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Kritische Theorie hat zu Freud ein ambivalentes Verhältnis. Sie will die Psychoanalyse für die Gesellschaftstheorie fruchtbar machen, kritisiert aber zugleich Freuds Überzeugungen zum ewigen Wesen des Menschen, seinen weltanschaulichen Psychologismus und seine Apologie sozialer Herrschaft. Bloch und Fromm, Horkheimer, Adorno und Marcuse haben ihre Freud-Kritik unterschiedlich akzentuiert. In jedem Fall, so zeigt die vorliegende Untersuchung, ist Klarheit über die ideologischen Schwächen der Freud’schen Theorie Bedingung für ihre Fruchtbarmachung im Kontext kritischer Sozialphilosophie.
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Seitenzahl: 603
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Hans-Ernst Schiller
Freud-Kritik von links
Bloch, Fromm, Adorno, Horkheimer, Marcuse
© 2017 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe
www.zuklampen.de
Umschlaggestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH · Hamburg
Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-86674-669-5
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.
Für Brigitte
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Einleitung
1. Kapitel
Trieb und Unbewusstes im Zeichen des Neuen: Ernst Bloch
Freud in »Geist der Utopie« · Freud in »Das Prinzip Hoffnung«
Exkurs 1
»Das Verhängnis, das Vernunft allein nicht wenden kann«. Überlegungen zu einer philosophischpolitischen Affektenlehre
Affektbegriff bei Bloch und Freud · Die Vernunft im Gefühl: Die kognitive Dimension der Affekte · Politische Affekte und objektive Vernunft
2. Kapitel
Verharmlosung oder Weiterentwicklung der Psychoanalyse? Erich Fromm
Ein Fachmann für Psychoanalyse gerät ins akademische Abseits · Ein orthodoxer Freudianer · Sozialpsychologische Feldforschung am Vorabend des Dritten Reiches · Erste Ansätze der Freud-Kritik · Trieb und Charakter · Aggressionstheorie · Gesellschaftscharakter: Autoritärer Charakter und Marketing-Orientierung · Verhältnis von individuellem und Gesellschaftscharakter · Änderbarkeit von Charakteren. Die funktionalistische Fragestellung · Das Unbewusste und die Bewusstlosigkeit gesellschaftlicher Praxis · »Freuds Größe und Grenzen« · Schlussbemerkung
Exkurs 2
Dialektik des Unbewussten. Sprache und primitives Denken nach Freud
Die Grundunterscheidung von Bewusstem und Unbewusstem · Unbewusstes als Arbeitsweise und System · Sprachlosigkeit oder sprachliche Struktur des Unbewussten? · Primitivität von Denken und Sprache. Die Rolle der Arbeit · Biologie, Animismus und das Unbewusste in den frühesten Phasen der individuellen Entwicklung · Die Gegenwart der Barbarei und des primitiven Denkens
3. Kapitel
Von der Hilfswissenschaft der Geschichte zur Anthropologie der Kultur: Max Horkheimer
Exkurs 3
Politische Pädagogik. Adorno und Martha Nussbaum im Vergleich
4. Kapitel
Die Schule der Selbstreflexion. Adorno und Freud
Schwierigkeiten · Erkenntnistheoretische Freud-Rezeption: Die Habilitationsschrift von 1927 · Charakter und Prognose: Die Psychologie des Unbewussten als Hilfswissenschaft · Das Ende des inneren Kleinbetriebs, das Verschwinden des Unbewussten · Eine geniale Schrift: Massenpsychologie und archaische Erbschaft · Freud hatte Recht, wo er Unrecht hatte: Kritik des Revisionismus · Die objektive Unwahrheit aller Psychotherapie139 · Freuds »Drang ins Totale«: Künstler sublimieren nicht · Die aus der Zivilisation erwachsende Barbarei. Adorno und »Das Unbehagen in der Kultur« · Die Arbeit der Selbstbesinnung
Exkurs 4
Das Individuum bei Freud und die Macht der Kollektive
Psychologie des Individuums · Allgemeines und individuelles Subjekt · Das arme Ich · Das vorkulturelle Individuum · Die Überlagerung von Urzeit und Moderne · Archaische Erbschaft · Exkurs zur Epigenetik · Ein Volkscharakter · Eine unvermeidliche Kühnheit · Tradition und Rasse
5. Kapitel
Freud-Kritik auf dem Boden der Triebtheorie. Die Möglichkeit einer Kultur ohne Repression bei Herbert Marcuse
Hinwendung zur Sozialpsychologie · Destruktion und Kulturbegriff · Triebtheoretische Geschichte der Menschheit · Freud-Apologie und Freud-Kritik. Die Polemik gegen Fromm · Triebtheorie und Utopie · Versuchte Befreiung · Perspektiven
Literatur
Über den Autor
Am 21.3.1936 schrieb Adorno einen Brief an Horkheimer, in dem er sich über Fromms jüngste Veröffentlichung in der Zeitschrift für Sozialforschung beschwert. Der Aufsatz – es ging um Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie1 – habe ihm »gar nicht gefallen«: »er hat mich in die paradoxe Situation gebracht, Freud zu verteidigen.« Nachdem Adorno dem Konkurrenten die dringende Empfehlung übermitteln lässt, Lenin zu lesen, behauptet er: »Nein, gerade wenn man wie wir Freud von links kritisiert, dürfen nicht solche Dinge wie das läppische Argument vom ›Mangel an Güte‹ passieren. Genau das ist der Dreh, den die bürgerlichen Individualisten gegen Marx haben.«2
Diese Briefstelle ist in vieler Hinsicht bemerkenswert. Zunächst wendet sie sich an einen Adressaten, in dessen moralischem Kompass Güte den Nordpol vertritt. Adornos Polemik gegen Individualismus wird durch die dialektische Theorie des Individuums, die er mit Horkheimer seit der Dialektik der Aufklärung vertreten hat, relativiert.3 Vor allem aber stellt die Äußerung eine Frage, die seit Beginn der vierziger Jahre von Horkheimer und Adorno eher verdunkelt als klargestellt worden ist: Was heißt es, Freud von links zu kritisieren? Die Frage ist mit Adorno nicht zuletzt deshalb so schwer zu beantworten, weil er seit der Minima Moralia den ursprünglichen Freud gegen seine missratenen Schüler in Stellung zu bringen pflegt.
Eine oberflächliche Rezeption der Äußerungen von Adorno und Horkheimer über Freud aus den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik hätte folgendes Bild ergeben: als Therapie im Namen des Realitätsprinzips ist die Psychoanalyse ein Instrument der Anpassung und der Abwehr notwendiger Gesellschaftskritik; als Trieb- und Kulturtheorie hingegen ist sie wesentlicher Bestandteil der kritischen Theorie. Jedenfalls sei sie es ursprünglich gewesen.4 Aber diese Ansicht ist unstimmig und unzureichend. Sie verdeckt nicht nur die gravierenden Zweifel, die Adorno und Horkheimer an Zentralstücken der Freud’schen Theorie formuliert haben, sondern auch das Interesse an Verbesserungen, die sich mit Hilfe der analytischen Reflexion in der Erziehung und im Leben des Einzelnen erzielen lassen. Sie ignoriert die Tatsache, dass Psychoanalyse aus therapeutischen Erfahrungen entstand und ihrer zur theoretischen Weiterentwicklung bedarf. Nicht zuletzt verkennt sie den epochalen Umbruch, der durch Freuds Therapiekonzept in der Medizin der psychischen Störungen dadurch vollzogen wurde, dass die Patienten selbst zu Wort kommen konnten.5 Die Ablehnung psychoanalytischer Therapie beruht bei Adorno und Horkheimer letztlich auf einer zentralen gesellschaftstheoretischen Überlegung: Die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft ist für sie gekennzeichnet durch die Sozialisierung noch des letzten Stücks unabhängig existierender Natur, der äußeren sowohl wie der Triebnatur des Menschen. Therapie erscheint als Mittel, die innere Natur des Menschen, seine Antriebe und Phantasien, der sozialen Nutzbarkeit zu unterwerfen. Die Möglichkeit, dass die durch Therapie beabsichtigte Ich-Stärkung der kritischen Reflexion des sozialen Herrschaftszusammenhangs zugute kommen könnte, scheint außer Betracht zu bleiben. Jedenfalls ist die Frage, was es für Horkheimer und Adorno heißt, Freud von links zu kritisieren, mit der Kritik der gesellschaftlichen Funktion von Therapie nicht zureichend beantwortet.6
In der Rezeption der studentischen Linken hatte sich das Bild von Freud als kritischem Theoretiker verfestigt und Züge angenommen, die weit hinter das Problembewusstsein bei Horkheimer und Adorno zurückfielen. Freuds Vereinnahmung für die kritische Theorie wurde auch dann aufrechterhalten, als ein Teil der ehemaligen Radikalen zu therapeutischer oder pädagogischer Berufsarbeit überging, wobei ihr Bedeutungsgehalt immer vager wurde; sie hat vermutlich kraft dieser Vagheit den Übergang im Sinne biographischer Kohärenz erleichtert. Verantwortlich für dieses linke Freud-Bild war gewiss auch das Bemühen Herbert Marcuses, radikale Positionen als Konsequenzen zu präsentieren, die auf dem Boden der Freud’schen Triebtheorie gezogen werden könnten. Aber auch Marcuse hatte ein differenziertes Bild von Freud und wandte sich gegen die Parole »Freud und Marx«, als könnten beide für ein kritisches Bewusstsein gleichwertige Beiträge liefern. Das hinderte nicht die Auffassung, Freud sei ein Gesellschaftskritiker, der sich grundlegend von seinen missratenen Schülern, wahlweise Jung oder den Ich-Psychologen und auf jeden Fall Erich Fromm, unterscheiden würde. Insbesondere galt es als Gemeinplatz, dass es bei Freud keinen Raum für ein »kollektives Unbewusstes« gäbe. Unterstützung fand diese abwegige Überzeugung durch Blochs plakative Entgegensetzung von »liberalem Freud« und »faschistischem Jung«. Das überwiegende Einverständnis beider Psychologen über die archaische Erbschaft, die Prägung des Einzelnen durch vorzeitliche psychische Erwerbungen, wurde beharrlich ignoriert.7 Der wirkliche Unterschied besteht im Stellenwert, den beide der Sexualität zuweisen, sowie in Freuds hartnäckiger Treue zu einem Begriff allgemein gültiger Wahrheit, seinem Festhalten am Ideal der Wissenschaftlichkeit, das freilich zu szientivistischer Verkürzung neigt und mit dem eigenen Verfahren unkontrollierbarer Verallgemeinerung in Widerspruch tritt.
