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Gerechtigkeit ist das Ziel, doch mit wem ist dieses zu erreichen? Es handelt sich dabei keineswegs um eine Randfrage, die neben den angeblich zentralen politischen Diskussionen gestellt wird, sondern um ein explizit politisches Thema, das im Zentrum einer jeden sozialen Bewegung steht. Es lohnt sich hier über einen anderen Begriff der politischen Praxis nachzudenken: Freund*innenschaft, meist ins Private verdonnert und aus dem politischen Terrain verdammt. Dabei sind Freund*innenschaften genuin politische Beziehungen, deren grundlegende Charakteristika unseren Blick auf die Welt transformieren. In Zeiten multipler Krisen und wachsender globaler Ungleichheiten, verfolgt dieser Essay bereits bestehende Theorien zur Freund*innenschaft, um diese anschließend für einen Begriff der Freund*innenschaft als politische Praxis produktiv zu machen.
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Seitenzahl: 99
Veröffentlichungsjahr: 2023
Band 3 der Reihe ›resistance & desire‹,
herausgegeben vom bildungsLab*
Das bildungsLab* setzt sich zusammen aus migrantischen Akademikerinnen* und Akademikerinnen* of Color, die im pädagogisch-kulturellen Raum tätig sind. Sie vermitteln und produzieren Theorie, diskutieren pädagogische und künstlerische Vorstellungen, Konzepte und Paradigmen. Sie kommentieren, intervenieren und publizieren im Feld der rassismus- und hegemoniekritischen Bildung und Vermittlung.
María do Mar Castro Varela & Bahar Oghalai
Freund*innenschaft
Dreiklang einer politischen Praxis
resistance & desire #3
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
María do Mar Castro Varela & Bahar Oghalai
Freund*innenschaft
1. Auflage, März 2023
eBook UNRAST Verlag, Juni 2023
ISBN 978-3-95405-154-0
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung
sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner
Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter
Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Tasnim Baghdadi, Zürich
Satz: Unrast Verlag, Münster
Vorwort
1 Einleitung
2 Solidarität, Allyship und die Praxis des kollektiven Arbeitens
3 Der Dreiklang der Freund*innenschaft
3.1 Poetik. Freund*innenschaft als eine Beziehung mit eigener Grammatik
3.2 Erotik. Freund*innenschaft begehren
3.3 Ethik. Freund*innenschaft und das Einüben ethischer Reflexe
4 Schlussbetrachtungen: Freund*innenschaft in finsteren Zeiten
Literatur
Autor*innen
Anmerkungen
Dies ist der dritte Band aus der Reihe resistance & desire herausgegeben vom bildungsLab* (bLab*). Wir widmen uns hier einer Fragestellung, die auch in den vielfältigen Gesprächen im bLab*-Kollektiv immer wieder auftaucht: Sind politische Gruppen wie das bLab* ein Zusammenschluss von Freund*innen und wenn ja, wie könnte das Spezifische jener politischen Gruppen, die wie Freund*innenschaften funktionieren, umschrieben werden? Die Idee zu unserem Essay begann mit einem Vortrag auf einer Tagung in Berlin, zu der wir von Žaklina Mamutovič in 2021 eingeladen wurden. Die Keynote, so der Wunsch der Organisator*innen, sollte einen Einblick geben in das Konzept der Allyship (Verbündetenschaft). Allyship avanciert in den letzten Jahren innerhalb des politischen Aktivismus‘ immer mehr zu einem wichtigen Konzept. Sie verspricht, eine Zusammenarbeit zwischen gesellschaftlichen Mehrheits- sowie marginalisierten Gruppen zu ermöglichen. Die Vorbereitungen zum Vortrag gingen mit umfangreichen Recherchen einher, wobei wir in der Auseinandersetzung mit Allyship feststellten, dass für uns der Begriff der Freund*innenschaft ein interessantes Potential hat. Immer wieder haben wir Freund*innenschaft als soziales Phänomen und als Konzept diskutiert: Was ist der Unterschied zwischen Allys (Verbündeten) und Freund*innen? Können Allys auch Freund*innen sein? Oder ist es vielleicht umgekehrt: Können nur Freund*innen Allys sein? Schnell wurde uns klar, wie oft über Freund*innenschaft in politischen Zusammenhängen gesprochen wird und wie wenig politisch Freund*innenschaft den meisten dennoch erscheint. Wir gingen diesem Widerspruch nach und befinden uns seitdem auf der Suche nach Auseinandersetzungen mit dem Thema. Wir wurden schnell fündig und das Interesse am Thema stieg. Der nun hier vorliegende Essay stellt unsere ersten sortierten Gedanken zu Freund*innenschaft als politische Praxis vor. Wir hoffen, dass viele Leser*innen sich in unseren Worten wiederfinden und der Text sie dazu animiert, Freund*innenschaften zu überdenken, zu erneuern und zu erhalten. Und natürlich hoffen wir auf Kritik und Debatte, denn wir verstehen Konzepte nicht als in Stein gemeißelt, sondern eher als wacklige Hilfskonstruktionen, die uns dabei behilflich sein können, zu denken, die Welt (besser) zu verstehen und in festgefahrene politische und soziale Strukturen (sinnvoller) einzugreifen. Denn politische Praxis bedarf der Begriffe und Konzepte, um wirksam zu werden.
