gemolkene und noch schäumende Milch in den Eisenbehältern, aber ich wäre nicht auf die Idee gekommen, diesen Tag in den Bergen damit abzuschließen, Milch zu trinken. Es war ein Glas Wein und ein Stück würziger Alpkäse, dazu kräftiges, dunkles Brot! HerzlichJulia

Lieber Lino, die Anrede wird immer kürzer, merke ich gerade. Aber manchmal stimmt das Unverschämte einfach besser …

Liebe Julia,unverschämt wie ungewohnt tue ich es einfach nach, probiere es aus, wie so vieles hier auch …

Liebe Julia, nun, wenn ich von der eigentümlichen Nachbarschaft von Kühen und Riesenrädern lese, dann denke ich belustigt, derart schrecklich kann es doch gar nicht zugehen auf dieser Welt, höchstens absurd, grotesk. So ist das Gastdozentendasein letztlich auch eine äußerst merkwürdige Sache, die sich am besten ab und zu mit einer Campus-Party närrisch kundtut …Hier regnet es so, dass man sich den ganzen Tag feucht und nass vorkommt. Vielleicht sieht man deswegen die meisten Einwohner ohne Schirm und Regenjacke – es nützt ja sowieso nichts bei dieser kalten Nässe. Alles vom Himmel gefallene Frösche? Aber wer vor dem Regen in die Bars flüchtet, dem dröhnt aus den Lautsprechern eine andere Erklärung um den Kopf. »The city is a cayman«, singt da einer, »okay, okay, really man.« Ein Bild, das wohl ins hiesige Bankenviertel mit seinen tragetaschengepanzerten Angestellten gut passen würde, aber an den Bartresen sind es doch eher harmlose Frösche, die mit Saugnäpfen an ihren Biergläsern kleben, während sie den Regen aus den Kleidern schütteln. Ach, da wird mir ja jede Zeitung nass. Aber draußen lässt sich eben auch nicht mehr lesen und schreiben, da wird alles zur gefährlich schmierigen Downtown Street. Oder sollte man da einfach im braunen Fluss angeln gehen? Hab vielen Dank für Deinen nun endlich mit der Post eingetroffenen mich berührenden Brief, ob dessen wunderbar jugendlicher Anrede-Unziemlichkeit mir ein Walseriges Kichern entfuhr.Ich merke, das viele Durcheinandertrinken dieser Party heute hat doch den Geist erheblich ermüdet. Aber es war sehr schön! Wunderbare Gespräche, was will ich mehr. HerzlichstLino

Lieber Lino,Deine einverleibten Mixgetränke werden nun wohl wieder ausgeschieden sein, wenn Du das liest. Aber wie ein Freund mir einmal sagte, als wir es zusammen ganz arg übertrieben mit dem Wein: Die Leber wächst an ihrer Arbeit. Ist das ein Trost für Dich?Ich möchte jetzt am liebsten im Wald verschwinden, in diese Geborgenheit der Stille, im Unterholz wühlen, das Moos betrachten, an Menschen denken, die das Geheimnis Leben mit einem teilen.Julia

Herbst 2005

Die Wirklichkeit hatte plötzlich andere Farben. Sie war nicht mehr daran gewohnt, damit umzugehen. Jedes genaue Sehen jetzt erinnerte sie an ein Kind, das vor einem weißen Blatt sitzend mit einer unerschütterlichen Spontaneität einen Berg violett oder rot zeichnet, rote, blaue Berge zeichnet, auch wenn sie ganz dunkel sind. Aber manchmal sind ja die Berge wirklich rot, und sie errötete ganz leicht darüber, den Berg der Wirklichkeit wieder in dieser Farbe zu sehen wie ein Kind.

Später zog leichter Nebel auf, der die Glut in eine zarte Farbe verwandelte, um dann kurz darauf wieder ins übliche Grau zu wechseln, über das es nichts zu schreiben gab. Über Gewöhnliches schreibt man in diesen Briefen nicht, dachte sie, und Tage danach, als er sie dazu geradezu ermunterte, schrieb sie:

Lieber Lino, ich schreibe es mir hinter die Ohren, dass ich also auch über totale Banalitäten schreiben darf. Das ist schön.Julia

Banalitäten, das hieß für sie, über das nun fehlende Kindergeschrei zu schreiben, das sie manchmal geradezu vermisste, weil sie den Anschluss an ihre Tätigkeit als Buchhändlerin noch nicht wieder gefunden hatte, ihn eigentlich nicht mehr finden wollte, sich liebend gerne noch einmal in etwas ganz Neues hineinbewegen würde, obwohl ihr das genau so banal erschien, wie von Kochzutaten zu sprechen oder überhaupt von einem nicht gelungenen Tag, von der Tatsache gewichtsloser Dinge und von der eigentlichen Schwere, sie als genau das zu betrachten, anzunehmen.

