Frohe Botschaft - Walter Wüllenweber - E-Book

Frohe Botschaft E-Book

Walter Wüllenweber

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Beschreibung

Alles wird schlechter. Wirklich? Nein – im Gegenteil!!

Es steht nicht gut um die Welt. Aber besser als jemals zuvor. Noch nie waren die Menschen so gesund, so gebildet, so wohlhabend, so frei und so sicher vor Gewalt wie heute. Fast alle Entwicklungskurven zeigen steil nach oben. Die vergangenen Jahrzehnte waren die beste Phase in der Geschichte des Homo sapiens. Doch in den Köpfen hat sich das gegenteilige Bild festgesetzt: Gewalt und Elend nehmen zu, alles verschlechtert sich. Diese Botschaft ist die Mutter aller Fake News und die Basis für den Siegeszug der Populisten. Um Herausforderungen wie den Klimawandel oder die Migration zu bewältigen, müssen die Gesellschaften die Lehren nicht nur aus ihren Fehlern ziehen, sondern auch aus ihren Erfolgen. Darum ist es kein Wohlfühlprogramm, die nachgewiesenen Verbesserungen in allen Bereichen des Lebens zu erkennen und zu würdigen. Die Frohe Botschaft ist die politischste Botschaft unserer Zeit.

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Seitenzahl: 328

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Über das Buch

Es steht nicht gut um die Welt. Aber besser als jemals zuvor. Noch nie waren die Menschen so gesund, so gebildet, so wohlhabend, so frei und so sicher vor Gewalt wie heute. Fast alle Entwicklungskurven zeigen steil nach oben. Die vergangenen Jahrzehnte waren die beste Phase in der Geschichte des Homo sapiens. Doch in den Köpfen hat sich das gegenteilige Bild festgesetzt: Gewalt und Elend nehmen zu, alles verschlechtert sich. Diese Botschaft ist die Mutter aller Fake News und die Basis für den Siegeszug der Populisten. Um Herausforderungen wie den Klimawandel oder die Migration zu bewältigen, müssen die Gesellschaften die Lehren nicht nur aus ihren Fehlern ziehen, sondern auch aus ihren Erfolgen. Darum ist es kein Wohlfühlprogramm, die nachgewiesenen Verbesserungen in allen Bereichen des Lebens zu erkennen und zu würdigen. Die frohe Botschaft ist die politischste Botschaft unserer Zeit.

Über den Autor

Walter Wüllenweber, geboren 1962, hat Politikwissenschaft in Heidelberg studiert und die Henri-Nannen-Journalistenschule absolviert. Seit 1995 ist er Autor beim stern. Zuletzt ist von ihm bei DVA erschienen »Die Asozialen. Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon profitiert« (2012).

Walter Wüllenweber

Frohe Botschaft

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Copyright © 2018 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: total italic, Thierry Wijnberg (Amsterdam/Berlin) Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-22787-6V003www.dva.de

Inhalt

Einleitung

Teil IDie großen Erfolge

In der Aufwärtsspirale

Noch nie so sicher

Der lange Frieden

Das sicherste Land in der sichersten Zeit

Gefährliche Ostdeutsche

Der Mythos von der gewalttätigen Jugend

Noch nie so frei

Die Bedeutung der Menschenrechte

Die Ausbreitung der Demokratie

Die Selbstverständlichkeit der Freiheit in Deutschland

In kleinen Schritten Richtung Gleichberechtigung

Noch nie so umweltbewusst

Das Wasser wird sauber

Das Ozonloch schließt sich

Die Luft wird sauber

Das Essen wird gesünder

Noch nie so gesund

Fortschritt durch geniale Köpfe

Der Staat macht gesund

Krebs: die letzte übrig gebliebene Todesursache

Noch nie so gebildet

Der Analphabetismus stirbt aus

Noch nie so anpassungsfähig

Der lange Marsch der Zuwanderer durch die Institutionen

Frische Luft für den Sozialstaat

Der schnellste anzunehmende Atomausstieg

Wenderepublik Deutschland

Ein deutsches Gesetz erobert die Welt

Noch nie so reich

Du bist, was du kaufst

Der älteste Sozialstaat der Welt

Das erfolgreichste Mittel gegen Armut: Globalisierung

Noch immer ungerecht

Nicht Leistung lohnt sich, sondern Reichtum

Unser Reichtum ist deren Fluchtursache

Umverteilung made in Germany: nach oben

Teil IIWarum wir die Erfolge ignorieren

Der Pessimismusreflex

Pessimismus ist sexy

Gute Nachrichten werden nicht vermeldet

In schillernden Farben schwarzmalen

Der Kampf um Aufmerksamkeit

Angst ist die Ware der Amateur-Publizisten

Pessimismus ist ein Hirngespinst

Die Dauerreizung des Angstzentrums

Pessimismus ist idiotensicher

Die frohen Botschaften verunsichern

Die frohen Botschaften sind zu komplex

Pessimismus sells

Frohe Botschaften verhindern Spenden

Lobbyisten gegen die frohen Botschaften

Mit Krawallbotschaften ins Rampenlicht

Teil III… und was daraus folgt

Die Mutter aller Fake News

Das Ende der Vernunft

Mit »Volkes Stimme« gegen das Establishment

Der Pessimismus der Inkompetenten

Der Optimismus der Experten

Das Ende der Wahrheit

Populisten misstrauen jeder Differenzierung

Die Radikalität in den Echokammern

Fanatismus braucht ständig Nachschub

Ein Sieg der Populisten

Das Märchen vom Scheitern

Das Märchen von »Merkels Grenzöffnung«

Das Märchen von der Obergrenze

Das Märchen von den gefährlichen Flüchtlingen

Die Wahrheit: Deutschland braucht die Flüchtlinge

Schlussbemerkung: Lob des Establishments

Anmerkungen

Einleitung

Das kann ja gar nicht sein! Spinnst du jetzt komplett? Was hast du denn geraucht? So ungefähr hörte es sich an, wenn ich Freunden über das Thema meines Buches berichtete. Und das waren noch die freundlicheren Reaktionen. Mitunter erhöhte sich die Stimmlage meiner Gesprächspartner leicht. Die Sätze wurden knapp, der Ton unverbindlich, die Arme vor der Brust verschränkt.

Ich musste lernen: Die frohen Botschaften machen viele nicht froh, sondern aggressiv. Denn sie verunsichern und stellen vertraute Gewissheiten infrage. Die weit verbreitete Weltsicht, alles verschlechtert sich, ist offenbar auch in meiner Filterblase die dominante Haltung, also bei politisch interessierten, lesenden Altbaubewohnern. Gerade in diesem Milieu gehört der »Immerschlimmerismus«, wie der Publizist Matthias Horx ihn nennt, zum kulturellen Selbstverständnis der inzwischen grau gewordenen no future generation. Seit den 70er Jahren gilt in dem Teil der Gesellschaft, der sich für aufgeklärt hält, jeder Warner prinzipiell als klug und weitsichtig. Wer hingegen auf Verbesserungen hinweist, ist entweder naiv oder gekauft. Positive Sichtweisen werden als Provokation empfunden, mehr noch: als Verrat.

