Frostnacht - Jennifer Estep - E-Book
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Frostnacht E-Book

Jennifer Estep

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Beschreibung

Gerade, als es scheint, das Leben an der Mythos Academy könne nicht mehr gefährlicher werden, schlagen die Schnitter des Chaos erneut zu. Denn während Gwens Schicht in der Bibliothek der Altertümer wird ein Giftattentat auf sie verübt. Sie selbst kommt haarscharf mit dem Leben davon, während der oberste Bibliothekar Nickamedes mit dem Tod ringt. So schnell wie möglich muss Gwen mit Aurora Metis das Gegenmittel finden - doch die Pflanze gedeiht nur in der gefährlichsten Region der Rocky Mountains ... Wird das Gypsymädchen sich selbst und die Mythos Academy retten können? Und noch viel wichtiger: Wird sie den verschwundenen Spartaner Logan Quinn wiedersehen?

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Lesen was ich will!

www.lesen-was-ich-will.de

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96624-5Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Midnight Frost« bei KTeen Books / Kensington Publishing Corp., New York.Deutschsprachige Ausgabe:© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2014Covergestaltung: Zero Werbeagentur, MünchenCoverabbildung: FinePic® MünchenDatenkonvertierung: psb, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wie immer: für meine Mom, meine Grandma und Andre, für all ihre Liebe, Hilfe, Unterstützung und Geduld mit meinen Büchern und allem anderen im Leben.

Jede Autorin wird erklären, dass ihr Buch ohne die harte Arbeit vieler, vieler Leute nicht möglich gewesen wäre. Hier sind einige der Menschen, die dabei geholfen haben, Gwen Frost und die Mythos Academy zum Leben zu erwecken:

Ich danke meiner Agentin, Annelise Robey, für all ihre hilfreichen Ratschläge.

Ich danke meiner Lektorin Alicia Condon für ihren scharfen Blick und die durchdachten Vorschläge. Sie machen das Buch immer so viel besser.

Ich danke allen, die bei Kensington an dem Buch gearbeitet haben, und besonders Alexandra Nicolajsen und Vida Engstrand für ihren Einsatz in Sachen Marketing.

Und schließlich möchte ich allen Lesern dort draußen danken. Ich schreibe Bücher, um euch zu unterhalten, und es ist mir immer eine besondere Ehre. Ich hoffe, ihr habt so viel Spaß beim Lesen von Gwens Abenteuern wie ich beim Schreiben.

Ich wünsche viel Vergnügen!

Ich war gefangen.

Ich tigerte von einem Ende des Raumes zum anderen, drehte mich auf dem Absatz um und eilte zurück in die andere Richtung. Ein paar Schritte später erreichte ich die gegenüberliegende Wand, also rotierte ich einmal um meine eigene Achse und wiederholte das Ganze. Ich stiefelte hin und her und hin und her, während meine Gedanken von einem Thema zum nächsten schossen.

Meine Freunde auf der Mythos Academy. Meine Suche nach Artefakten. Was Agrona, Vivian und der Rest der Schnitter des Chaos wohl als Nächstes planten. Die Frage, wo Logan sich aufhielt.

Mein Herz zog sich bei dem Gedanken an Logan zusammen, und mein Fuß blieb im unteren Teil eines Netzes hängen, das über der Rückenlehne meines Schreibtischstuhls hing. Ich stolperte und schaffte es gerade noch, mich zu fangen, bevor ich vornüber auf mein Bett knallte.

Ich kämpfte mich wieder auf die Beine und starrte das Netz böse an. O sicher, es wirkte total harmlos, wie es da hing … als wären Stränge von hellgrauem Seegras aus der Lehne des Stuhls gewachsen. Angeblich hatte das Netz Ran, der nordischen Göttin der Stürme, gehört. Um ehrlich zu sein, präsentierte es sich nicht gerade als das beeindruckendste aller Artefakte. Das Seegras war rau und verknotet und schien so abgewetzt und spröde, als könnte es zu Staub zerfallen, wenn jemand es auch nur scharf ansah. Doch ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass der Schein trügen konnte, besonders in der mythologischen Welt. Trotzdem musste ich wahrscheinlich froh sein, dass ich das Netz beim Drauftrampeln nicht zerstört hatte.

Ich besaß es jetzt seit ein paar Tagen – seit ich es im Kreios-Kolosseum gefunden hatte –, und ich hatte immer noch keine Ahnung, was so besonders daran sein sollte. Ich hatte nicht mal große Schwingungen davon aufgefangen.

