Hegels objektive Vernunft - Hans-Ernst Schiller - E-Book

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Hans-Ernst Schiller

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Beschreibung

Hegel erhebt den Anspruch, in seiner Konzeption der Vernunft subjektives Denken und soziale Wirklichkeit versöhnt zu haben. Kritische Theorie weist diesen Anspruch ab, knüpft jedoch an den Begriff der objektiven Vernunft an, um ihm eine nicht-metaphysische Form zu geben. In dieser Perspektive prüft Schiller zentrale Begriffe von Hegels Logik und seiner Rechtsphilosophie auf ihre Aktualität und verfolgt die kritische Transformation des Begriffs objektiver Vernunft bei Marx und Adorno. Obwohl Hegel die politischen Kompromissgebilde seiner Zeit zum Abbild der ewigen Vernunft verklärte, gelangen ihm tiefe Einblicke in die Widersprüche der modernen Welt, die auch heute noch verstörend und erhellend sind.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Hans-Ernst Schiller

Hegels objektive Vernunft

Kritik der Versöhnung

© 2020 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH · Hamburg

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www. geisterwort.de

E-Book: Zeilenwert GmbH · Rudolstadt

ISBN 978-3-86674-774-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorrede

1.Kapitel Hüllenlose Wahrheit. Logik und Metaphysik

1.Objektive Gedanken

2.Vernunft, Verstand, Wirklichkeit

3.Identität von Denken und Sein

4.Hegel und der Gott des Aristoteles

5.Begreifen und Herrschen

6.Standpunkt und Leiter: der Anfang der Phänomenologie

7.Absolutes Wissen und Anfang der Logik

8.Fortgang und Methode. Kritik der Aufhebung

9.Identität und Widerspruch

10.Bruchlinien: Verschiedenheit, Erscheinung, reale Möglichkeit

11.Die Selbstbestimmung des Begriffs

12.Arbeit und Leben: die Vernunft der Selbsterhaltung

13.Die Unmittelbarkeit der Vermittlung als Herz der Methode

2.Kapitel Abbild der ewigen Vernunft. Staat und Gesellschaft

1.Freiheit als Identität

2.Objektiver Geist und Doppelcharakter der Sitte

3.Einheit, Selbstzweck, Opfer

4.Logik und Rechtsphilosophie: Theorie der Gewaltenteilung

5.Erste Natur

6.Das Recht des besonderen Subjekts, Menschenrechte

7.Kritik des Subjektivismus, Stellung zur Moral

8.Bürgerliche Gesellschaft und geistiges Tierreich

9.Invisible handund soziale Rechte

10.Arbeit des Körpers und des Geistes, Wertbegriff

11.Rechtsphilosophie und Politik: Karlsbad und englische Reformbill

12.Das Hegel-Paradox

3.Kapitel Marx und Adorno: objektive Vernunft in kritischer Theorie

1.Erzwungene Identität und reales Getrenntsein beim jungen Marx

2.Objektive Gedankenformen und materialistische Dialektik im Kapital

3.Totale Vergesellschaftung und Kritik des Identitätszwangs bei Adorno

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Vorrede

In der Einleitung zur Enzyklopädie hat Hegel »die Versöhnung der selbstbewußten Vernunft mit der seienden Vernunft« als den Endzweck der Wissenschaft angegeben.1 Für »seiende« Vernunft können wir, wie Hegel selbst gelegentlich, auch »objektive Vernunft« sagen.2 Versöhnung setzt Entzweiung und Kampf voraus und stellt, vertieft und auf höherer Stufe, eine anfängliche Übereinstimmung wieder her. Sie wird von Hegel als Eins-Sein, als Identität gefasst. Dass Versöhnung das Ziel ist, hat auch die Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts bekräftigt: »Die Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen und damit ihrer sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit, welche die Philosophie denen gewährt, an die einmal die Aufforderung ergangen ist, zu begreifen«.3

Das Verhältnis von subjektiver und objektiver Vernunft steht auch im Zentrum von Horkheimers Vorträgen über die Verfinsterung der Vernunft (Eclipse of Reason [1947]). Der deutsche Titel von 1967 – Zur Kritik der instrumentellen Vernunft – legt den Akzent auf die praktische Seite der subjektiven Vernunft in der Form, in der sie sich in der modernen Gesellschaft verselbständigt hat. Ihre theoretische Seite ist formalistisch, klassifizierend und berechnend. Für Horkheimer ist subjektive Vernunft die Vernunft der Selbsterhaltung und des Nutzens. Sie ist die Rationalität der Verfahren und der Mittel (Effektivität und Sparsamkeit) zu äußerlichen Zwecken, die als gegeben hingenommen werden. Objektive Vernunft hingegen ist etwas Allgemeines und nicht Hergestelltes, das in der Struktur der natürlichen Dinge und in den sozialen Institutionen dem begrifflichen Denken entgegenkommt und zur Bestimmung materialer Zwecke dienen kann. Die ihr entsprechende Haltung, die in der traditionellen Metaphysik ausgebildet wurde, zielt darauf ab, die Gegenstände selbst zur Sprache zu bringen. Auch Horkheimer bestimmt die Aufgabe der Philosophie durch die Versöhnung von subjektiver und objektiver Vernunft. Die Aufgabe soll darin bestehen, im Denken die Versöhnung in der Wirklichkeit vorzubereiten.4

Das impliziert, dass die Versöhnung noch nicht geschehen ist. Philosophie, die behauptet, sie in der Erkenntnis des Wirklichen erlangen zu können, operiert demnach mit falschen Begriffen oder zumindest mit solchen, die eine unvernünftige Form besitzen. Sie sind unfähig, die Gestalt der Rationalität zu erfassen, die »gegenwärtiger industrieller Kultur zugrunde liegt.«5 Nach Horkheimer hat sich die subjektive Vernunft, die ein legitimes Element einer umfassenden Vernunftkonzeption darstellen würde, verselbständigt und ist zum Automatismus der Erhaltung ihres Subjekts geworden. Leider hat Horkheimer das Subjekt dieser Verselbständigung (vielleicht, weil es ihm nicht opportun erschien) nicht so exponiert, wie es ihm zweifellos möglich gewesen wäre. Es handelt sich um das Kapital, das sich um des Profits willen die irdische Natur bis in die letzten Winkel des Planeten und die innersten Strukturen der Materie zu unterwerfen trachtet, indem es die Menschen unter die Imperative seiner Verwertung, des ökonomischen »Wachstums«, zwingt. Was Horkheimer als isolierte subjektive Vernunft kritisiert, betätigt sich direkt oder indirekt im Dienst jenes verselbständigten Subjekts, das sich »automatisch«, d. h. über die Köpfe der Handelnden hinweg, erhält und durch Krisen und Kriege hindurch vermehrt.