Dieses Buch vertritt den Standpunkt: Das prägende Merkmal unserer Zeit ist nicht der Niedergang, sondern die weltweite Aufwärtsentwicklung in einem historisch einmaligen Ausmaß. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse könnten in dieser Frage eindeutiger nicht sein: Die Menschen sind heute gesünder, reicher, sicherer, gebildeter und freier als jemals. Und die erfreulichsten Entwicklungen ereigneten sich ausgerechnet in den benachteiligten Regionen der Erde. Ich wurde 1962 geboren, in einem Wirtschaftswunderland, das den Hunger und die Entbehrungen der Nachkriegsjahre bereits überwunden hatte. Doch weltweit mussten noch fast 30 Prozent der Kinder meines Jahrgangs Vollzeit arbeiten, um zu überleben. Von den heutigen Kindern sind es noch 10 Prozent. 1 Als ich den Kindergarten besuchte, verhungerten von 100.000 Menschen jedes Jahr fast 50. Heute alle zwei Jahre einer. 2 Ein Rückgang um 99 Prozent. Damals lebten noch rund zwei Drittel der Menschen in absoluter, existenzieller Armut. Heute sind es weniger als zehn Prozent. 3 In den 1960er Jahren war die Anwendung der Todesstrafe die globale Normalität. Nur eine Handvoll Länder verzichtete darauf. Heute sind es 141, mehr als zwei Drittel aller Staaten. 4

In Deutschland war der Lebensstandard in den 1960er Jahren bereits auf einem hohen Niveau. Dennoch vollzog sich der Fortschritt auch hier in großen Sprüngen: Als ich eingeschult wurde, arbeiteten unsere Väter pro Jahr 800 Stunden mehr als wir heute. Die Arbeitszeitverkürzung entspricht mehr als der Hälfte unseres aktuellen Jahrespensums. 5 Hätte meine Mutter arbeiten wollen, sie hätte meinen Vater um Erlaubnis fragen müssen. Der hätte sie zudem ungestraft zur Erledigung ihrer »ehelichen Pflichten« zwingen können. Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar. Während meiner Schulzeit war das Wasser im Rhein, im Main oder in der Elbe eine bunt schillernde Giftbrühe. Heute schwimmen dort Lachse. Als junger Erwachsener fürchtete ich mich vor dem Waldsterben. Das war keine Erfindung, sondern hatte tatsächlich bereits begonnen. Doch es konnte gestoppt werden und der Wald ist seitdem in ganz Deutschland enorm gewachsen. Die hinzugekommene Fläche ist doppelt so groß wie der Schwarzwald. 6 Anfang der 1990er Jahre musste ich als junger Journalist noch häufig über Morde berichten. Ihre Zahl hat sich seit der Wiedervereinigung um zwei Drittel reduziert. 7 Das Thema Massenarbeitslosigkeit hat mich mein gesamtes journalistisches Leben begleitet. Anfang 2018 schrieb ich den ersten großen Artikel über das Gegenteil: Arbeitskräftemangel.

Die zahlreichen Entwicklungsschübe in allen Bereichen geschehen nicht zufällig alle zur selben Zeit. Sie verstärken sich gegenseitig: So setzt etwa der dramatische Rückgang an Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen Energien frei für die Steigerung des Wohlstandes. Das ermöglicht Investitionen in Bildung, Forschung und Medizin. Verbesserungen bei der Bildung und höherer Lebensstandard bewirken in aller Regel einen Rückgang bei der Kriminalität. Was wieder den Wohlstand steigert. Der Kreis schließt sich. Das Zusammenwirken der vielen Errungenschaften hat eine Aufwärtsspirale in Gang gesetzt. Alle Entwicklungen zusammen bewirken in der Summe eine positive Umwälzung, deren Dimension größer ist als zu allen anderen Zeiten. Dies ist die beste Phase in der Geschichte des Homo sapiens.

Aber es fühlt sich überhaupt nicht so an. Die gefühlte Wirklichkeit wird bestimmt von Krisen, Katastrophen und Kriegen. Viele der apokalyptischen Erzählungen, die den Nachrichtenstrom steuern, sind maßlos überzeichnet, wie etwa die Schwierigkeiten bei der Aufnahme der Flüchtlinge. Manche sind schlicht unwahr, wie die angeblich gestiegene Gefahr, Opfer von Kriminalität zu werden. Doch einige Befürchtungen sind tatsächlich berechtigt. Trotz der prinzipiell positiven Entwicklung sind längst nicht alle Probleme gelöst. Während ich diese Zeilen schreibe, untersuchen Experten der UN die neuesten Giftgasangriffe in Syrien. Erst vor wenigen Tagen habe ich für einen Artikel Zahlen recherchiert, wonach die globale Produktion von Müll sechsmal schneller wächst als die Weltbevölkerung. Der Klimawandel bleibt eine existenzielle und ungelöste Bedrohung der Menschheit. Und von dem gestiegenen Reichtum profitieren zwar alle, die Reichsten jedoch unverhältnismäßig mehr als der Rest. Die obszöne Ungerechtigkeit, global, aber auch in Deutschland, ist die düstere Wolke, die einen Schatten über die insgesamt strahlende Bilanz wirft. Die frohen Botschaften sind also kein Grund zur Entwarnung.

Dennoch beweisen sie eindrucksvoll, dass die Gesellschaften der Welt in der Lage sind, selbst größte Schwierigkeit zu bewältigen. Lange Zeit galten Forderungen nach einer Abrüstung von Atomraketen, nach einer massiven Reduzierung von ozonzerstörenden Substanzen oder nach der Gleichstellung homosexueller Paare als weltfremde Illusionen. Solche Ziele schienen ähnlich unerreichbar wie heute die Beschränkung der Erderwärmung auf zwei Grad. Doch aus Illusionen wurde Realität: Drei Viertel aller Atomsprengköpfe sind vernichtet. Die Verwendung von Substanzen, die die Ozonschicht angreifen, wurde um über 98 Prozent reduziert. 8 Das Ozonloch schließt sich wieder. Und 2017 hat der Bundestag fast mit Zweidrittelmehrheit die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe beschlossen. Das sind Ergebnisse von jahrelanger beharrlicher Arbeit. Und sie zeigen: Engagement lohnt sich.