Wer mit den skizzierten positiven Vorurteilen an die Lektüre von Freuds Schriften geht, muss einige unliebsame Überraschungen erleben. Zu ihnen gehört die Feststellung, wie tief Freuds Denken im Rasse-Diskurs seiner Zeit verwurzelt ist. Aber auch die elitäre Gesellschaftskonzeption, etwa zu Beginn der Zukunft einer Illusion, Freuds gleichwohl progressivster Schrift, ist eigentlich unübersehbar. Die Massen gelten als unvernünftig und faul und bedürfen einer überlegenen Führung. Das Freud’sche Werk insgesamt durchzieht ein herrschaftsapologetischer Zug, der nicht nur in der Bewunderung für das deutsche Militär – »das großartige Instrument«8 – oder in der Behauptung eines »psychologischen Elends« der führerlosen Masse zum Ausdruck kommt.9 1932 schien ihm die Seele vergleichbar »einem modernen Staat (…), in dem eine genuß- und zerstörungssüchtige Masse durch die Gewalt einer besonnenen Oberschicht niedergehalten werden muss.«10 Die Herrschaftsapologie hat die übliche Form einer Berufung auf ein übergeschichtliches Wesen des Menschen, spezifiziert durch das, was man den Freud’schen Archaismus nennen könnte. Aber die Apologie kann auch in indirekter Form auftreten, indem sie in triebpsychologischer Gesellschaftserklärung die wirklichen Verantwortlichkeiten verwischt.
Einige der herrschaftsapologetischen Momente, die einzeln vielfach belegbar sind (und in diesem Buch auch belegt werden), kann man in dem Aufsatz Zeitgemäßes über Krieg und Tod von 1915 studieren. Der kritische Geist löst sich auf in eine Haltung verständnisvoller und Überlegenheit beanspruchender Distanz, die um das ganze Ausmaß menschlicher Gemeinheit und Brutalität weiß und resigniert sich mit ihr aussöhnt. Ansatzpunkt ist die Enttäuschung darüber, wie sich die Mitmenschen unter dem Einfluss des Krieges, auf dessen konkrete Ursachen keine Gedanken verschwendet werden, verhalten. Die »sittlichen Normen«, die wohl gegründet schienen, werfen sie bereitwillig über Bord. Vor dem Kriege gab man sich der Illusion hin, dass die »großen weltbeherrschenden Nationen weißer Rasse, denen die Führung des Menschengeschlechts zugefallen ist (…) es verstehen würden, Mißhelligkeiten und Interessenkonflikte« wenigstens untereinander auf friedliche Weise zu handhaben.11 Aber: »Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus (…).«12 Dass es sehr wohl Menschen gegeben haben muss, die »an den Krieg glaubten«, damit er »ausbrechen« konnte, wird geflissentlich ignoriert. Der Krieg ist das Subjekt, Verantwortlichkeiten werden nicht anerkannt. Es ist »der Krieg«, der zur »Lockerung aller sittlichen Beziehungen« zwischen den »Großindividuen der Menschheit« und folglich auch bei den Einzelnen geführt hat.13 Allerdings offenbart er nur »das tiefste Wesen des Menschen«, welches in seinen Triebregungen besteht.14 Der Krieg »streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und lässt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen.«15 Und eben diese Erkenntnis führe dazu, dass wir »die Enttäuschung, die uns die Großindividuen der Menschheit, die Völker, bereitet haben, um vieles leichter ertragen (…).«16
In solchen Überlegungen eine kritische Theorie der Gesellschaft zu entdecken, fällt schwer. Ohne eine nüchterne Analyse der Herrschafts- und Wirtschaftsinteressen und ohne die Bereitschaft, in den eigenen Führern jene rücksichtslosen und brutalen Machtmenschen zu erkennen, als die sie sich erwiesen haben, wird man die politische Dynamik nicht verstehen können. Und ohne eine utopische Dimension, d.h. ohne die Begründung der realen Möglichkeit eines historisch Neuen, kann es keine kritische Theorie geben. Gegen beides wird Freuds Archaismus ins Feld geführt. Seine Grundüberzeugung lautet: Was am Anfang stand, ist das Wesen, das sich in allem Weiteren kontinuiert. Adorno hat diese These an Durkheim wie an Freud kritisiert. Dass Entsprungenes seinem Ursprung gleichen müsse, sei undialektisch.17 Auch das Archaische, das sich angeblich in Geschichte unaufhörlich reproduziert, war einmal ein Neues. Und die Geschichte selbst hat neue Möglichkeiten verwirklicht und geschaffen. Zweifellos gibt es kaum etwas, das weniger fasziniert, als das Dunkel erster Anfänge in der Geschichte des Einzelnen und erst recht in der Geschichte der Gattung. Aber es ist ein unbeweisbares Vorurteil, dass diese Anfänge das Wesentliche alles Folgenden determinieren oder umgekehrt, dass das, was sie determinieren, das Wesen sei.
Werfen wir einen Blick auf die Marx’sche Theorie, auf die der Ausdruck »kritische Theorie« bei Horkheimer und Adorno gemünzt war,18 so wird eine dialektische Beziehung zwischen Allgemeinem und Besonderem im Hinblick auf die Möglichkeit des Neuen erkennbar. Wir brauchen allgemeine Bestimmungen, um das Besondere zu erkennen, aber daraus ergibt sich keine Berechtigung, das Allgemeine als unabänderliche Substanz zu deklarieren. Das Allgemeine ist vielmehr eine verständige Abstraktion; seine konkreten, veränderlichen Formen sind das Reale. Paradigmatisch für diese Beziehung ist der Begriff der Arbeit. Er weist die abstrakten Momente auf (z.B. Formveränderung der Natur, Nutzung von Menschen- und Naturkraft, Ökonomie der Zeit), die für alle Gesellschaftsformen gelten müssen und in diesem Sinn »omnihistorisch« sind. Wirklich ist aber Arbeit nur in konkreten Formen, deren Bestimmungen wie Verwertungsprozess, Fabrik, Entfremdung nur in bestimmten sozialen Verhältnissen realisierbar sind. Die Methode einer kritischen Gesellschaftstheorie unterscheidet sich grundlegend von der Reduktion auf das »ewige Wesen der Menschheit«, das zu erkennen Freuds Ehrgeiz ist. Das Allgemeine fungiert in der kritischen Theorie als Begriffsfolie zur Erkenntnis der historischen Besonderheit, in der es existiert, und diese Erkenntnis weist das Bestehende zugleich in seiner Widersprüchlichkeit und Veränderlichkeit auf. In einer zukünftigen Gesellschaft könnte die notwendige Arbeit einen wesentlich verschiedenen Charakter annehmen, nämlich unter den der menschlichen Natur würdigsten und angemessenen Bedingungen vollzogen werden.
Es wäre falsch, Freud vorzuwerfen, dass er das Neue nicht kennen würde. Dies ist weder in lebensgeschichtlicher noch in menschheitsgeschichtlicher Beziehung der Fall. Freud leugnet nicht die Möglichkeit des Neuen, aber sie bewegt sich bei ihm entweder auf psychologischem Gebiet oder auf dem der Naturbeherrschung. Psychologisch ist das Neue – in der Geschichte des Einzelnen wie der Gattung – das Erstarken des Ich, die Überwindung der infantilen Abhängigkeit. Menschheitsgeschichtlich bedeutet sie eine Ablösung von der Religion, die sich infantilen Schutzwünschen verdanken soll. Eine solche Ablösung könnte wenigstens für einen beträchtlichen Teil der Menschen erreichbar sein und – nach dem Vorbild von Auguste Comte – zu einem wissenschaftlichen Zeitalter führen. Wissenschaft aber ist Instrument fortschreitender Naturbeherrschung, die dem Menschen immer neue Erleichterungen schafft. In der sozialen Dimension der Kultur sieht Freud keine Möglichkeit eines Neuen, das qualitativ andere Sozial- und Eigentumsverhältnisse hervorbringen könnte. Zwar spricht er im Zusammenhang mit der Anwendung der Wissenschaft (und dem Zurückdrängen religiöser Illusionen) von der Hoffnung, »dass das Leben für alle erträglich wird und die Kultur keinen mehr erdrückt«,19 aber selbst hier macht sich der falsche Gebrauch der Allgemeinbegriffe auf illusionäre Weise geltend: es ist durchaus nicht »die Kultur«, die bislang »erdrückt«. Der Druck, der auf den Vielen lastet, muss von Menschen ausgeübt werden, die dazu die Macht haben. Die Institutionen, die diese Macht verleihen, bleiben bei Freud jedoch außer Betrachtung. In den sozialen Verhältnissen herrscht für ihn der ewige Aggressionstrieb, der in Schach gehalten werden muss, die Arbeitsunlust und Einsichtsunfähigkeit der Masse, die eine Elite und Führer notwendig machen, deren Fehlen freilich auch ein psychologisches Elend der Masse hervorruft. Hier reproduziert sich und akkumuliert sich das Schuldgefühl, das am Anfang der Kultur gestanden habe – als Schuldgefühl über den Mord am despotischen Vater.
