Tosende Stille - Janice Jakait - E-Book

Tosende Stille E-Book

Janice Jakait

4,7

Beschreibung

Am 23. November 2011 sticht die damals 34-jährige Janice Jakait in Portugal in See. Als erste Deutsche wird sie den Atlantik überqueren: allein und nur mit Muskelkraft. "Row for silence" nennt sie ihre Aktion, mit der sie auf den Unterwasserlärm aufmerksam machen will, der für Meeressäuger und Fische tödliche Folgen hat. Aber sie will auch ihre innere Unruhe besiegen, sich selbst in der Stille begegnen. 90 Tage, 6500 Kilometer und eine Million Ruderschläge lang behauptet sie sich gegen die Gewalten, gegen Hunger und Müdigkeit und ist schließlich nicht nur in Barbados, sondern auch bei sich selbst angekommen. Ganz allein in einem Ruderboot den Atlantik überqueren, monatelang den Elementen ausgesetzt sein, die eigenen Grenzen testen: das ist der große Traum, den sich Janice Jakait nach zehnjähriger Anlaufzeit im November 2011 erfüllt. Im portugiesischen Portimão bricht sie in dem speziell für ihre Bedürfnisse ausgerüsteten Ruderboot Bifröst mit Ziel Barbados auf. Die Extrem-Sportlerin hat sich ein hartes Programm vorgenommen: Zehn bis zwölf Stunden täglich rudert sie in je zweistündigen Schichten. Seekrankheit und Schlafstörungen, Hitze und Haie zehren an ihren Nerven. Doch sie wird mehr als entschädigt: Tagelang begleiten sie Wale und Delfine, sie erlebt faszinierende Naturschauspiele - vor allem aber findet sie in der Stille des Ozeans eine nie gekannte innere Ruhe. Mit ungeheurer Wucht und Sprachgewalt schildert Janice Jakait ihre Tour de Force und lässt den Leser teilhaben an einem einzigartigen Abenteuer, das noch keine Deutsche vor ihr bewältigte.

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JANICE JAKAIT

TOSENDE STILLE

Eine Frau rudert über den Atlantik

1. eBook-Ausgabe © 2014 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG Berlin – München Umschlaggestaltung: Kim Becker, Hauptmann und Kompanie, Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von Janice Jakait Bildnachweis: alle Fotos © Janice Jakait, mit Ausnahme von © Lisa Froggatt, vorletzte Seite Bildteil unten und © Marc Russo, letzte Seite Bildteil oben Satz: BuchHaus Robert Gigler, München Konvertierung: Brockhaus/Commission ePub-ISBN: 978-3-943416-57-2

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Für Renate, Klaus,

Elli und Urfin

INHALT

ERSTER TEIL ~ Leinen los! ~

23. November bis 16. Dezember 2011

ERSTES KAPITEL ~ Hoffnung voraus! ~

23. November bis 30. November 2011

ZWEITES KAPITEL ~ Im Schlepptau – die Erinnerung ~

1. Dezember bis 8. Dezember 2011

DRITTES KAPITEL ~ Gegenwärtigkeit im Lärm ~

9. Dezember bis 16. Dezember 2011

ZWEITER TEIL ~ Viel Lärm um nichts ~

17. Dezember bis 8. Januar 2012

VIERTES KAPITEL ~ Zum Fest – die Besinnung ~

17. Dezember bis 24. Dezember 2011

FÜNFTES KAPITEL ~ Ein Feuerwerk guter Vorsätze ~

25. Dezember bis 31. Dezember 2011

SECHSTES KAPITEL ~ Zwischen den Fronten ~

1. Januar bis 8. Januar 2012

DRITTER TEIL ~ Im Kreis der Giganten ~

9. Januar bis 31. Januar 2012

SIEBTES KAPITEL ~ In Walgewittern ~

9. Januar bis 16. Januar 2012

ACHTES KAPITEL ~ Im Sog der langen Gedanken ~

17. Januar bis 24. Januar 2012

NEUNTES KAPITEL ~ Letzte Ausfahrt: Regenbogen ~

25. Januar bis 31. Januar 2012

VIERTER TEIL ~ Hinter mir nur das Kielwasser ~

1. Februar bis 21. Februar 2012

ZEHNTES KAPITEL ~ Die junge Frau und das Meer ~

1. Februar bis 7. Februar 2012

ELFTES KAPITEL ~ Mit dem Rücken zum Land ~

8. Februar bis 14. Februar 2012

ZWÖLFTES KAPITEL ~ Unbändige Stille ~

15. Februar bis 21. Februar 2012

Glossar

Windstärketabelle

Anmerkungen zum Text

ERSTER TEIL

23. November bis 16. Dezember 2011

~ Leinen los! ~

»Noch eher bedauere oder betrauere ich jedes bisschen Vergangenheit und hoffe oder sorge mich in die fernste Zukunft, als dass ich den Frieden im Augenblick begreifen will, so scheint es.«

(Tagebuch, 23. November)

23. Nov. 2011 – Portimão: 37°07.302’N, 8°31.650’W 16. Dez. 2011 – Position: 28°14.864’N, 20°06.735’W*

Tagesrekord: 47,7 Seemeilen / 88,3 Kilometer Meilenstand: 813 Seemeilen / 1.505 Kilometer*

ERSTES KAPITEL

~ Hoffnung voraus! ~

23. November bis 30. November 2011

Ein Kraftakt? Nein, eher ein Fluchtreflex, ganz ohne Widerstand – so unspektakulär stoße ich mich mit dem Ruder an Backbord vom Holzsteg ab, und ein Wassergraben eröffnet sich zwischen meinen berauschenden Erwartungen der letzten zwei Jahre und dem nüchternen Erleben. Zwischen Hoffnungen oder Befürchtungen und dem konkreten Augenblick. Jetzt ist es einfach nur zwölf Uhr, auf die Sekunde genau. Die Vorstellung beginnt, pünktlich, nach Spielplan. Und ich habe es eilig – nicht dass da für die nächsten Monate überhaupt noch ein dringender Termin im Kalender stünde, aber die Sorge, dass ich gleich vollständig die Kontrolle über meine Gefühle verlieren könnte, ist Ansporn genug. Meine Freunde am Steg, von denen einige ihre Tränen einfach laufen lassen, werfen mir die Leinen ins Boot und allerhand Segel- und Ruderlatein zur Verabschiedung an den Kopf:

