Freut euch nicht zu spät - Janice Jakait - E-Book

Freut euch nicht zu spät E-Book

Janice Jakait

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Beschreibung

"Hört auf das Leben zu verschieben, Ihr habt kein anderes! Wir leben, als wäre unsere Zeit auf diesem Planeten eine Fingerübung und das eigentliche, richtige Leben käme irgendwann später. Angestrengt mit Selbstoptimierung beschäftigt, kommen wir überall hin, aber nirgends mehr an, können alles erreichen, doch nichts stellt uns mehr zufrieden. Wir sind überall, bloß nicht dort, wo das Leben tatsächlich stattfindet – in der Gegenwart. Aufrüttelnd und leidenschaftlich zeigt die Bestsellerautorin Janice Jakait, warum wir uns unserer Vergänglichkeit stellen müssen, um das ebenso schlichte wie magische Wunder des Augenblicks zu erfahren. Das zweite – das eigene – Leben kann erst beginnen, wenn man zutiefst begreift, dass man nur eines hat. Und was für eines! "Der oft beschwerliche erste Lebensweg ist ein Weg, auf dem wir anderen Menschen folgen und uns ihren Erwartungen anpassen. Der zweite Lebensweg ist der Weg zurück zu uns, zu unseren eigenen Bedürfnissen. Es ist die abenteuerliche Reise vom Kopf zurück ins Herz." Janice Jakait lebte immer gern am schnellen Puls der Zeit, hatte jedoch schon mit Mitte zwanzig das Gefühl, ihren eigenen Puls nicht mehr zu spüren. In ihrer verzweifelten Sehnsucht danach, "anzukommen ", ruderte sie über einen Ozean und flüchtete um die halbe Welt – bis sich ihr ein wirklich anderer Weg eröffnete, der Weg in ein neues, ein zweites Leben. In diesem Buch erzählt sie von dem großen Abenteuer, bei sich selbst anzukommen, und von der Freiheit, nicht mehr kämpfen oder weglaufen zu müssen. Sie ermutigt, wieder mehr zu vertrauen, sich hinzugeben, loszulassen, zu vergeben, ohne Sicherheiten zu erwarten. Denn wenn nicht jetzt, wann dann? Wir haben nichts anderes als dieses eine Leben und die Möglichkeit, uns darin eine fantastische Geschichte zu erzählen. Dieses Buch macht unbändige Lust aufs Leben – ehrlich, unverblümt, authentisch und voller wunderbarer Weisheit."

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Seitenzahl: 224

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1. eBook-Ausgabe 2016

© 2016 Europa Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur,Zürich, unter Verwendung zweier Motive von© Janice Jakait und © Hauptmann & Kompanie, WerbeagenturGestaltung der Karte auf dem Vorsatzpapier:

Markus Weber, Guter Punkt, MünchenLayout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, MünchenKonvertierung: Brockhaus/CommissionePub-ISBN: 978-3-95890-056-1

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

FürSophia,Helena & Emina

INHALT

EINLEITUNGWillkommen im Augenblick!

ERSTES KAPITELDer Aufbruch ins zweite Leben

ZWEITES KAPITELDie Entdeckung des Unterwegs

DRITTES KAPITELSo viele Umwege ins Hier und Jetzt!

VIERTES KAPITELMit Mut ins Vertrauen

FÜNFTES KAPITELDer Weg vom Kopf ins Herz

SECHSTES KAPITELDie Vertagung der eigenen Vergänglichkeit

SIEBTES KAPITELVon Ziel zu Ziel

ACHTES KAPITELHinter dem Horizont

Dank

Anmerkungen

Kontakt

EINLEITUNG

Willkommen im Augenblick!

»Habe den Mut, dich deiner eigenen Freiheit zu bedienen.«

WIR LEBEN GERN am schnellen Puls der Zeit, spüren dabei aber oft kaum noch unseren eigenen Pulsschlag. Wir können heute fast alles erreichen, doch was genügt und erfüllt uns noch wirklich? Auch ich kam überall hin im Leben – hatte so viele Möglichkeiten und Chancen! –, doch ich kam nirgends richtig an. Ich fand einfach keine dauerhafte Zufriedenheit – und auch keinen rechten Lebenssinn.