Weil die Versöhnung nicht so gedacht werden kann, wie sie bei Hegel unter dem Primat der Identität gedacht wird, und weil sie nicht wirklich ist, ist Kritik die angemessene Form der Philosophie wie der Theorie überhaupt. Sie ist kritische Theorie in dem Sinn, den sie in Marx’ Kritik der politischen Ökonomie erhalten hat. Auf sie haben sich Horkheimer und Adorno, trotz der insgesamt auffälligen Zurückhaltung in der Nennung von Marx, unverkennbar und auch ausdrücklich berufen.6 Adorno bezieht sich auf »eine Lehre von der Gesellschaft (…), die sich als objektiv verstand, den objektiven Bewegungsgesetzen der Gesellschaft nachfragte und eine richtige Gesellschaft dachte, eine, in der objektive Vernunft realisiert, die Illogizität der Geschichte, ihre blinden Widersprüche beseitigt wären.«7 Der Name von Marx wird hier nicht genannt, aber es ist schwer bestreitbar, dass von ihm die Rede ist. Marx’ Kritik ist die erste und grundlegende Gestalt einer nichtmetaphysischen Theorie objektiver Vernunft.8

Objektive Vernunft hatte ihre traditionelle Theorie in der Metaphysik gefunden. Ihr zufolge ist die soziale Welt in eine ewige Seinsordnung eingebettet, die nach den Maßen menschlicher Vernunft und Erfahrung, also tatsächlich projektiv, zu erkennen sei. Diese Voraussetzungen sind zwangsläufig ideologisch und folgen einer Vernunft, die durch soziale Herrschaft bestimmt ist. Von der Allianz mit Unterwerfung und Herrschaft muss die Vernunft durch ihre eigene Reflexion befreit werden. Horkheimer hält, wie Adorno, eine vom »Vorrang des Objekts«9 bestimmte Erkenntnishaltung für möglich, die sich nicht, wie es auch bei Hegel der Fall ist, einer ewigen Seinsordnung verschreibt und damit ideologisch wird. Geschichte ist offen insofern, als der Sinn, den sie als fortschreitende Befreiung aus der Befangenheit in der ursprünglichen Natur haben kann, der einer »Befriedung des Daseins«,10 noch realisiert werden muss.

Unter nichtmetaphysischen Voraussetzungen muss auch der Begriff Versöhnung sich ändern. Der Trost über die Leiden der Geschichte, in der Hegel die »Schlachtbank« der Völker erblickte,11 war in seiner Philosophie an die Religion delegiert. Aber der Traum, der dort geträumt wird – dass die Leiden der Geschichte ungeschehen gemacht werden könnten, die Tränen abgewischt, wie es bei Jesaja heißt – ist, so wenig er vergessen werden darf, eben doch nicht mehr als ein Traum. In dem noch vertretbaren Sinn, in dem Versöhnung unter materialistischen Prämissen gedacht werden kann, können auch die Gegensätze und Widersprüche, denen das menschliche Leben unterliegt, nicht völlig überwunden werden. Die Utopie wird vielmehr zentriert um die Beseitigung des Klassengegensatzes und der Naturzerstörung. Ihr Gehalt besteht in der Vorstellung, die Menschheit könne Vernunft, das Interesse der Allgemeinheit, in sozialer Demokratie bewusst verwirklichen, ohne zu den anderen Tieren sich feindlich zu verhalten. In diesem Sinn mag mit Friedrich Engels von der »Versöhnung der Menschheit mit der Natur und mit sich selbst« gesprochen werden.12

Kritische Theorie kann an Hegels konservative Haltung zur metaphysischen Tradition der objektiven Vernunft anknüpfen, um sie unter nichtmetaphysischen Prämissen fruchtbar zu machen. Indem Hegel jene Tradition mit der neuzeitlichen Emanzipation der subjektiven Vernunft in Gestalt der Ansprüche der Selbstgewissheit verband, hat er dem Verständnis der modernen Wirklichkeit wichtige Erkenntnismittel an die Hand gegeben. Die Thematisierung der allgemeinsten Begriffe, der Kategorien und ihres Zusammenhangs in der Wissenschaft der Logik, zählt zu den Verdiensten Hegels, die Bestand haben können, auch wenn der systemische Anspruch auf einen immanent gestaltenden Fortgang zerfällt. Entscheidend ist die Einbeziehung der Reflexionsbegriffe (Unmittelbarkeit und Vermittlung, Setzen und Voraussetzen, Identität und Unterschied, Gegensatz und Widerspruch) in die Totalität der objektiven Gedanken als der Darstellung des Absoluten, wodurch sich auf Ebene der Logik die Versöhnung von subjektiver und objektiver Vernunft vollziehen soll. Kritik der Versöhnung bedeutet auf der Ebene der Logik zentral die Kritik am Begriff des Widerspruchs und seiner Aufhebung, welche durch die Unmittelbarkeit der die Gegensätze verbindenden Vermittlung, d. h. durch die Identifikation von Unmittelbarkeit und Vermittlung vollzogen wird.