Doch mächtige Artefakte zu finden und sie vor den Schnittern in Sicherheit zu bringen war die aktuelle Aufgabe, die Nike, die griechische Göttin des Sieges, mir übertragen hatte. Die meisten Leute kannten mich als Gwen Frost, das seltsame Gypsymädchen, das Gegenstände berührte und Dinge sah. Aber ich war auch Nikes Champion, das Mädchen, das die Göttin auserwählt hatte, um in der Welt der Sterblichen ihren Willen zu vollstrecken.

Ich, ein Champion. Manchmal konnte ich es immer noch nicht glauben. Aber Nike war sehr real, genau wie der Rest der mythologischen Welt mit all ihren Göttern, Göttinnen, der Magie, den Kreaturen, Artefakten und Krieger-Wunderkindern.

Mein Kopf wollte von Gedanken überquellen, aber ich drängte sie zur Seite. Stattdessen schob ich den Stuhl näher an den Schreibtisch, sodass ich nicht noch mal über das Netz stolpern konnte, und nahm meine unruhige Wanderung wieder auf. Hin und her, hin und her, von einer Seite meines Gefängnisses zur anderen …

»Würdest du bitte mit dieser Trampelei aufhören?«, knurrte ein paar Minuten später eine Stimme mit kühlem englischem Akzent. »Du machst es mir unmöglich, mein Nachmittagsschläfchen zu halten, zur Vorbereitung auf das nächste Gemetzel unter Schnittern.«

Ich sah zur Wand, wo neben den Postern von Wonder Woman, Karma Girl und The Killers ein Schwert in einer schwarzen Lederscheide hing. Ein purpurnes Auge am Heft war weit geöffnet und starrte mich böse an, während der Rest des Gesichts der Waffe – eine Nase, ein Ohr und ein Mund – zu einem Schmollen verzogen war.

»Wirklich, Gwen«, tadelte mich Vic, mein sprechendes Schwert, noch einmal. »Manche hier versuchen zu schlafen. Nicht wahr, Fellknäuel?«

Aus einem Korb in der Ecke erklang ein zustimmendes Bellen. Nyx, die kleine Fenriswölfin, die ich aufzog, war mit ihrem dunkelgrauen Fell und den purpurnen Augen unglaublich süß, aber sie hatte die nervige Angewohnheit, einfach allem zuzustimmen, was Vic sagte.

»Schön«, grummelte ich und ließ mich aufs Bett fallen. »Dann höre ich eben auf zu tigern.«

Okay, okay, ich war nicht wirklich gefangen. Aber in letzter Zeit fühlte sich mein Zimmer an wie ein Gefängnis, besonders seit vor der Tür meistens eine Protektoratswache stand. Ich schob den Vorhang zur Seite und schaute durch eines der Buntglasfenster. Aiko, eine zierliche Ninjafrau von vielleicht Mitte zwanzig, lehnte an einem Baum, wie sie es schon tat, seit ich vor einer Stunde zurückgekommen war. Aiko trat von einem Fuß auf den anderen, sodass die Falten ihrer grauen Robe sich um ihre schlanke Gestalt bewegten und mich einen kurzen Blick auf ein Kurzschwert und silberne Wurfsterne an ihrem Gürtel erhaschen ließen.

Ich seufzte und ließ den Vorhang zurückfallen. Aiko stand dort draußen, um mich vor jedem Schnitter zu beschützen, der vielleicht versuchte, einen Mordanschlag auf mich zu verüben. Das war innerhalb der Mauern der Mythos Academy schon mehr als einmal geschehen. Trotzdem gefiel es mir nicht, ständig bewacht zu werden, selbst wenn es meinem eigenen Schutz diente. Es sorgte dafür, dass ich mich schwach und hilflos und … gefangen fühlte.

Plötzlich erschien mir der Raum unerträglich heiß und stickig, und ich bekam einfach nicht genug Luft. Obwohl mein Zimmer verglichen mit einigen anderen Wohnheimzimmern recht groß war, schien es, als würde die Decke langsam herabsinken, während die Wände, je länger ich sie anstarrte, immer näher rückten. Es war, als würden sie sich langsam auf mich zuschieben, bereit, einen letzten Sprung zu tun und mich in ihrer kalten, gleichgültigen Umarmung zu zerquetschen.

Ich schauderte und senkte den Blick, doch selbst der Boden schien Wellen zu werfen, als wollte er sich erheben, um der Decke entgegenzustreben. Ich seufzte. Meine Gypsygabe spielte mal wieder verrückt und ließ mich Dinge sehen, die gar nicht da waren. Ich starrte auf den Boden, entschlossen, meine Psychometrie zu kontrollieren, doch wieder hoben und senkten sich die Dielen wie die Meereswellen, die ich gesehen hatte, als ich Rans Netz berührt hatte.