Sie las die Briefe früh am Morgen, ein Ritual von Anfang an, zwischen Nachtschwund und Tagwache. Er schrieb den letzten Brief an sie immer in der Nacht, wenn es draußen wohl keine großen Veränderungen mehr gab, außer vielleicht Regenfall oder das Singen eines Vogels zur falschen Zeit. Sie las die Briefe jeden Tag mit der gleichen Aufmerksamkeit, mit der gleichen Freude, die einer doch leise sich einstellenden Begierde gleichkam. Sie las sie wie die Fortsetzung einer Geschichte, und sogleich nach dem Lesen schrieb sie an ihrer Geschichte weiter und sandte sie ihm, bevor die Geräusche im Haus vernehmbar wurden, eine Dusche im hinteren Teil rauschte, ein Fensterladen aufgestoßen wurde, sie in die Küche ging, um Frühstück zu machen, und sie sich in den Alltag hineingesellte wie in einen nimmermüden Wind, der ihr manchmal heftig, dann auch wieder milde um die Ohren oder das Gemüt strich.

Sie nahm die Unterschiede zu dem, wie es noch vor Wochen in den Briefen gewesen war, klar und deutlich wahr, was aber nicht hieß, dass sie diese Veränderungen auch verstehen konnte. Wenn sie genau hinspürte und sich fragte, was dabei mit ihr geschah, geschehen könnte, merkte sie oft, dass sie überhaupt nichts mehr verstand, am wenigsten sich selber, und sich jede Antwort schuldig blieb. Sie spürte dieses Fieber zuerst wie eine beginnende, leichte Krankheit, wie eine Erwärmung durch einen Virus, wie ein Geheimnis, das sie mit sich herumtrug und das keinesfalls zu verraten sie sich große Mühe gab. Weder mit einem Schnupfen noch mit glänzenden Augen noch mit Rotwerden. Sie wusste plötzlich nicht mehr, wann sie zum letzten Mal ein Geheimnis mit sich herumgetragen hatte.

Vielleicht als Pubertierende, wo sie abends im Bett dem ersten, ihr bei einer Schlittenfahrt geschenkten Kuss nachglühte, ihn immer wieder auf ihren Lippen spürte und auch den Schnee, der in diesen Kuss hineinwehte, diesen kalten, überraschend brennenden Kuss, dem kein weiterer folgte. Gut verschlossen blieb er im Geheimfach dieser pubertären Anwandlung.

Das plötzlich sehr frühe Aufstehen erklärte sie allen mit den Hormonveränderungen, das frühe Zubettgehen mit dem in letzter Zeit schwer zu findenden oder auch gestörten Schlaf. Aber eigentlich war sie noch nie ein Abend-, sondern immer ein Morgenmensch gewesen, und so fielen denn auch diese, ihre Besonderheiten nicht als große Besonderheiten auf, sondern höchstens als intensivere Pflege dieser Besonderheiten.

Ihre Kinder zogen sie manchmal auf und sagten: Warum gehst eigentlich nicht du für uns in der Früh zur Schule, zur Arbeit, zur Uni?

Sie schrieb ihm, wenn das so weitergehen würde mit dem Früherwachen, melde sie sich demnächst als Käserin auf einer Alp, und er schrieb, dass er dann der Erste wäre, der von ihrem selbst gemachten Käse probieren würde.

Wie konnte das nur geschehen?