Die für Logik und Rechtsphilosophie leitende Überzeugung, der Endzweck der Geschichte sei im Wesentlichen erreicht, befähigt Hegel paradoxerweise zu einer scharfsinnigen Kritik jener politischen und sozialen Tendenzen, die über den Zustand seiner Zeit hinausgehen wollen oder hinausweisen und die für unsere moderne Wirklichkeit bestimmend geworden sind. An den Aufweis der sozialen Gegensätze konnte Marx unmittelbar anknüpfen, die Kritik der Verselbständigung subjektiver Vernunft, insbesondere an moralischer Aufspreizung und am logischen Formalismus, ist bei Hegel vielfach geleistet und kann aus dem Zusammenhang des Dogmas der Versöhnung und Identität befreit werden. Aber seine apologetische Haltung zur Wirklichkeit seiner Gegenwart verurteilt ihn nicht nur in manchen Zügen zum Veralten, hatte doch die Entfaltung der kapitalistischen Welt noch längst nicht alle ihre Potentiale verwirklicht; die Apologie hat ihn auch unfähig gemacht, die Lösung der dringendsten Widersprüche ins Auge zu fassen, die für seine Schüler unabweisbar wurde und die in der heutigen Weltgesellschaft an Dringlichkeit eher gewonnen hat. Weil Subjekt von Arbeit und Geschichte für Hegel der Geist ist, nicht die in Natur verflochtenen Menschen, die selber Naturwesen sind, lässt sich von seiner Philosophie aus auch die ökologische Problematik, anders als auf marxscher Basis, nicht in den Blick bekommen. Eine objektiv-vernünftige Haltung zur Natur, die mimetische und ästhetische Momente integriert, ist aber notwendig, um den »Krieg gegen die Natur«,13 der auf die Menschheit zurückschlägt und den sie nicht gewinnen kann, zu beenden.

Als Herbert Marcuse an seinem zweiten Hegel-Buch unter dem Titel Vernunft und Revolution (erschienen 1941) schrieb, war die internationale geistige Atmosphäre vom Faschismus und dem Kampf gegen ihn bestimmt. Es war notwendig, faschistischen Vereinnahmungen der hegelschen Philosophie entgegenzutreten, aber auch den kritischen Interpretationen, die Hegel zu einem Ahnherrn des Faschismus glaubten machen zu können.14 Die Aufgabe bestand vor allem darin zu zeigen, dass die Anerkennung der Französischen Revolution das Fundament der hegelschen Philosophie gelegt hat und nicht revoziert worden ist. Nach dem zweiten Weltkrieg haben sich etliche Autoren, auch im englischen Sprachraum, dieser Aufgabe unterzogen. Eine solche Herausstellung der rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Züge bei Hegel bleibt wesentlicher Bestandteil jeder adäquaten Vergegenwärtigung seines Denkens.

Heute jedoch hat sich die Situation im Vergleich zu jener in der Mitte des 20. Jahrhunderts beinahe vollständig geändert. Die intensive und breite Hegel- Rezeption, die auch im Zusammenhang mit der Herausgabe der Gesammelten Werke zu sehen ist, hat die inadäquaten Vorwürfe um den Kredit gebracht und mehr oder weniger, wie mir scheint, verstummen lassen. Stattdessen wird Hegel bisweilen derart umfassend verteidigt, dass man von einem neuen Hegelianismus sprechen kann. Der Berliner Kollege nimmt die Züge eines harmlosen Staatsonkels an, der genau das logisch begründet hat, was wir seit ein paar Jahrzehnten politisch tatsächlich praktizieren. Wer, wie Klaus Vieweg, Hegel als Philosophen der Freiheit plakatiert, verdeckt das Problematische im hegelschen Freiheitsbegriff, seine Zentrierung um Identität. Hegels politische Philosophie stellt ein Kompromissgebilde zwischen feudalistischem Erbe und bürgerlicher Moderne dar, wobei sie Freiheit, verglichen mit dem, was in verschiedenen Ländern damals an freiheitlichen Institutionen bereits verwirklicht war, noch einmal restringiert. (Pressefreiheit, Verfassungsgesetz, Wahlrecht, Budgetsouveränität des Parlaments) Der Wille zur Hegel-Apologie – im unentbehrlichen Handbuch von Walter Jaeschke erstreckt er sich auf die Legitimation der Erbmonarchie15 – läuft wohl zwangsläufig darauf hinaus, Hegels apologetisches Verhalten zur deutschen Wirklichkeit seiner Zeit zu verteidigen und diese Haltung für die Gegenwart um Vorbild zu machen.

Die nachfolgenden Seiten versuchen, die beiden Extreme unsachgemäßer Verurteilung und historisch blinder Apologie zu vermeiden. Sie beschäftigen sich mit Grundpositionen der hegelschen Logik im ersten Kapitel und mit der Rechtsphilosophie im zweiten und versuchen, die Gegenwartsbedeutung Hegels zu erkennen. Aktualisierung ist aber ohne Kritik nicht möglich; sie kann nicht darin bestehen, Hegel so zu interpretieren, dass er in die jeweilige Gegenwart passt und sie rechtfertigt, sondern nur darin, die Fremdheit Hegels, den Abstand, der uns von ihm trennt, zum Ausgangspunkt einer kritischen Selbstreflexion der eigenen Gegenwart zu machen. Ein solches Unternehmen, hier am Konzept der objektiven Vernunft versucht, kann ohne seine wesentlichen Weiterentwicklungen, die in Bezug auf Hegel zu dessen Nachgeschichte gehören, nicht gelingen. Deshalb wird in einem dritten Kapitel an die beiden wesentlichen Theorien, die aus der Auseinandersetzung mit der hegelschen Philosophie hervorgegangen sind: die marxsche kritische Theorie und die der Frankfurter Schule erinnert.