Wie die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigen, müssen Vorkehrungen getroffen werden, damit das Pathos des Neuen, d.h. der Utopie, nicht zum Legitimationsgrund der Etablierung einer anderen Herrschaft wird. Wenn das Befreiende nahe zu sein scheint, könnte es als geboten erscheinen, alle wirklichen oder vermeinten Widerstände brutal aus dem Weg zu räumen. Sich gegen solchen Terrorismus zu versichern, sind Archaismus und die Behauptung eines ewigen Wesens des Menschen keine angemessenen Mittel. Beide können umgekehrt als Rechtfertigungsideologie der Unterdrückung dienen. Wer der Möglichkeit des Neuen verpflichtet ist, muss vielmehr darauf achten, dass das Ziel in den Mitteln seiner Verwirklichung lebendig bleibt. Er muss insbesondere den Fortschritt der bisherigen Geschichte, der in der Hervorbringung eines moralisch-rechtlichen Individualismus, d.h. in Menschenrechten und autonomer Moral besteht, anerkennen und bewahren. Ernst Bloch, der das Pathos des Neuen wie kaum ein zweiter sich zu eigen gemacht hat – Geist der Utopie schließt mit der Formel incipit vita nova – hat das sehr genau gesehen.20
Die bislang vorgetragenen Erwägungen zur Notwendigkeit der Freud-Kritik lassen die Frage berechtigt erscheinen, warum Intellektuelle, die sich als Marxisten verstanden, die Freud’sche Theorie überhaupt anziehend fanden. Am klarsten hat diese Frage Marcuse in den Gesprächen beantwortet, die kurz vor seinem Tode aufgezeichnet wurden. Hintergrund sei die Wirklichkeit des Faschismus gewesen. In der Psychoanalyse schien »eine ganze Tiefenschicht menschlichen Verhaltens aufgedeckt, die vielleicht einen Schlüssel liefern konnte zur Beantwortung der Frage, warum es 1918/19 schiefgegangen war«21 – warum also die Revolution, die aus der Schlächterei des ersten Weltkriegs hervorging, in keinem fortgeschrittenen kapitalistischen Land gesiegt hat. Tatsächlich hat sich das Vielleicht in eine Gewissheit verwandelt: es war die psychische Struktur des Menschen, die eine mögliche Revolution immer wieder verhindert oder verdorben hat.22 Und »es war Freud und Freud allein, der enthüllte, in welchem Ausmaß die repressive Gesellschaft von den Individuen selbst unbewußt introjiziert und reproduziert wird. Dies ist der Sachverhalt, der von Marx und Engels überhaupt nicht wahrgenommen und untersucht worden ist; heute erkennen wir, dass er vielleicht der wichtigste ist.«23
Marcuses Auskunft über das Motiv der Hinwendung zu Freud ist stimmig und wohl – mit Ausnahme für Ernst Bloch, der freilich auch älter war – für alle anderen in diesem Buch behandelten Autoren gültig. Schlüsselerlebnis dieser Generation war die Hoffnung auf die sozialistische Revolution, die durch den ersten Weltkrieg gerechtfertigt war, und die Erfahrung ihres Scheiterns. Zwei sachliche Einwände liegen jedoch auf der Hand. Erstens war es nicht Freud, der zuerst und als einziger die Verinnerlichung von Herrschaft thematisiert hat. Dieses Verdienst gehört Hegel und seiner Phänomenologie des Geistes, in der bei Betrachtung des Verhältnisses von Herr und Knecht bereits die Motive eine Rolle spielen, die sozialpsychologisch relevant wären: die Angst, und zwar als Todesfurcht, die Hemmung der Begierde, als welche die Arbeit begriffen wird, und die Selbstdisziplin, die als Verinnerlichung des herrschaftlichen Willens gilt, zudem das Streben nach Selbstverwirklichung und der Eigensinn. Sicher ist bei Hegel nicht von einer unbewussten Verinnerlichung die Rede und ein emotionales Band zwischen Herr und Knecht, der affektive Kitt, bleibt außer Betrachtung. Gleichwohl ist die Verkürzung der psychologischen Fragestellung auf Freud unrealistisch. Was in den Verhältnissen von Herrschaft und Knechtschaft offen zutage tritt und schwer zu leugnen ist: die Angst, die zur Unterwerfung und ihrer Verinnerlichung treibt, bleibt in der bürgerlichen Gesellschaft, die keine Knechte mehr kennen will, als anonymer Druck der Anpassung erhalten. Die Angst herauszufallen und nicht mehr dazu zu gehören, muss um der eigenen Selbstachtung willen verleugnet und vergessen werden. Dieser Prozess scheint sich eher nach dem Muster der Sartre’schen mauvaise foi, der Unaufrichtigkeit zu vollziehen, als dass er im strengen Sinne unbewusst wäre.
Der zweite Einwand zu Marcuses Motivierung der Hinwendung zu Freud gilt der Überzeugung, dass die Frage nach der subjektiven Unfähigkeit zur Revolution allein psychologisch beantwortet werden kann. Jede Kenntnis der wirklichen Geschichte, insbesondere der deutschen, belehrt darüber, dass in einem schwer bezifferbaren Ausmaß die Denkform »Nationalismus« von der Arbeiterschaft und mehrheitlich jedenfalls von ihren parlamentarischen Vertretern und dem Parteiapparat der Sozialdemokratie Besitz ergriffen hatte. Diese Nationalisierung des Bewusstseins, die vermutlich durch die Anfänge des Sozialstaats gefördert wurde, darf nicht unterschätzt werden, auch wenn sie uns heute schon als selbstverständlich erscheint. Horkheimer hatte ihre Bedeutung früh erkannt,24 und diese Erkenntnis bis ins Alter festgehalten: »Der neue Götze ist das nationale WIR.«25 Natürlich gehört zur Denkform des Nationalismus eine Affektentwicklung, insbesondere narzisstischer Art, die der angestammte Gegenstand sozialpsychologischer Forschung ist. Aber solche Untersuchungen, die fruchtbar sein können,26 setzen nicht nur die Denkform »Nation«, sondern schlicht und einfach die Realität des Nationalstaats voraus. Er ist ein spätes Produkt der europäischen Geschichte, seine Formationsperiode beginnt Ende des 18. Jahrhunderts – zufällig (?) mit Beginn der kapitalistischen Industrialisierung – und wird im 19. Jahrhundert zum verbindlichen Modell, das sich im zwanzigsten endgültig allgemein durchsetzt.27 Den Nationalstaat aus psychischen Kräften erklären zu wollen, muss ebenso scheitern wie der Versuch, das Geld aus dem analen Triebschicksal abzuleiten. Vielmehr sind die Sozialkategorien wie Nation oder Geld der psychischen Entwicklung des Einzelnen immer schon vorausgesetzt. Umgekehrt sind die Affekte unerlässlich für die Durchsetzung und Reproduktion der sozialen Kategorien, welche ihrerseits nicht die Affekte, wohl aber ihre soziale Wirksamkeit, Verstärkung und Konkretion erklären. Aufgabe der Psychologie wäre es, zu erkennen, welche Affekte sich an die Sozialkategorien heften und wie sie diese Kategorien als Praxisformen zu reproduzieren helfen. Neben den Begriffen von Nation und Geld wäre an soziale Kategorien wie Eigentum, Arbeit, Kapital (Gewinn) und Kredit (Schuld) zu denken. Auch die Analyse der Affektbewertung des »Konsumismus« ist zu nennen, über den viel geschrieben und von dem wenig erkannt wird und dem man ohne Fromms Begriff vom »Marketingcharakter« nicht wird beikommen können. Die Psychoanalyse wäre, wenn sie sich diesen Aufgaben stellt, nicht Grundwissenschaft des Sozialen, wie Freud es wollte, sondern hätte, wie es Horkheimer in den dreißiger Jahren vorgesehen hatte, den Status einer unentbehrlichen Hilfswissenschaft der Gesellschaftstheorie.
Bislang hat die psychoanalytische Sozialpsychologie diese Funktion vor allem im Zusammenhang mit der Analyse rechtsradikaler Antriebskräfte und Gefühlswelten erfüllt. Das Konstrukt des autoritären Charakters besitzt nach wie vor Erklärungskraft, wie etwa die Untersuchungen von Brähler, Decker u.a. gezeigt haben.28 Eindrucksvoll ist das Beispiel einer etwas älteren Frau, die sich in einer Gruppendiskussion als Wortführerin der Feindseligkeit gegen wirkliche oder angebliche »Fremde« hervortat. Sie war voll Wut auf die Türken, die, wie sie beobachtet haben will, in den Straßen Dortmunds herumlungern und sich Viagra verschreiben lassen. Die sexuelle Projektion ist für sich genommen schon recht interessant, ebenso aufschlussreich aber ist der biographische Kontext, der unaufgefordert mitgeteilt wird. Der Vater sei streng gewesen, sie und ihre Geschwister hätten den Beruf ergreifen müssen, den der Vater bestimmt hat, geschadet habe ihnen all das nicht.29 Wir haben hier in einer Untersuchung von 2008 die sozusagen klassische Konfiguration des autoritären Charakters, wie sie von Fromm im Jahre 1936 und von der Berkeley-Group unter Mitwirkung Adornos 1950 in den Studien zum autoritären Charakter analysiert wurde. Unfähig, dem Stärkeren Widerstand zu leisten, verdrängt der Autoritäre seine Feindseligkeit gegen ihn, um sie gegen Schwächere zu wenden, denen zugleich die unerlaubte Befriedigung eigener Wünsche angedichtet wird. Fremde oder als fremd definierte Menschen sind als Minderheit eo ipso die Schwächeren, trotz der ihnen zugeschriebenen Gefährlichkeit.30
Die vorliegende Untersuchung geht von der Überzeugung aus, dass die Fruchtbarkeit psychoanalytisch informierter Sozialpsychologie für die Gesellschaftstheorie über die Konzeption des autoritären Charakters, in der sie sich bewährt hat, hinausgehen kann. Freilich werden die oben formulierten Desiderate in der vorliegenden Arbeit nicht erfüllt, aber sie machen sich in ihrem Fortgang immer wieder bemerkbar. Eine weitere Überzeugung besteht darin, dass sich diese Fruchtbarkeit nur erweisen kann, wenn über den herrschafts-apologetischen Charakter der Freud’schen Theorie keine Illusionen bestehen. Deshalb geht es um die Freud-Kritik von links. Auch dieses Thema kann freilich nicht erschöpfend behandelt werden. Untersucht werden Autoren, die als Vertreter eines nicht parteigebundenen Marxismus bekannt geworden sind: Bloch, Fromm, Horkheimer, Adorno und Marcuse. Sie werden in der Reihenfolge betrachtet, in der sie mit Arbeiten zu Freud und zur Psychoanalyse publizistisch hervorgetreten sind.