Ich sprang vom Bett. »Ich brauche frische Luft«, sagte ich. »Ich komme bald wieder.«

Vic und Nyx sagten nichts, als ich zur Tür stiefelte, sie öffnete und in den Flur spähte. Ich rechnete damit, einen Kerl mit haselnussbraunen Augen und gebräunter Haut an der Wand lehnen zu sehen. Aber Alexei Sokolov, der russische Bogatyr-Krieger, mit dem ich befreundet war und der auch als meine Wache diente, war nirgendwo zu sehen, um mich über den Campus zu begleiten. Das war ein wenig seltsam, da Alexei seine Aufgabe superernst nahm, aber ich hatte nichts dagegen, mein zufälliges Glück zu nutzen.

Ich trat in den Flur, schloss die Tür hinter mir und eilte so schnell wie möglich davon.

Aiko stand zwar vor meinem Wohnheim, aber es fiel mir leicht, in die Gemeinschaftsküche zu schlüpfen, die alle Mädchen in Styx sich teilten, eines der Fenster dort zu öffnen und nach draußen zu klettern. Ich huschte von einem Baum zum nächsten, bis die Leute im Wohnheim – und auch Aiko – mich nicht mehr sehen konnten. Erst dann trat ich auf einen der aschgrau gepflasterten Pfade, die sich über den Campus zogen.

Es war Ende Januar, und die Luft war bitterkalt. Die eisigen Windböen rissen den Schneeschorf vom Boden, während die dunkelgrauen Wolken alles in Schatten hüllten, obwohl der Nachmittag gerade erst in den Abend überging. Um mich zu wärmen, stopfte ich die Hände in die Jackentaschen und vergrub mein Kinn tiefer in dem dunkelgrauen Schal mit dem Schneeflockenmuster.

Da es so kalt war, war ich die Einzige, die auf dem Campus herumlief. Ich dachte darüber nach, den Hügel nach oben zu steigen, den oberen Hof zu überqueren und zur Bibliothek der Altertümer zu gehen, aber die war sicherlich voll mit lernenden Jugendlichen. Ich hatte keine Lust, mich anstarren zu lassen, also bog ich nach links ab. Letztendlich landete ich im Amphitheater.

Das Amphitheater bestand eigentlich aus zwei Teilen – einer Bühne ganz unten und reihenweise langen, flachen Stufen, die sich den Hügel nach oben zogen. Die Stufen, die auch als Sitze dienten, bildeten einen riesigen Halbkreis. Es schien fast, als seien die Sitzreihen zwei riesige Arme, die sich streckten, um die Bühne zu umarmen.

Die Schatten schienen an diesem Ort noch dunkler, doch der mattweiße Stein, aus dem das Theater bestand, glitzerte gespenstisch in der winterlichen Dunkelheit. Kleine bläuliche, silberne und dunkelgrüne Einlagerungen ließen ihn schillern und erweckten den Eindruck, als würden Tausende Glühwürmchen darin blinken. Es war ein wunderschöner Anblick, der dafür sorgte, dass ich mich ein wenig entspannte. Außerdem war das Amphitheater leer, wie ich gehofft hatte. Ich war einfach nicht in der Stimmung für Gesellschaft.

Ich wanderte zur Bühne mit ihren vier Säulen, eine an jeder Ecke. Steinerne Chimären auf Kugeln kauerten ganz oben auf den Säulen. Sie starrten in Richtung der Sitzreihen, fast als würden sie darauf warten, dass sich dort eine Menge versammelte. Ich zögerte, aber als die Chimären sich nicht umdrehten, um mich böse anzustarren, stieg ich die Stufen hinauf, ging nach vorne an den Bühnenrand und setzte mich, sodass meine Beine nach unten baumelten. Dann seufzte ich tief.

Allein – ich war endlich allein.

Ich schloss die Augen und atmete einfach nur – ein und aus, ein und aus –, um diesen Moment von Frieden, Ruhe und Einsamkeit zu genießen …

Links von mir hörte ich eine leise Bewegung.