Die Theorie der Gesellschaft ist bei Marx und Engels aus der Kritik von Hegels metaphysischer Form der objektiven Vernunft und ihrem Wirken in der Rechtsphilosophie hervorgegangen. Dabei werden neue historische Erfahrungen, auch die des politischen Kampfes um die Befreiung der Arbeiterklasse, im Medium der Theoriegeschichte artikuliert. Die neue, kritische Theorie analysiert die Widersprüche der modernen Gesellschaft nicht als »Abbild der ewigen Vernunft«,16 sondern als historisch bedingte und aufzulösende. Diese praktische Perspektive einer Umwälzung der Produktionsverhältnisse ist wesentlich, aber sie entscheidet nicht über den Wahrheitsgehalt der Theorie. Die Frage nach der Existenz oder Objektivität der Vernunft ist weiterhin leitend, denn das theoretische Problem besteht darin, wie sich das Ganze einer Gesellschaft von Privateigentümern und Privatproduzenten, die nur ihr eigenes Interesse verfolgen, zu reproduzieren vermag. Im Zentrum dieser Theorie stehen objektive Gedankenformen oder Kategorien wie Wert, Geld, Kapital und Arbeitslohn. Sie sind keine Tatsachen des Bewusstseins, sondern »Daseinsformen, Existenzbestimmungen (…) dieser bestimmten Gesellschaft«,17 integraler Bestandteil von Praxisformen (Waren tauschen, gegen Lohn arbeiten, Geld machen) eines gesellschaftlichen Ganzen, das den Einzelnen vorausgesetzt ist und ihnen undurchschaubar bleibt. Weil diese Kategorien auf blinde Weise widersprüchlich und fetischistisch sind, muss die Form, in der die Vernunft in einer Gesellschaft von Privateigentümern existiert, als unvernünftig gelten. »Die Vernunft hat immer existiert, nur nicht immer in der vernünftigen Form.«18

Mit der Frankfurter Schule ist eine neue, bis heute nicht überholte Reflexionsstufe kritischer Theorie erreicht worden, die sich aus vier Erfahrungen speist: dem Scheitern der revolutionären Arbeiterbewegung (in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, ratifiziert durch den stalinistischen Terror), dem Judenhass und seiner Mündung in den Völkermord (in dem sich der totalitäre Staatskapitalismus manifestiert), der Verdichtung des durch die Warenproduktion gestifteten gesellschaftlichen Zusammenhangs (der nicht zuletzt in der Kulturindustrie deutlich wird), und dem Fortschritt des Krieges gegen die Natur, der in unserer Gegenwart ungeahnte Erfolge der Sturheit und Zerrstörung feiert. Der Gesichtspunkt der objektiven Vernunft wird festgehalten im Anschluss an die Gesellschaftstheorie von Marx, aber auch in der Reflexion auf materiale Zwecke, auf das Leiden der Tiere und auf die Notwendigkeit einer Sprache, die Empfangenes ausdrückt, statt bloß zu bezeichnen. Am Beispiel Adornos19 kann studiert werden, dass Gesellschaftstheorie – in Weiterentwicklung der marxschen Ergebnisse – und Erkenntnistheorie eng miteinander verzahnt sind. Identitätszwang im Denken, Herrschaft und Wertabstraktion im Alltagshandeln bilden einen Zusammenhang, den es in seiner Komplexität und Entwicklung zu begreifen und zu kritisieren gilt. Die Objektivität der Vernunft soll erreicht werden – nicht wie in der traditionellen Metaphysik durch die gegenständliche Projektion von abstrakten Begriffen oder, wie bei Hegel, durch die Selbstbestimmung des Begriffs, sondern – durch die gesellschaftstheoretisch aufgeklärte Reflexion des Identitätszwangs, dem das begriffliche Denken unterliegt. Mit einer Selbstkritik der Vernunft, die ihre Verflochtenheit in die drei Dimensionen der Herrschaft (über Andere, über sich selbst und über die äußere Natur) thematisiert, soll sich der Vorrang des Objekts geltend machen lassen.

Blickt man von der bei Horkheimer, Adorno und Marcuse formulierten Selbstkritik der Vernunft auf Hegel, so finden sich die Prinzipien der Identität und der Begriffsherrschaft bei ihm unmissverständlich ausgesprochen. Auch Hegels Identität der Identität und der Nichtidentität läuft auf den Primat der Identität, das identische Subjekt-Objekt auf den Vorrang des Subjekts hinaus. Hegels objektive Vernunft ist nicht objektiv genug, weil sie Herrschaft in der »Allmacht des Begriffs«20 affirmiert, statt gegen sie zu denken.

*

Für ihre Hilfe bei der Manuskripterstellung möchte ich Frau Altaira Caldarella ganz herzlich danken. Zudem danke ich Frau Regina Derr vom zu Klampen Verlag für ihre geduldige und genaue Betreuung der Drucklegung.

Anmerkungen

1Hegel: Enzyklopädie I, § 6, TWA 8, 47. – Die vollständigen bibliographischen Angaben zu sämtlichen Nachweisen finden sich im Literaturverzeichnis. Hervorhebungen in Zitaten folgen, soweit nicht anders vermerkt, dem Original.

2Vgl. ders.: Enzyklopädie III, § 467 Zusatz, TWA 10, 287; ferner ders.: Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 270: Der Staat hat das Recht der »objektiven Vernünftigkeit« (TWA 7, 425); er ist »die Objektivität des Vernunftbegriffs«. (§ 132, TWA 7, 246)

3Ders.: Grundlinien, TWA 7, 26 f.

4Vgl. Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, HGS 6, 175.

5Ebda., 25.

6Vgl. z. B. Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie (HGS 3, 162–216), wo der Begriff kritische Theorie an der »Kritik der politischen Ökonomie« von Marx entwickelt wird. Adorno hat in der »Theorie der Halbbildung« daran erinnert, dass »Marx und Engels die kritische Theorie der Gesellschaft konzipierten«. (AGS 8, 120)

7Adorno: Meinung, Wahn, Gesellschaft, AGS 10.2, 585 f.

8Die Rede vom nachmetaphysischen Denken ist falsch. Sie verkennt die Aktualität der Metaphysik, die in der Warenstruktur gründet, und impliziert eine Fortschrittsvorstellung, die allzu naiv ist. Sie erinnert an das Dreistadiengesetz in Comtes Rede Über den Geist des Positivismus, wonach auf das theologische Stadium der Geistesentwicklung ein metaphysisches, auf dieses dann ein »positives« Stadium, Comtes Gegenwart, folge. Vgl. meinen Aufsatz: Zur Aktualität der Metaphysik. Kritische Theorie und philosophische Tradition, in: Zeitschrift für kritische Theorie 48/49, 2019, 9–35. Vgl. auch 3. Kapitel, 2. Abschnitt der vorliegenden Untersuchung.