Ernst Bloch hat sich zu Freud bereits in der zweiten Auflage von Geist der Utopie 1923 geäußert. Zu diesem Zeitpunkt war er noch kein marxistischer Philosoph und wollte es nicht sein. Der Grundtenor seiner Stellungnahme wird jedoch in späteren Veröffentlichungen, besonders auch in Das Prinzip Hoffnung wiederholt. Bloch hat zur Adaption der Psychoanalyse für eine kritische Gesellschaftstheorie keinen eigenständigen Beitrag geleistet; vielmehr dient ihm Freuds Theorie als Kontrastfolie, um sein eigenes Triebkonzept und den Begriff des Noch-Nicht-Bewusstseins zu profilieren. Dabei stellt er die Freud’sche Theorie in den meisten zur Sprache kommenden Punkten falsch dar. Viel geeigneter zur Profilierung des Bloch’schen Denkens wäre die Husserlsche Phänomenologie, die freilich auch im Hinblick auf die Psychoanalyse zur Klärung des Bewusstseinsbegriffs beitragen kann. Die stets wiederholte Klage, bei Freud fehle es an der Zukunft, ist zwar falsch, aber sie rückt die Permanenz des Archaischen im Freud’schen Denken erst recht in den Blick.
Der eigentliche Pionier in Bezug auf die Fruchtbarmachung der Psychoanalyse für die kritische Theorie ist zweifellos Erich Fromm. Er sieht eine strukturelle Analogie zwischen der Marx’schen Aufklärung über ökonomische Gesetzmäßigkeiten und Freuds Zerstörung von Illusionen über unsere persönlichen Motive. Darüber hinaus erkennt Fromm in der Freud’schen Theorie das Potential, zu verstehen, wie sich gesellschaftliche Strukturen durch das willentliche Handeln der Individuen hindurch erhalten und was sie trotz aller Interessengegensätze wie ein Kitt zusammenhält. Spezieller Anknüpfungspunkt ist der Freud’sche Charakterbegriff, dessen theoretische Verdienste Fromm stets hervorgehoben hat. In der berühmten Studie über Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches hat er seine erste soziologische Probe bestanden. Allerdings gibt es bei Fromm seit Beginn der dreißiger Jahre auch die kritischen Einwände gegen Freud, die man bei einem Autor, der sich dem historischen Materialismus verpflichtet weiß, erwarten muss. Er klagt historische und soziologische Relativierungen ein. Im Laufe der dreißiger Jahre konkretisiert sich diese Kritik in der Relativierung des Ödipuskomplexes und sie weitet sich zu einer Ablehnung des Freud’schen Triebbegriffs, die Fromm – vermeintlich oder tatsächlich – in Gegensatz zur Forderung eines Eingedenkens der Natur im Subjekt bringt, die Horkheimer und Adorno erheben werden.31 Fromms Kritik des Triebbegriffs hat freilich auch die Wendung zu einem interaktionistischen Verständnis der Triebbedürfnisse vollzogen und, soweit ich das beurteilen kann, die Objektbeziehungstheorie in der späteren psychoanalytischen Literatur antizipiert. Sein Begriff des Marketing-Charakters und seine Aggressionstheorie sind Innovationen, die bis heute nicht die Aufmerksamkeit gefunden zu haben scheinen, die sie verdienen.
Die Äußerungen von Max Horkheimer zur Psychoanalyse weisen bis ins Jahr 1936 eine große Übereinstimmung mit Fromms Ansichten auf. Die Psychoanalyse soll helfen zu verstehen, warum soziale Schichten, deren Lebensinteressen durch die kapitalistische Entwicklung immer wieder negiert werden, sich dennoch emotional an deren ökonomische und politische Institutionen binden. Die Entwicklung der Freud’schen Theorie hin zu einer spekulativen Trieblehre und einer allgemeinen Kulturtheorie wird abgelehnt, die ursprüngliche Konfrontation von Individuen und gesellschaftlicher Norm wird als schätzenswert, aber auch, weil der beendeten »liberalistischen« Periode des Kapitalismus angehörig, als überholt angesehen. An diesem Punkt vollzieht sich die erstaunliche Wendung, die in den vierziger Jahren deutlich hervortritt. Die späteren Schriften Freuds seit Jenseits des Lustprinzips gelten nun als adäquater Ausdruck der historischen Entwicklung und werden gegen die Psychoanalyse als Therapie gewendet, die an jenem Konflikt von Individuum und gesellschaftlicher Norm angesetzt hatte. Dennoch bleibt Horkheimers Stellung zur Freud’schen Theorie auch seit der Arbeit an der Dialektik der Aufklärung nicht ungebrochen positiv. Ihr programmatischer Psychologismus wird ebenso abgelehnt wie die Möglichkeit des Neuen verteidigt.
Adorno hat sich bereits als junger Mann intensiv mit der Freud’schen Theorie beschäftigt. Obwohl seine Schrift zum Unbewussten noch in den Grenzen einer idealistischen Philosophie befangen bleibt, in welcher die Immanenz des Bewusstseins der leitende Begriff ist, finden sich schon hier bedeutende Vorgriffe auf die spätere Freud-Rezeption, die von der Zusammenarbeit mit Horkheimer geprägt sein wird. Man findet bei Adorno sowohl die harsche Ablehnung der Psychoanalyse als Therapie wie die empirische Operationalisierung des Charakterbegriffs, für die Erich Fromm den Anstoß gegeben hat. Adornos Kritik an den Konzepten des Unbewussten und des Realitätsprinzips, der Verdrängung und der Sublimierung, dem Drang ins Totale und der unkontrollierten Verallgemeinerung ist viel tiefgreifender, als es der gleichsam exoterische Gestus einer Freud-Orthodoxie vermuten lässt. Das Bestreben, sich von Fromms Sozialpsychologie abzugrenzen, führt bisweilen in unhaltbare Positionen wie die Vorstellung einer »monadologischen« Psychologie des »atomistischen« Individuums, in der sich Freud sicher nicht wiedererkannt hätte. Die Massenpsychologie erhält emphatisches Lob, das freilich zugleich mit einer Kritik an mangelnder Differenzierung verbunden wird. Adornos Ansatz an der psychologischen Situation des selbstverantwortlichen Eigentümers in einer entfremdeten Welt, die ihn zur Ohnmacht verhält, scheint mir besonders überzeugend. Zum Theorem der »archaischen Erbschaft« hat er keine widerspruchsfreie Position bezogen. Neben einer einleuchtenden Kritik am Kurzschluss von unbewusster Phantasie und Realität spricht er von der archaischen Tiefenschicht im Individuum, ohne die bei Freud unerlässliche Vererbungslehre zu prüfen. Die Liebe zum Paradox gibt ihm eine Formulierung ein, die seine kritischen Einsichten entwertet: Freud habe Recht, wo er Unrecht hat. Natürlich muss sich auch Adorno dagegen verwahren, dass Unfreiheit bei Freud zur historischen Invariante wird. Dem gegenüber zielt die kritische Theorie auf eine historische Theorie der Herrschaft, welche Barbarei und Grausamkeit als die Kehrseite der Kultur erkennt. Somit verfällt auch die mit Emphase verteidigte Freud’sche Triebtheorie mit ihrer Verewigung des Destruktionstriebs der historischen Kritik. Letztlich ist es eine Haltung, die Adorno an der Psychoanalyse für wertvoll erklärt: die Bereitschaft zur Selbstreflexion als der Infragestellung der eigenen Antriebe und Motive.
Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Freud-Rezeption von Herbert Marcuse. Er nimmt zur analytischen Therapie eine differenziertere Stellung ein als Horkheimer und Adorno. Jedoch verwickelt sich sein sozial- und geschichtsphilosophischer Versuch, auf dem Boden der Freud’schen Triebtheorie zu verharren und sie zugleich über sich hinauszutreiben, in unauflösbare Widersprüche und erscheint im Wesentlichen als verfehlt. Marcuse sieht nicht oder ist nicht darum bekümmert, dass sich in der triebtheoretischen Konzeption der Kultur als Kampf zwischen Eros und Thanatos der Hegemonieanspruch der Psychologie gegenüber den Gesellschaftswissenschaften auswirkt. Die im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Protestbewegung Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre entstandenen Schriften zeigen ihn wieder auf der Höhe politischer und gesellschaftstheoretischer Reflexion. Die Freud’sche Triebtheorie tritt dabei in den Hintergrund. Was bleibt, ist die Hervorhebung des emotionalen Moments in der Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft und das Projekt und Problem einer affektiven Moral der revolutionären Praxis. Im Zentrum seiner Gesellschaftskritik steht der Widerspruch zwischen den Möglichkeiten eines befriedeten Daseins, die durch die kapitalistische Reichtumsentwicklung geschaffen werden, und der Aufrechterhaltung von Mangel und Lebenskampf im Dienste der sozialen Herrschaft. Die Bedeutung der Eigentumsverhältnisse bleibt freilich vage. Ohne Beziehung auf die modernen Formen sozialer Herrschaft – von der bürokratischen Exekution des ökonomischen Sachzwangs über die Idolatrie der Führer bis zur staatlichen Repression – wird die von Marcuse aufgeworfene Frage einer Kultur ohne Unterdrückung auf schlechte Weise abstrakt und muss in Aporien führen. Weil das menschliche Triebleben außerordentlich formbar und der Formung bedürftig ist, kann auch eine Erziehung, die auf Förderung und Glück abzielt, nicht ohne Verbote, auch sexueller Natur (man denke an Inzest oder Missbrauch) auskommen, mag auch der Stellenwert solcher Verbote entschieden geringer werden. Insgesamt ist Marcuses Fragestellung in ihrem Kern – als Frage nach dem Verhältnis von psychischen Antriebsstrukturen und sozialen Herrschaftsformen – nach wie vor gerechtfertigt, aber ihre Bearbeitung in Form einer Verteidigung der Freud’schen Kulturtheorie führt in ein Gestrüpp unfruchtbarer Hypothesen.
Das Schreiben über die Freud-Rezeption Anderer erheischt die Offenlegung der eigenen. Zu diesem Zweck werden vier Exkurse in die Untersuchung eingefügt, in denen die Auseinandersetzung des Verfassers mit der Freud’schen Theorie dokumentiert und seine (wenngleich noch viel zu unbestimmte) Vorstellung von dem angedeutet werden kann, was mit der Freud’schen Theorie jenseits des engeren psychologischen Bereichs erreicht werden sollte.