Ich steckte in einem Hamsterrad fest. Ständig hingen mir neue Ziele und Hoffnungen wie Karotten vor der Nase, und ich hoffte, das Hamsterrad würde zum Karussell werden, wenn ich nur noch mehr Schwung holen und noch schneller laufen würde. Im Versuch, ständig alle Umstände und mich selbst zu verändern, brannte ich jedoch regelmäßig aus. Ich fand keine Stabilität, keine Harmonie oder Balance, mein Leben war ein ständiges Auf und Ab. Ich hing wie an einem Gummiband, nach jedem Schritt vorwärts zog es mich zwei zurück. Die einzige Konstante im Leben war die Sehnsucht nach Veränderung – die Hoffnung darauf, in der Zukunft endlich in der Gegenwart ankommen zu können und dann zufrieden zu sein mit dem, was ich habe, und dem, was ich bin. Ein Widerspruch, der mich zerriss.

Wo es einfach nicht gelang, »anzukommen«, wollte ich vor mir selbst und vor meiner Verzweiflung davonlaufen, flüchtete um die halbe Welt, ruderte über einen Ozean, hoffte, in der Ferne Frieden zu finden, doch ich begriff zunehmend, dass jede weitere Bemühung darum mich nur in weiteren Unfrieden stürzte. Das Problem waren meine alten Überzeugungen, und die hatte ich immer im Gepäck.

Erst in der totalen Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit offenbarte sich mir ein wirklich anderer Weg – ein Weg in ein anderes, ein zweites Leben mit neuen Überzeugungen. Ein Weg zurück zu mir selbst – heraus aus dem Kopf und zurück in die Wirklichkeit des Seins.

Ich hatte mich zu lange von anderen Menschen davon überzeugen lassen, wer ich sein sollte und was ich zu tun hatte, um Erfüllung zu finden. Ich lebte das Leben der anderen, die jedoch auch nicht ihr eigenes Leben lebten. Dabei hatte ich nur mein eigenes Leben. Und was für eines! Das zweite Leben beginnt, wenn man begreift, dass man nur eines hat. Wenn man den Mut findet, sich seiner eigenen Freiheit zu bedienen, und es wagt, dieses Leben endlich auch zu leben!

Inzwischen bin ich seit mehr als vier Jahren unterwegs auf diesem zweiten Lebensweg zurück zu mir – auf dieser Reise vom Kopf zurück ins Herz. Und ich gehe den Weg zusammen mit wundervollen Menschen. Ich bin davon überzeugt, dass dieser Weg uns nicht an ein Ziel führen wird, sondern dass er selbst das Ziel ist. Es ist der bewusste Weg in die unermessliche Tiefe der Schöpfung, zurück in die Wirklichkeit, die erlebt und erfahren werden will. Grenzen setzen uns nur unsere beschränkten Vorstellungen.

Das zweite Leben ist ein Leben der Selbstermächtigung, in dem man die Verantwortung für das eigene Denken und Handeln wieder übernimmt und zu seinen wahren Bedürfnissen und den Bedürfnissen anderer Menschen zurückfindet. Man erkennt, dass Zufriedenheit und Erfüllung eine Frage der Einstellung und nicht der Umstände ist.

Der erste Schritt auf dem Weg ins zweite Leben ist die Ehrlichkeit zu sich selbst. In den folgenden Kapiteln möchte ich daher auch immer wieder ehrlich und ungefiltert von meinem Lebensweg berichten, möchte authentisch bleiben und nicht um jeden Preis gefallen. Und da dieses Buch ohnehin kein Gesetzbuch oder Ratgeber werden soll, erhebe ich auch nicht den Anspruch, immer und mit allem recht zu haben und überall zu absoluter Klarheit gelangt zu sein. Ich bin davon überzeugt, dass es im Leben nicht nur um absolute Wahrheiten geht, sondern auch um Fantasie und vielfältige Meinungen, die inspirieren und andere Perspektiven eröffnen.

Mein größtes Abenteuer war es, wieder hier im Leben und im Miteinander anzukommen, nicht mehr weglaufen und kämpfen zu müssen, und davon handelt dieses Buch. Weglaufen ist einfacher als leben – kämpfen ist einfacher, als sich hinzugeben! Wir leben im Alltag oft, als wäre unsere Zeit auf diesem Planeten bloß eine Fingerübung, das Vorspiel, und das eigentliche, richtige Leben käme irgendwann später. So viele Möglichkeiten stehen uns offen, so vieles will erreicht werden, doch für Geduld und Hingabe bleibt nur noch selten Zeit. Unsere Gedanken kreisen so oft nur um die Vergangenheit und Zukunft, dass wir dabei völlig das Wunder und Privileg aus dem Auge verlieren, dass wir jetzt hier sind! Wir sind überall, aber nur noch selten dort, wo das Leben tatsächlich stattfindet: im Augenblick und in der Wirklichkeit.