Wenn über positive Veränderungen gesprochen oder berichtet wird, dann in aller Regel als Kuriosum, als leuchtende Ausnahme von der überwiegend düsteren Wirklichkeit. Gerne mit der Ankündigungsfloskel: Es ist ja nicht alles schlechter geworden. Doch das Gegenteil ist richtig. Epochale Fortschritte sind nicht die Ausnahme, sie sind das Kennzeichen unserer Epoche. Diese Erkenntnis ist im Bewusstsein der meisten Menschen nicht angekommen. Während sich die Lebenswirklichkeit in den vergangenen Jahrzehnten enorm verbesserte, haben die Gesellschaften ihre Sinnesorgane für das Aufspüren von Defiziten trainiert. Die Wahrnehmung der anderen Seite ist dabei weitgehend verkümmert. Dieses Buch will zu einem Perspektivwechsel beitragen, zu einem vollständigeren Blick auf die Wirklichkeit.

Bislang wurde die positive Seite in der öffentlichen Debatte weitgehend ignoriert. Doch nun erscheinen beinahe zeitgleich mit diesem Buch gleich zwei Werke renommierter Wissenschaftler, die sich mit dem beschäftigen, was Hans Rosling die »stillen Wunder des menschlichen Fortschritts« nennt: Factfulness von Hans Rosling, der bis zu seinem Tod 2017 als Professor für internationale Gesundheit in Stockholm lehrte. 9 Der Harvard-Professor Steven Pinker ist der Autor von Aufklärung jetzt. 10 Beide haben über viele Jahre zu diesem Thema geforscht und publiziert, jeweils unterstützt von einem Team von Wissenschaftlern. Pinker und Rosling sind die bekanntesten Namen eines globalen Netzwerkes von Forschern und Institutionen, das sich auf diese lange vernachlässigte Perspektive der Aufklärung konzentriert. Inzwischen wurde ein echter Schatz an Daten und Fakten zusammengetragen. Vieles davon ist auf Internetseiten wie ourworldindata.org oder gapminder.org auch für Laien anschaulich aufgearbeitet. Vor allem was die internationale Entwicklung angeht, hat mein Buch Hans Rosling, Steven Pinker und den Wissenschaftlern, mit denen sie zusammenarbeiten, viel zu verdanken: Anregungen, Einsichten, vor allem aber verlässliche, nachprüfbare Daten.

Der zweite Teil des Buches beschäftigt sich mit einer Frage, die sich zwangsläufig nach der überwältigend positiven Bilanz aufdrängt: Wenn die Fortschritte so eindeutig und so unübersehbar sind, warum ist die große Mehrheit der Menschen dann so blind dafür?

Einen Teil der Antwort gibt die Evolution. Der Homo sapiens ist ein Fluchttier, dessen Gehirn selbst kleinste Anzeichen von Gefahr erheblich besser und schneller verarbeitet als alle anderen Informationen. Menschen scannen ihre Umwelt pausenlos nach möglichen Bedrohungen, sogar im Schlaf.

Die zweite Erklärung für die Erfolgsblindheit liegt im Wesen meines Berufes. Ich bin ein Journalist. Das Handwerk meines Berufsstandes orientiert sich exakt an den Mechanismen, die in unserem Erbgut für das Erregen von Aufmerksamkeit angelegt sind: Schlechte Nachrichten, Warnungen und Alarm sind die wichtigste Ware des Nachrichtengewerbes. Mit der steigenden Medienzeit wächst automatisch auch die Bedeutung von Journalisten für die Wahrnehmung und Beurteilung der Wirklichkeit. Seit den 1960er Jahren hat sich die Zeit, die Menschen in Deutschland mit Medien verbringen, verdreifacht, auf fast zehn Stunden täglich. 11 Der moderne Mensch sieht seine Umwelt immer stärker durch die mediale Brille.

Fast die gesamte Wachphase des Tages, vom Radiowecker bis zum letzten Checken der Push-Nachrichten auf der Bettkante, werden die Medienkonsumenten bombardiert mit Horrormeldungen über Anschläge, Firmenpleiten, Morde, Hunger, Naturkatastrophen und Auseinandersetzungen aller Art. Jede Meldung ist für sich wahr und berichtenswert. Doch zusammen erzeugen die vielen richtigen Nachrichten ein falsches Bild: Alles wird schlimmer. So war beispielsweise in den 70er Jahren die Wahrscheinlichkeit für einen Erdenbürger, bei kriegerischen Kampfhandlungen getötet zu werden, achtmal höher als für uns heute. 12 Damals wurde erheblich mehr getötet, heute wird erheblich mehr darüber berichtet.

Reporter sind auf das Aufspüren von Skandalen und Fehlentwicklungen jeder Art spezialisiert. Das ist kein Merkmal der Boulevardpresse allein. Insbesondere der Qualitätsjournalismus sieht sich als kritischen Journalismus. Seine Aufgabe ist es nicht, die Herrschenden zu loben, sondern zu kontrollieren, ihre Fehler aufzudecken und den Finger in die Wunde zu legen. Mit dieser Methode wurde der Journalismus zu einem kraftvollen Motor des Erfolges. Die fantastischen Fortschritte, von denen dieses Buch handelt, wären ohne kritische Berichterstattung nicht möglich gewesen. Denn die unabhängigen Suchtrupps, die jedem Missstand nachjagen, haben das Gemeinwesen erst in die Lage versetzt, aus Fehlern zu lernen.

Eine Mediengesellschaft, die sich 24/7 mit dem Misslingen beschäftigt, verliert zunehmend die andere Dimension der Wirklichkeit aus den Augen: das Gelingen. Um die Herausforderungen der Zukunft bewältigen zu können, müssen die Gesellschaften nun auch lernen, aus ihren Erfolgen zu lernen.

Funk, Fernsehen und Zeitungen schieben aufgrund ihrer Arbeitsweise prinzipiell Fehler und Gefahren besonders in den Vordergrund. Der Vorwurf »Lügenpresse« unterstellt indes das exakte Gegenteil: Die »Systemmedien«, wie sie von besorgten Bürgern und der AfD genannt werden, unterdrücken angeblich die »ganze Wahrheit«, indem sie Probleme absichtlich verschweigen und die tatsächliche Situation des Landes systematisch beschönigen.

Nicht nur in Deutschland, in zahlreichen Demokratien steht das Erfolgsmodell der unabhängigen Berichterstattung unter Druck. Der organisierte Rechtspopulismus attackiert nicht nur die Medien, sondern nahezu alle Methoden, die den Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte ermöglicht haben: freier Handel, die Zusammenarbeit in multilateralen Organisationen wie der EU, der Nato oder der UN, die Parlamentarische Demokratie mit starken Rechten für die Opposition sowie jede Form von Expertentum. Die Einschätzung von Fachleuten wird beinahe prinzipiell angezweifelt. Denn immer wieder zeigt sich: Wer sich über lange Zeit systematisch und nach wissenschaftlichen Grundsätzen mit einem Thema beschäftigt, bewertet Entwicklungen regelmäßig positiver als »Volkes Stimme«. Kompetenz macht optimistisch. Inkompetenz ist der Partner des Pessimismus.