Der erste Exkurs behandelt die Affektenlehre in philosophischpolitischer Absicht. Ausgangspunkt ist die Bloch’sche und die Freud’sche Bestimmung der Affekte als Triebgefühle bzw. Triebrepräsentanten. Zumindest beim Menschen haben Affekte eine mentale Dimension, die sie für Vernunft und Erkenntnis zugänglich machen. Diskutiert werden Konzepte verschiedener Philosophen wie Aristoteles, Seneca, Descartes und Spinoza, Durkheim, Sartre und Martha Nussbaum. Individuelle wie kollektive Gefühle bieten sich der Manipulation dar, wenn sie nicht unter den Primat der Vernunft gestellt werden. Allerdings macht sich gerade hier ein wesentlicher Unterschied im Vernunftbegriff bemerkbar. Einem objektivierend instrumentellen Verständnis, das auf Selbstmanipulation oder Selbstdressur hinausläuft, ist ein selbstreflexives und eingedenkendes Verständnis der Vernunft zu kontrastieren, das den Affekt in seiner materiellen Subjektivität verstehen will und ihm einen emanzipatorischen Sinn zu geben versucht. Affektivität ist die Nichtidentität des Geistes an ihm selbst, denn es gibt keine geistige Tätigkeit ohne affektives Dabeisein. Das macht eine angemessene Affektenlehre so schwierig und zu einem Kernstück jeder philosophischen Besinnung, die sich auch auf die Fragen der politischen Praxis erstreckt.
Der zweite Exkurs beschäftigt sich mit der Dialektik des Unbewussten, die in der Sprachförmigkeit des primitiven Denkens gesehen wird. Dass das unbewusste ein primitives Denken sei, hatte Freud selbst behauptet. Die Kernthese des 2. Exkurses besteht darin, dass Freuds Begriff des dynamisch Unbewussten gut abgrenzbar und berechtigt ist, dass jedoch die Hypostasierung des Unbewussten zu einem eigenen Reich und einer eigenen Denkweise nicht gerechtfertigt werden kann. Die Arbeitsweise des Unbewussten, mit der es nach außen drängt und im Traum oder im Symptom sich ebenso ausdrückt wie verbirgt, ist nicht so singulär, wie Freud es wahrhaben will, sondern bedient sich derselben Mechanismen, die wir auch aus der Sprachbildung kennen. Die Hypostasierung des Unbewussten geht bei Freud einher mit einer ausgeweiteten Version der Rekapitulationstheorie, welche in der heutigen Biologie fallen gelassen wurde. Freuds Suche nach dem »ewigen Wesen der Menschheit« begrenzt die Brauchbarkeit seines Denkens für eine kritische Theorie. Insbesondere hindert ihn der Archaismus daran, die Barbarei zu erkennen, die im Schoße der Zivilisation selbst erzeugt wird und ihr auf eigene Weise angehört.
Der dritte Exkurs beschäftigt sich mit der praktischen Dimension der Sozialpsychologie und der Affektenlehre. Das praktische Feld, das insbesondere Adorno in den sechziger Jahren bearbeitet hat, ist das der Erziehung oder der politischen Pädagogik. Es fördert das Verständnis von Adornos Bedeutung, seine Ausführungen mit denen Martha Nussbaums, eine der interessantesten zeitgenössischen Philosophen zu vergleichen. Neben gewichtigen Gemeinsamkeiten zwischen Adorno und Nussbaum scheint mir Adornos Analyse gesellschaftstheoretisch doch um einiges tiefer zu gehen und nach wie vor aktuell zu sein.
Der vierte Exkurs thematisiert den Widerspruch, dass Freud einerseits die individuelle Lebensgeschichte seiner Patienten ernst nimmt und zu Wort kommen lässt, andererseits das Individuum im Fortschritt zu einer Kulturtheorie der blinden Macht der Kollektive unterwirft. Dies geschieht in seiner Affirmation von Begriffen wie Rasse und Volkscharakter und im Konzept der archaischen Erbschaft, das eine Lamarckistische Vererbungslehre zwingend voraussetzt.
Jede Freud-Kritik, und zumal die linke, muss sich gegen den Beifall von der falschen Seite versichern. Denn Freud und die Psychoanalyse sind nach wie vor einer Feindschaft ausgesetzt, die sich auch aus den dunkelsten und gefährlichsten Quellen speisen kann. Antisemitismus und Antiintellektualismus, auch wenn er sich ins Gewand wissenschaftlicher Strenge kleidet, Sexualfeindschaft und Reflexionsverweigerung gegen das, was die Psychoanalyse die Abwehrmechanismen nennt, befeuern eine Feindseligkeit, die sich, wenn überhaupt, der notwendigen Kritik nur bedient, um sich Luft zu verschaffen und an die gesellschaftliche Herrschaft im Subjekt selbst nicht rühren zu müssen. Angesichts solcher Gegner verdient die Psychoanalyse Sympathie. Horkheimer hat dieser Sympathie in einer Notiz vom Juli 1959 einen Ausdruck gegeben, der auch heute noch Geltung beanspruchen darf. Im Vergleich von »Psychoanalyse und Daseinsanalyse« Heideggerscher Provenienz räumt er ein, dass auch die Freud’schen Begriffe »trotz aller empirischen Bekenntnisse nicht weniger spekulativ sein (mögen) als die der Daseinsanalyse«; sie hätten aber eine ganz andere Wirkung. Die Begriffe der Psychoanalyse führten »zum Verständnis der Kranken und Gesunden, zu einer menschenwürdigen Erziehung und zur Humanität. Sie bedrohen die konventionellen Lügen, die die moralische Maske der Strafjustiz und der allgemeinen Grausamkeit bilden, und stammen von einem erfahrenen Juden, Grund genug, sie coute que coute aus dem Bewusstsein wegzutun.«32
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Für Hilfen bei der Erstellung der Druckvorlage danke ich sehr herzlich Frau Jana Laisa Schöller und meinen Düsseldorfer Mitarbeitern, Frau Laura Schulte-Buchhorn und Herrn Florian Losenfeld.
Fromm, Erich: Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, hg. von Max Horkheimer, Reprint mit einer Einleitung von Alfred Schmidt, München 1980, Bd.4 (1935), S.365–397.
Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Briefwechsel Bd.1, Frankfurt am Main 2003, S.129f.
Vgl. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1969, S.164: »Das Prinzip der Individualität war widerspruchsvoll von Anbeginn.« Vgl. die Kapitel 7 und 8 meiner Untersuchung: Das Individuum im Widerspruch. Zur Theoriegeschichte des modernen Individualismus, Berlin 2006.
Vgl. Adorno: Offener Brief an Max Horkheimer (1965), in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main (= GS), Bd.20.1, S.155–163, S.162.
Vgl. die überzeugende Darstellung bei Alfred Lorenzer: Die Sprache, der Sinn, das Unbewusste, Stuttgart 2002, S.45–55.
Vgl. zur Diskussion Decker, Oliver/Türcke, Christoph (Hg.): Kritische Theorie – Psychoanalytische Praxis, Gießen 2007, sowie §7 im Adorno-Kapitel der vorliegenden Veröffentlichung.
Freud, Sigmund: »In Anerkennung dieser phylogenetischen Erbschaft stimme ich mit Jung völlig zusammen; aber ich halte es für methodisch unrichtig, zur Erklärung aus der Phylogenese zu greifen, ehe man die Möglichkeiten der Ontogenese erschöpft hat (…).« (Aus der Geschichte einer infantilen Neurose [»Der Wolfsmann«], in: Studien-Ausgabe (= StA) Bd. VIII, Frankfurt am Main 1969, S.125–231, S.210. Vgl. auch: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, StA Bd. IX, S.453–581, S.577: »Der Inhalt des Unbewußten ist ja überhaupt kollektiv, allgemeiner Besitz der Menschen.«
Ders.: Massenpsychologie und Ich-Analyse, StA IX, S.65–134, S.90.
Vgl. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, StA IX, S.197–270, S.244.
Freud: Meine Berührung mit Josef Popper-Lynkeus (1932), in: Gesammelte Werke Bd. XVI, Frankfurt am Main 1993, S.261–266, S.262f.
Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, StA IX, S.33–60, S.36.
Ebda., S.38.
Ebda., S.40.
Ebda., S.41.
Ebda., S.59.
Ebda., S.47.
Adorno: Einleitung zu ›Emile Durkheim, Soziologie und Philosophie‹, GS 8, S.245–279, S.272.
Vgl. Vf.: Die Kritische Theorie als historische Formation, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Jg. 34/35, 2012, S.163–182.
Freud: Zukunft einer Illusion, StA IX, S.135–189, S.183.
Vgl. Bloch, Ernst: Naturrecht und menschliche Würde, GA 6, Frankfurt am Main 1972, S.260 sowie Vf. Einleitung zu: Staat und Politik bei Ernst Bloch, Baden-Baden 2016, S.9–22, und Vf. Die reine Gewalt und das Gewaltrecht des Guten. Gewalt und Recht bei Walter Benjamin und Ernst Bloch, in: Hendrik Wallat (Hg.): Gewalt und Moral. Eine Diskussion der Dialektik der Befreiung, Münster 2014, S.174–194.
Habermas, Jürgen/Bovenschen, Silvia u.a.: Gespräche mit Herbert Marcuse, Frankfurt am Main 1978, S.14.
Ebda., S.27.
Ebda., S.127.
Vgl. den Aphorismus »Zweierlei Kritik« aus der Dämmerung von Max Horkheimer.
Horkheimer: Die Aktualität Schopenhauers, in: Gesammelte Schriften, hg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, (= GS), Bd.7, Frankfurt am Main1985, S.122–142, S.139. Heute ist die Lage so verworren, dass jeder Widerstand gegen die deutsche Hegemonie in Europa als nationalistisch erscheint und gebrandmarkt wird.
Vgl. Bohleber, Werner: Reinheit, Einheit und Gewalt. Unbewusste Determinanten des Antisemitismus in Deutschland, in ders.: Was Psychoanalyse heute leistet, Stuttgart 2012, S.171–188. Vgl. auch Adorno: Meinung Wahn Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften Bd.8, Frankfurt am Main 1977, S.573–594, sowie Marc Schraven: »Die charakteristische Gestalt absurder Meinung«: Zur Nationalismuskritik von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, in: Ruschig, Ulrich/Schiller, Hans-Ernst (Hg.): Staat und Politik bei Horkheimer und Adorno, Baden-Baden 2014, S.191–208.
Vgl. Reinhard, Wolfgang: Geschichte der Staatsgewalt, München 1999, S.440ff.; Hobsbawm, Eric: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, München 1991, sowie Hirsch, Joachim: Materialistische Staatstheorie, Hamburg 2005.