Dieses Buch möchte ermutigen, wieder mehr zu vertrauen, sich hinzugeben, loszulassen, um das Ankommen in der Gegenwart selbst erfahren zu können – hier und jetzt, auch einmal ohne Ziele und Erwartungen. Ich werde von meiner Reise zu neuen Einsichten berichten und von den »Sehenswürdigkeiten« und Ausflugszielen auf meinem Lebensweg erzählen – und mich hin und wieder im Meer meiner Gedanken treiben lassen.

Nur eines ist wirklich ganz sicher im Leben, nämlich, dass du gerade diesen Satz liest. Willkommen im Augenblick, willkommen in der Wirklichkeit! Wenn du Lust darauf hast, können wir einige Kapitel lang gemeinsam von Augenblick zu Augenblick reisen. Ich würde mich freuen!

* Janice *

ERSTES KAPITEL

Der Aufbruch ins zweite Leben

»Alles braucht seine Zeit, auch das Begreifen, dass es irgendwann zu spät ist.«

»DAS ZWEITE LEBEN beginnt, wenn man begreift, dass man nur eines hat.« Dieser Satz ging meiner Freundin Emina durch den Kopf, als ihre Partnerin vor siebzehn Jahren in ihren Armen starb. Krebs. Ein Menschenleib, verstrahlt und vergiftet von den verzweifelten Versuchen, ihn weiter am Leben zu erhalten. Vergebens.

Heute sagt Emina, wer niemals einen Menschen so sehr lieben durfte, könne niemals begreifen, wie kostbar das Leben und die Liebe sind und was Dankbarkeit bedeutet.

Da gab es diesen einen Tag im gemeinsamen Leben der beiden, an dem sie aufgaben und nicht mehr weiterkämpften. Sie brachen die Behandlungen in der Klinik ab und schlossen sich in ihrem Londoner Apartment ein, verschanzten sich im Doppelbett und redeten nur noch von all den Dingen, die sie so gerne noch miteinander erleben wollten, jetzt aber nicht mehr miteinander erleben durften. Ganz triviale Dinge – die aber tatsächlich Möglichkeiten tiefster Erfüllung hätten sein können, kostbare Möglichkeiten, die sonst allzu oft als Selbstverständlichkeiten an uns vorüberziehen. Was kümmert den, der noch eine Ewigkeit vor sich wähnt, die Erfüllung, die es bedeutet, jetzt überhaupt am Leben sein zu dürfen?

Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, brachte es einmal trefflich auf den Punkt:

Wir leben, als würden wir nie sterben, und dann sterben wir, ohne wirklich gelebt zu haben.

Am Morgen nach der Beerdigung stand Emina in der Küche, der Tisch war gedeckt für zwei. Während für sie die Zeit stillstand und sie auf eine leere Tasse starrte, saßen sich in London in diesem Moment sicher Tausende Menschen schweigend an Frühstückstischen mit vollen Kaffeetassen gegenüber und hatten sich nichts zu erzählen.

Wenn ich heute mit Emina spreche, sitzt mir eine charismatische, selbstbewusste Frau gegenüber. Ein Leuchtturm an Zuversicht und Lebensfreude. Erst durch diese Erfahrung hatte sie begriffen, dass auch ihr Leben endlich ist und sie schon morgen keine Zeit mehr haben könnte, es auch zu leben. Und dass ein Leben ohne Gefühle und ohne wahre Liebe kein Leben ist, sondern eine sicher dramatische, aber recht theoretische Abhandlung.

Heute ist sie sich bewusst, dass sie immer die Wahl hat, sich für etwas vollumfänglich zu entscheiden – und nicht nur gegen unzählige Dinge, die ihr nicht genügen könnten, vielleicht auch nur, weil sie anderen auch nicht genügen würden. Und das bedeutet eben auch, die Haltung und den Blickwinkel zu verändern, den eigenen Standpunkt auszuloten. Wir haben die Wahl, zu entscheiden, wem wir genügen wollen, uns selbst und den Menschen, die uns genauso lieben, wie wir sind, oder einer Masse, der alles gleichgültig ist, was nicht ihren hohen Erwartungen entspricht, die sie selbst kaum erfüllen kann.

Was kümmert den, der noch eine Ewigkeit vor sich wähnt, die Erfüllung, die es bedeutet, jetzt überhaupt am Leben sein zu dürfen?