9Adorno: Negative Dialektik, AGS 6, Frankfurt am Main 1975, 185 u.ö.

10Marcuse: Der eindimensionale Mensch (1964/1967) MS 7, Springe 2004, 36.

11Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, TWA 12, 35.

12Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie (1844), MEW 1, 499–524, 505.

13Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a. a. O., 119. Wer sich Landschaftszerstörung und Klimaveränderung, Massentierhaltung und Artensterben vor Augen hält, wird diesen Ausdruck nicht für übertrieben halten.

14John Dewey (Deutsche Philosophie und deutsche Politik [engl. 1942], Meisenheim 1954) sah einen verbindenden Zusammenhang von Hegel und Hitler. (27) Hitler könnte mit gutem Recht in Anspruch nehmen, der Vollstrecker Hegels zu sein. (28) Karl Popper (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde [engl. 1945], Tübingen 1992 [7. A.]), behauptete »die Identität des Hegelschen Historizismus mit der Philosophie der modernen totalitären Lehren«. (93) Sogar Bertrand Russel meinte, dass Hegels Lehre vom Staat »justifies every internal tyranny and every external aggression that can possibly be imagined«. (History of Western Philosophy, [1945], London/New York 1961, 711) All das ist unhaltbar und inkompetent, wie auch diese Untersuchung zeigen wird.

15Vgl. Jaeschke: Hegel Handbuch, Stuttgart 2016 (3. A.), 361 und den 5. Abschnitt des 2. Kapitels der vorliegenden Veröffentlichung.

16Hegel: Grundlinien, § 272, TWA 7, 433.

17Marx: Grundrisse der politischen Ökonomie. Einleitung, MEW 42, 40.

18Marx an Ruge, im September 1843, MEW 1, 345.

19Zu Horkheimer vgl. meinen Beitrag: Die Perspektive des Denkens. Horkheimers Begriff der Vernunft, in: Handbuch kritische Theorie, Bd. 1, Wiesbaden 2019, 329–354.

20Hegel: Wissenschaft der Logik II, TWA 6, 350.

1. Kapitel

Hüllenlose Wahrheit. Logik und Metaphysik

1. Objektive Gedanken

Vernunft ist zunächst Denken überhaupt. Denken vollzieht sich im Zusammenhang von Begriffen, geistigen Repräsentationen der Gegenstände, die von deren sinnlicher Gegenwart unabhängig sind. Die selbstbewusste Vernunft reflektiert die Form der Begriffe, die in bestimmter Allgemeinheit besteht. Praktische Gestalt der bestimmten Allgemeinheit sind Regeln des Sprechens und Handelns, an die sie sich jedes Mitglied einer Gruppe, von der Horde bis zur Menschheit, in einer bestimmten Situation zu halten hat. Ihre elaborierteste Form gibt sich die selbstbewusste Vernunft in der Philosophie. Sie bedenkt die allgemeinsten und insofern ersten Begriffe, die sich nicht auf andere zurückführen lassen: die ἀρχαί (archai) oder Prinzipien (Anfänge), die als Grundgerüst des Denkens Kategorien (Denkformen) genannt werden können.

Die These, dass Vernunft objektiv (gegenständlich) sei, meint, dass die allgemeinsten Begriffe des menschlichen Denkens, wie die Zahlen, die Kategorien oder die obersten Ideen (das Eine, das Gute, der Zweck) das Wesen der Dinge selbst nicht nur bezeichnen, sondern geradezu sind. Die ersten Philosophen wie Heraklit oder Anaxagoras haben diese Grundgedanken so ausgedrückt, dass der λόγος (logos/der Begriff) alles ordnet oder der νοῦς (nous/die Vernunft) alles beherrscht. Dies ist, avant la lettre, die These der Metaphysik. Sie befindet sich von Anfang an in einer Zweideutigkeit gegenüber dem Alltagsdenken. Philosophie kritisiert das alltägliche Bewußtsein, weil es in seiner Weigerung, auf die Form des Begriffs zu reflektieren, sich in den Subjektivismus versteift, und grenzt sich so gegen das Denken der »Vielen« ab. »Daher hat man sich dem Allgemeinen anzuschließen – d. h. dem Gemeinschaftlichen, denn der gemeinschaftliche Logos ist allgemein; ungeachtet der Tatsache aber, daß der Logos allgemein ist, leben die Leute [οἱ πολλοί/die Vielen] so, als ob sie über eine private Einsicht verfügten.«1 Eine besondere Form des Subjektivismus, die sich in der beginnenden Moderne auch intellektuell artikuliert hat, besteht in der Berufung auf die innere Offenbarung, die Intuition oder das Gefühl. Hegel hat ihr in der Vorrede der Phänomenologie Bescheid gegeben: Wer »sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft,« ist »gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muß erklären, daß er dem nichts weiter zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen.«2 Die Form des Philosophierens ist mithin das Argument, in dem der Andere als vernünftiges Wesen anerkannt wird.

Durch die Kritik des Subjektivismus kann die Philosophie ein aristokratisches Ansehen erhalten. Andererseits zwingt die Behauptung der Allgemeinheit dazu, den Logos auch in dem kritisierten Bewusstsein vorauszusetzen und aufzuweisen. »Mit dem sie [die Vielen/HES] am meisten ununterbrochen verkehren – dem Logos, der das All verwaltet – von dem sondern sie sich ab, und was ihnen jeden Tag begegnet, kommt ihnen fremd vor.«3 Weil alle mit dem Logos umgehen, muss das Selbstbewusstsein der Vernunft auch allen zugänglich sein. »Es ist zu bemerken«, sagt Hegel in einer Quelle, die uns nur noch durch seinen ersten Biographen Rosenkranz übermittelt ist, »dass die Philosophie als Wissenschaft der Vernunft durch die allgemeine Weise ihres Seins eben ihrer Natur nach für alle ist.«4 Daraus folgt keine Akkommodation an den Bewusstseinsstand des Publikums, wohl aber die Pflicht, an die unmittelbaren Formen des Bewusstseins anzuknüpfen, um über sie hinauszugelangen. Dies beansprucht Hegel in seiner Phänomenologie getan zu haben.