Vgl. auch Ahlheim, Rose: Autoritarismus, Vorurteilsbereitschaft und familiale Sozialisation, in Ahlheim, Klaus (Hg.): Die Gewalt des Vorurteils, Schwalbach/Ts. 2007, S.89–106, sowie Gunzelin Schmid-Noerr: Zur kritischen Theorie des psychischen und politischen Autoritarismus, in: Ruschig/Schiller (Hg.) a.a.O., S.41–59.
O. Decker/K. Rothe/M. Weißmann/J. Kiess/E. Brähler: Economic Prosperity as ›Narcissistic Filling‹: A Missing Link Netween Political Attidues and Right-wing Authoritarianism, in: International Journal of Conflict and Violence (ijcv.org), Vol. 7 (1) 2013, pp. 135–149.
Vgl. Vf.: Ethische Grundlagen der Flüchtlingspolitik, in: Soziale Arbeit, hg. vom Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen (DZI), 2016, Heft 4, S.129–135
Vgl. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, a.a.O., S.47.
Horkheimer: Notizen 1949–1969, GS 6, S.189–425, S.295
Das reale Ich ist das an sich unbekannte Etwas, das wir dem unmittelbar erlebten Ich und allen Objekten des Bewusstseins (…) zu Grunde legen müssen. [Es ist] ein erstes psychisches Unbewusstes. Es gibt keinen Begriff des Psychischen und keine mögliche Definition der Psychologie, ohne das unbewusst Psychische. (…) unbewusste Vorstellungen (…) sind Momente in dem psychischen Erregungsprozess, dessen Endziel die bewussten Vorstellungen darstellen (…).
Theodor Lipps: Der Begriff des Unbewussten in der Psychologie (1897), S.242f., 245
Ernst Bloch ist chronologisch der Erste der in diesem Buch untersuchten Denker, der sich vor dem literarischen Publikum zu Freud geäußert hat. Sein erster Text mit Bemerkungen über Freud wurde 1919 veröffentlicht.1 Die Bemerkungen sind die Vorstufe einer ziemlich kurzen Passage aus der zweiten Ausgabe von Geist der Utopie. (1923) Freuds Begriff des Unbewussten hat hier die Funktion, Blochs eigenen Begriff des Noch-Nicht-Bewussten zu kontrastieren. In der ersten Ausgabe von Geist der Utopie (1918) kommt Freud nicht vor, so dass man – vergegenwärtigt man sich Blochs Praxis, so ziemlich alles, was ihm unterkommt, auch öffentlich zu verarbeiten – davon ausgehen kann, dass ihm Freuds Schriften bis dahin kaum oder gar nicht bekannt waren.
In Geist der Utopie bezieht sich Bloch auf Freud als Autorität in Sachen Traumdeutung. Er habe gezeigt, wie die manifesten Inhalte des Nacht- oder Schlaftraums »für einen vergessenen oder unerledigten oder vom moralischen Wachsein, Erwachsensein überhaupt nicht mehr bewußt zugelassenen Wunsch« stehen.2 Unbewusst sind also Wünsche oder Triebregungen, deren Ziel verdrängt werden musste. Die Triebkraft des Unbewussten ist »Geschlechtswillen« oder »Machtwillen«, jedenfalls ein ererbtes und kreatürliches Weltverhalten. Blochs Hinweis auf den »Willen zum Tod« zeigt, dass er die Schrift Jenseits des Lustprinzips von 1920, in der Freud den Todestrieb einführt, gekannt haben muss. Die neue Trieblehre Freuds kommt ihm insofern entgegen, als er bereits in der Erstauflage von Geist der Utopie und in der, noch während des 1. Weltkriegs veröffentlichten Schrift Vademecum für heutige Demokraten einen »Aggressivtrieb« zur Erklärung insbesondere des preußischen Militarismus herangezogen hatte.3 Die Kritik an Freuds denkbar knapp skizzierter Theorie konzentriert sich zunächst auf den Triebbegriff, ist aber auch verbunden mit einigen starken Worten gegen die Einzelwissenschaften, die im Hinblick auf die Freud’sche Psychoanalyse freilich nicht konkretisiert werden. Ferner verbindet sich mit der Kritik des Triebbegriffs noch die These, dass es einen Bereich des Noch-Nicht-Bewussten gäbe, der sich mit dem Freud’schen Begriff des verdrängten Nicht-Mehr-Bewussten nicht deckt.4
Was zunächst den Triebbegriff angeht, so setzt Bloch den kreatürlichen Trieben einen metaphysischen Trieb entgegen. Jene kreatürlichen Triebe seien »keine uns gemäße Kraft«;5 »die Instinkte des Geschlechts oder der Selbsterhaltung oder des Machtwillens bilden bloße Enklaven, bloße trübe (…) Vorspiele unseres ›echten‹, ›richtigen‹, ›menschenhaften‹, ›geistlichen‹ Willens und Instinkts.«6 Die kreatürlichen Triebe seien »bestenfalls Chiffer für das echte, eigentliche Wollen (…).«7
Dieses Wollen ist für Bloch zweifellos ein moralisches – »Moralisches«, so heißt es später im Prinzip Hoffnung, sei »das wichtigste Kennzeichen menschlichen Seins.«8 Das moralische Wollen hat zugleich jene triebhaften Züge, die dem Willen beim Schelling der Freiheitsschrift und in Schopenhauers Metaphysik eigen sind. Insbesondere bei Schopenhauer findet sich eine erkenntnistheoretische Reflexion, die den Willen als ein der Beschränktheit aller Objekterkenntnis enthobenes Prinzip auszeichnet: Willensakt und Wahrnehmung der Leibbewegung sind eins.9 Die Anknüpfung an Schelling und Schopenhauer kann man im Bloch’schen Werk bis auf die Dissertation von 1908 zurückführen. Der metaphysische Wille ist Statthalter der durch kein flaches Rationalisieren zu eskamotierenden Irrationalität des Seins, aber zugleich auch der Schlüssel, mit dem der Mensch einen Zugang zum Innern der Natur finden soll.10 Sofern der Wille ein solcher Weg ins Innere der Natur sein soll, wird die Erkenntnis als »motorisch« bezeichnet. Sofern die moralische Seite des metaphysischen Willens, seine Zielbestimmung, in Frage kommt, spricht Bloch von mystischer Erkenntnis.11
Was aber ist Gegenstand und Ziel dieses wahrhaft menschlichen, als moralisch geadelten Willens? Es ist die menschliche Seele und ihre Erkenntnis in der »Sphäre einer reinen Seelenwirklichkeit«.12 Im nächsten Schritt wird als Ziel des Verlangens die »Selbstbegegnung« etabliert, ein Begriff, der in Geist der Utopie (1918) so auffällig platziert ist, dass er praktisch als Untertitel des Buches genommen werden kann. »Wird aber nichts als die Seele gewollt, so enthüllt sich darin das Wollen selber. Das Treibende ist in seiner Tiefe zugleich der Inhalt, die einzige Anlangung, Deckung des Treibens.«13 Diese Denkfigur kehrt in der Formulierung des Problems einer »Realisierung des Realisierenden« wieder, die Blochs spätestem Werk zufolge erstes wie letztes Thema seiner Philosophie darstellt.14 Es kann das Erstaunen nur wenig vergrößern, wenn wir in Geist der Utopie erfahren, dass das in uns Treibende, Unbestimmte und Ungewordene, mit dem kommenden Gott selbst zu identifizieren sei.15 Die Willensmetaphysik bekennt sich hier, weit abgekommen von ihrem Ursprung bei Schelling und Schopenhauer, als eine Theurgie oder »weiße Magie« ein.16
Es ist natürlich leicht festzustellen, dass ein solches Gedankengebäude keinen argumentativen Wert besitzt, vielleicht auch überhaupt keinen philosophischen Status, sondern lediglich den Status einer Prophetie, die Glauben fordert. Mit Psychoanalyse hat es nichts zu tun. Dennoch sollten wir uns nicht zu früh abwenden und weiter nach einem Verständnis suchen, das uns zumindest den 2. Teil der Freud-Kritik, die Vernachlässigung des Noch-Nicht-Bewusstseins, etwas klarer zu fassen erlaubt. Das Noch-Nicht-Bewusste ist zuallererst ein Nicht-Bewusstes. Es ist kein Verdrängtes und auch kein einfach Vergessenes, sondern eines, das niemals bewusst gewesen ist. Sein Inhalt ist das Treibende in seiner Tiefe und dass dieser Inhalt hervorgebracht werden kann, dass er zukünftig bekannt sein wird, ist zunächst nur dadurch möglich, dass er gewollt wird. Aber gibt es hier überhaupt ein Problem? Gibt es diese Tiefe, diese Unbekanntheit, deren Offenbarung gewollt werden kann? Und ferner: Kann man die Offenbarung der Tiefe als moralisches Endziel setzen?