»Mast- und Schotbruch, Janice!«

»Und immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel!«

»Ach, pass einfach auf dich auf, Mädchen!«

Auf meinem schmalen Ruderboot »Bifröst« ragt kein Mast in die Höhe, und auch kein langer Kiel strebt in die Tiefe, aber die Sorge, in Landnähe auf ein Riff aufzulaufen oder an einem Kliff zu zerschellen, begleitet mich dennoch. Wie so viele andere Sorgen und Ängste auch, die ich seit Wochen und Monaten hinuntergeschluckt habe, steht mir dieser zähe Brei aus Gefühlen jetzt bis zum Hals in der Speiseröhre. Aber bevor ich überhaupt noch einen Mundvoll davon schlucken könnte, um endgültig an der Angst zu ersticken, zieht mich der Augenblick des Aufbruchs ganz tief in sich. Ich verliere die Kontrolle, bin mit dem Drehbuch überfordert – der Vorhang fällt und ich falle von der Bühne. Ich vergesse alle einstudierten Gesten, auch die Verbeugung zur Verabschiedung, und lande in einer Blase, die mit mir davonschwebt. Die Erinnerungen, die sonst immer in solchen Momenten nach mir schreien und mich in eine Zukunft der stillen Hoffnungen jagen wollen, kann ich hier drin nicht mehr hören. Und so fehlen mir die Tränen. Ich spüre nichts mehr von dem, was ich am Steg und an Land zurücklasse, dem aber so schrecklich nachzuweinen wäre: Die Menschen, die mich lieben! Überwältigt bin ich von diesem Moment des Loslassens – in einem so kleinen Ruderboot. Da ist kein Platz an Deck, kein Platz mehr in meiner Blase, nicht für Reue, nicht für Schwermut, aber auch nicht für Angst. Alles irrelevant. Egal. Der Augenblick ist nur erfüllt von tiefster Stille, und ich bin ihre Sprachlosigkeit.

Mit jedem Ruderschlag treibe ich von einem schwankenden Augenblick in den nächsten. Fühle mich wie auf dem Rücken eines Zirkuspferdes, das in einer Manege durch Feuerringe springt. Auch wenn ich verkehrt herum aufgesattelt habe, rückwärts rudere, anstatt vorwärts zu galoppieren. Es ist kein Rennen, es gibt nichts zu gewinnen – im besten Fall ernte ich Beifall.

Das Publikum winkt an den Stegen, am Pier, an der Kaimauer. Jeder Ruderschlag, bei dem die symmetrischen Macon-Blätter der langen Skulls überhaupt ins seichte Hafenwasser eintauchen, und der kein Luftschlag ist, wird beklatscht. Signalhörner werden geblasen und ahnungslose Hotelgäste damit vom Mittagstisch zur Hafenpromenade gelockt. Da stehen sie nun und winken mir ebenfalls zu. Aber vielleicht winken sie auch nur ab, können sich keinen Reim aus mir und meinem sonderbaren Boot machen, wissen nicht, was ich damit vorhabe?

In meinem Kielwasser folgt eine Eskorte von drei Dingis und einem Ruderboot, die mich zum Abschied ein Stück durch den Hafen begleitet. Die zuversichtlichen Gesichter darin kenne ich, und sie kennen mich. Und sie glauben, dass sie auch mein Ziel kennen, das eigentlich gar keines ist. Sicher, ich rudere über das Meer, nach Barbados – aber warum ich wirklich dorthin will und diese außergewöhnliche Umweltkampagne gegen den folgenschweren Unterwasserlärm mitnehmen darf – ausgerechnet in einem Ruderboot! –, dämmert mir nicht wirklich! Ich rudere einfach mal weg und winke trotzdem zuversichtlich und zielbewusst zurück. Aber vielleicht winke auch ich nur ab, und ohrfeige mich selbst insgeheim für meine Begierden nach derartig bildgewaltigen Inszenierungen – was schwierig genug ist mit zwei Rudern in den Händen. Fast immer verliere ich dabei das Gefühl für den läppischen Seegang, der mit jedem weiteren Ruderschlag zur Mole, dem aufgeschütteten Damm mit der Hafenausfahrt, an Lächerlichkeit zunimmt. Dahinter warten das offene Meer und richtige Wogen. Ich setze einfach einen Ruderschlag hinter den anderen, wohl wissend, dass es im Leben oft nur einen einzigen kleinen Schritt bis zum Zuweitgehen braucht. Womöglich mache ich jetzt genau diesen einen.

Wie bei einer Entbindung zwängt sich das Boot durch den Geburtskanal am Molenkopf durch, die Wehen haben bereits eingesetzt, die Ebbe presst mich aus dem Hafen hinaus. Dann ist endlich Ozean, ist Licht und Horizont. Geburtsdatum: 23.11.2011. Sternzeichen: Schütze, Aszendent: Wassermann. Volltreffer!

Ich schaue zu meiner Freundin zurück, die am rot-weiß gestreiften Molenfeuer zurückbleibt. Ich glaube jedenfalls, dass sie es ist und ich nicht gerade einer wildfremden Frau Küsse zuwerfe. Details erscheinen nur mehr unscharf und verschwommen auf der Netzhaut – eine Akkommodationsstörung –, wie immer, wenn mein Gewissen und meine Nerven nicht mehr dabei zuschauen können, wie da der Verstand mal wieder mit dem Kopf durch die Wand will … oder über einen Ozean. Und manchmal vergisst er dabei dann auch noch, die Brille einzupacken. Und heute ist leider manchmal.

Das letzte Begleitboot, das sich noch mit mir auf das offene Meer hinauswagte, dreht nach einer halben Stunde ab. Wollte ich einfach nur von allem davonrudern, so wäre schon jetzt dieses große Ziel erreicht: Treibe ich doch zum ersten Mal völlig allein in dieser Nussschale auf offener See. »Glückwunsch zur erfolgreichen Flucht, Janice!«

Keine Ahnung, was jetzt vor mir liegt. Hinter mir verschwindet das Begleitboot mit einem einzigen magischen Lidschlag im Wellenspiel vor der Stahlbeton-Silhouette von Portimão. Das Hafenstädtchen lässt sich von den felsigen Klippen an beiden Seiten zu einem schicken Gesamtkunstwerk der urbanen Algarve einrahmen. Und bald wird die beherzte Besatzung des letzten Bootes, das mich begleitete, dort auch wieder im Hafen festmachen und sich zum verspäteten Mittagstisch begeben. Joaquim – der Steuermann – wird hoffentlich das Mobiltelefon neben den Teller legen. Zumindest hat er es versprochen. Vielleicht scherzt er gleich mit vollem Mund darüber, ob ich noch vor Einbruch der Dunkelheit bei ihm anrufe und um Rettung bitte – oder ob ich mich von den blitzenden Leuchtfeuern um das Kap Sankt Vinzenz noch eine Nacht lang blenden und verwirren lasse und erst völlig entkräftet und orientierungslos am nächsten Morgen bei ihm durchklinge.