Ich riss die Augen auf, und meine Hand schoss zum Gürtel, um dort nur leere Luft zu finden. Ich hatte Vic in meinem Zimmer gelassen, also hing er nicht wie üblich von meiner Hüfte. Ich runzelte die Stirn. Warum hatte ich mein Schwert zurückgelassen? Das sah mir gar nicht ähnlich. Gewöhnlich nahm ich Vic überall hin mit, besonders jetzt, da die Schnitter kurz davorstanden, einen weiteren Chaoskrieg gegen das Pantheon zu starten.

Wieder hörte ich das Geräusch. Es klang wie Stiefel, die über Stein schlurften. Ich drehte den Kopf nach links und stellte fest, dass jemand mit mir auf der Bühne stand – ein Junge in meinem Alter mit tiefschwarzem Haar und einem schlanken, muskulösen Körper.

Der verdammte Logan Quinn.

Der Kerl, den ich liebte.

Derjenige, der mir ein Schwert in die Brust gerammt – und mich verlassen hatte.

Er trug Stiefel, Jeans und eine schwarze Lederjacke über einem hellblauen Pullover, der die intensive Farbe seiner eisigen Augen betonte. Er sah genauso aus wie in meiner Erinnerung, genauso, wie ich ihn mir Hunderte Male vorgestellt hatte, seit er Mythos verlassen hatte … seit er mich verlassen hatte.

»Logan?«, flüsterte ich heiser und hoffnungsvoll. »Logan!«

Ich kämpfte mich auf die Beine, öffnete die Arme und wollte auf ihn zulaufen, als mir auffiel, dass Logan ein Schwert hielt – und dass seine Augen in diesem unheimlichen Schnitterrot leuchteten.

Ich erstarrte. Das letzte Mal hatten Logans Augen diese schreckliche Farbe vor ein paar Wochen angenommen, während eines Schnitterangriffs auf das Aoide-Auditorium. Logan hatte mich attackiert und fast getötet, bevor ich meine Psychometrie eingesetzt hatte, um die mörderische Magie aufzuheben, die die Schnitter auf ihn gewirkt hatten.

Ich hatte geglaubt, Logan vor den Schnittern, vor Loki, gerettet zu haben. Aber jetzt sah es aus, als wäre er zurückgekommen, um seine Aufgabe zu Ende zu bringen.

»Oh, mach schon, Gwen«, rief eine spöttische Stimme. »Geh und begrüß deinen Freund. Er ist ja so froh, dich zu sehen.«

Ich wirbelte herum. Ein Mädchen saß plötzlich auf den Stufen des Auditoriums. Eine schwarze Schnitterrobe verdeckte ihre Kleidung, aber sie trug keine Maske, sodass ich ihr Gesicht sehen konnte. Krauses, kastanienbraunes Haar, erstaunliche goldene Augen, hübsches Gesicht. Vivian Holler, Lokis Champion – das Schnittermädchen, das meine Mom ermordet hatte.

»Was willst du hier?«, zischte ich.

Vivian grinste mich an. »Gar nichts Besonderes. Nur zuschauen, wie Logan zu Ende bringt, was er angefangen hat. Nicht wahr, Logan?«

Ich sah den Spartaner an. Er sagte nichts; nur seine Finger schlossen sich langsam fester um das Heft des Schwertes. Einen Moment später ließ er die Waffe herumwirbeln, um ein Gefühl für die Klinge zu bekommen. Genau dasselbe hatte er im Auditorium gemacht, bevor er mich angegriffen hatte.

»Nein«, flüsterte ich. »Nein, nein, nein.«

»O ja, ja, ja, Gypsy«, säuselte eine andere Stimme.

Ich sah wieder zu den Sitzen. Jetzt saß eine Frau mit goldenem Haar und leuchtend grünen Augen neben Vivian. Sie trug dieselbe schwarze Robe wie das Mädchen. Agrona Quinn, Logans verräterische Stiefmutter und die Anführerin der Schnitter.

Ich runzelte die Stirn. Wie waren Agrona und Vivian hierhergekommen? Und wie war es ihnen gelungen, wieder ihre scheußliche Magie auf Logan zu wirken? Er sollte eigentlich bei seinem Dad Linus sein und sich von all den schrecklichen Dingen erholen, die im Auditorium geschehen waren. Er sollte in Sicherheit sein.

»Was ist hier los?«, fragte ich.

Ich wich vor Logan bis zum hintersten Ende der Bühne zurück, in der Hoffnung, es die Stufen runter zu schaffen, bevor er mich erwischte. Logan würde mich mit seinem Schwert in Stücke hacken, besonders da ich Vic nicht dabeihatte, um mich zu verteidigen. Doch wichtiger war, dass ich nicht gegen Logan kämpfen wollte – nicht schon wieder.