Auf die Frage, warum die Seele in ihrer treibenden Tiefe überhaupt ein Problem darstellt, gibt es eine klare und unverkennbare Antwort: Das »Dunkel des gelebten Augenblicks«.17 Es ist bemerkenswert, dass Bloch dieses Kernstück seiner Philosophie bereits als Dreiundzwanzigjähriger in der Rickert-Dissertation formuliert hat. Hier ist die Rede von der »Dunkelheit der gelebten Augenblicke«, von der »Finsternis des gelebten Augenblicks«.18 Dieses Dunkel hat erstens einen moralisch-existentiellen Aspekt, den man sich von Kierkegaard her verständlich machen kann: Es sei eine Folge der Erbsünde, »daß kein Mensch sich selber durchsichtig zu werden vermag.«19 Derart moralisch-religiös als sündhaft erkannt, ist das Dunkel – auch mit der Konnotation des Verschlossenen, ja Verstockten – ein zu Überwindendes. Das dürfte die Antwort darauf sein, warum die »Lichtung des Dunkels des subjektiv Wirklichen«20 überhaupt zum moralischen Ziel wird. Aber eben zu einem, das die Lösung der Welträtsel enthalten soll, denn »das Nichtwissen um uns ist der letzte Grund für die Erscheinung dieser Welt (…).«21
Nachdem die »Lichtung des Dunkels«22 zum höchsten ethischen Ziel ernannt worden ist – das Nichtseinwollen wie Gott ist die eigentliche Sünde – eröffnet sich für Bloch eine Möglichkeit, seine dogmatische Setzung einer »reinen Seelenwirklichkeit«23 – »Hier ruht ein Keim, der unzerstörbar ist, eben das verhüllte Ich (…)«24 – durch den Anschluss an die Kantische Denkform des ethischen Postulats plausibel zu machen. Nach Kant dürfen die Ideen Gott, Freiheit und unsterbliche Seele als »Postulate« (erforderte Hilfssätze) im Gefolge moralischer Selbstbestimmung als objektiv-real angenommen werden, was im Rahmen der theoretischen Vernunft allein niemals statthaft ist. Das ist der »Primat der praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der theoretischen«.25 Er lässt sich auf die Formel bringen, dass etwas ist, weil etwas anderes geschehen solle.26 Das Kantische Theorem ist mit schweren Problemen behaftet und die Bloch’sche Adaption desselben verstärkt diese Probleme noch. Die Lage ist einigermaßen verworren, aber in der Sekundärliteratur seit geraumer Zeit geklärt.27 An der Zentralstellung des Postulatbegriffs bei Bloch kann freilich kein Zweifel bestehen: »es gibt kein Gelten ohne ein, wenn auch noch so bedrohtes Sein (…).«28 Der »einzige Zweck des Philosophierens« sei »(…) das wünschende, fordernde Ich, die uneingesenkte Postulatswelt seines Apriori«.29Im geradezu hymnischen Schlussabschnitt von Geist der Utopie (1918 und 1923) erläutert Bloch seine Proklamation: »Die Hoffnung lässt uns nicht zuschanden werden«30 mit dem Rückgriff auf die Postulatenlehre: »dass wir selig werden, dass es das Himmelreich geben kann, dass sich der evident eingesehene Trauminhalt der menschlichen Seele auch setzt« sei »aus der Natur der Sache a priori postuliert (…).«31 Das ist bereits das »Prinzip Hoffnung«, noch ehe es zum Buchtitel wurde, und umgekehrt ist diese Formel eine Chiffre für das ethische Postulatsdenken, wenn irgend sie einen mehr als trivialen Sinn haben soll.
Der zweite Aspekt des »Dunkels des gelebten Augeblicks« ist der phänomenologische. Zwar sind die Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins von Edmund Husserl, dem Begründer der als »Phänomenologie« bekannten Schule, erst im Jahre 1927 herausgegeben worden. Bloch aber hat mit Sicherheit die umfangreichen Logischen Untersuchungen, erschienen 1901, und sicher auch die Ideen zu einer reinen Phänomenologie von 1913 gekannt. Durch seinen Philosophie-Lehrer im Studium an der Münchener Universität, Theodor Lipps, auf den er 1914 einen ehrenden Nachruf verfasst hat,32 wurde Bloch mit dem phänomenologischen Denken bekannt gemacht. (Übrigens fand Lipps im 4. Kapitel von Freuds Abriss der Psychoanalyse wie schon im 7. Kapitel der Traumdeutung lobende Erwähnung.) Blochs Stellung zu Husserl war von Beginn an respektvoll. Schon in der Dissertation war ihm eine »neuartige und revolutionärste Begründung« des Apriorismus zugesprochen worden.33 Husserl, so hieß es 1918 in Geist der Utopie, sei zwar inhaltlich arm und trocken, aber »außer Lask, der Einzige der Zeit, der wirklich selbständig gearbeitet hat (…).«34 Leider ist die Beziehung von Blochs »Dunkel des gelebten Augenblicks« zur Husserl’schen Phänomenologie nicht so detailliert erforscht wie das bei der Kantischen Postulatenlehre der Fall ist. Der Ansatzpunkt ist offenkundig Husserls Feststellung, dass das Wahrnehmen selbst nicht wahrgenommen werden kann,35 dass das »Ich bin«, das sich der Reflexion als Evidenz darbietet, begrifflich nicht vollkommen fassbar und ausdrückbar ist.36 Bloch fragt: »Wann lebt man eigentlich, wann ist man selber in der Gegend seiner Augenblicke bewußt anwesend? So eindringlich dies aber auch zu fühlen ist, es entgleitet immer wieder (…).« Neben dem Intentionsakt, nach Husserls Ausdruck die Noesis, ist aber auch der Erlebnisgegenstand, das Noema, im Augenblick umschattet: unaufhörlich »verändert sich der wollende, anschauende Blick, versinken seine angeschauten Inhalte, und ich kann bald auch das gerade Vorbei nicht mehr erlebend besitzen.«37 Bloch bezieht sich hier auf die phänomenologische Analyse des Zeitflusses, wie sie von Bergson vorbereitet und von Husserl ausgeführt wurde. So heißt es in Husserls Ideen: »(…) ein Erlebnis ist nicht, und niemals vollständig wahrgenommen, in seiner vollen Einheit ist es adäquat nicht fassbar. Es ist seinem Wesen nach ein Fluß, dem wir, den reflektierenden Blick darauf richtend, von dem Jetztpunkte aus nachschwimmen können, während die zurückliegenden Strecken für die Wahrnehmung verloren sind. Nur in Form der Retention [Zurückbehaltung, primäre Erinnerung/HES] haben wir ein Bewusstsein des unmittelbar Abgeschlossenen, bzw. in Form der rückblickenden Wiedererinnerung. Und schließlich ist mein ganzer Erlebnisstrom eine Einheit des Erlebnisses, von der prinzipiell eine vollständig ›mitschwimmende‹ Wahrnehmungserfassung unmöglich ist.«38
Auch bei Husserl besitzt der Erlebnisstrom ein antizipierendes Moment: das Bewusstsein eines Nachher, eine »Protention« oder Erwartung. Dieses Noch-Nicht ist ein »stetig neues« Jetzt,39 aber das bedeutet nicht, dass in concreto nicht neue Inhalte aufdämmern können: »Das frühere cogito ›klingt ab‹, sinkt ins ›Dunkel‹, es hat aber noch immer ein, wenn schon modifiziertes Erlebnisdasein. Ebenso drängen sich cogitationes im Erlebnishintergrunde empor, bald erinnerungsmäßig oder neutral modifizierte, bald auch unmodifizierte. Z. B. ein Glaube, ein wirklicher Glaube ›regt‹ sich; wir glauben schon, ›ehe wir es wissen‹. Ebenso sind unter Umständen Gefallens- oder Mißfallenssetzungen, Begehrungen, auch Entschlüsse bereits lebendig, ehe wir ›in‹ ihnen ›leben‹, ehe wir das eigentliche cogito vollziehen, ehe das Ich urteilend, gefallend, begehrend, wollend ›sich betätigt›.«40
Was das Bloch’sche Noch-Nicht des Bewusstseins vom Husserlschen prinzipiell unterscheidet, ist natürlich seine Beziehung auf jenes Noch-Nicht der »Lichtung des Augenblicks«. Das, was Husserl als unvermeidlich analysiert, das Dunkle, darf nicht sein, soll nicht sein. In dieser Perspektive gilt: »Die Selbstanschauung des Ich ist (…) nur deshalb ein Problem überhaupt, weil bis zur Stunde (…) noch kein sich-vor-sich-selbst-Stellen, sich-über-sich-hinaus-Drehen, sich selbst Begegnen und totaleres Reflektieren irgend eines gelebten Augenblicks gelang; noch keine Konzentrierung des bloßen halben Bewusstseins zum identischen Selbersein (…).«41Dieses Noch-Nicht des Bewusstseins wäre nicht nur ein relativ Neues wie das, was sich im Husserlschen Bewusstsein regt, bevor wir es wissen; noch wäre es gar das uneigentliche, abstrakte Neue des »immer wieder Jetzt«, sondern es stellt »das Problem des radikal Neuen«.42 In dieser Perspektive verliert der Begriff des Flusses seine Selbstverständlichkeit. Im Erleben gibt es vielmehr auch die großen Augenblicke, die symbolisch auf die letzte Identität vordeuten, vornehmlich im Erlebnis der Kunst und vor allem auch der Musik; und es gibt die entsetzlichen Augenblicke, den inneren Absturz, das Erschrecken im Innewerden. Solche Augenblicke entspringen dem Fluss, in dem sie stehen und sind unvergesslich.43
Schließlich wäre die Vergegenwärtigung von Blochs Beziehung auf Husserl unvollständig, wenn wir nicht ihre ethische Dimension erwähnen würden. In der Phänomenologie wirkten »stärker als es der Husserlschule bewußt ist, vorschreibende Kräfte (…).«44 Es gäbe eine »Beziehung der Phänomenologie zum Eingedenken, dem Gesolltsein, den ethisch-ontologischen Begriffen«45, die sie, Bloch zufolge, in nächste Nähe zur Kantischen Postulatenlehre bringt. Gedacht ist an einen »zuhöchst wesentlichen Gebrauch der phänomenologischen Methode«, nämlich eine »postulierte (…) Realsetzung als notwendig erkannter Definitionen, bei denen sich der nervus probandi zugleich als der nervus essendi herausstellt; das Esse gemäß der recht verstandenen Kritik der praktischen Vernunft (…) genommen.«46 Besondere Kandidaten einer solchen Realsetzung sind die moralisch-emotionalen Begriffe: »Sobald man sich bereits nur den Begriff der Demut oder der Güte oder der Liebe oder des Seelenvollen oder des Geistes entwickelt und definiert, gilt der Bestand zugleich schon in seiner ganzen unausweichlich ergreifenden, zur Realisation rufenden Tiefe. Jeder moralischmetaphysische Expressionsgegenstand ist so zugleich die Realität, die noch nicht voll erreichte, jedoch uns bereits fordernde, essentielle, utopische, schließlich allein ›reale‹ Realität.«47
Es dürfte kaum einen anderen Gedankengang geben, auf den Freuds polemische Kennzeichnung der Philosophie als eines magischen Denkens mit mehr Recht angewendet werden könnte als diese »postulierte Realsetzung«.48 Löst man den Bloch’schen Begriff des Noch-Nicht des Bewusstseins aus dem idealistischen, utopisch-religiösen Kontext, in dem er entstanden ist, so erhält er einen legitimierbaren Sinn, der freilich, wie wir noch sehen werden, mit bestimmten Überlegungen Freuds zur Produktivität des Unbewussten korrespondiert. Das Noch-Nicht-Bewusste ist »ein Dämmern, ein inneres Hellwerden«, ein Ahnen und Streben aus dem Dunklen ins Helle. Es sei besonders in der schöpferischen Arbeit anzutreffen49, wobei wir nicht nur an die geistige Arbeit, sondern auch an die materielle Arbeit zu denken haben, in der sich die Menschen die Umwelt ihres Lebens schaffen. Hier ist ein Noch-Nicht des Bewusstseins, das sich vom Husserlschen »Glauben« deutlich unterscheidet, eben als Entwurf, als ein zu Verwirklichendes. Das Noch-Nicht-Bewusste ist das, was einem »vorschwebt«, nicht gänzlich unbestimmt, sondern der Bestimmung, also bewusster Deutlichkeit, fähig.