Der Bogen von den ersten Philosophen zu Hegel ist weit gespannt, aber er entspricht dem Selbstverständnis des absoluten Idealismus. Hegels Wissenschaft der Logik will als Logik zugleich Metaphysik sein. Sie hat es mit Gedanken zu tun, etwas Subjektivem, in welchen ein denkendes Subjekt tätig ist. Aber diese Gedanken sollen – in Übereinstimmung mit der traditionellen Metaphysik – zugleich »objektiv« in dem Sinn sein, dass sie nicht nur allgemein gültig, sondern auch gegenständlich, die Gegenstände selbst in ihrem inneren Wesen sind.

»Die Gedanken können nach diesen Bestimmungen objektive Gedanken genannt werden, worunter auch die Formen, die zunächst in der gewöhnlichen Logik betrachtet und nur für Formen des bewußten Denkens genommen zu werden pflegen, zu rechnen sind. Die Logik fällt daher mit der Metaphysik zusammen, der Wissenschaft der Dinge in Gedanken gefaßt, welche dafür galten, die Wesenheiten der Dinge auszudrücken.«5

2. Vernunft, Verstand, Wirklichkeit

Philosophie ist »Ergründen des Vernünftigen«.6 Dabei unterscheidet Hegel – wie Kant und wie schon Platons Liniengleichnis aus dem 6. Buch der Politeia – zwischen Verstand und Vernunft.7 Der Verstand, bei Kant das Vermögen der Begriffe, trennt die Bestimmungen und fixiert die Begriffe, die einander äußerlich und abstrakt, d. h. »abgezogen« bleiben. Vernunft, bei Kant die Fähigkeit zum Schließen und zur Bildung von Totalitätsbegriffen, den Ideen, ist für Hegel zweifach bestimmt: als das negativ Dialektische, das die festen Gegensätze des Verstandes auflöst, indem sie ihre gegenseitige Angewiesenheit und Identität erweist, und als das positiv Dialektische oder Spekulative, das in der Einheit der Beziehung ein positives Resultat erkennt, eine bestimmte Negation.8

Auch für den hegelschen Vernunftbegriff ist das Schließen und die Idee konstitutiv. Im Schluss bestimmt sich der Begriff selbst, er verwirklicht sich; »die wirksame Vernunft« ist »der sich bestimmende und realisierende Begriff selbst«.9 Die Verwirklichung als Prozessform der Vernunft ist, im Unterschied zum Terminus Idee, ein aristotelisches Erbe. Idee aber heißt das Ganze der Verwirklichung.

Die Idee »kann als die Vernunft (dies ist die eigentliche philosophische Bedeutung für Vernunft), ferner als Subjekt-Objekt, als die Einheit des Ideellen und Reellen, des Endlichen und Unendlichen, der Seele und des Leibs, als die Möglichkeit, die ihre Wirklichkeit an ihr selbst hat, als das, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann usf., gefaßt werden, weil in ihr alle Verhältnisse des Verstandes, aber in ihrer unendlichen Rückkehr und Identität in sich enthalten sind.«10

Die Vernunft verhält sich zum Verstand auf vernünftige, nicht auf verständige Weise: sie schließt ihn nicht aus, bleibt ihm nicht äußerlich, sondern erkennt sein Recht an und enthält seine Trennungen und Abstraktionen: »zum Philosophieren gehört vor allen Dingen, daß ein jeder Gedanke in seiner vollen Präzision aufgefaßt wird und daß man es nicht bei Vagem und Unbestimmtem bewenden läßt.«11 In der Logik sind die Verstandesbegriffe v. a. im mittleren Teil, der Wesenslogik, thematisch. Die hier behandelten Begriffe von Identität und Widerspruch, Grund und Begründetem, Form und Materie, Existenz und Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit, Substanz und Akzidenz, Ursache und Wirkung gehören zu den Grundbestimmungen der Metaphysik von Platon und Aristoteles bis zu Leibniz und Wolff. Sie als logische Begriffe zu denken, bedeutet, ihren Gehalt unabhängig von empirischen Vorstellungen oder Beispielen aus Natur und Geschichte, aber in einem Zusammenhang zu denken, der nur durch ihre Beziehungen selbst gestiftet wird. In diesem Verfahren verflüssigt oder durchbricht die hegelsche Logik die dem Verstand zugewiesene Verfestigung und Isolation der metaphysischen Begriffe – Metaphysik wird geradezu definiert als die »bloße Verstandesansicht der Vernunftgegenstände«12 – aber sie teilt mit ihr eben auch die Überzeugung, dass es sich bei den Begriffen um »objektive Gedanken« handelt.13

In der Philosophie des Geistes hat der Vernunftbegriff seine Stelle zunächst als eine subjektive Fähigkeit, die – sowohl in der Phänomenologie des Geistes wie in dem als »Phänomenologie« überschriebenen Abschnitt des dritten Teiles der Enzyklopädie – aus der Entwicklung des Selbstbewusstseins zum allgemeinen Selbstbewusstsein, der gegenseitigen Anerkennung aller, hervorgeht. Vernunft ist demnach die »an und für sich seiende Allgemeinheit und Objektivität des Selbstbewußtseins«14, »die einfache Identität der Subjektivität des Begriffs und seiner Objektivität und Allgemeinheit.«15 Vernunft ist die Gewissheit des Selbstbewusstseins, »daß seine Bestimmungen ebensosehr gegenständlich, Bestimmungen des Wesens der Dinge als seine eigenen Gedanken sind«.16 Als ein solches Bei-sich-sein im Anderen ist die Vernunft die Grundbestimmung des Geistes. Vernunft ist »in tieferer Bestimmung der Geist«.17 Das war ihr Auftritt schon in der Phänomenologie des Geistes: »Die Vernunft ist die Gewißheit des Bewußtseins, alle Realität zu sein; so spricht der Idealismus ihren Begriff aus.«18