Huch, jetzt sehe ich plötzlich, wie spät es ist, und ich habe noch gar nicht gesagt, dass es hier regnet, die Notizen wachsen zu Wolken, Tieren (ja, zuerst dachte ich, es gibt gar keine Tiere in dieser Stadt; allmählich sehe ich, wie diskret sie sich hier bewegen; es ist, als hätten sie in ihrer Tierheit resigniert angesichts einer solchen Menschenmasse) und Wortmelodien (man hört hier ganz interessante Akzente und Wortfetzen). Davon später einmal mehr …Es regnet hier immer noch furchtbar, die Katzen und Hunde sind längst in ihren Träumen, aber wenn ich das Zusammenspiel von fallendem Wasser und Wind genauer beobachte, so ist kein Regenschauer sich gleich. Das war mir gar nie so bewusst. Die graue Riesenwolke wölbt sich großartig zur Bratpfanne über der Stadt und kippt dann gleichmäßig ihren Inhalt hinunter. Was da nicht alles herausströmt. Heftigste Regengüsse, die wie flüssiges Glas niederrinnen und am Boden noch einmal fein zersplittern. Schaut man genau hin, so kann man kleinste Gletscherbäche beobachten. Und dann wieder ein Regen, der wie Blätter von den Birken fällt. Mal munter wie Musik, durchzogen vom tiefen Bass anfliegender Flugzeuge.Vielleicht ist diese Stadt ein Aquarium, in dem sich alles, Mensch, Tier und Technik, wie Fische tummelt. Completely soaked. Und über einem, im Gewölk, ziehen die Flugzeuge wie stumme Haie ihre Runden.RegengrüßeLino Auch hier ist das Wetter ziemlich übel. Kalt, und oben auf den Bergen liegt schon der erste Schnee. Ich habe Sehnsucht nach einem warmen Land …Wie lange bist Du eigentlich in der Stadt? Und eine Nachteule scheinst Du auch zu sein. Wenn ich morgens um fünf, was mir nun oft passiert, aufstehe und im Wohnzimmer in Ruhe den ersten Kaffee trinke, aufs Handy schaue und sehe, dass Du gerade mal zwei Stunden im Schlaf liegst, muss ich lachen, denn bei mir fangen schon die ersten Gedanken an zu schwirren, z. B. wie ich dem Schreibtisch erkläre, dass ich eine Pause mache, dass ich am besten auf Reisen gehe, oder vielleicht das Allerbeste: mich nie mehr an sein Holz lehnen will wie an einen stummen Geliebten und zu ihm sagen: Ich gehe jetzt in die Fremde! Oder ich mache mir Gedanken, wie ich den langweiligen Kartoffelstock aufpeppen könnte, damit er nicht immer gleich langweilig aussieht …Es ist ja seltsam, dass unserem Briefwechsel, unserem schönen, plötzlichen Finden, kein Geplänkel vorausgegangen ist. Da nährt sich (entschuldige den Ausdruck) etwas aus völlig anderen Quellen, und das finde ich gut, was uns selbstverständlich nicht daran hindert, die Liebe zur Sprache zu teilen. Es ist einfach schön, dass man vom nie Geträumten am Tag beschenkt wird. Also sozusagen vom Nichts!Liebe Grüße!Und ich hoffe, Du kannst die wunderschöne Gottesanbeterin auf dem Bild erkennen. Die erste und einzige, die ich je gesehen haben. Aufgenommen vor zwei Jahren in L. MorgengrüßeJulia

Das ist ja ein sehr graziles Tierchen!Lino

Vielleicht findest Du dort in der Stadt auf dem Markt Kakerlaken ... das sind nämlich auch schöne Tierchen!Julia

Sie lebte in einem ganz normalen Gefüge, in einer Familienkonstellation, und in diesem ganz normalen Gefüge hatte ein solches Geschehen keinen Platz. Sie wusste aber auch, dass diese sogenannte Norm in den meisten Fällen nur äußere Form war, in deren Innern es heftig brodelte, wo sich Anpassung und Ausnahmezustand täglich begegneten wie Patienten auf dem Weg zur Besserung oder ihrem Gegenteil, aber an den Tisch gehörte das Reden darüber trotzdem nicht: Schweigen macht blind, dachte sie plötzlich, und sie dachte an alle, die durch dieses Schweigen und Blindwerden scheiterten, aber an den Tisch gehörte das nicht und schon gar nicht die Geständnisse vollzogener Taten, Dunkelraum aller Beziehungen. Trotzdem! Sie wollte auch blind werden und schweigen. Aber wozu denn? Es war doch gar nichts geschehen, außer dass sie am Morgen früher aufstand, ihren Cappuccino früher trank. Sie durfte doch wohl noch aus einer alten Gewohnheit eine andere, neue Gewohnheit machen.

Lieber Lino, wenn ich Deine Briefe lese, ist es, als öffne man das Tagebuch eines Menschen, als blättere man durch die Seiten der eigenen Schrift, durch das gebündelte Vergessen und immer mit dem leicht zagenden Gefühl, etwas zu lesen, das einem nicht zusteht.Seelenverwandtschaft?, fragst Du mich, und ich kann Dir keine Antwort geben. Keine, die momentan stimmt. Keine liegt auf meiner Stimme, die zu tief liegt, im Dunkel, wie ein Geheimnis, das für sich bleiben will. In einem wohl spürbaren Leuchten – ja, leuchtend spürbar, mehr nicht.Ich kann dem tausend Namen geben, immer wieder neue, es will nicht benannt werden. Mal hüpft es, aber es will nicht Grashüpfer genannt werden. Mal liegt es da wie eine Träumerin, will diesen Namen aber nicht. Und meinen Fragen begegnet es mit einer Schwerhörigkeit, dass ich schreien müsste, was ich nicht tue, weil ich das Schöne nicht erschrecken will. Alles noch ruhig in der selbst gewählten Regulierung, und es will deshalb noch lange nicht Kühlschrank genannt werden. Nein, auf keinen Fall Gefrierfach! Ich habe es jetzt begriffen, dass ich nicht Johanna die Täuferin bin und auch nicht von Heuschrecken und Honig lebe, und manchmal trinke ich halt das Namenswasser selber und mir wird dabei ganz warm zu wissen, dass ich ein Geheimnis nicht verdursten lasse, das noch keinen Namen hat.Lieber Lino, später mehr, ich muss jetzt in die Küche!Mit lieben Grüßen, Du guter Freund in ferner StadtJulia

Wie konnte ihr das jetzt geschehen?