»Hey, hey, hey«, rief Vivian. »Bleib, wo du bist, Gwen.«

Ich hörte ein leises Klick und riss den Kopf wieder zu dem Schnittermädchen herum, das jetzt eine Armbrust auf mich gerichtet hielt. Wo hatte Vivian die Waffe her?

»Herausragend«, flötete Agrona.

Sie wedelte mit der linken Hand, sodass ein großer, herzförmiger Rubin an ihrem Ring aufblitzte. Hatte Agrona immer noch Apate-Juwelen übrig? Gelang es ihr so, Logan wieder zu kontrollieren? Ich hatte gedacht, ich hätte alle Edelsteine, die sie im Auditorium getragen hatte, zerschlagen. Aber irgendwie musste es ihr gelungen sein, weitere davon in die Hände zu bekommen.

»Also«, sagte Agrona. »Jetzt können wir endlich weitermachen. Wenn es Euch zusagt, mein Lord?«

Sie und Vivian drehten sich beide um und blickten nach hinten. Ich hatte mich so sehr auf die beiden konzentriert, dass mir die dritte Gestalt, die genau in der Mitte des Amphitheaters die Stufen herunterschritt, bis jetzt nicht aufgefallen war.

Anstelle einer Robe war der Körper des Mannes von Schatten umhüllt, die sich flüsternd wanden und um seinen Körper glitten wie Rauch, der über einem Feuer schwebt. Die Dunkelheit breitete sich langsam um ihn aus, rollte wie ein Teppich über die Stufen, erstickte das sanfte Glitzern des Steins und bedeckte alles mit einem schrecklichen, endlosen Schwarz. Alles, was ich von seinem Gesicht sehen konnte, waren seine Augen – eines strahlend blau, während das andere in diesem brennenden Schnitterrot glühte, das ich mehr hasste als alles andere – doch ich zitterte trotzdem vor Furcht.

Denn aus irgendeinem Grund, auf irgendeine Art, war Loki, der bösartige nordische Gott des Chaos, hier in der Mythos Academy.

»Mein Lord?«, fragte Agrona wieder.

»Fahrt fort«, antwortete Loki. Seine Stimme hallte lauter als ein Donnerschlag durch das Auditorium. »Tötet das Frost-Mädchen – jetzt.«

»Mit Vergnügen.« Das sagte Logan. Doch es war nicht seine Stimme – sondern die von Loki.

Ich sah den Spartaner entsetzt an, aber Logan rannte bereits auf mich zu.

»Nein, Logan.« Ich hob die Hände und wich vor ihm zurück. »Nicht. Bitte nicht. Nicht noch mal …«

Logan legte einen letzten Spurt ein und rammte mir sein Schwert in die Brust.

Unglaublicher Schmerz explodierte wie eine Bombe in meinem Herzen, und ich schrie und schrie wegen der heftigen, fast brutalen Pein. Logan lächelte, riss das Schwert heraus und stieß wieder zu.

Und wieder und wieder und wieder …

Ich wachte schreiend auf.

In einer Sekunde stand ich auf der Bühne des Amphitheaters, während Logan mich tötete und Vivian, Agrona und Loki glücklich dabei zusahen. In der nächsten Sekunde lag ich im Bett in meinem Zimmer und rang mit dem Kissen, in dem ich mein Gesicht vergraben hatte.

Ich schmiss das Kissen vom Bett, setzte mich auf und schnappte wie wild nach Luft. Mein Blick schoss durch das Zimmer, doch alles sah aus wie immer. Bett, Schreibtisch, Bücherregal, Kühlschrank, Fernseher. Vic hing an der Wand, Nyx lag zusammengerollt in ihrem Körbchen in der Ecke, Rans Netz aus Seegras hing über der Lehne des Stuhls.

Real – das hier war real. Alles andere war ein Traum gewesen. Nur ein Traum.

Vic öffnete sein Auge und musterte mich mitfühlend. »Wieder ein Albtraum?«

Ich glitt auf den Boden und lehnte mich mit dem Rücken gegen das Bett. Nyx hüpfte aus ihrem Korb und rannte zu mir. Ich hob den Welpen hoch und drückte die kleine Wölfin an mich. Nyx leckte mir die Wange, und ich fühlte, wie ihre warme Sorge über mich hinwegglitt.

»Gwen?«, fragte Vic wieder. »Ein Albtraum?«

»Etwas in der Art.«

»Hat er dich auch diesmal erstochen?«

»O ja.«

Meine Brust schmerzte, als hätte Logan mich tatsächlich erneut mit dem Schwert aufgespießt. Ich vergrub das Gesicht in Nyx’ Fell, bis das Gefühl verblasste und ich mir halbwegs sicher sein konnte, dass ich nicht weinen würde.