Beim Schwarzmalen sind sich zwei eigentlich gegensätzliche Bewegungen verblüffend nahe: die »linksgrünversiffte« no future generation, die auf dem Erkenntnisstand der 70er Jahre und ihrem inzwischen alten Testament, Die Grenzen des Wachstums, stehen geblieben ist. Ihre prinzipiell hoffnungslose Haltung ähnelt dem konsequenten Leugnen aller Fakten der rechtsnationalen Populisten. Auf dem ganzen Globus sind populistische Bewegungen auf dem Siegeszug. Trotz aller Unterschiede verkünden die Führer dieser internationalen Unfreiheitsbewegung eine gemeinsame Hiobsbotschaft: Die Welt steht am Abgrund. Es ist die Mutter aller Fake News.

Dieser populistischen Herausforderung widmet sich der dritte Teil dieses Buches. Denn es zeigt sich: Die Erfolge, die hier geschildert werden, sind gewaltig, sie sind nachgewiesen, aber sie sind nicht selbstverständlich. Vor allem aber: Sie sind nicht unumkehrbar. In einigen Ländern wurde der Rückwärtsgang bereits eingelegt: Großbritannien verlässt die EU. In den USA, in Ungarn, Polen und der Türkei haben die Wähler sich für nationalistische und despotische Regierungschefs entschieden.

Wie in anderen Ländern, so wird auch in Deutschland deutlich: Die Anhänger der Populisten entsprechen nicht dem Klischee vom abgehängten Empfänger von Sozialleistungen. Es ist vor allem ein Merkmal, das auch in Deutschland die AfD-Wähler, die Pegida-Marschierer und die »besorgten Bürger« eint: apokalyptischer Pessimismus. Das ist der große gemeinsame Nenner aller Populisten. Egal, ob es um Kriminalität geht, die Aufnahme von Flüchtlingen, die wirtschaftliche Entwicklung, die Altersversorgung oder die Gefahr eines Krieges – für die Insassen der rechten Echokammer steht die Katastrophe stets unmittelbar bevor.

Die neue Spaltung der Gesellschaft, die von nun an die politische Auseinandersetzung dominiert, verläuft nicht mehr zwischen Arm und Reich, nicht zwischen rechts und links, nicht zwischen oben und unten. Gegenüber stehen sich auf der einen Seite die prinzipiell Zufriedenen, die den Fortschritt der vergangenen Jahre erkennen. Sie wollen die Gesellschaften auf dem eingeschlagenen Weg weiterentwickeln. Auf der anderen Seite sind die prinzipiell Unzufriedenen, die alle Erfolge leugnen. Sie wollen eine radikale Kursänderung. Wohin, ist meist nicht klar und auch nicht wichtig. Hauptsache, woandershin. Die zentrale Frage, an der sich Geist und Ungeist scheiden, ist also die Haltung zu den Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte. Das macht die frohe Botschaft zur politischsten Botschaft unserer Zeit.

Im Wettbewerb um Aufmerksamkeit hat die Apokalypse erhebliche Startvorteile. Schon die klassischen Medien sind auf Kritik und das Veröffentlichen von tatsächlichen Missständen spezialisiert. Die entscheidende Neuerung, der game changer, sind jedoch die sozialen Medien. Ohne diese hochwirksamen Angstmaschinen wären die rasante Ausbreitung des Irrglaubens und die Wahlerfolge autoritärer Despoten nicht möglich gewesen. Sie sind wie geschaffen für die Verbreitung apokalyptischer Botschaften, denn in sozialen Medien ist Wahrheit keine relevante Kategorie. Ob vermeintliche Informationen korrekt sind, ob ihr Inhalt nachprüfbar ist oder wer die Quelle ist, spielt bei Facebook keine Rolle. Es gibt nur ein Erfolgskriterium: die Zahl der Klicks.

Inzwischen sind die Erkenntnisse insbesondere zu den Vorlieben der Facebook-User eindeutig: Je schriller eine Meldung, je beängstigender, empörender und hasserfüllter sie ist, umso häufiger wird sie geklickt. Die Kollegen des Spiegel haben sich die Mühe gemacht und 450 besonders häufig geklickte Meldungen über angebliche Sexualstraftaten von Flüchtlingen nachrecherchiert, die auf populären Facebook-Seiten rechter Gruppen verbreitet wurden. Nur in 26 Fällen gab es zumindest die Tat und dazu einen tatverdächtigen Flüchtling. 13 In den sozialen Medien wird die tatsächliche Wahrheit durch die gefühlte Wahrheit abgelöst.

Die Auseinandersetzung mit dem Populismus kann nur mit den althergebrachten Methoden der Aufklärung geführt werden. Darum nennt Steven Pinker sein Buch Aufklärung jetzt. Mehr als je sind die echten, nachprüfbaren Fakten die schärfste Waffe gegen die pessimistische Bedrohung. Denn ihre heilsame Wirkung ist weitaus stärker als die Hypochondrie, die von den alternativen Fakten verursacht wird. Wem das Ausmaß der positiven Umwälzungen der jüngsten Vergangenheit bewusst ist, wer erkannt hat, dass sich fast alle Bereiche des Lebens erheblich verbessert haben, wie Fehlentwicklungen umgekehrt wurden, wie ewige Geißeln der Menschheit besiegt werden konnten, der ist immun gegen den Irrglauben der Schwarzmaler.

Die frohe Botschaft ist die Antwort auf den Populismus.

I

Die großen Erfolge

In der Aufwärtsspirale

Es steht nicht gut um die Menschheit. Aber besser als jemals zuvor.

Vor 300.000 Jahren begann der Homo sapiens, die Erde zu bevölkern. Über 100 Milliarden Menschen wurden seitdem auf dem Planeten geboren. Ihr Leben war meist kurz und schmerzhaft, geprägt von Hunger, Unterdrückung, Krankheit, Armut und Gewalt. Keine dieser Plagen hat die Menschheit bis heute besiegt. Aber alle erheblich verringert. Fast durch die gesamte Geschichte waren Entbehrung und Qual bestimmend für den Alltag von über 90 Prozent unserer Vorfahren. Heute sind wir auf dem besten Weg, das Verhältnis umzukehren. Von den gewaltigen Verbesserungen der Lebensumstände in sämtlichen Kategorien profitiert nicht nur jene kleine, elitäre Gruppe von Europäern oder Nordamerikanern, sondern die große Mehrheit der Weltbevölkerung.