Nichts konfrontiert uns stärker mit der Tatsache, dass alles vergänglich und deshalb so kostbar ist, als der Tod – oder eine schwere Lebenskrise, die auch eine Form von Tod darstellt, den Tod unserer Wünsche, Pläne und Ziele, die wir für unser Leben hatten. Wir wachen auf und fassen möglicherweise den Beschluss, ein neues Leben zu beginnen, damit wir keine weiteren Augenblicke mit Nichtigkeiten vergeuden. Um Gewissheit zu erhalten, was wir aus unserem alten Leben loslassen oder festhalten wollen, sollten wir es uns erst einmal vergegenwärtigen. Nur wenn wir die Vergangenheit durchleuchten, wird sie keine Schatten mehr in die Zukunft werfen. Und wo Licht in der Vergangenheit und in der Zukunft scheint, stolpern wir auch in der Gegenwart nicht mehr durch die Dunkelheit.

Was wir sehen, tut oft weh, doch gerade in diesem Schmerz – in der Enttäuschung und Verzweiflung – offenbart sich die Möglichkeit, alte, festgefahrene Denkmuster und Vorstellungen, die sich nicht bewährt haben und mit denen wir gegen die Wand gefahren sind, loszulassen und zu neuen Überzeugungen zu gelangen, die uns erst andere Wege eröffnen.

Der Mensch findet sich und seine Mitte nur, wenn er alle Seiten in sich erkennt und erfährt. Und nur dadurch wird die Mitte zur Fülle, und das Sein kann zur Erfüllung werden. Was wir meiden und was wir nicht sehen wollen, wiegt umso schwerer, je weiter wir uns davon entfernen und wegwünschen; gleich einem Hebel, der immer länger wird, bringt es uns doch ins Wanken und irgendwann ganz aus der Balance. Was wir unterdrücken und nicht sehen wollen, machen wir stärker. Was wir nicht beherrschen, beherrscht uns. Nur wer seine vermeintlichen Schwächen und verdrängten Bedürfnisse erkennt und sich ihnen stellt, entdeckt seine ganze Fülle – und kann Erfüllung finden.

Um ein anderes Leben zu leben – mein eigenes, mit allen meinen Seiten und Facetten! –, musste auch ich erst einmal hinschauen, welches Leben ich bisher gelebt hatte, und warum das Glück immer in der Zukunft und in der Ferne zu warten schien, aber nie da, wo ich jetzt gerade ungeduldig verweilte. Ich musste mich selbst fragen, wer ich heute wirklich bin, wie es dazu kam und wer ich gern werden möchte.

Zurück zu den Sternen

Angeblich begann das ganze Theater schon in einem Kreißsaal an einem Donnerstagmorgen im Juli 1977 – ich wollte einfach nicht raus in diese Welt. Ich drehte mich lieber noch einmal auf die Seite, denn ich kam ohnehin schon viel zu spät zum geplanten Geburtstermin. Und daran, dass ich morgens zu spät komme, würde sich auch in den nächsten dreißig Jahren nicht mehr viel ändern.

Den ersten Moment, an ich mich selbst erinnern kann, erlebte ich fünf Jahre später auf der Treppe vor der Schulsporthalle, neben der wir wohnten. In meiner Vorstellung öffnet sich der Vorhang, die Sonne scheint, eine Brise Abenteuerluft weht mir durch die blonden Haare, und ich sitze auf den massiven Steinstufen neben meinem besten Freund. Wir beide blicken in den blauen Sommerhimmel und erinnern uns gegenseitig daran, dass wir bloß nicht zu lange in den gefährlichen Feuerball da oben starren dürfen. Weil die Augen dann ganz bestimmt platzen, meint er. »Nein, weil sie dann natürlich verkohlen!«, verbessere ich ihn. Und da bin ich auch schon, die Heldin meines Theaterstücks: ein kleiner, blonder Neunmalklug, immer zu spät, immer das letzte Wort – und dann auch noch ein Lehrerkind.

Einig sind mein Freund und ich uns aber wenigstens darin, dass jeder, der zu lange in die Sonne schaut, qualvoll sterben würde. Und da sage ich zu ihm: »Du, ich glaube, uns gibt es überhaupt nicht. Das ist alles nur ein Traum, den ich träume. Und irgendwann wache ich auf, wirst sehn!, dann war ich auch du, und dann war ich die Sonne, und dann werde ich wieder unsterblich sein!«

In den Jahren danach allerdings muss ich wohl wieder vergessen haben, dass ich nur träume, denn das Wunder der Wirklichkeit zog mich nun doch zunehmend in seinen Bann. Jetzt wollte ich einfach unbedingt wissen und verstehen, mit Logik und Lupe herausfinden, wie diese wirkliche Welt begann, welche Kräfte sie im Innersten zusammenhalten und wann sie wieder auseinanderfliegen wird. Und am meisten faszinierte mich das Ende aller Dinge – die Vergänglichkeit, das Unergründliche hinter dem Schein und Sein von Normalität und Selbstverständlichkeit.