Nach wie vor rudere ich im Einzugsbereich des portugiesischen Mobilfunknetzes und damit in der Nähe von Land – ob sich morgen früh allerdings ein letzter Balken auf der Signalanzeige meines Telefons zeigt, ist ungewiss. Noch lässt sich dieser Wahnsinn ganz unkompliziert abbrechen, ohne dass Küstenwache oder Seenotrettung überhaupt davon Notiz nehmen müssten. Würde ich Stolz und Ideal nur geschwind über Bord werfen, könnte ich bereits heute Nachmittag und vor Ladenschluss an einer langen Schleppleine wieder in den Hafen einlaufen. Dort könnte ich so viele Flaschen Portwein aus dem kleinen Geschäft an der Promenade ins Hotelzimmer tragen, dass ich in den nächsten Wochen niemandem mehr unter die Augen treten müsste, um mich zu schämen. Doch auch ganz nüchtern betrachtet könnte es sich bei diesem Abenteuer hier durchaus um eine handfeste Schnapsidee handeln – um ein Projekt, das im Rausch des sich Lebendigfühlens über zwei Jahre lang wahnhaft vorangetrieben wurde. Jeden kleinen Etappensieg habe ich dabei mit einem süßen Tropfen Euphorie begossen und zelebriert. So habe ich durchgehalten und mich durch die Tage der Ernüchterung und über die Berge von Rechnungen einfach zum nächsten Meilenstein in der Projektplanung geschleppt, zur nächsten frohen Botschaft, zum nächsten hoffnungsvollen Termin im Kalender. Nun aber warten erst einmal der Entzug und der bittere Kater: Zwischen den Wellen, die immer weiter wachsen, fühle ich mich schnell sturzbetrunken und verloren.

»Was habe ich nur angerichtet!« Mir wird schlecht.

Die Worte Rüdiger Nehbergs mahnen sich mir ins Bewusstsein, der unter anderem schon im Einbaum über diesen großen Teich gesegelt ist.

»Wer so etwas wagt, Janice, der muss irgendwo hinter sich abbrechen und springen«, gab er mir mit auf den Weg.

»Vielleicht ist mein Leben über 34 Jahre lang gar kein Irrweg, sondern nur ein besonders langer Anlauf für so einen Sprung!«, überlegte ich laut. Wir lachten beide.

Möglicherweise schaffe ich es mit einem ganz großen Satz ja tatsächlich über den Atlantik! Aber dazu muss ich jetzt loslassen, sonst erhänge ich mich auf halber Strecke an den Schnüren meiner Vergangenheit. Und selbst wenn ich es über den großen Teich schaffen würde da wäre noch immer das Nagelbrett meiner womöglich viel zu hohen Erwartungen für die Zukunft, auf dem ich schmerzhaft aufschlagen könnte. Ich muss das alles loslassen und vergessen. Hinter mir abbrechen und vor mir am besten erst einmal mit Zuversicht auspolstern.

Also breche ich hinter mir ab, irgendwo, und lege mich erst mal an den Rudern ins Zeug. Blicke dennoch mit einem Auge etwas wehmütig zum sicheren Hafen zurück und rechne mir die Entfernung in »Seemeilen« möglichst klein – wobei ich mir den Abstand zur gefährlichen Steilküste direkt daneben in »Kilometern« so groß wie möglich vorstelle. Das ändert so überhaupt nichts an der exakt gleichen Distanz, senkt aber Blutdruck und Puls um einen Umrechnungsfaktor von 1,852, also um fast die Hälfte. Ein Zahlenspiel, das mit dem Wind genauso gut funktioniert: Großartige 28 Stundenkilometer aus Nordost, das macht nur 15 Knoten, also Seemeilen pro Stunde. Windstärke vier. In einem Boot, das mit mir an den Rudern höchstens zwei Knoten macht, sollten sich auf einer geplanten Route über vier Monate und 3500 Seemeilen noch genügend nackte Naturgewalten mit solch einer Zahlenkosmetik schön schminken lassen.

Nur bei den Wellen will mir dies nicht so recht gelingen. Ganz gleich, welche Einheit ich zum Schätzen der Wellenhöhen ansetze – Stockwerke, Meter, Fuß, Zentimeter –, so ganz ohne Hochseeerfahrung und objektive Vergleichsmöglichkeit wachsen sie mir einfach nur verlässlich schnell und bedrohlich hoch über den Kopf. Rechenschwindel überfällt mich, wo sich bald Wellensysteme in der Ausdehnung kleiner Gebirgszüge aus der Tiefe emporwuchten und ich aus den Wellentälern heraus schon zwei Stunden nach Abfahrt bisweilen weder den Hafen noch die Steilküste ausmachen und anpeilen kann. Nur der Ozean, mein Boot und ich – dann eine Weile nichts, bis ich wieder auf einem Wellenberg aufsatteln darf und rückwärts reitend einen kurzen Blick auf die Stahlbeton- und Felsprärie hinter mir erhaschen kann.

Das Meer tanzt sich überraschend schnell, mit breiten Schultern und auf leichtem Fuß, ins Rampenlicht. »Bifröst« schwankt und stolpert gefällig in seinen kräftigen Armen. Für mich, die in dieser tanzenden Nussschale versucht, mit den beiden Skulls zu dirigieren, wird es schlicht unmöglich, die Ruderblätter gleichzeitig an jeder Seite ins Wasser zu tauchen. Immer wieder vollführe ich Luftschläge, ramme mir den Griff schmerzhaft in die Oberschenkel, fluche und lache gleichzeitig.

Ich beschließe, es mit anderer Tanzmusik zu versuchen, ziehe die Ruder ins Boot, werfe die Rettungsweste auf den Sitz und steige darüber, bestrebt, mich möglichst nicht mit der dehnbaren Sicherungsleine am Fußknöchel zu verheddern. Natürlich bleibe ich hängen, stürze über die Schienen, in denen der Rollsitz vor und zurück gleitet. Auf schmerzenden Knien krieche ich durch die quadratische Luke in die winzige Schlafkabine hinten am Heck. Ich öffne das wasserdichte Etui, in dem der iPod mit mehr als einhundert Hörbüchern und achttausend Liedern steckt. Doch das Gerät liegt nicht richtig in der Gummieinlage und der gepolsterte Deckel drückt auf alle Tasten gleichzeitig. Als ich ihn öffne und entspanne, surrt die Festplatte kurz hoch – dann wird es still. Der iPod startet neu, setzt sich auf die Werkseinstellungen zurück und fragt mich, in welcher Sprache ich zukünftig durch die nun leeren Listen navigieren will.