Immer wieder gab es in unserer Geschichte Entwicklungsschübe, in denen die großen Geißeln der Menschheit zurückgedrängt werden konnten. Eine solche Epoche des Erfolges erlebt unsere Spezies auch jetzt, in unserer Zeit. Und was für eine! Wir sind Zeugen und zugleich Akteure eines wahren Quantensprungs bei der Verbesserung der Lebensumstände. Nahezu alle Kurven zeigen steil nach oben. Die positiven Entwicklungen sind umfassender als in allen bisherigen Perioden. Die Dimension des Fortschritts, den die Menschheit allein in den vergangenen fünf Jahrzehnten erreicht hat, ist größer als der Fortschritt in ihrer gesamten Historie zuvor. Wir erleben die beste Phase in 300.000 Jahren Homo sapiens.

Noch nie waren die Menschen so gesund. Noch nie war die medizinische Versorgung besser. Noch nie verfügten Menschen über so wirksame Medikamente. Noch nie war das Essen gesünder. Noch nie war die Gefahr so gering, von Mitmenschen umgebracht zu werden. Noch nie genossen die Menschen solche Freiheiten zur persönlichen Entfaltung. Noch nie konnten so viele Bürger ihre Regierungen in demokratischen Wahlen selbst bestimmen. Noch nie verzichteten so viele Staaten auf die Anwendung der Todesstrafe. Noch nie waren die Menschen besser informiert, noch nie besser gebildet und noch nie war der Anteil von Analphabeten so gering. Noch nie waren Reichtum und Wohlstand größer und gleichzeitig der Anteil der Menschen in absoluter Armut so niedrig. Und noch nie in ihrer Geschichte lebten die Menschen so lange. 71 Jahre beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung eines Erdenbürgers. Der steilste jemals gemessene Anstieg der Lebenserwartung ereignete sich erst kürzlich, in diesem Jahrtausend in Afrika. 1

Mit jeder einzelnen dieser frohen Botschaften werde ich mich im ersten Teil des Buches genauer beschäftigen. Dabei wird sich herausstellen: Es handelt sich nicht um Meinungen, sondern um nachgewiesene Fakten. Seit gut einem Jahrzehnt arbeiten Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen daran, historische Quellen so auszuwerten, dass damit Daten aus der Vergangenheit generiert werden können, etwa über Einkommen, Kriminalitätsraten, Lebenserwartungen oder Versorgung mit Lebensmitteln. Das ermöglicht datenbasierte Zeitreihen, die weit zurückreichen. Historische Lebensbedingungen können mit denen von heute verglichen werden, nicht nur ungefähr oder prinzipiell, sondern exakt und quantitativ. Dieser analytische Blick in die Vergangenheit ist ein hochwirksames neues Werkzeug der Aufklärung. Es erlaubt uns erstmals die Antwort auf eine der großen Fragen der Menschheit: Haben wir Fortschritte gemacht?

Steven Pinker, Psychologieprofessor in Harvard, hat mit dieser Methode nachgewiesen, dass Krieg und Gewalt immer weiter auf dem Rückzug sind. 2 Die Berechnungen des französischen Ökonomen Thomas Piketty konnten zeigen, dass seit dem 18. Jahrhundert die Vermögenskonzentration stetig zugenommen hat. 3 Inzwischen ist eine weltweite Bewegung aus Forschern unterschiedlicher Disziplinen entstanden, die verfügbare Daten aus den unterschiedlichsten Quellen sammeln, aufarbeiten und auf Webseiten anschaulich darstellen. Stellvertretend möchte ich hier drei Projekte nennen: HumanProgress, verantwortet von dem Amerikaner Marian L. Tupy. Gapminder, gegründet von dem Schweden Hans Rossling, der im vergangenen Jahr verstorben ist. Our World in Data, betrieben von Max Roser, einem jungen, deutschen Ökonomen, der bis vor kurzem am Institute for Economic Thinking der Universität Oxford forschte. Roser postet ständig neue, überraschende Zahlen, Daten und Analysen in anschaulichen Diagrammen. Millionen Interessierte lesen die Beiträge auf seiner Internetseite, Zehntausende folgen ihm auf Twitter. »Mich überrascht selbst, auf wie viel Interesse ich da stoße«, sagte Roser dem Spiegel. 4 Er ist einer der Stars der Szene, die mithilfe von historischen Statistiken die Entwicklungen der Menschheit nachzeichnet.

Die intensive Arbeit mit objektiven Daten und Informationen hatte eine starke Wirkung auf Max Roser: Sie hat ihn zu einem überzeugten Optimisten gemacht. »Die meisten Menschen haben ein übertrieben negatives Weltbild«, sagt Roser. »Die Lebensbedingungen werden immer besser.«

Im zweiten Teil dieses Buches werde ich ausführlich darauf eingehen, wie die Massenmedien mit den großen, oft sensationellen Fortschritten umgehen: Sie ignorieren sie weitgehend. In den »Qualitätsmedien« wird zumindest hin und wieder auch über einzelne positive Entwicklungen berichtet. In der Kolumne »Früher war alles schlechter«, der dieses Buch viele Anregungen verdankt, stellt etwa der Spiegel jede Woche ein konkretes Beispiel des Fortschritts vor. 5 Präsentiert werden Sensationen, wie die Reduzierung der Malariatoten um 60 Prozent seit 2000, genauso wie weniger relevante Fakten wie der Rückgang des Bierkonsums der Deutschen seit 1991 um etwa ein Drittel. Die vereinzelten Positiv-Meldungen in deutschen Medien erzeugen beim Publikum ein kurzes, wohliges Gefühl: Ist ja doch nicht alles schlecht. Verglichen mit dem Dauerbombardement an Meldungen über Katastrophen, Kriege, Leid und Elend haben sie jedoch keinen prägenden Einfluss auf das Bild, dass sich die Menschen von der Lage der Welt machen. Sie wirken wie eine kleine Insel in einem Ozean des Grauens. Ein Kuriosum. Die Ausnahme von der Regel. Doch exakt das Gegenteil ist richtig: Fortschritt ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Nahezu alle Parameter haben sich messbar gebessert. Die Lösung eines Problems, die Linderung eines Mangels, die Verbesserung von Lebenssituationen sind nicht lediglich kleine Lichtlein in einer düsteren Zeit. Sie sind das prägende Merkmal einer leuchtend hellen Epoche.

Die vielen fundamentalen Besserungen in den unterschiedlichen Bereichen geschehen nicht zufällig alle zur selben Zeit. Sie verlaufen nicht parallel zueinander, sondern beeinflussen und verstärken einander gegenseitig. Bessere Bildung hat einen positiven Effekt auf den Wohlstand. Beides bewirkt einen Rückgang an Gewalt, was wiederum das Wirtschaftswachstum befördert. Auch die steigende Qualität der medizinischen Versorgung beeinflusst die Wirtschaft positiv. Die zusätzlichen Mittel ermöglichen mehr Investitionen in den Sozialstaat, deren Folge weniger Kriminalität ist. Und mehr Investitionen in wissenschaftliche Forschung, mit deren Ergebnissen weitere Probleme gelöst werden können. Man kann das Spiel beinahe endlos fortsetzen.