Diese unsichtbaren Kräfte, die alles zusammenhalten, ich wollte sie schon immer durchdringen, so lange ich denken kann. Noch bevor ich überhaupt lesen konnte, stöberte ich in einem Buch über die Geheimnisse des Universums und baute mir nach einer bebilderten Anleitung darin aus Nägeln und Kupferdraht meinen ersten funktionstüchtigen Elektromagneten. Dass für meine Nagelspule Papas Kofferradio herhalten musste, ist eine andere Geschichte. Ich schraubte wirklich alles auseinander – ob es da nun Schrauben hatte oder nicht! –, und nur äußerst selten schraubte ich davon auch wieder etwas zusammen. Und so verschwanden nach und nach Papas Uhren, Radios und alle seine Schraubendreher. Nichts reichte mir so, wie es war – da musste doch einfach mehr sein! Ein tieferer Sinn, ein Grund, ein großes Geheimnis, irgendwas!

Wir haben die Wahl, zu entscheiden, wem wir genügen wollen: uns selbst und den Menschen, die uns lieben, wie wir sind, oder einer Masse, der alles gleichgültig ist, was nicht ihren hohen Erwartungen entspricht, welche sie selbst kaum erfüllen kann.

Ich machte alles kaputt, um zu verstehen, wie es überhaupt vorher funktionieren konnte. Und die Schöpfung bewies reichlich Humor und ließ mich mit diesen recht zweifelhaften »Tugenden« und mit meinem Zerstörungswahn nun auch noch auf die Gesellschaft los.

Mit sieben Jahren wurde ich eingeschult. Mit siebeneinhalb konnte ich wenigstens schon einmal die Unterschrift meiner Mutter fälschen und die ganzen Tadel auch gleich selbst unterschreiben. Mit acht saß sie dann neben mir auf der Bettkante, nachdem ich zum ersten Mal dabei erwischt wurde, und fragte ausgerechnet mich, was sie nur falsch gemacht habe mit ihrer Erziehung. Ich wollte eigentlich nie wie die anderen sein, und doch war ich ein Klassenclown und Störenfried, der über alle Maßen die Anerkennung und Bestätigung seiner Mitschüler suchte. Ein Widerspruch zwischen Sein, Seinwollen und Seinsollen, der mich noch mein ganzes Leben zerreißen sollte und mich letztlich fast selbst »kaputt« gemacht hätte.

Ich konnte noch nicht einmal richtig rechnen, aber um mir Teleskope aus dem Optik-Baukasten meiner großen Schwester zu bauen und damit in den Nachthimmel zu schauen, dafür reichte es. Ich träumte von Abenteuern auf anderen Planeten, von anderen Welten und natürlich von Zeitreisen in die Zukunft, wo man mir die Welt und das Wunder des Lebens endlich erklären würde. Mein Freund und ich arbeiteten bereits an einem Fluchtplan, um diesen Planeten mit einer aufblasbaren Rakete zu verlassen, ganz so, wie in »Adolars phantastischen Abenteuern«, die damals regelmäßig als Zeichentrickserie im ostdeutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden. Natürlich durften unsere Geschwister und unsere Eltern nichts von unseren Plänen erfahren, hätten sie doch darauf bestanden, dass wir unsere Reise zu den Sternen jeden Sonntag unterbrechen, umkehren und zurückfliegen, damit wir Punkt zwölf wieder am Mittagstisch sitzen und den widerlichen Rosenkohl aufessen. Wir wollten wirklich weg, und zwar ganz weit und für ganz lange – und wir würden nicht eher heimkehren, bis wir dieses Universum vollständig ausgekundschaftet und verstanden hätten … bis wir allwissende Helden wären.