Wir danken Žaklina Mamutović für ihre Freund*innenschaft und dass sie uns einen Raum eröffnet hat, um unsere Gedanken zu entfalten, zu exponieren und zu diskutieren. Unser Dank gilt aber auch dem bLab*, einer Gruppe, die sich als Kollektiv beschreibt, obschon und gerade weil das Kollektiv in den letzten Jahren eher in Verruf geraten ist, während die Individualität hoch im Kurs zu sein scheint.
So schreiben wir diesen Essay, während im Iran eine Revolution im Gange ist und nach einer unseligen Debatte um die documenta fifteen (d15). Die documenta, die größte und wohl auch eine der bedeutendsten Ausstellungen moderner Kunst weltweit, wurde 2022 zum ersten Mal von einem Kollektiv kuratiert: das indonesische Künstler*innenkollektiv ruangrupa. Die d15 war die erste documenta[1] nach oder eher während der Pandemie, denn noch immer verbreitet sich das Virus, auch wenn in fast allen Ländern dieser Welt so getan wird, als sei die Pandemie vorbei. Es ist aber auch die erste documenta, die von einem Kurator*innenteam organisiert wurde. Das Kollektiv steht in diesem Zusammenhang symbolisch gegen die Erhöhung einer zunehmenden Individualisierung, die Teil eines neoliberalen Regimes ist. Das unkritische Feiern der individuellen Leistung verspricht einen ungebremsten Wettbewerb und überwindet eine Drosselung von Effizienz, die sich aus Empathie und Sorge um die anderen ergeben würden. Das Kollektiv dagegen verweist auf die Notwendigkeit, Gemeinschaft, Zusammengehörigkeit, Verbundenheit und auch Beziehungen neu zu denken.
Das bLab*, welches in 2017 im Rahmen des Projekts Schools of Tomorrow des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin gegründet wurde, versteht sich als ein kritischer Diskursraum (siehe bLab* 2021). Wir kommentieren das Hier und Jetzt, ohne diese Kommentierung als dogmatische Meinung zu verstehen. Widerspruch ist nicht nur erwünscht, sondern wird gesucht. Das Kollektiv erweist sich als ein Netzwerk diverser Freund*innenschaften. Anders als in manchen Empowerment-Gruppen nehmen Kritik und offener Austausch eine wichtige Rolle ein. Gewissermaßen funktioniert das bLab* wie eine Freund*innengruppe, die sich politisch versteht. Es war somit unausweichlich, dass einer der Bände in der vom bLab* herausgegebenen Reihe resistance & desire das Thema Freund*innenschaft aufnimmt. Doch auch wenn das bLab* ein wichtiger Impuls war, so wird hier dasselbe weder beschrieben, noch werden die Vorstellungen, die dort zu Freund*innenschaft kursieren repräsentiert. Das bLab* ist lediglich der Resonanzraum unserer hier präsentierten Gedanken.
Wir danken dem Unrast Verlag, der trotz Inflation – und den damit einhergehenden finanziellen Schwierigkeiten – jeden Band der bLab*-Reihe mit bemerkenswerter Einfühlsamkeit und Sachverstand betreut.