Der entgegengesetzte Verlauf ist uns allen bekannt: Mehrere negative Entwicklungen können eine Abwärtsspirale auslösen. In den zurückliegenden Jahrzehnten ist es der Menschheit gelungen, eine Bewegung in die andere Richtung zu bewirken. Die Welt befindet sich in einer Aufwärtsspirale.

Probleme gelöst, den Menschen geht’s gold, läuft bei uns.

Ganz so einfach ist es nicht. Die Tatsache, dass die Kurven nach oben gedreht werden konnten, ist kein Grund zur Entwarnung. Krieg und Terror, Armut und die unerträglich ungerechte Verteilung des Reichtums bleiben ungelöste Aufgaben. Relativ neu hinzugekommen sind auf der unendlich langen To-do-Liste der Menschheit das Insektensterben oder Inseln aus Plastikmüll in den Ozeanen. Der Klimawandel beschleunigt sich und bleibt eine existenzielle Bedrohung der gesamten Menschheit, für die sie inzwischen bestenfalls ein Bewusstsein entwickelt hat. Ob die notwendigen Maßnahmen rechtzeitig umgesetzt werden, erscheint weiterhin fraglich. Deutschland konnte seine CO₂-Emissionen seit 1990 zwar um mehr als ein Viertel senken, doch selbst das einstige ökologische Vorzeigeland wird sein angestrebtes Ziel, eine Reduzierung um 40 Prozent bis 2020, nicht erreichen. 6 Erfolge beim Umgang mit Problemen in der Vergangenheit dürfen nicht bedeuten, die Herausforderungen der Zukunft zu ignorieren oder ihre Bedeutung kleinzureden. Um die kommenden Schwierigkeiten bewältigen zu können, reicht Konzentration auf die kommenden Probleme allein nicht aus. Notwendig ist eine vollständige Analyse des bisherigen Verlaufs. Und zu einem kompletten Bild gehört die Beachtung der bisherigen, großen Erfolge zwingend dazu.

Der weltweite Hunger ist ein Thema, bei dem ein Blick in die Vergangenheit zur Beurteilung der Lage dazugehört. Die aktuelle Situation: Noch immer müssen mehr als 800 Millionen Menschen hungern. Wegen der Kriege im Jemen und im Süd-Sudan ist ihre Zahl im vergangenen Jahr sogar wieder gewachsen, nach Jahrzehnten des stetigen und deutlichen Rückgangs. Amartya Sen, der aus Indien stammende Harvard-Professor für Wirtschaft und Philosophie, wurde für seine Wohlfahrtstheorie 1998 mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Sen hat in seiner Forschung nachgewiesen, dass Missernten und Naturkatastrophen nur dann zu echten Hungersnöten werden, wenn Kriege oder das Missmanagement diktatorischer oder feudalistischer Regime hinzukommen. In Demokratien, so Sen, gibt es keine Hungersnot. Die checks and balances einer funktionierenden Demokratie – freie Wahlen, freie Medien und freier Markt – wenden zumindest das Schlimmste rechtzeitig ab. Amartya Sens Forschungsergebnisse sind eine Anklage an uns alle. Der Hunger der 800 Millionen Menschen ist kein Schicksal. Schuld daran ist das Versagen der Weltgemeinschaft.

Und dennoch steckt im Thema Hunger eine frohe Botschaft. In den zurückliegenden Jahrzehnten war der Kampf gegen den Nahrungsmangel ausgesprochen erfolgreich. In den 1960er Jahren starben von 100.000 Erdenbürgern jedes Jahr rund 50 bei Hungersnöten. 2016 war es weniger als einer. 7 Als Kind schockierten mich die Fotos im stern von abgemagerten Kindern mit aufgeblähten Bäuchen. 8 »Die verhungernden Kinder von Biafra«, stand auf dem Titel. Die Bilder der »Biafra-Kinder« haben viele noch heute vor Augen. Sie gehören zum optischen Gedächtnis einer ganzen Generation. Auch heute gibt es noch immer solche Hungerkatastrophen. Doch sie sind bedeutend seltener geworden. Seit dem Ende des Biafra-Krieges 1970 registrieren Wissenschaftler einen Rückgang der Menschen, die verhungern, um das 26-Fache.

Auch die Kindersterblichkeit wurde in der jüngeren Vergangenheit erfolgreich bekämpft. 1990 starben 12,6 Millionen Kinder, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichten. Obwohl heute insgesamt mehr Kinder geboren werden, hat sich 2016 die Zahl der gestorbenen Kinder mit 5,6 Millionen mehr als halbiert. 9 In den Ländern mit hoher Kindersterblichkeit ist die Ursache stets eng verknüpft mit Mangelernährung. Der Rückgang der Kindersterblichkeit ist daher gleichzeitig auch ein Erfolg der Bemühungen gegen den Hunger.

Hunger ist nicht immer tödlich, aber immer unerträglich. Die nicht tödlich verlaufende Unterernährung wurde in den vergangenen Jahren ebenfalls wirksam bekämpft. Allein seit 1991 hat sich der Anteil der Menschen, die nicht genug zu essen haben, um 40 Prozent reduziert, in den Sub-Sahara-Staaten sogar halbiert.

Die Vereinten Nationen hatten sich zum Ziel gesetzt, den Hunger bis zum Jahr 2030 vollständig zu beseitigen. Der Rückschlag in den Jahren 2016 und 2017 im Jemen und im Süd-Sudan wird das Erreichen dieses ehrgeizigen Ziels vermutlich verschieben. Aber nicht aufhalten. Die Verzögerung ändert nichts daran, dass die Menschheit erstmals kurz davor steht, einen ihrer größten Träume zu verwirklichen: den Sieg über den Hunger.

Diese Zahlen widersprechen allem, was ich noch in der Schule als feste, unumstößliche Wahrheit gelernt habe. Alle Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft der Gattung Mensch endeten im Geografie-Unterricht, irgendwann in den 70er Jahren. Mit meinem Schulfreund Johannes arbeitete ich über Wochen an einem Referat über Die Grenzen des Wachstums10, den ersten Bericht an den Club of Rome. Die klügsten Wissenschaftler und die damals leistungsfähigsten Computer hatten einen Bericht zur Lage der Menschheit verfasst. Im Hobbyraum zuhause bei Johannes versuchten wir die Kernaussagen des Werkes zu verstehen. Besonders einleuchtend war die Abbildung 10 auf Seite 40. Die Kurven brannten sich fest in mein Bewusstsein ein. Sie zeigten, wie viel landwirtschaftliche Nutzfläche benötigt wird, um genug Nahrung für alle Menschen zu produzieren. Der Bedarf wuchs rapide, parallel zur Bevölkerungsexplosion. Im Jahr 2000 schnitten sich die Kurven von Bedarf und Angebot. Selbst bei gerechter Verteilung war es danach nicht mehr möglich, dass Mutter Erde alle Menschen ernähren könnte. Neben dieser Linie hatten die Wissenschaftler die Kurve der absoluten Hoffnungslosigkeit eingezeichnet. Sie zeigte den Verlauf des Problems, falls es gelänge, die Produktivität pro Quadratmeter Nutzfläche zu verdoppeln. In diesem als unwahrscheinlich eingestuften Fall käme das wirklich definitive Ende der Ernährbarkeit der Weltbevölkerung ungefähr im Jahr 2020, also heute.