Vernunft besteht in der Einheit ihrer zwei Momente, der Identität von Subjekt und Objekt. Die »subjektive Vernunft«19, das selbstbewusste Denken, soll mit der »seienden Vernunft«,20 die auch die »objektive« genannt wird,21 in Übereinstimmung sein und sich dieser Übereinstimmung bewusst werden. Das Ganze ist die bewusste Identität von subjektiver und objektiver Vernunft, »Vernunft als begreifendes Erkennen« und »Vernunft als das substantielle Wesen«.22 Dieses Wissen ist im Rahmen der Philosophie des subjektiven Geistes zunächst noch mit dem Gegensatz des Bewusstseins behaftet, dem Gegenüberstehen von Gegenstand und Denken. Erst wenn das Denken sich selbst zum Gegenstand hat und zum absoluten Wissen wird, schwingt es sich in sein »gegensatzloses Element« auf,23 den logischen oder »reinen Gedanken«,24 in dem jene Realisierung der logischen Idee stattfindet, von der oben die Rede war. »Die Logik ist sonach als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Gedankens zu fassen. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist.«25

Die Objektivität der Vernunft ist von Hegel in der Rechtsphilosophie in die bekannte Sentenz gebracht worden: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.«26 Die Erkenntnis dieser Identität gilt, wie wir bereits eingangs gesehen haben, als die »Versöhnung der selbstbewussten Vernunft mit der seienden Vernunft«.27 Hegel gibt dem Begriff der Wirklichkeit einen streng bestimmten Sinn, der sie von der bloßen Existenz und vom Zufälligen unterscheidet. Ohne auf die komplizierte Binnenstruktur der Kategorie Wirklichkeit bei Hegel näher eingehen zu müssen, kann man auf seine Erläuterungen zur Rechtsphilosophie zurückgreifen. Der Staat, wo immer er existiere, könne mit etlichen Mängeln behaftet, also insofern unvernünftig sein, müsse aber, solange er als Staat funktioniert und bezeichnet werden kann, die wesentlichen Bestimmungen des Staatsbegriffs realisieren.28 Dasselbe gilt für den Menschen, bei dem es mancherlei Defekte körperlicher oder geistiger Natur geben kann, der aber doch, solange er als Mensch existiert, die konstituierenden Bestimmungen des Begriffs verwirklichen muss. Umgekehrt kann man wohl sagen, dass ein amputiertes Bein noch existiert, aber eben nicht mehr funktionaler Teil eines konkreten Ganzen ist, dem es seine Form verdankt.29 Defekte und Privationen gehören nicht zu dem, was notwendig ist, damit die Sache als solche wirklich sein kann; sie gehören nicht zum Wesen.

3. Identität von Denken und Sein

Das gegensatzlose Element des reinen Gedankens oder der Logik ist das Medium der Identität von Denken und Sein oder von Subjekt und Objekt. Die logischen Begriffe sind Subjekt ihrer eigenen Entwicklung (Immanenz des Fortgangs) und zugleich die »Substanz«30 aller Dinge, der »an und für sich seiende Grund von allem«.31 Die dem reinen Denken angehörige Identität von Subjekt und Objekt ist absolut; ihre Bestimmungen gelten »als die allgemeine Wahrheit, nicht als eine besondere Kenntnis neben anderem Stoffe und Realitäten, sondern als das Wesen alles dieses sonstigen Inhalts.«32 Die »Entwicklung alles natürlichen und geistigen Lebens« beruht »auf der Natur der reinen Wesenheiten, die den Inhalt der Logik ausmachen.«33

Horkheimer hat den metaphysischen Charakter der hegelschen Logik und Philosophie überhaupt in den Mittelpunkt seiner Kritik gestellt. Metaphysik sei die Überzeugung »von einer selbständigen allgemeinen Seinsordnung«.34 Die Kritik wurde relativ früh, 1932 formuliert und später nicht mehr eigens thematisiert. Sie berührt jedoch ein Motiv, das für die Metaphysikkritik der kritischen Theorie bis zu Adornos Negative Dialektik bestimmend blieb: »Die Bedeutung des Hegelschen Systems für die philosophische Erkenntnis der Gegenwart liegt vor allem in der rücksichtslosen Klarheit mit der hier die Metaphysik an den idealistischen Mythos der Einheit von Denken und Sein gekettet worden ist.«35

Es wäre vielleicht nicht richtig zu sagen, dass in Hegel die Metaphysik ihre Vollendung findet, wonach alle Gedanken der Philosophiegeschichte nur noch durch ihren Ort interessant wären, den sie in seinem System erhalten haben. Richtig ist aber jedenfalls, dass bei Hegel der philosophische Gedanke einem Anspruch genügen soll, der den in aller überlieferten Philosophie erhobenen radikalisiert und sein Maximum darstellt. Sollte nach Aristoteles der Geist das Fremde abweisen, das sich ihm aufdrängt,36 so gibt es nach Hegel kein Fremdes mehr, in dem der Geist nicht bei sich wäre, indem er es durchdrungen hat. »(…) in der Logik wird es sich zeigen, daß der Gedanke und das Allgemeine eben dies ist, daß er er selbst und sein Anderes ist, über dieses übergreift und daß nichts ihm entflieht.«37 Hegel will keine Abweisung des Fremden, sondern seine vollständige Eingliederung. Nach der Wendung zum Ich, die das neuzeitliche Denken auszeichnet, geht es nun um gänzliche Durchdringung. »(…) der Inhalt ist allein dadurch begriffen, daß Ich in seinem Anderssein bei sich selbst« ist.38 Das ist die Formel des Geistes und der Schlüssel zum hegelschen Idealismus.