Zwischen meinem Zimmer und dem Kinderzimmer meines Freundes in der Nachbarwohnung gab es sogar eine geheime Standleitung, über die wir uns zum Aufbruch zu den Sternen verabreden wollten, wenn ich nur endlich die letzten technischen Schwierigkeiten mit unserer Rakete aus der Welt geschafft hätte. Irgendwann allerdings verfing sich Mama im Hausflur mit dem Kehrbesen in den gut versteckten Kupferdrähten und sabotierte unsere Sprechverbindung – und damit ein für alle Mal unser Himmelfahrtsprojekt. Unser Fluchtplan war gescheitert, wir mussten hierbleiben und weiterhin beim Geschirrspülen helfen, Altpapier sammeln und in dieser langweiligen Schule sitzen.

Als die Welt ihren Zauber verlor

Den einzigen Weg in den Kosmos fand ich fortan in Büchern und Geschichten, mit denen ich mich in schwarze Löcher und fernste Galaxien davonträumen konnte. Als ich älter wurde, bereicherten wenigstens die recht praktischen naturwissenschaftlichen Fächer meinen Schulalltag – Biologie, Chemie und vor allem Astronomie und Physik, die mir doch ziemlich Spaß machten. Aber je länger ich in der Schule saß, je mehr Wissen ich in meinem Kopf ansammelte, umso weniger Lust hatte ich noch auf das Universum in meinem Teleskop. Je mehr ich es verstand, umso weniger wollte ich es erleben und erfahren. 1990 hatte ich mir zudem meinen ersten eigenen Computer zusammengespart, und mein Herz schlug ab dem Zeitpunkt nur noch mit mindestens sechzehn Megahertz. Diese Maschine eröffnete mir eine weitere virtuelle Parallelwelt, faszinierend wie die in meinem Kopf. Und so war es auch kein Wunder, dass ich 1995 beruflich in der Informations- und Kommunikationstechnik landete. Irgendetwas musste ich ja beruflich machen, und meinen Plan, ein Zirkusclown zu werden, fanden meine Eltern nicht wirklich lustig. Auf alles Neue, auf verrückte Abenteuer hatte ich immer Lust – doch viel zu schnell entzauberte sich alles und ödete mich an. Wie ein heißer Strom aus Lava floss ich auf das Meer der Möglichkeiten zu, nichts konnte mich auf dem Weg dahin aufhalten. Angekommen in diesem Meer, kühlte ich jedoch schlagartig ab und erstarrte, denn auch das, was möglich ist, bedeutet irgendwann Normalität und Routine. Und so machte mir der berufliche Umgang mit Menschen und Technik zu Beginn großen Spaß, doch ich verlor erwartungsgemäß auch hier nach einigen Monaten komplett die Motivation. Aus Leidenschaft wurde Pflicht, bald erschien mir jeder Tag gleich stumpfsinnig. Es erging mir schon nach achtzig Arbeitstagen wie achtzig Prozent der Bevölkerung, die nach einer aktuellen Studie an einer Art »Montagmorgen-Melancholie« leiden. Es gelang mir nicht, mich damit abzufinden.

Meine Realität sah in etwa so aus: Morgens wälzte ich mich für gewöhnlich wie ein Klumpen warmes Blei von der Matratze und hoffte, dass die Beine mich wenigstens bis unter die kalte Dusche tragen würden. Meine Kollegen waren derweil längst auf dem Weg zur Arbeit. Die Verkehrsschlagader auf der anderen Seite meiner Fensterscheibe im Bad pulsierte, draußen war alles im Fluss. Aber ich funktionierte einfach nicht wie die anderen, bei mir floss gar nichts.

Tief in mir spürte ich, dass hier etwas ganz grundsätzlich nicht stimmte, und noch hoffte und rebellierte etwas in mir, also kam ich lieber gleich überall und immer zu spät. Nur die Hoffnung auf einen überraschenden Endspurt – endlich mit einem klaren, beständigen Ziel vor Augen – feuerte mich weiter an in diesem Marathon der ständigen Verspätung. Ich sehnte mich nach Veränderung, nach Leichtfüßigkeit, nach einem Lebenssinn, dem ich mich hingeben wollte.

Ohne Puls am Puls der Zeit

Ich lebte zwar immer am Puls der Zeit, aber meinen eigenen Puls konnte ich schon mit Mitte zwanzig kaum noch spüren. Dank des Fortschritts und vermeintlich grenzenloser Freiheiten kam ich zwar überall hin, doch nirgends mehr richtig an. Ich konnte alles erreichen, aber nichts und niemand stellte mich mehr zufrieden – und das, wo mir doch längst alles viel zu viel geworden war.

Ich genügte mir selbst nicht mehr, fühlte mich ständig müde und leer – und so konnte ich auch keinen anderen Menschen wirklich erfüllen.