Die weltweite Hungersnot ist nicht eingetreten, obwohl die Verteilung der Ressourcen nicht gerechter wurde. Inzwischen sind die Vorhersagen von Wissenschaftlern beim Jahr 2050 angekommen. Bis dahin leben vermutlich neun Milliarden Menschen auf dem Planeten. Bei gerechter Verteilung werden auch dann noch alle satt. 11 Die Fortschritte in der Nahrungsmittelproduktion konnten selbst die optimistischen Prognosen bislang stets übertreffen. Das Fachmagazin Nature Communications überraschte jüngst sogar mit der Meldung: Wenn die Menschen weniger Fleisch essen, kann die Weltbevölkerung künftig sogar vollständig allein von der Bio-Landwirtschaft ernährt werden. 12

Die Wissenschaftler des Club of Rome hatten 1972 auch ausgerechnet, dass die Rohstoff-Reserven in wenigen Jahrzehnten aufgebraucht sein würden und die Umweltverschmutzung alle Lebensgrundlagen zerstören wird. Die Botschaft war erschütternd, die Argumentation gnadenlos überzeugend: Das Ende ist nah, kein Ausweg in Sicht. Wir waren noch keine 16 und schon war unsere Zukunft so gut wie vorbei. Wir nannten uns no future generation.

Der Bericht an den Club of Rome wurde in 30 Sprachen übersetzt und 30 Millionen Mal verkauft. Er stand im Lehrplan ganzer Schülergenerationen, beeinflusste die besten Wissenschaftler und gab die Blickrichtung vor für alle kritischen Journalisten, ernsthaften Politiker und informierten Bürger. Knapp ein Jahrzehnt später, 1981, erschien die Studie Global2000, die der US-Präsident Jimmy Carter in Auftrag gegeben hatte. Die Babyboomer pilgerten geschlossen in die alternativen Zweitausendeins-Läden, um sich ein Exemplar des beinahe 1500-Seiten-Werkes zu sichern. So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist soweit war der Titel des 1985 meistverkauften Sachbuches. Der Arzt und bekannte Fernsehjournalist Hoimar von Ditfurth stimmte die Gesellschaft auf das Ende der Menschheit ein. Schon im Klappentext hieß es: »Atomare Hochrüstung, zunehmende Zerstörung unserer Umwelt und die exponentielle Vermehrung der Weltbevölkerung bedrohen das Überleben unserer Art. Gleichzeitig ist die Unfähigkeit der menschlichen Gesellschaft offenkundig, das eigene Verhalten als Ursache der Bedrohung zu erkennen und einen Kurswechsel zu vollziehen. Deshalb besteht die reale Gefahr, daß die Menschheit schon in absehbarer Zeit zu jenen Hunderttausenden von Arten zählen könnte, die aussterben mußten, weil sie sich den veränderten Lebensbedingungen nicht anzupassen vermochten.« 13 Die Apokalypse eroberte einen Ehrenplatz in unseren Bücherregalen. Sie wurde zu einer festen Konstante im Denken einer Generation. Pessimismus entwickelte sich zur Grundhaltung gerade der aufgeklärten Teile der Gesellschaft.

Ausgerechnet zu einer Zeit, als alle wichtigen Entwicklungskurven nach oben zeigten, entstand der Pessimismusreflex. Sämtliche Themen werden seitdem zuerst auf negative und bedrohliche Aspekte gescannt. Irgendwo muss immer ein Haken sein. Wenn wir ihn nicht finden, haben wir nur nicht gründlich genug gesucht. Seit den 70er Jahren gilt: Wer über positive Entwicklungen spricht, gilt als naiv, zynisch oder gekauft. Die Warnung vor einer bevorstehenden Apokalypse ist hingegen weise, Ausdruck eines fundierten, ernsthaften Verantwortungsbewusstseins. Diese religionsartige Überzeugung ist nur eine von vielen Ursachen, die es uns schwer machen, die spektakulären Verbesserungen in nahezu allen messbaren Kategorien angemessen wahrzunehmen. Mit den Gründen für diese Teilblindheit werde ich mich im Teil II des Buches ausführlich beschäftigen. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig, das Prinzip zu erklären, zu zeigen, wie weit die gefühlten Wahrheiten in weiten Teilen der Gesellschaft die messbaren Wahrheiten verfehlen.

In den 1990er Jahren stellte der schwedische Medizinprofessor Hans Rossling bei seinen Studenten erhebliche Wissenslücken fest. Sie schätzten die globalen Entwicklungen durchweg als zu negativ ein. Daraufhin entwickelte Rossling den »Ignorance Test Survey«. 14 Inzwischen wurde aufgrund dieses Tests in vielen westlichen Ländern die Ignoranz gemessen, auch in Deutschland. 15 In Rosslings Fragenkatalog wird etwa gefragt, wie hoch weltweit der Anteil der Menschen ist, die lesen und schreiben können: 40, 60 oder 80 Prozent? Richtig waren damals 80 Prozent. 16 Fast drei Viertel der Deutschen schätzten die Lage zu negativ ein. Wie hoch ist weltweit der Anteil der einjährigen Kinder, die gegen Masern geimpft sind? 20, 50 oder 80 Prozent? Diesmal gibt nur jeder Zehnte die richtige Antwort: 80 Prozent. 17 Und wie hat sich seit 1970 die Zahl der Todesopfer von Naturkatastrophen verändert? Verdoppelt, gleich geblieben, halbiert? Gerade mal sechs Prozent der Befragten tippen richtig: halbiert. Nach dem Vorbild Hans Rosslings haben viele Forschungsinstitute auf der ganzen Welt die Fehlwahrnehmungen der Menschen nachgewiesen. Besonders negativ ist die Einschätzung, wenn es um die Gesamtsituation geht, die Frage, ob die Welt sich insgesamt zum Besseren entwickelt hat. In China bewerten 41 Prozent die Entwicklung positiv, in Schweden sind es zehn Prozent, in Deutschland nur vier. 18

Bei keinem Thema gehen gefühlte Wahrheit und gemessene Wirklichkeit so weit auseinander wie bei Gewalt, Krieg und Kriminalität. Der Einschätzung von Sicherheit und Gefahr gebührt die Krone der Ignoranz.