Für Hegel gilt es, »der uns gegenüberstehenden objektiven Welt ihre Fremdheit abzustreifen«.39 Die Identität von Begriff und Sein, von Gedanken und Objektivität, die der kritischen Theorie zufolge das Charakteristikum der metaphysischen Form objektiver Vernunft ist, wird zum Programm und als zentrale Einsicht reklamiert. Der Einwand, der sich etwa mit Aristoteles’ Worten: Der Begriff des Wassers ist nicht nass,40 formulieren lässt, wird empört abgewiesen: Es »sollten doch wohl zunächst diejenigen, die immer und immer gegen die philosophische Idee wiederholen, daß Denken und Sein verschieden seien, endlich voraussetzen, den Philosophen sei dies gleichfalls nicht unbekannt; was kann es in der Tat für eine trivialere Erkenntnis geben?«41 Es sei »die Definition der endlichen Dinge, daß in ihnen Begriff und Sein verschieden, Begriff und Realität, Seele und Leib trennbar, sie damit vergänglich und sterblich sind; die abstrakte Definition Gottes ist dagegen eben dies, daß sein Begriff und sein Sein ungetrennt und untrennbar sind. Die wahrhafte Kritik der Kategorien und der Vernunft ist gerade diese, das Erkennen über diesen Unterschied zu verständigen und dasselbe abzuhalten, die Bestimmungen und Verhältnisse des Endlichen auf Gott anzuwenden.«42 Idealistische Logik, die zugleich Metaphysik sein will, ist notwendig philosophische, an Offenbarungsschriften nicht gebundene Theologie.

Die Begriffe, deren Nichtidentität mit der Wirklichkeit angeführt wird, sind bloß empirische Begriffe, eigentlich nur »abstrakte Vorstellungen – Abstraktionen, die vom Begriffe nur das Moment der Allgemeinheit nehmen und die Besonderheit und Einzelheit weglassen«.43 Worauf es ankommt, sind Begriffe, die sich zur Totalität entfalten lassen, wie der Begriff der Natur als der Äußerlichkeit der Idee,44 der Begriff des Rechts als Dasein des freien Willens,45 der Begriff des Schönen als sinnlichen Scheinens der Idee in der Ästhetik46 oder der Begriff der Religion als der Offenbarung des Absoluten für den menschlichen Geist, die sich im Medium der Vorstellung und des Gefühls bewegt.47 Solche Begriffe sind Konkretisierungen des logischen Begriffs, des Begriffs als solchen, der als unmittelbare Einheit von Sein und Gedanken definiert ist. Seine Reinheit ist die der wahren Unendlichkeit, die den Gedanken des Endlichen in sich selbst enthält; die des weltlosen Gottes, der den Grund und die Substanz der Welt in sich trägt. Indem die hegelsche Logik von der Identität von Sein und Begriff ausgeht, erhebt sie den Anspruch, rationale – von Vorstellungen, Offenbarungen und Affekten gereinigte – Theologie zu sein und das wahrhaft Unendliche zu entfalten, denn die Identität von Sein und Begriff ist das Definiens des Gottesbegriffs, wie er dem ontologischen Gottesbeweis zugrunde liegt: Gott ist, was nicht anders als seiend gedacht werden kann, denn er ist der Inbegriff aller Realitäten. Folglich ist die Logik, die sich im Element der Identität von Sein und Denken bewegt, völlig unmetaphorisch »die Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist.«48 Gott wird nicht in die Welt aufgelöst, wie eine falsche Kritik in verschiedenen Variationen vermeint; vielmehr ist die Transzendenz sehr wohl in der Form der Reinheit der logischen Gedanken gegen die Bereichsontologien festgehalten, aber in den logischen Gedanken selber ist der Unterschied von Theologie und allgemeiner Ontologie, der für Aristoteles noch unüberbrückbar war, aufgelöst.

4. Hegel und der Gott des Aristoteles

Am Ende der Enzyklopädie, nachdem die Idee der Philosophie als die sich wissende Vernunft abschließend charakterisiert ist, zitiert Hegel aus der Metaphysik des Aristoteles die Bestimmung der Gottheit als der sich selbst denkenden Vernunft.49 Dieses Sichselber-denken, in welchem Denken und Gedachtes, νόησις (noäsis) und νοητόν (noäton), dasselbe sind, ist reine ἐνέργεια (enérgeia); als ἐνέργεια ist die mit sich identische Vernunft Leben, als reines Denken ist sie ewiges Leben. Sie ist bewundernswert, weil sie das Angenehmste und Beste ist. Wir, die endlichen mit Geist begabten Wesen, sind dieses Gedankens mächtig, aber sein beglückender Vollzug ist uns nur ausnahmsweise möglich. Nach Aristoteles besteht auch das Glück des Menschen in einer Tätigkeit theoretischer oder betrachtender Art, welche eine Betätigung der Vernunft ist. Aber als andauernde Tätigkeit, ohne Ermüdung und Unterbrechung, ist sie uns nicht erreichbar. Folglich ist diese Lebensweise »höher als es dem Menschen als Menschen zukommt. Denn so kann er nicht leben, insofern er Mensch ist, sondern nur insofern er etwas Göttliches in sich hat.« Ihm nachzueifern sollten wir trotz unserer Unzulänglichkeit nicht ablassen.50

Hegels Verweis auf den aristotelischen Gottesbegriff am Schluss der Enzyklopädie schließt gewiss auch ein Bekenntnis zur Differenz des endlichen Geistes vom göttlichen in sich. In der Wissenschaft der Logik wird sich die Differenz von göttlicher und menschlicher Vernunft darin zeigen, dass der Gang der Darstellung die Abweisung nicht dazu gehöriger Einfälle, Erläuterungen durch philosophiegeschichtliche Parallelen sowie sprachbezogene Reflexionen erheischt. Gleichwohl bleibt der Anspruch auf die Immanenz des Fortgangs der logischen Begriffe bestehen. Aber wäre der Anspruch, das Ganze der metaphysisch-logischen Begriffe sei der Inhalt jenes göttlichen Denkens des Denkens – in Hegels Worten: die Gedanken Gottes vor der Erschaffung eines endlichen Geistes – in Aristoteles’ Sinne?