Ich hätte mich gern um die ganze Welt gekümmert, war aber schon mit mir allein völlig überfordert. Ich fühlte mich nie wirklich ausgeschlossen von der Gesellschaft, folgte aber anderen Menschen dennoch lieber mit einigem Abstand auf ihren ausgetretenen Trampelpfaden ins Irgendwo der ersehnten Erfüllung.

Die Wunder der Welt und des Universums, die mich als Kind so fasziniert hatten, zeigten sich mir bald nur noch nach Feierabend im Fernsehen und in Computerspielen, Wunder gab es jetzt allein in der Werbung und in den Regalen der Supermärkte. Dort war alles super und Superlativ. Und um mich daran immer mehr berauschen zu können, musste ich dann auch noch superviel mehr arbeiten.

Die Informationsflut im Internet entzauberte das Wunder der Schöpfung noch weiter, und genau dort landete ich immer häufiger nach der Arbeit, weil ich zu müde war für das echte Leben und weil dort alles so grenzenlos und lebendig erschien, sofort verfügbar und kostenlos. Ich sog alles auf: Millionen von digitalen Informationen, die zwar unterhaltsam waren, aber keinen wirklichen Mehrwert für mein eigenes Leben darstellten und wenig damit zu tun hatten. Ich hielt es für schrecklich klug, ständig irgendwelche Online-Intelligenztests zu machen, damit ich wusste, dass ich klug bin, obwohl ich offensichtlich schon zu dumm war, um meinen Alltag auf die Reihe zu bekommen und um glücklich zu sein. Ich wusste so viele kluge Sachen, zum Beispiel, nach wie vielen Sekunden einer Umarmung zwischen zwei Menschen sich genau welches Hormon im Körper an die Arbeit machte. Und dass jede Umarmung unter einer halben Minute therapeutisch praktisch nutzlos sei. Aber wenn mich dann wirklich mal jemand umarmte und ich versuchte, wenigstens zweiunddreißig Sekunden zu klammern, hatte ich eher solche unnützen Gedanken im Kopf als irgendwelche Hormone im Blut und Gefühle im Herzen. Ich war vermutlich extrem – völlig verkopft! –, und vielleicht unterscheidet mich das auch von vielen Menschen, die mehr in Kontakt mit ihren Gefühlen sind. Tatsache ist, dass ich mich damit auseinandersetzen musste und mich nicht einfach damit abfinden konnte.

In jeder weiteren meiner Lebenssekunden wurde das bedingungslose Wunder Leben immer mehr funktionalisiert, immer zweckmäßiger. Alles wollte ich wissen, verstehen und erklären, aber wenig davon begriff ich wirklich. Und begreifen ist eben auch erleben, nicht nur wissen und verstehen. Ich erlebte eine faszinierende Welt im Kopf, eine Welt der Vorstellungen und Gedanken – doch es blieb eine Parallelwelt, in der ich mich immer weiter verlor.

Dank des Fortschritts kommen wir zwar überall hin, doch nirgends mehr richtig an. Wir können alles erreichen, aber nichts stellt uns mehr zufrieden. Wir sind überall, bloß nicht dort, wo das Leben tatsächlich stattfindet – in der Gegenwart.

Am Ende funktionalisierte ich mich sogar selbst und meinen Körper. Die große Begeisterung für die Schöpfung wich den Fragen, was ich hier zur Hölle eigentlich machte und wie ich es besser machen könnte. Statt den Sternenhimmel zu beobachten, beobachtete ich mich nun selbst und überwachte vor allem meinen Körper darin, ob er auch alles richtig machte. Und das mit hypochondrischer Besessenheit! Und mochte noch so viel Platz im Weltenraum sein, bald fand ich jeden Millimeter an mir zu dick und zu groß. In einer Welt, in der alles möglich zu sein schien, fand ich mich selbst einfach unmöglich. Ich war ein Mensch aus Sternenstaub, der sich nur noch ungern im Sonnenlicht zeigte. Aber der Weg zurück zu den Sternen und damit zum Staunen ist eben müßig, sagt man – »Per aspera ad astra!«, wie es auf Lateinisch heißt.

Ich hätte als junge Erwachsene nicht mehr wirklich daran geglaubt, dass ich bald wieder wie als Kind unter dem Sternenhimmel liegen und staunen würde. Und ich hätte es für unmöglich gehalten, dass ich irgendwann wieder in den Spiegel schauen und in meinen eigenen Augen das Funkeln der Sterne wiederentdecken würde.