»Wie hat er angefangen?«, fragte Vic. »Der Albtraum?«

Jetzt, da ich ruhiger war, spulte ich in meinem Kopf zurück. Dank meiner Psychometrie vergaß ich niemals etwas, das ich gehört, gesehen oder gefühlt hatte, nicht mal in meinen Träumen. Manchmal war das ein Segen, weil ich jederzeit eine schöne Erinnerung wieder aufrufen konnte. Aber bei den Albträumen, die mich in letzter Zeit quälten, schien es eher ein Fluch zu sein.

»Ich war hier, bin hin und her getigert und hatte das Gefühl, ich müsste entkommen …«

Dann erzählte ich Vic den gesamten Rest. Als ich fertig war, runzelte das Schwert nachdenklich die Stirn, während Nyx mir die Finger leckte, um mich wissen zu lassen, dass auch sie für mich da war.

Das Seltsame war, dass ich vor ein paar Tagen tatsächlich ins Kreios-Kolosseum gegangen war und Rans Netz im Moment wirklich über meinem Schreibtischstuhl hing. Ich hatte mich beim Abendessen im Speisesaal mit Alexei und Daphne Cruz, meiner besten Freundin, noch darüber unterhalten, wie nutzlos es zu sein schien. Danach waren wir in mein Zimmer gegangen, um eine Weile abzuhängen, und danach hatte ich beschlossen, mich aufs Bett zu legen und ein paar Minuten auszuruhen, bevor ich unter die Dusche stieg und mich bettfertig machte. Stattdessen war ich eingeschlafen, und die Erinnerung an das Netz hatte irgendwie den wiederkehrenden Albtraum über Logan ausgelöst, der mir sein Schwert in die Brust rammte.

Genau wie er es vor ein paar Wochen tatsächlich getan hatte.

»Nun, offensichtlich hast du immer noch ein paar Probleme mit dem Spartaner und dem, was er dir angetan hat«, meinte Vic schließlich. »Und wieso auch nicht? Willst du darüber reden?«

Das fragte er mich seit dem ersten Albtraum vor ein paar Wochen immer wieder, aber auch jetzt schüttelte ich den Kopf. Ich wollte nicht darüber reden. Ich wollte nicht mal daran denken, obwohl meine Weigerung, mich damit zu beschäftigen, wahrscheinlich meine Albträume nicht besser machte. Nach einem Moment seufzte ich. Plötzlich war ich sehr müde – der Schnitter, des Kämpfens und besonders all der schrecklichen Erinnerungen, die ich niemals vergessen konnte – nicht mal, wenn ich schlafen ging.

»Gwen?«, fragte Vic wieder.

»Jetzt geht es mir gut«, sagte ich. »Es war nur ein Traum. Es war nicht real.«

Dieses Mal.

Vic schenkte mir einen mitfühlenden Blick, den ich ignorierte. Das Schwert war supernett zu mir, seit Logan verschwunden war. Alle meine Freunde verhielten sich so, was mich nur noch mehr daran erinnerte, dass der Spartaner weg war.

Meinen Worten zum Trotz hatte der Albtraum mich erschüttert. Wieder fühlte ich den verzweifelten Drang zu entkommen, irgendwo hinzugehen, wo niemand mich beobachtete – einen Ort zu finden, an dem niemand mich ansah oder versuchte, mir wehzutun. Ich warf einen Blick auf die Uhr auf dem Nachttisch. Kurz nach acht. Ich hatte noch Zeit, bevor die Wohnheime um zehn für die Nacht geschlossen wurden.

Ich drückte Nyx noch einmal, trug sie wieder zu ihrem Korb und half ihr, es sich darin bequem zu machen. Dann schlüpfte ich in meine Jacke und griff nach Handschuhen und Schal. Außerdem nahm ich Vic von der Wand und befestigte seine Scheide an meinem Gürtel. Anders als in meinem Traum war ich im realen Leben nicht so dämlich, meine Waffe nicht mitzunehmen, selbst wenn mein Ziel nicht allzu weit entfernt lag und der Campus angeblich in letzter Zeit sicherer war.

»Wo gehen wir hin?«, fragte Vic.

»Das wirst du schon sehen.«

Ich öffnete die Tür und verließ mein Zimmer.

Diesmal wirklich.