Ich habe tatsächlich bereits am ersten Tag meine Musik gelöscht! Sicherungskopie? Fehlanzeige! Nur auf dem Mobiltelefon befinden sich neben den Notrufnummern noch eine Handvoll Hörbücher und Musik-Wiedergabelisten, die mir Freunde zusammengestellt haben. Schaue ich mir jetzt aber ihre erste Gute-Laune-Liste mit dem Namen »Teutonen Punk« an, verfluche ich sie alle für ihren grausamen Humor: ausgerechnet die »Spider Murphy Gang«! Das ist nicht euer Ernst, oder?

Womöglich ist es ja richtig so, unterbewusst habe ich mir das Drama vielleicht sogar herbeigewünscht. So komme ich eben zügiger als geplant in der stillen Realität dieses Projekts an. Ein Projekt, das sich ja gerade für die dringend gebotene Stille in den Weltmeeren starkmachen will. Nun sollen auch meine Bordlautsprecher verstummen – was für eine Ironie!

Am liebsten würde ich mich gleich schluchzend in den Schlafsack fallen lassen, doch ein Schwall Magensäure treibt mich nach draußen an die Reling, wo mir die ersten Wellen ins Gesicht klatschen. Da nichts im Magen ist, kotze ich mir eben wie besessen die Seele aus dem Leib. Eine Teufelsaustreibung – mit Salzwasser. Aber statt eines Kruzifixes lässt sich überraschenderweise Land vor meiner Nase ausmachen, an Steuerbord, in Fahrtrichtung rechts, nicht hinter mir, nicht am Heck! Auch das ist übel! Wenn ich nicht rudere, treibt das Boot offenbar zurück zu den Klippen. Der Wind dreht auf Ost, bläst also nach West. Der Kompass an Deck zeigt einen ungefähren Kurs nach West an, direkt zum hervorstehenden Kap mit dem Leuchtturm!

Beim nächsten Atemzug sitze ich wieder an meinen beiden Gebetsmühlen – an den mehr als drei Meter langen Skulls mit dicken Riemen-Schäften aus schwarzem Karbon –, drehe den Bug vom Land weg, zurück auf einen Kurs nach Südwest, fluche und kotze und rudere gleichzeitig, möglichst ohne die Augen von den Klippen abzuwenden. Dreht der Wind weiter auf Süd oder unterbreche ich das Rudern, spült es mich stetig, aber unerbittlich, wieder zum Leuchtturm am Kap, dessen Feuer nach nur sechs Ruderstunden ohne Unterbrechung mein einziger verlässlicher Orientierungspunkt am Horizont bleibt.

Die Sonne taucht in die See und zieht die gesprenkelten Wolken und Wellenkämme mit sich in die Tiefe. Nichts davon ist mehr zu sehen, nur hören kann ich die tosenden Wellen noch. Der erste Tag schminkt sich ab, und auch mein Gesicht entfärbt sich immer weiter, wenn ich an die erste Nacht denke, die nun vor mir liegt. Mir ist immer noch schrecklich übel und kalt – dennoch schwitze ich und kann nichts essen. Schlafen ohnehin nicht. Mit dem Leuchtfeuer vor den Augen fürchte ich, dass auch das letzte Funkeln in meinen Augen erlischt, wenn ich dort oben an den Felsen an der Südspitze Portugals zerschelle.

Ich überwinde meinen Stolz, jetzt schon um Hilfe zu bitten, und rufe Tony an, meinen Sicherheitskoordinator in England, hole mir eine zweite Meinung bezüglich der Prognosen und Alternativen ein. Er bestätigt: Ein Kurs von 250 Grad nach Westsüdwest ist unbedingt zu halten, alles darüber endet im Desaster.

Ich schaue auf den Bildschirm meines Kartenplotters: Er zeigt 245 Grad. Also wieder an die Ruder! Mein nächster kurzer Anruf erreicht meine Freundin gegen drei Uhr morgens im Taxi nach Lissabon. Sie befindet sich bereits auf der Rückreise nach Deutschland und ich teile ihr, wie versprochen mit, dass sie nicht umkehren muss. Ich versichere ihr, dass es mir richtig gut geht, dass alles in allerbester Ordnung ist und ich jetzt, ebenfalls wie versprochen, auch etwas esse und trinke. Das ist meine Version.

Sie hingegen beteuert heute noch, ich hätte so viel gejammert und geweint und mich so schwach angehört, dass überhaupt kaum etwas am Handy zu verstehen gewesen wäre. Und vielleicht hatte sie auch dieses Mal recht. Sie hat wohl immer recht, wenn ich so darüber nachdenke! Vor allem, wenn sie sagt: »Janice, warum bist du in allem, was du tust, nur immer so extrem? Das ist extrem anstrengend!« Ja, ist es – und inzwischen kann ich sogar zugeben, dass sie recht hat.

Im Südosten erwartet mich bedrohlich die Straße von Gibraltar. Die Meerenge zwischen Europa und Afrika, die das Mittelmeer vom Atlantik trennt, ist eine der meist befahrenen Wasserstraßen der Erde. Ich hoffe inständig, dass der Wind nicht dreht und mich durch diese Düse zwischen den Landmarken hindurchspült. Mehr als 300 Handelsschiffe zwängen sich täglich durch dieses Nadelöhr. Und die Größten dieser Giganten sind etwa 400 Meter lang. Das ist viermal so lang wie ein Fußballfeld und 56 Mal so lang wie mein eigenes, unsinkbares, ungefähr sieben Meter langes Ruderboot. Jedenfalls hoffe ich, dass es diesem Anspruch gerecht wird und nie untergeht! Ein vom Bug so eines Stahlmonsters getretener Freistoß von Schweinsteiger wäre fast fünfzehn Sekunden lang unterwegs, bis er hinten am Heck ins Wasser plumpst und von einer wuchtigen Schiffsschraube in den Fußballhimmel gegrätscht wird. Mehr als 15 000 Container passen auf das Deck der größten Frachtschiffe, und in einen einzigen von ihnen passt mein Boot fast zweimal hinein.