Und selbstverständlich danken wir unseren Freund*innen- auch außerhalb des bLab*: den aktuellen, denen, die es mal waren und denen, die es sein werden.
»Es ist nicht einfach, einen Begriff von Ethik, einschließlich Schlüsselbegriffen wie Freiheit und Verantwortlichkeit, angesichts ihrer diskursiven Aneignung zu verteidigen.«
(Butler 2015: 14)[2]
Soziale Gerechtigkeit und eine planetarische Zukunft sind die Ziele, doch wie und mit wem sind sie zu erreichen? Eine Debatte über politische Organisierung kann ohne eine Debatte über das Verhältnis der Beteiligten zueinander und eine Entscheidung über den Umgang, den sie miteinander pflegen wollen, nicht geführt werden. Es handelt sich hierbei keineswegs um Randfragen, die neben den angeblich zentralen politischen Diskussionen geführt werden – vielmehr haben wir es mit genuin politischen Themen zu tun, die im Zentrum einer jeden sozialen Bewegung stehen. Politische Bewegungen werden durch das spezifische Zusammenkommen von Menschen und die Beziehungen, die diese über kurze oder lange Stecken zueinander aufbauen, zentral und wirksam. In ihrem 2015 erschienenen Buch Notes Toward a Performative Theory of Assembly schreibt Judith Butler über den notwendigen kollektiven Moment von Protest. Butlers Fokus liegt dabei auf der Dynamik öffentlicher Versammlungen, die als plurale Formen performativen Handelns verstanden werden. Unter anderem gelingt es Butler hier, die Theorie der Performativität, so wie sie in Gender Trouble (1990) eingeführt wurde, über Sprechakte hinaus auf die konzertierten Aktionen des Körpers zu übertragen. Die verkörperten Formen des Zusammenkommens, die Proteste auf der Straße, die politischen Meetings, Demonstrationen, Blockaden oder auch Die-ins, lassen ein neues Verständnis des öffentlichen Raums in Erscheinung treten. Versammlungen, so Butler, »entstehen unerwartet und lösen sich unter freiwilligen oder unfreiwilligen Bedingungen auf, und diese Vergänglichkeit ist (…) mit ihrer ›kritischen‹ Funktion verbunden« (Butler 2015: 7). Das Kollektiv des Protests ist immer prekär und fragil. Die Spontaneität bei seiner Entstehung korrespondiert mit dem unausweichlichen Auflösen desselben, das nicht vorauszuplanen ist. Die Teilnehmenden von Protesten kennen sich oder auch nicht. Sie sind Gleiche und Fremde. Für eine begrenzte Zeit bilden sie eine Gemeinschaft, um kurz danach wieder in kleinere Gruppen und Einzelpersonen zu zerfallen. Dies ist eine bedeutsame Theorie in einem Jahrzehnt, das als Protest-Jahrzehnt beschrieben wird. Nicht zuletzt die anhaltenden Proteste im Iran zeigen, wie Körper auf der Straße, die sich zusammenschließen und gemeinsam Widerstand gegen ein Regime leisten, das ihre Körper diversen Repressalien aussetzt und ihre Freiheit in vielfältiger Weise einschränkt, Stärke und eben auch Zusammengehörigkeit dokumentieren. Die verbündeten Körper werden als widerständig wahrgenommen, auch weil sie auf der Straße zusammenstehen. Solidarität scheint sie nicht nur zu binden, sondern verhilft auch dazu, soziale wie auch politische Grenzen zu überschreiten. Die Proteste erscheinen als Heterotopien, an denen sich Menschen unterschiedlichen Glaubens, Alters, Geschlechts, Klasse und Befähigungen treffen. Orte, an denen Diversität nicht gefordert werden muss, sondern sich schlicht spontan und ungefragt herstellt. Wir beschreiben diese Orte als fragile Kontaktzonen. Proteste sind für eine Auseinandersetzung mit Freund*innenschaft nicht nur bedeutsam, weil sich auf Protesten Freund*innen treffen und Freund*innenschaften dort geschlossen werden. Protesten wie die Gezi-Proteste[3] 2013 in Istanbul gelingt es, breite und sehr diverse Bevölkerungsgruppen zusammenzubringen. Im Gezi-Park wurden wochenlang