Doch bevor man sich grundlegend aus alten Gewohnheiten und Handlungsmustern befreien kann, um die Zukunft anders zu gestalten, das weiß ich heute jedenfalls, muss man sich leider auch erst einmal mit der ernüchternden Realität, in der man steckt, konfrontieren – man muss raus aus Sehnsüchten, Hoffnungen und Erwartungen und vertrauensvoll rein in die Gegenwart! Nur wenn man das Gegenwärtige erst einmal richtig »festhält«, wenn man es also genau betrachtet, durchdringt, kennenlernt, sich ihm vertrauensvoll hingibt und emotional darauf einlässt, dann kann man etwas auch endlich einmal ganz loslassen. Dann begreift man, was man will und nicht mehr will, man entscheidet sich aus tiefster Überzeugung und spielt nicht mit Ausreden und Ersatz-Entscheidungen auf Zeit, während die Lebensuhr immer weitertickt.

In permanenter Umtriebigkeit und Zerstreuung versuchte ich, anzukommen, Stabilität und Halt zu finden, aber natürlich war das Unsinn. Das wusste ich damals schon, aber ich konnte einfach nicht damit aufhören!

Um etwas wirklich loslassen zu können, müssen wir uns erst einmal mutig und vertrauensvoll auf das Gegenwärtige einlassen. Dann begreifen wir, was wir wollen und nicht mehr wollen, und können uns aus tiefster Überzeugung entscheiden.

Ich wartete auf diesen großen Wink des Schicksals, von dem ich annahm, dass er vielleicht mit einem einzigen Luftstoß endlich alles Alte entwurzeln und mir etwas völlig Neues offenbaren würde: den überraschenden Traumjob, den Traumpartner, das Traumauto, den Lottogewinn. Aber das Schicksal winkte einfach nicht, es streckte mir nur die Zunge heraus.

Zu gesund für die Normalität?

Je mehr ich die Geduld mit mir verlor, desto dehnbarer wurde allerdings auch dieser verflixte Geduldsfaden. Er riss mir einfach nicht und wickelte die ganzen faulen Ausreden, die mich darin bestärkten, einfach so weiterzumachen, sogar in buntem Geschenkpapier ein – damit ich sie anderen Menschen auch noch als gut gemeinte Ratschläge aufschwatzen und ihnen mit auf den Lebensweg geben konnte. Wenn andere das Gleiche machen würden wie ich, käme es mir vielleicht weniger absurd vor. Womöglich war das mein unbewusster Antreiber.

Die Gegenwart, und das Wunder des Augenblicks, mussten einfach irgendwo in der Zukunft auf mich warten – das hier jedenfalls konnte es doch nicht sein! Ich verlor mich weiter in Vorstellungen und Erwartungen, statt mich hier und jetzt in der Gegenwart selbst zu verwirklichen. Ich wusste einfach nicht, wie! Verausgabung statt Leidenschaft, hohe Erwartungen und fantastische Träume, aber absolut kein großer Plan.

Kleine Glücksmomente und sogar Anflüge von Euphorie, natürlich gab es die auch. Aber unter grundlegender Zufriedenheit und Motivation stellte ich mir etwas anderes vor. Morgen ein Dreier im Lotto, übermorgen ein dreizehntes Monatsgehalt, irgendetwas war immer mal wieder und ließ den Puls kurz mit einhundertdreißig Schlägen pro Minute hüpfen. Primär aber trieben Abhängigkeiten und Verpflichtungen meinen Blutdruck nach oben, was zumindest den Kreislauf und etwas Stoffwechsel gewährleistete. So fiel ich wenigstens nicht um, während mein Kopf mit ständig neuen Erwartungen und Problemen den Lebensgeist im Herzen erdrosselte.

Und damit das auch so blieb, ließ ich mich mit immer neuen Sehnsüchten und Sicherheiten in der eisernen Lunge der Unterhaltungs- und Erfüllungsindustrie beatmen. Geld verdienen, Geld ausgeben – Geld verdienen, Geld ausgeben. Immer schneller, bis man hyperventiliert und an all den leeren Produktversprechungen zu ersticken droht. In meiner Wohnung häufte sich damals der ganze Krempel, der die Freiheit versprach, aber am Ende doch nur im Weg stand. Mir dämmerte langsam, dass mir von dem ganzen Zeug nichts wirklich gehörte, sondern dass es von mir Besitz ergriffen hatte. Ich hing und klammerte mich daran, aber es umarmte mich einfach nicht zurück.