Viele dieser Tanker und Frachter, aber auch Fischtrawler, Kreuzfahrtschiffe und Fähren ordnen sich zur Durchfahrt der Meerenge südlich von Portugal vorschriftsmäßig in einer abgesteckten Verkehrstrennungszone ein. Eine Art vierspurige Autobahn für Schiffe, in den aktuellen Seekarten an Bord: annähernd 22 Seemeilen, also 40 Kilometer breit. Eine Zone, durch die ich ganz sicher nicht rudern will, durch die ich aber auch gar nicht rudern darf. Die Schiffe, die um das Kap mit dem Leuchtturm fahren, fädeln sich dort zu Perlenketten auf, wenn sie den Kanal verlassen oder sich ins Mittelmeer einschiffen wollen oder einfach nur nahe gelegene Häfen ansteuern. Allein in diesem begrenzten Abschnitt bewegen sich pro Stunde um die 20 Schiffe mit beeindruckenden Geschwindigkeiten von sicher 15 Knoten.

Wenn ich sie in zwei Seemeilen Entfernung erblicken würde, blieben mir weniger als zehn Minuten, um herauszufinden, ob sie sich auf einem Kollisionskurs mit mir befinden und um gegebenenfalls noch irgendwie zu reagieren oder auszuweichen. In der verbleibenden Zeit könnte ich vielleicht 400 Meter weit wegrudern. Das entspricht in etwa einer Bootslänge der Stahlmonster.

Doch wie sollte ich in diesen wenigen Minuten und im Seegang überhaupt herausfinden, welcher Fluchtweg der Richtige ist? Die Schiffe sind schnell. Sehr schnell. Und ich – viel zu langsam! Zwischen den Stahlrümpfen bliebe in jeder Spur viel zu wenig Platz, um sicher das Fahrwasser zu queren. Das ist bestimmt der Grund, warum es strengstens untersagt ist, dort herumzukreuzen, auch für schnellere Boote. Ich will versuchen, zwischen den gefährlichen Gebieten – die Verkehrstrennungszone an Steuerbord und die Straße von Gibraltar an Backbord – nach Süden zu schleichen, ohne ihnen nahezukommen. Die Kapitäne der Ozeanriesen dort würden vermutlich nicht mal bemerken, wenn sie mich mit ihren Schiffsschrauben pürierten. Aber viel wahrscheinlicher wäre es, dass ich am Stück in einer gewaltigen Bugwelle kentere und völlig unverletzt absaufe. Die Steilküste im Norden wäre das eine große Problem, die Straße von Gibraltar im Osten das andere, aber die Verkehrstrennungszone im Südwesten birgt die eigentliche Herausforderung.

Als die Sonne wieder in den Morgenhimmel steigt und ich den hypnotischen Blick des blitzenden Leuchtfeuers endlich brechen kann, finde ich mich erschöpft, aber lebendig, genau am nördlichen Rand dieser Hexenküche wieder. Der Wind drehte in den letzten Stunden auf Nordost. Damit reduzieren sich jetzt am zweiten Tag alle Aus- und Umwege auf eine Route nach Südsüdwest, die nun genau durch dieses Verkehrstrennungsgebiet führt. Ich habe keine Wahl. Jeder Funkkontakt ist mit Uhrzeit und Schiffsnamen im Logbuch festzuhalten, doch es fällt schwer, in so vielen Buchstaben und Zahlen zu denken. Der Kartenplotter mit dem AIS – eine Art digitales Radar – zeigt auf einem Bildschirm zahlreiche Schiffe vor mir an. Der akustische Kollisionsalarm, der mich auf potenziell gefährliche Verkehrsteilnehmer hinweisen soll, gibt gar keine Ruhe mehr. »Ismarena«, »Sea Honest«, »Sea of Future« – das sind alles so unglaublich hoffnungsvoll klingende Schiffsnamen, vor denen er warnt, allein fehlt mir der Glaube an eine allzu optimistische Zukunft für mich, die zwischen ihnen hindurchrudern muss.

Weitere Glücksbringer aus dem orangefarbenen Seesack, den ich für den Notfall bereithalte, landen in den Taschen meiner leuchtend roten Offshore-Segeljacke. Den Seesack selbst verzurre ich wieder ganz nah am Rudersitz, gleich neben der schweren Tasche mit der Rettungsinsel, die beinahe halb so viel wiegt wie ich und die ich in der letzten Nacht doch aus der zweiten kleinen Kabine vorn am Bug – dem Stauraum für die Ausrüstung – auf das Deck verfrachtet hatte. Dann rudere ich weiter, nur um zehn Minuten später wieder ans Funkgerät und an den Bildschirm in der Schlafkabine zu hechten.

Dass Tausende Menschen zu diesem Zeitpunkt an ihren Computern sitzen, mitfiebern und mir die Daumen drücken, ahne ich nicht. Womöglich bringt auch das Glück. Werden wir noch sehen! Meine Webseite »rowforsilence.com« zeigt die Position aller großen Schiffe in Echtzeit auf einer digitalen Seekarte und auch »Bifröst« – als kleines Dreieck zwischen ihnen. Dieses System funktioniert jedoch nur für Schiffe in Küstennähe. Dort findet man mich am schnellsten, wenn man sich in der Karte zur Südspitze Portugals zoomt und unter Hunderten Schiffen im Seegebiet das Einzige sucht, das sich im Zickzackkurs dem allgemeinen Verkehrstrend widersetzt und sich dabei doch kaum zu bewegen scheint.

Bei jedem Schiff vor mir stellt sich erneut die Frage, ob es noch möglich ist, vor seinem haushohen Bug durchzuschlüpfen oder doch erst hinter dem Heck, im von Schiffsschrauben aufgewühlten Kielwasser. Bei den hohen Geschwindigkeiten der anderen Verkehrsteilnehmer und bei meinem Schneckentempo ist das jedes Mal eine kritische Bauchentscheidung. Denn: Hinter dem Heck eines Schiffes ist vor dem Bug des nächsten.

Wie eine Schnecke in Kältestarre »manövriere« ich mich über die vierspurige Schiffsstraße. Ganz aufstoppen, anhalten, könnte ich nur bedingt und mit einem zeltgroßen Sturmanker. Zumindest ließe sich damit meine hoffnungslose Langsamkeit noch ein Stück weiter reduzieren. Der Anker gleicht einem vier Meter großen Fallschirm, der unter Wasser ausgebracht werden kann und der in einem Unwetter eigentlich das Boot verlangsamen oder im Wind halten soll. Die aufgepeitschten Wellen würden dann idealerweise von vorn über den Bug brechen und nicht von der Seite heranrollen und das Boot zum Kentern bringen. Nur darf dieser Schirm an den beiden nahezu einhundert Meter langen Leinen hier im dicht befahrenen Fahrwasser nicht ausgebracht werden. Er könnte samt Ruderboot in eine gierige Schiffsschraube gezogen werden. Das Manöver ist ohnehin immer kritisch – der kleinste Fehler, und ich bekomme den Schirm, der mit unglaublichen Kräften am Boot zerrt und in dem sich viele Tonnen Wasser sammeln, nicht mehr zurück aufs Deck. Wie mir das in haushohen Wellenbrechern in einem Sturm gelingen soll, das will ich mir gar nicht erst vorstellen. Ich hoffe einfach, dass die Handgriffe nach dem Training im seichten Altrhein sitzen. Doch im Moment sehe ich ein derartiges Sturmszenario sowieso nicht vor mir, sondern nur noch große Schiffe. Und davon viel zu viele!