Ich hatte Alexei erklärt, ich würde den Rest des Abends in meinem Zimmer verbringen, also war er in sein eigenes Wohnheim zurückgekehrt, statt vor meiner Tür Wache zu stehen. Gut. Ich wollte nicht, dass er erfuhr, wo ich hinging. Ich wollte nicht, dass irgendwer es erfuhr. Ehrlich, es war einfach traurig und erbärmlich.

Ich machte mir nicht die Mühe, wie in meinem Traum aus dem Fenster zu klettern. Stattdessen ging ich die Stufen hinunter und bog vor der Eingangstür des Styx-Wohnheims nach rechts ab.

Das Wetter entsprach ziemlich genau dem in meinem Traum. Wegen des kalten Schnees und des böigen Windes war der Campus so menschenleer wie in meiner Schlafwelt – bis auf die Mitglieder des Protektorats.

Überall auf dem Akademiegelände konnte man Männer und Frauen aller Formen, Größen und Ethnien entdecken, die über das Gelände patrouillierten, unter Bäumen Wache standen und in die Schatten spähten, die sich über dem Gelände ausgebreitet hatten. Nach dem Schnitterangriff auf das Konzert war die Security auf dem Campus ernsthaft verstärkt worden. Inzwischen sah man rund um die Uhr überall Protektoratsmitglieder. Ich bezweifelte allerdings, dass diese Maßnahmen wirklich helfen würden. Sosehr das Protektorat sich auch bemühte, es konnte nicht überall gleichzeitig sein. Früher oder später würden die Schnitter wieder auf dem Campus zuschlagen, und ich konnte nur darauf warten, dass es geschah – und versuchen, den Angriff zu überleben.

Eine Übereinstimmung mit meinem Traum bildete Aiko, die tatsächlich direkt unter meinem Fenster vor dem Wohnheim stand. Ich winkte der Ninja zu, und sie hob eine Hand und winkte zurück. Ich mochte Aiko. Sie las Comics und Graphic Novels, genau wie ich.

Ich trat auf den Pfad vor meinem Wohnheim und eilte über das Schulgelände. Aiko beobachtete mich, folgte mir aber nicht. Ihr Befehl lautete, das Wohnheim im Blick zu behalten – nicht unbedingt mich. Das war Alexeis Aufgabe. Ich fühlte mich schlecht, weil ich ihm gegenüber mein Versprechen brach, zu Hause zu bleiben, aber ich konnte nicht den Rest des Abends in meinem Zimmer herumsitzen. Nicht nach diesem schrecklichen Albtraum. Also ging ich in Richtung des Hephaistos-Wohnheims, einem der Wohnheime für Jungen.

Alle Wohnheime in Mythos konnte man nur mit einem Ausweis betreten, und die Karte erlaubte jeweils nur den Zutritt zu dem Wohnheim, in dem man selbst lebte. Aber wenn man nur lang genug auf die Klingel drückte, nervte das schnell irgendwen genug, um den Summer zu betätigen, ohne wirklich sicherzustellen, dass man auch dorthin gehörte. Wir Schüler waren in dieser Hinsicht total faul und bequemlich. Ich musste nur ungefähr eine halbe Minute die Klingel schrillen lassen, bevor sich die Tür öffnete.

»Es reicht!«, rumpelte eine männliche Stimme aus den Tiefen des Wohnheims. »Wir versuchen hier ein Spiel anzuschauen!«

Ich grinste, öffnete die Tür und trat ein, bevor der Kerl kam, um nachzusehen. Dem abwechselnden Jubel und Stöhnen nach zu schließen, das ich aus dem Gemeinschaftsraum hörte, schauten so gut wie alle im Wohnheim das Spiel. Das machte es mir leichter, die Stufen in den vierten Stock zu erklimmen. Ich hielt am Treppenabsatz inne und fragte mich, ob sich vielleicht jemand in seinem Zimmer aufhielt und lernte, aber alles war ruhig und still. Die Luft war rein, also schlich ich den Flur entlang zur letzten Tür.

Ich hielt an und legte lauschend den Kopf schräg, konnte aber von der anderen Seite nichts hören. Allerdings hatte ich das auch nicht erwartet – ich wusste genau, wie leer dieses spezielle Zimmer war. Ich griff in meine Tasche und zog meinen Geldbeutel heraus. Es kostete mich nur eine Minute, meinen Führerschein zwischen Schloss und Türrahmen zu schieben und die Tür so zu öffnen. Ich glitt in das Zimmer, dann schloss ich schnell die Tür wieder hinter mir.