Noch nie so sicher

»Als alle Menschen frei und gleich waren, war niemand vor dem anderen sicher. Das Leben war kurz, die Angst grenzenlos. Kein Gesetz bewahrte vor Übergriffen. Jeder misstraute jedem, und jeder musste sich vor jedem schützen. Denn noch der Schwächste war stark genug, den Stärksten zu verletzen, zu töten, durch eine Hinterlist oder eine Absprache mit einem Dritten.« 19 So beschreibt der Soziologe Wolfgang Sofsky die Ursprungsversion menschlichen Lebens, die heute viele Zeitgenossen romantisch verklären: Die natürliche, unverfälschte Existenz, als der Mensch noch echt war und gut, unverdorben durch die Zwänge der modernen Welt. In dieser schlechten alten Zeit war jede Sekunde des Daseins lebensgefährlich, aber authentisch, immerhin. Um der Bedrohung durch die Brutalität des Nächsten zu entgehen, schlossen die Menschen sich zusammen, zum Schutz vor den naturtrüben Exemplaren ihrer Gattung. Diese Schutzbündnisse waren der Ausgangspunkt jeder Zivilisation und sind seit jeher ihr vortriebsstärkster Motor. Für uns heute ist der Umgang mit Gewalt die Messlatte, an der wir den zivilisatorischen Zustand von Gesellschaften ablesen, sowohl historisch als auch in unserer Zeit.

Und bei diesem aufschlussreichen Kriterium schneidet die Menschheit aktuell ausgesprochen gut ab. »Ob Sie es glauben oder nicht – und ich weiß, dass die meisten Menschen es nicht glauben: Die Gewalt ist über lange Zeiträume immer weiter zurückgegangen, und heute dürften wir in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert.« 20 So beginnt Steven Pinker sein fulminantes Werk über eine Entwicklung, die er das »Wichtigste, was der Menschheit jemals geschehen ist«, nennt: der massive Rückgang von Gewalt. Für Pinker ist die Geschichte vor allem eine lange Entwicklung des Gewaltverzichts. Auf über 1000 Seiten beschreibt er detailliert, wie unsere Vorfahren ganz allmählich mit weniger Gewalt auskamen. Die Entwicklung war nicht linear, sondern vollzog sich in Schüben. Zuerst dauerte es viele Tausend Jahre, bevor sich spürbare zivilisatorische Verbesserungen durchsetzen konnten. Die nächsten Fortschritte brauchten immerhin noch Jahrhunderte. Seit dem Zweiten Weltkrieg jedoch hat Pinker bereits drei Mal einen grundlegenden Wandel zum Besseren registriert. Die Fortschrittsschübe folgen in immer kürzeren Abständen aufeinander. Der Rückgang der Gewalt beschleunigt sich.

Für das Zurückdrängen der Gewalt war die Entstehung und Weiterentwicklung von Staaten von außerordentlich großer Bedeutung. Königreiche und Feudalstaaten mögen nach unseren heutigen Maßstäben brutale Unrechtsregime darstellen, doch ihre Durchsetzungsmacht befriedete das Zusammenleben der Untertanen und förderte den Zivilisationsprozess. So erlebten beispielsweise die europäischen Gesellschaften zwischen dem Spätmittelalter und dem 20. Jahrhundert einen Rückgang der Mordrate um das 50-Fache. Den Untertanen gelang es immer häufiger, Konflikte untereinander ohne tödliche Gewalt zu lösen. Dafür sorgten die Obrigkeiten mit ihren Machtapparaten. Doch leider waren die Obrigkeiten untereinander nicht friedliebend. Die Herrscher schickten ihre Völker in lang andauernde Kriege. In den großen, geschichtemachenden Schlachten wateten die überlebenden Kämpfer im Blut von Zehntausenden Gefallenen. Die Staaten förderten also beides zugleich: Befriedung sowie die Ausbreitung der Gewalt.

Der lange Frieden

Grundlegend änderte sich das erst in der Folge des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust, nachdem Millionen nicht nur bei militärischen Handlungen umgebracht wurden, sondern in einer nach industriellem Vorbild konstruierten Tötungsmaschinerie. Das Erschrecken über den monströsen Massenmord bewirkte tatsächlich ein Umdenken der Gesellschaften und der Staatenlenker. Vor allem aber schlossen sich die Staaten zu festen Bündnissen mit verbindlichen Regelwerken zusammen. Es entstanden die Vereinten Nationen, die Nato, der Warschauer Pakt und die Europäische Union. Die multilaterale Zusammenarbeit erwies sich als wirksame friedenserhaltende Maßnahme. Dieser Erfolgsmethode verdanken wir das, was Pinker den »langen Frieden« nennt. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten die Großmächte der Welt keine direkten Kriege mehr gegeneinander. Seit 70 Jahren, seit dem Abwurf der Atombombe über Nagasaki 1945, wurde diese tödlichste aller Waffen nie wieder eingesetzt. Erstmals in der Geschichte hat die Menschheit die militärische Möglichkeit geschaffen, sich selbst vollständig auszulöschen, kollektiven Selbstmord zu begehen. Das hört sich nicht nach einem Sieg der Friedensliebe an. Erstmals ist es der Menschheit jedoch auch gelungen, über mehrere Generationen auf den Einsatz ihrer schärfsten Waffe zu verzichten. Die Sicherheitsarchitektur hat sich als stabil erwiesen.

In den ersten Jahrzehnten des »langen Friedens« haben sich die Großmächte noch Ventile für ihre Aggressionen gesucht. Sie führten keine direkten Kriege mehr gegeneinander, sondern Stellvertreterkriege unterhalb der Schwelle eines Atomkrieges. Als 1989 die Mauer fiel und in der Folge das kommunistische Weltreich zusammenbrach, sah Francis Fukuyama Das Ende der Geschichte gekommen. 21 Der Politikwissenschaftler der Universität Standford vertrat die These, nach dem Scheitern des sozialistischen Modells würden sich Demokratie und Marktwirtschaft nach westlicher Prägung endgültig überall durchsetzen. Stellvertreterkriege seien von nun an überflüssig. Ohne die Konkurrenz der Systeme entfalle der entscheidende Antrieb für militärische Auseinandersetzungen. Damit werde ein stabiler, friedlicher Zustand erreicht.

Fukuyama sollte nicht Recht behalten. Auch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus führen die Völker Krieg. Die täglichen Nachrichten vermitteln sogar den Eindruck eines dramatischen Anstiegs von Krieg und Terror. Gerade den gut informierten Zeitungslesern und Nutzern von Qualitätsmedien erscheint die Welt als ein Ort, der immer gefährlicher und kriegerischer wird. Dass Europa seit 70 Jahren von Kriegen weitgehend verschont blieb, stellt sich ihnen als eine glückliche Ausnahme von der globalen Wirklichkeit dar.