Zelte aufgeschlagen. Die Menschen kochten, sangen, tanzten zusammen und begannen voneinander zu lernen. Dabei wurde mit sehr unterschiedlichen Vermittlungswegen und -werkzeugen experimentiert. Es gab eine Bibliothek, wo auch täglich Aktionen und Workshops stattfanden. Bildung, Kunst und Kultur begleiteten die Proteste nicht nur, sie wurden zu wichtigen Feldern einer transversalen Protestentfaltung. Proteste sind immer auch Lernräume und Orte der Politisierung. So wird bei diesen diskutiert, Theater gespielt und gemeinsam gesungen. Sichtbar wurde bei den Protesten in Istanbul jedoch auch, wie
»eine kollektive Mikropolitik des Wunsches (…) dualen Gegenseitigkeiten entgegentritt. Gegen eine Makropolitik, welche die Menschen um politische Slogans herum organisiert, gegen Klassen- und Begriffsdualitäten, die alles in Oppositionen aufteilt (bürgerliches Kapital und Arbeiterklasse, Unterdrücker und Unterdrückte, Arbeitende und Arbeitslose, Jugendliche und Alte, Frauen und Männer) kristallisiert sich im Gezi Park und auf dem Taksim-Platz eine Mikropolitik des Wunsches heraus, die – kollektiv – quer zu den Trennungen Jung/Alt, Mann/Frau, Arbeitende/Arbeitslose, ChefIn/MitarbeiterIn etc. verläuft. Auf diese Weise werden Menschen auf der ganzen Welt, von New York bis Köln, von Izmir bis Adana und Antalya, von Ankara bis Bursa, in das Widerstandsfeld des horizontalen Kampfes hineingezogen« (Akay 2013, o.S.).
Es verwundert nicht, dass die Gezi-Proteste von vielen Menschen auf der Welt euphorisch begleitet wurden. Sie schienen eine andere Form des Widerstands zu versprechen, der auch neue Beziehungsmöglichkeiten eröffnete. In ihren Auseinandersetzungen mit Assemblys schreibt Butler von dieser Phase der Revolte:
»In den Fällen, in denen die Demonstrierenden schließlich auf dem öffentlichen Platz schliefen und aßen, Toiletten und verschiedene Systeme zur gemeinsamen Nutzung des Raums aufbauten, weigerten sie sich nicht nur, zu verschwinden […], und beanspruchten den öffentlichen Raum nicht nur für sich selbst als fortbestehende Körper mit Bedürfnissen, Wünschen und Anforderungen […], sondern sie baten auch die Welt, das, was dort geschah, zu registrieren, ihre Unterstützung bekannt zu machen und auf diese Weise selbst in die revolutionäre Aktion einzutreten« (Butler 2015: 97).
In Ergänzung – nicht in Abgrenzung – zu einer Assembly-Politik, verlegen wir den Fokus allerdings auf die politisch oft unterschätzten, manchmal auch verachteten, kleinen Räume: die Küche, das Wohnzimmer, die Hütte, das Café, die Parkbank, das Boot, das Schlafzimmer. Manches, was eine Revolution begleitet, geschieht nicht im klassisch-öffentlichen Raum, aber in scheinbar privaten Räumen, die in öffentliche transformiert werden. Wir bezeichnen sie als kleine Räume, um sie abzugrenzen von Räumen wie sie die Straßen und Plätze der Stadt sind, ohne sie jedoch als private Räume zu depolitisieren. Es sind die Räume, in denen sich zwei, drei oder vier Körper treffen, um sich auszutauschen. Es geht nicht um das Skandieren, nicht um laute politische Gesten, sondern um die besonnenen, verständnisvollen Gespräche, die Empörung kanalisieren und befördern können. Die Räume, in denen eine Vertrautheit entsteht, die es zulässt, Dummheiten nahezu ohne Konsequenzen zu äußern. Räume, in denen reflektiert und revidiert, gesponnen, gelacht und diskutiert wird. Räume, in denen Albernheit in Ordnung ist und Aussehen oder auch Effizienz keine Rolle spielen. Die Gezi-Proteste zeichneten sich auch dadurch aus, dass sie sowohl die lauten Proteste auf der Straße beinhalteten als auch eine Politik der kleinen Räume ermöglichten. Es entstanden sowohl kleinere Kollektive, als auch große und breite Solidaritätsstrukturen.