Fast alle Schiffsbrücken sind besetzt und direkt über digitalen Seefunk erreichbar, dennoch setze ich halbstündig eine allgemeine Sicherheitsmeldung über den Notrufkanal an alle Verkehrsteilnehmer in Reichweite ab. Kanal 16. Dazu übermittle ich meine Position, erkläre mein eingeschränktes Manövriervermögen und entschuldige den »etwas« unglücklichen Kurs. Ich erbitte Kurskorrektur auf der anderen Seite und natürlich den größten Sicherheitsabstand, der ihnen möglich ist, ohne ihre zugewiesene Fahrspur verlassen zu müssen. Die Reichweite meiner niedrigen Antennen liegt für Sprechfunk und bei spiegelglatter See bei etwa fünf Seemeilen. Bei dem Seegang spreche ich aber manchmal mit Schiffen in doppelter Entfernung, während die, die gerade direkt mit dem Bug auf mich draufhalten, gelegentlich gar nicht zu verstehen sind. Ich habe in diesem Fall keine Gewissheit darüber, ob sie mich wenigstens auf dem Radar oder AIS sehen können – ob sie überhaupt ahnen, dass ich vor ihnen wie eine Geisterfahrerin herumrudere.

Manch ein Kapitän oder Funkoffizier antwortet mit überschwänglicher Begeisterung und versucht vergeblich, mein weiß lackiertes winziges Boot mit einem Fernglas zwischen den gelegentlich weißen Wellenkämmen auszumachen. Andere sind besorgt, vor allem dann, wenn ich ihnen die Frage nach meinem Zielhafen beantworte: »Port St. Charles, Barbados, Karibik. Geschätzte Ankunftszeit: in etwa vier Monaten.« Gelegentlich erbittet man Bestätigung, will wissen, ob es sich tatsächlich um ein Ruderboot handelt oder um einen amüsanten Hörfehler. Spätestens aber, wenn das geklärt ist, möchte man dann doch noch einmal sicherstellen, dass ich auch wirklich keine Hilfe benötige. Die Funksprüche enden in der Regel mit: »Sie müssen verrückt sein! Viel Glück auf Ihrer Reise!« Auf Englisch.

Ständig drehe ich – rückwärts rudernd – den Kopf nach vorn zum Bug. Wandert mir dabei ein Schatten aus dem Augenwinkel über die Netzhaut oder ertönt der automatische Kollisionsalarm, springe ich vom Rudersitz an Deck in die hintere Kabine und rufe das Schiff vor mir über die direkte neunstellige Seefunkrufnummer an, die mir das Automatische Identifikationssystem (AIS) mitteilt. Die Koordinaten, Kurse und Geschwindigkeiten, die Schiffsnamen und Rufnummern, die ich von ihnen empfange, werden übersichtlich auf dem Display meines Kartenplotters angezeigt. Hoffentlich haben sie auch meine Daten empfangen! Dann könnten wir uns gegenseitig auf den Bildschirmen sehen. Die Kollisionswahrscheinlichkeit würde auf beiden Seiten berechnet und gegebenenfalls ein optischer und akustischer Alarm ausgelöst, wenn es eng werden könnte. Einer von uns muss dann ausweichen, dafür gibt es klare Regeln. Und immer bin ich es, die hier ausweichen müsste – aber nicht ausweichen kann! Nur muss das andere Schiff darüber erst einmal in Kenntnis gesetzt werden! Durch die direkte Kommunikation über die Rufnummern sind Missverständnisse mit nicht beteiligten Verkehrsteilnehmern meist zu vermeiden, und ich erreiche genau die Brücke, mit der ich dringend sprechen muss.

In der Regel gelingt das, nur in Ausnahmefällen antwortet eben niemand oder reagiert ein Schiff nicht einmal auf allgemeine Anrufe über den Notrufkanal. Dann bleibt nur die vage Hoffnung, dass sie mich trotzdem auf ihren Bildschirmen entdeckt haben und nicht gerade Fußball schauen. Ist heute nicht auch Champions League? Hoffentlich spielen die erst abends! Der Radarzielverstärker ist zusätzlich aktiviert. Ohne ihn hätte mein Kunststoffrumpf zwischen den Wellen überhaupt keine richtige Radarsignatur, was ein grobes Foulspiel wäre. Vielleicht komme ich ohne Gelbe Karte durch oder muss nicht nach einer Blutgrätsche des Gegners verletzt ganz vom Platz. Erfreulicherweise kommunizieren die Kapitäne untereinander, tragen mein Anliegen mit größeren und höheren Antennen weiter, stimmen sich untereinander ab. Also doch nur ein Freundschaftsspiel – »alles wird gut!« Ich bin zuversichtlich, als ich am Mittag die ersten beiden Fahrspuren des ungefähr 22 Seemeilen breiten Spielfelds durchquert habe. Abpfiff der ersten Halbzeit. Es riecht nach Unentschieden, kein Eigentor bisher! Bravo!

Doch das Gehirn zwischen meinen beiden Ohren – hinter denen jeweils ein halbes rezeptiertes Pflaster gegen die Seekrankheit klebt – schmiedet bereits neue Spiel- und Reisepläne. Die Aufregung, die Angst, das Rollen und Stampfen des Boots, die große Müdigkeit, Schwindel, Übelkeit, Dehydrierung, der leere Magen – es ließen sich viele Gründe für Sinnestäuschungen und Halluzinationen finden. Jetzt treffen sie mich einfach völlig überraschend und mit voller Wucht!