Der Begriff des Noch-Nicht-Bewussten muss also aus dem Kontext bloßen Beobachtens in den praktischen Zusammenhang des Verwirklichens von Entwürfen gestellt werden, deren Produzieren und Konkretisieren, für jedermann nachvollziehbar, in der Tat als ein wachsendes Hell- und Klarwerden erlebt werden kann. Bloch weist zu Recht darauf hin, dass Noch-Nicht-Bewusstes im Sinne des noch nicht realisierten Neuen besonders in der Jugend gefühlt wird – als ein Vorgefühl unserer Fähigkeiten, als Suchen nach unserer »Bestimmung«.50 Aber die Betonung des Noch-Nicht des Bewusstseins, prozessual verstanden, ist darüber hinaus eine Frage der Anthropologie, d.h. des Konzepts von menschlicher Existenz. So gesehen, ist das Bloch’sche Noch-Nicht nicht nur eine Ergänzung zum Freud’schen Nicht-Mehr-Bewussten, das ja nicht geleugnet wird, sondern eine grundsätzlich andere Sicht des Menschen. Nicht nur soll, wo Es war, Ich werden, wie das berühmte Diktum aus der 31. Vorlesung Freuds besagt, sondern der Mensch wird als Wesen verstanden, das zu produktiver Selbstbestimmung fähig und berufen ist. Die Freud’sche Perspektive der Auflösung von Verdrängungen ist keineswegs nutzlos oder überflüssig, denn ohne Anerkennung der Realität wie sie ist, kann es auch keine Veränderung geben; aber sie muss der Produktivität des Individuums Raum schaffen, wenn sie nicht zum bloßen Instrument der Anpassung werden soll.
Wenn wir die Erörterungen zum Bloch’schen Frühwerk Revue passieren lassen, so fällt der unterschiedliche Ansatzpunkt ins Auge: Für Freud besteht er in der leidvollen Erfahrung eines neurotischen Symptoms oder der befremdlichen Irrationalität der nächtlichen Träume. Für Bloch ist der Ansatzpunkt die mit dem Dunkel des gelebten Augenblicks bezeichnete Irrationalität, Begreifbarkeitsschranke des Erlebens. Weil die beiden Sphären, die der Traumdeutung bzw. der therapeutischen Analyse und die Sphäre der utopischen, metaphysisch-religiösen Philosophie so unterschiedlich sind, wird eine wichtige Gemeinsamkeit von Bloch und Freud leicht übersehen. Sowohl das Verdrängte Freuds als auch das Noch-Nicht-Bewusste Blochs sind Vorstellungen, die noch keine Verbindung mit der Sprache haben. Sie sind – im Freud’schen Sinne: für den assoziierenden Patienten, im Bloch’schen Sinne: für die das menschliche Gesicht suchende Menschheit – Vorstellungen ohne Namen. Wenngleich sich Blochs Suche nach dem »Lösewort«51 auf die Frage nach uns sowie die Fassung seines Problems des Noch-Nicht als »Ernennung Gottes« oder »Heiligung des Namens«52 in einer ganz anderen Sphäre bewegt, gilt doch auch für ihn, was für Freud gilt: »(…) die bewusste Vorstellung umfasst die Sachvorstellung plus der zugehörigen Wortvorstellung, die unbewußte ist die Sachvorstellung allein.«53
Blochs zweite, erheblich umfangreichere Einlassung zu Freud findet sich in Das Prinzip Hoffnung. Genau betrachtet, ist Freud der Hauptautor, dem gegenüber Bloch auf den ersten 80 Seiten der »Grundlegung« seine Konzeption profiliert. Die Auseinandersetzung mit Freud ist eingebettet in eine Begriffsentwicklung, die über das anfängliche Thelema, das Willenshafte des drängenden »Dass«, die Affektenlehre und das Noch-Nicht-Bewusste zum Praxiskonzept und den ontologischen Korrelatbegriffen der Bloch’schen Hoffnung führt, vor allem zu dem der realen Möglichkeit. Bloch setzt nun nicht mehr auf eine transzendente Seelenwirklichkeit und die Ernennung Gottes, sondern auf einen Materiebegriff, der qualitative und subjekthafte Züge in sich aufgenommen hat, und die Bloch’sche Utopie mit dem Marx’schen Materialismus kompatibel machen soll. Die Utopie aber trägt nach wie vor jene religiösen, eschatologischen Züge, die das Frühwerk unverhüllt zur Darstellung brachte. Es geht um absolute Identität, Manifestation (Offenbarung) des innersten Subjektkerns, und damit um die Überwindung des Todes.
Der Einsatzpunkt für die Freud’sche Theorie ist erneut die Trieblehre. Schon der erste Satz macht freilich klar, dass wir nicht durchweg mit einer differenzierten Analyse, sondern auch mit Vorurteilen und Vorführungen zu rechnen haben: »Freud setzt, wie bekannt, den geschlechtlichen Trieb als ersten und stärksten.«54 Das ist nicht einfach falsch, aber tendenziös und einseitig. Freud hat nie geleugnet, dass es außer den Sexualtrieben noch eine andere Art von Trieben gibt, die er noch in den Vorlesungen (1916/17) als Ichtriebe bezeichnet hat: »Die Psychoanalyse hat nie vergessen, dass es auch nicht sexuelle Triebkräfte gibt, sie hat auf der scharfen Sonderung der sexuellen Trieb von den Ichtrieben aufgebaut und vor jedem Einspruch behauptet, nicht dass die Neurosen aus der Sexualität hervorgehen, sondern dass sie dem Konflikt zwischen Ich und Sexualität ihren Ursprung verdanken.«55 Natürlich ist für Freud die Sexualität im weitesten Sinne, als Inbegriff der dem Lustprinzip verschriebenen Triebe, ontogenetisch (individualgeschichtlich) primär – und wo er dem Lustprinzip auch phylogenetisch (gattungsgeschichtlich) den Vorrang vor dem Realitätsprinzip zuspricht, sind seine Äußerungen tatsächlich höchst problematisch56 –, aber dem Ich, das die Realität prüft und auf sie einwirkt, kann keine geringe Kraft zugesprochen werden, wenn es die Sexualtriebe zum Kompromiss zwingen kann. Die Kräfte der Einwirkung des Ichs auf den Trieb, der befriedigt werden will, sieht Bloch im Über-Ich57, das sich wiederum allein aus der Libido speise. Beides ist falsch und wird von Freud so nicht behauptet. Vielmehr verdankt sich das Über-Ich auch einer Umkehrung (Verinnerlichung) der Aggression, die sich gegen die verbietende Instanz (ursprünglich die Eltern) richtet, ferner der »sozialen Angst«58 vor Bestrafung und Isolation, die eine Form der Realangst ist, »Angst vor bestimmten äußeren Gefahrensituationen.«59
Keines dieser Konzepte wird von Bloch einer näheren Betrachtung gewürdigt. Stattdessen behauptet er, dass das »objektiv Angsterregende« bei Freud »ausgelassen«60 werde. Vermutungen von Freud aus Das Ich und das Es, in denen er die Todesangst aus der Aufgabe (im Sinne des Aufhörens) der libidinösen Besetzung des Ich für erklärbar hält, kommentiert Bloch mit den Worten: »Libido freilich wieder, nichts als Libido die ganze Zeit (und damit das Freud’sche, das nicht bleibt, es lässt sich schon sagen: nicht blieb) und mit der Libido lauter Psychologismus wieder, ohne soziale Umwelt.«61 Die Bloch’sche Strategie, Freud auf Sexualität oder »Libido« als Grundtrieb festzulegen, macht auch vor dem Todestrieb nicht Halt. Er wird in ein paar Sätzen abgetan. »Daß aber auch der Todestrieb libidinös ist, darauf soll die durchgängig Verbindung von Grausamkeit mit sexueller Lust, vor allem auch das Gefühl des Liebestods hinweisen. Der Kern jedenfalls ist und bleibt hier geschlechtlich, von daher wird sein Mensch bewegt.«62 Auch diese Behauptung ist nicht falsch, ohne jedoch wahr zu sein. Der Todestrieb ist uns nach Freud immer nur in einer Legierung mit dem Eros zugänglich, wie auch das Beispiel des Gewissens zeigt. Dies liegt aber vor allem daran, dass der Destruktionstrieb uns nur zugänglich wird, wenn er nach außen gerichtet wird, eben als Aggressionstrieb. Die Verinnerlichung der Aggression ist demgegenüber bereits ein tertiärer Vorgang. Der eigentliche Todestrieb, dessen Problematik niemand verkennen kann,63 der aber bei Bloch auf eine – verglichen mit der Häme über die »Gespenster« von Penisneid, Kastrations- und Ödipuskomplex »und was mehr«64 – eher milde Reaktion trifft, ist als solcher tatsächlich nicht fassbar, weil es kein Organ gibt, das als seine Quelle gelten könnte. Freud hat denn auch Schwierigkeiten, eine der Libido analoge Triebenergie für den Todestrieb auszuweisen; der Ausdruck »Destrudo« stammt von Edoardo Weiß und findet sich, so weit ich sehe, bei Freud nicht.65 Wenn sich auch die Durchführung des Dualismus von Eros und Thanatos – wie auch die des abgeleiteten Dualismus von Eros und Aggression – als schwierig und letztlich unmöglich erweist, so ist es doch nicht statthaft, die Intention Freuds zu verkennen oder einfach zu verleugnen. Er ist auf allen Stufen seiner Triebtheorie um eine dualistische Konzeption bemüht.