Ob sie durch die Seekrankheit direkt oder indirekt ausgelöst werden oder vom Wirkstoff der Pflaster, der diese gerade vermeiden soll, spielt nun auch keine Rolle mehr. Bei dem Wirkstoff handelt es sich um Scopolamin, ein Alkaloid, das sich auch in Nachtschattengewächsen wie Tollkirsche, Stechapfel und in der Alraune findet. Alles berüchtigte Hexenkräuter, deren Zubereitungen, genau wie die Seekrankheit selbst, heftige Delirien und Halluzinationen auslösen können und als Zutat der Hexensalben seit Jahrhunderten sicher und zuverlässig Strohbesen um den Globus fliegen lassen. So einen Besen zum Wegfliegen hätte ich jetzt auch gern! Die anderen Tabletten, die ich gegen die quälende Übelkeit, den Schwindel und die bleierne Verplantheit im Kopf schlucken musste, ein rezeptfreies Antihistaminikum, enthalten Dimenhydrinat, die wohl am häufigsten gegen Reise- oder Seekrankheit verordnete Substanz. Auch die hat vergleichbare Nebenwirkungen wie die Pflaster hinter den Ohren: Halluzinationen, aber eigentlich erst in deutlich höheren Dosen. Das alles weiß ich noch – nur, wie viele ich inzwischen davon geschluckt habe, kann ich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Überhaupt merke ich erst jetzt, dass einige Stunden der letzten Nacht völlig aus dem Gedächtnis gestrichen sind.

Alle inneren und äußeren Einflüsse und die Nebenwirkungen der Medikamente werden sich irgendwie aufaddiert haben. In ihrer Summe fluten die Symptome nun so stark und unerwartet an, dass ich nur kurze Zeit später hilflos und in heftigen Erlebniswellen ins Universum hinausgeschleudert werde. Bald bin ich mir nicht mehr bewusst darüber, dass mein Körper noch in einem Ruderboot zwischen Frachtern und Tankern umhertreibt und Gefahr läuft, zwischen ihnen zermalmt zu werden.

Mein Bewusstsein fliegt unterdessen durch den Kosmos. Und dann wieder zurück, durch die Lokale Galaxien-Gruppe, in den Seitenarm der Milchstraße, durchs Sonnensystem auf die Erde. So ungefähr jedenfalls; an die genaue Flugroute kann ich mich nicht mehr wirklich erinnern, als ich zu mir komme. Ich fiel gerade noch aus dem Blätterdach eines Regenwalds direkt wieder ins Boot – mit dem Kopf in den Eimer –, und jetzt übergebe ich mich.

Das nächste Schiff kündigt sich auf dem digitalen Radar an – der Alarm springt Trampolin auf meinem Trommelfell. Ich bin völlig orientierungslos. Es ist mir nicht möglich, die neunstellige Rufnummer des Schiffs vom Bildschirm abzulesen und ins Funkgerät zu tippen – und das hängt direkt darunter. Zahlen und Nummern verbrennen in einem Feuerwerk vor meinen Augen und gehen für immer verloren. Ich kann sie mir nicht merken, kann ohnehin nicht richtig sitzen in der kleinen Kabine, schlage mit dem eingezogenen Kopf unentwegt gegen die Kabinenwand, die inzwischen seltsamerweise vollständig mit Moosen, Wurzelwerk und Lianen bewachsen ist. Zwischen den Kopfstößen fällt mir wieder ein, wie Panik funktioniert. Doch keine Amnesie! Realität und phänomenales Spektakel vermischen sich. Wirkliches und Wirres sind nicht mehr zuverlässig voneinander zu trennen. Immer wieder versucht mein Verstand, aus den losen Enden seiner verworrenen Gedankengänge einen festen Knoten zu schlingen, um irgendwie einen konkreten Plan B anknüpfen zu können. Mein Daumen drückt unterdessen die Sendetaste am Mikrofon durch und meine Stimme ruft auf Kanal 16 erneut alle Schiffe im Seegebiet, um wenigstens das absolut Notwendige und Erklärbare zu übermitteln: den Namen meines Boots und die dringende Aufforderung, großen Abstand einzuhalten. Dann fällt der Oberkörper auf den Schlafsack, und der Kopf driftet zurück ins Zauberland.

Nur 24 Stunden nach meiner Abreise habe ich den Verstand verloren, schwebe im Raum, im Zentrum eines sich drehenden, ringförmigen Konstrukts aus Granitsteinen und nicht zu identifizierenden Maschinen. Es spricht mit mir in einer Sprache, die ich verstehen kann, aber nicht kenne. Es erzählt mir, dass alles gut wird, und in diesem Moment puzzelt sich mein ganzes Leben vor mir zusammen, und ich sehe, was damit gemeint ist. Dann wandelt sich die Stimme zur Musik, zum Rhythmus, wird Puls. Schlag um Schlag und synästhetisch mit allen fünf Sinnen erfassbar. Nie zuvor gefühlte Pulsfarben, die als süße Pulstöne zu riechen sind. Wieder erlange ich das Bewusstsein, falle erneut durchs Astwerk des Urwalds und zurück ins Boot, mit dem Kopf in den Eimer … und dann ist nichts mehr »gut«! Ein schaurig-schönes Desaster umarmt mich innig und klammert mich besinnungslos.

Die dritte Fahrspur ist durchquert. Ich kann es kaum fassen! Draußen dämmert es bereits, die Sonne geht unter. Und mir dämmert hinter meinen stark erweiterten Pupillen, dass dieser Zustand tagelang anhalten und sich womöglich noch intensivieren kann. Mal bin ich hier, mal »dort«. Dem Zwang zur Kontrolle folgt hier die Angst, sie gleich komplett zu verlieren, und bald darauf die erste richtige Panikattacke. Das ist wirklich der letzte Ort, an dem mir so etwas passieren sollte! Ich kann nur versuchen, alle Optionen abzuwägen, meine Panik auf das absolut Notwendige einzudampfen und Verstörendes, soweit wie überhaupt möglich, zum Blendwerk zu erklären. Mein Puls rast, das Herz springt mir gleich aus dem Brustkorb. Die Haut ist rot, der Mund schrecklich trocken, der Hals brennt. Meine Muskulatur verkrampft unter der schnellen Atmung. Die Luft wird knapp.

Die Wellen sind nicht höher als drei Meter, die See ist aber sehr aufgebracht, kabbelig. Die Meeresströmung setzt nach Süd, nehme ich an, die Dünung und die Windsee stehen fast im rechten Winkel zueinander. Aber das ist alles egal, Hauptsache, ich treibe weiter nach Süden, weg vom Land, raus aus dieser gefährlichen Zone.

Als ich mal wieder ganz bei mir bin, erinnere ich mich daran, dass im zwölf Kilogramm schweren Erste-Hilfe-Koffer »Promethazin« bereitliegt, ein Neuroleptikum und Antipsychotikum – und darüber hinaus auch ein hochwirksames Medikament gegen die Reise- und Seekrankheit. Auch die Astronauten der NASA und die Küstenwache schwören darauf, heißt es. Die üblichen Beruhigungsmittel befinden sich ebenfalls in der Bordapotheke. Wäre es einen Versuch wert? Oder sediere ich mich damit komplett weg? Sicher könnte ich noch über das Satellitentelefon Hilfe rufen oder per Funk einen Tanker um Rettung bitten. Noch sind Schiffe in Sichtweite und würden nicht tagelang auf sich warten lassen. Die Bergungskosten blieben überschaubar, so lange jedenfalls, wie kein Hubschrauber ins Spiel kommt. Aber irgendwo anrufen, nur um mir Rat einzuholen, das möchte ich auf gar keinen Fall. Dass es kritisch ist, das weiß ich selbst. Wäre die Situation erst einmal kommuniziert, würde korrekterweise die Küstenwache verständigt, und die fackelt sicher nicht lange. Ganz oder gar nicht, retten lassen oder schweigen, so oder so. Was jetzt, Fräulein Neunmalklug?

Wenige Tage vor der Abfahrt erhielt ich einen Brief von Tatiana, einer Freundin von der Ocean Rowing Society, einem Verband, der verrückte Ruderer wie mich unterstützt und die Rekorde verifiziert. In Erwartung derartiger Umstände hatte sie mir ihre Erfahrungen aufgeschrieben.

»Das Wichtigste, Janice: Bleib draußen! Die erste Woche wird die Hölle, aber Du wirst Dich durch den Eintopf der schlimmsten Gefühle durchfressen. Alles geht vorbei, denke daran, es ist nur die erste Woche, dann kannst Du all diese Gefühle nacheinander aussortieren. Die Symptome können denen einer schweren Depression gleichen, wenn Menschen bereit sind, sich das Leben zunehmen, und, wo es um das Durchrudern eines Ozeans geht, zu schnell vergessen, welche Anstrengungen es kostete, es überhaupt so weit zu schaffen. Vertraue Dir selbst nicht, triff keine Entscheidungen, halte einfach nur durch! Deine Tatiana«

An ihre Zeilen klammere ich mich jetzt fest, auch wenn sie nichts von Halluzinationen geschrieben hatte, und ich sage mir: »Wie ernst kann es schon sein, wenn ich noch nach Lösungsansätzen suchen und Entscheidungen treffen kann?« Die Tatsachen sind ernüchternd, aber das Drama inszeniere ich allein. Der Kontrollzwang, der nur Panik triggert, ist ein schlechter Berater, wenn es Ruhe und einen halbwegs klaren Gedanken braucht.

Ich stabilisiere meinen Körper zwischen den robusten kleinen Gurtbandnetzen, die zur Sicherheit wie Fangnetze an beiden Seiten der schmalen Schlafmatte gespannt sind. So werde ich nicht mehr von den Wellen im Boot herumgeschubst, was den Brustkorb entlastet. Ich schließe die Augen, versuche einfach, ruhiger zu atmen. Hinter und vor den geschlossenen Liddeckeln passiert Unbeschreibliches, Unerklärliches; ich weiß nicht, da konstruiert sich eine ganz andere Welt zusammen, das Körperbild ist völlig verzerrt. Trotz der Stabilisierung wächst das beklemmende Gefühl im Brustkorb: Es ist noch immer die Angst vor dem vollständigen Kontrollverlust, im Schlepptau folgt die Angst vor der Angst, und dann kommt die nackte Panik. Je mehr ich versuche, sie zu bezwingen, desto schwerer kniet sie sich auf meine Brust. Die Angst ist mein Kerker, in den ich mich nur noch tiefer einsperren lasse, je mehr ich versuche, sie niederzuringen oder ihr zu entfliehen.

Ich versuche, mich auf die Angst einzulassen, die Panikattacke zuzulassen. Ich will, dass sie sich eskaliert und mich im schlimmsten Fall ganz verzehrt. Aus Erfahrung weiß ich längst, dass sie dazu nicht in der Lage sein wird! Und so ersticke ich nicht, beruhige mich wieder, während ich die Energie aus dem Prozess ableite, atme langsamer und bekomme endlich besser Luft.

Wieder und wieder prüfe ich die korrekte Dosis, zittere mit den verschiedenen Tablettenblistern und den Beipackzetteln herum, die ich in diesem Zustand unmöglich lesen kann. Schließlich schlucke ich mit größtmöglicher Überzeugung und noch viel mehr Hoffnung, auch die korrekte Entscheidung getroffen zu haben, das »Promethazin«. Obgleich mir das Bewusstsein immer wieder entgleitet, lässt sich offensichtlich der Kurs im Wind halten – bis in den späten Abendstunden, etwa 30 Stunden nach Abfahrt, das Verkehrstrennungsgebiet plötzlich einfach hinter mir liegt. Ein Zeitsprung. Die zusammenhängende Erinnerung an diesen Abend ist verloren. Die Nacht tickte auf dem Wecker einfach herunter – die Minuten erlebte ich dabei teilweise bewusst auf dem Boot, die Stunden aber verstrichen in Abwesenheit meiner Wahrnehmung.

Bis zum Morgen des dritten Tages wachsen die Wellen unbemerkt weiter, auf vielleicht drei oder vier Meter, Windstärke fünf, fast sechs, eine frische Brise mit mehr als 20 Knoten. Gegen Mittag wage ich mich aufs Deck und tausche die Sicherungsleine am Fuß gegen einen kurzen und robusten Dreipunktgurt, mit dem ich mich stets an mindestens einem stabilen Verankerungspunkt einklinken und gesichert über das Deck entlanghangeln kann. Ich trage auch wieder die automatische Schwimmweste. Glaube zwar nicht, dass sie mir noch von großem Nutzen wäre, wenn ich erst einmal über Bord gefallen bin, aber sie ist bei moderatem Seegang die einzige sichere Befestigungsmöglichkeit, an der sich der Sicherungsgurt einhaken lässt, der das Überbordfallen ja gerade verhindern soll. Bequem beim Rudern ist das nicht, aber immerhin rudere ich endlich wieder, wenn auch nur in überschaubar kurzen Etappen. Ein Vogel begleitet das Boot, wohl schon seit gestern. Könnte auch eine Sinnestäuschung sein – ganz sicher bin ich mir nicht.

Gleichwohl bin ich aber klarer im Kopf. Nicht klar, aber klarer. Die Intensität der Sinnestrübungen nimmt im Tagesverlauf immer weiter ab. Nur gelegentlich zieht das Phänomenale noch die bewusste Wahrnehmung tiefer in ihren Bann. Während des zermürbend monotonen Ruderns zum Beispiel. Dann verliere ich mich durchaus noch in Gesprächen mit mir nahestehenden Personen, die allerdings genauso schnell von Bord verschwinden, wie sie gekommen sind. Aber sie sind da, sitzen dann neben mir. Das