Der Raum war dunkel, also drückte ich den Schalter. Die Lichter gingen an und enthüllten dieselben Möbel wie bei allen anderen Mythos-Schülern. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein paar Bücherregale, ein Flachbildfernseher an einer der Wände. Das Einzige, was dieses Zimmer von anderen unterschied, waren all die Trophäen, die er gewonnen hatte. Dutzende kleiner goldener Männer mit Schwertern, Speeren und anderen Waffen in der Hand spähten vom Schreibtisch, den Regalbrettern und einem Brett über dem Bett zu mir herüber. In einer Ecke stand sogar eine lebensgroße Trophäe, die einen Kampfstab in der Hand hielt, als wollte der dargestellte Mann jeden Moment vortreten und mir die Waffe über den Kopf schlagen. Ich schauderte und wandte den Blick ab. Irgendwie machte die Tatsache, dass keine der Trophäen ein richtiges Gesicht hatte, sie nur umso unheimlicher.

Ich hörte ein lautes Seufzen und verstand, dass Vic aufgewacht war. Das Schwert war eingeschlafen, während ich unterwegs gewesen war, wie es das gewöhnlich tat, wenn es in seiner Scheide steckte. Jetzt zog ich die Waffe aus der Lederhülle und hob Vic hoch, damit ich ihm ins Gesicht sehen konnte. Das Schwert blickte sich im Raum um.

Vic seufzte erneut. »Wirklich? Du willst schon wieder hier rumsitzen und Trübsal blasen?«

»Ich blase nicht Trübsal«, erklärte ich abwehrend.

»Ach ja?«, fragte Vic, und sein englischer Akzent ließ ihn umso sarkastischer klingen. »Ich finde, auf dem Bett des Spartaners herumzusitzen und seine Sachen anzustarren gilt definitiv als Trübsal blasen. Vielleicht sogar als Grübeln. Besonders da du es ein Dutzend Mal getan hast, seit Logan die Schule verlassen hat.«

Ich sah mich in Logans Zimmer um. Vielleicht hatte Vic recht. Vielleicht blies ich tatsächlich Trübsal wegen des Spartaners und der Tatsache, dass er Mythos verlassen hatte – dass er mich verlassen hatte.

Zum ersten Mal war ich vor zwei Wochen hergekommen, um vielleicht Hinweise darauf zu finden, wo Logan hingegangen sein könnte. Der Spartaner hatte mich gebeten, nicht nach ihm zu suchen, und ich hatte seinen Wunsch eigentlich respektieren wollen. Wirklich. Ich hatte nicht vor, ihm zu folgen und ihn anzuflehen, zurückzukommen oder etwas ähnlich Verrücktes. Aber ich hatte mir gedacht, mein Herz würde vielleicht weniger schmerzen, wenn ich zumindest wüsste, wo er sich aufhielt – und dass es ihm gut ging. Also hatte ich mich in sein Zimmer geschlichen, entschlossen, all seine Sachen zu blitzen, bis ich rausgefunden hatte, wohin er mit seinem Dad Linus verschwunden war. Das Erste, was ich gefunden hatte, war ein Zettel, der gut sichtbar auf seinem Schreibtisch lag.

Ehrlich, Gypsymädchen.

Hör auf, nach mir zu suchen.

Alles Liebe

Logan

Ich wusste nicht, ob ich lächeln oder grummeln sollte, weil er mich so gut kannte.

Nachdem ich die Nachricht gefunden hatte, hatte ich den Plan aufgegeben, Logans Aufenthaltsort herauszufinden. Doch ich konnte nicht widerstehen, immer wieder in sein Zimmer zu schleichen – besonders seit die Albträume begonnen hatten. Wenn ich die Augen schloss und sein Mythengeschichtsbuch oder eine der Trophäen berührte, konnte ich Logan fühlen, sehen und hören – den echten Logan, nicht den von den Schnittern in den Wahnsinn getriebenen Killer, in den er sich in meinen Albträumen verwandelte und der ein bösartiges Vergnügen daraus zu ziehen schien, mich wieder und wieder zu erstechen. Indem ich meine psychometrische Magie auf eine seiner Lederjacken oder die Schwerter anwandte, die hinten im Schrank aufgereiht standen, konnte ich fast so tun, als wäre Logan noch bei mir, als machte er sich im Moment bereit, sich im Speisesaal zum Mittagessen mit mir zu treffen, oder käme jeden Moment zum frühmorgendlichen Waffentraining in die Turnhalle. Es sorgte fast dafür, dass ich mich besser fühlte.

Fast.

»Nun, wenn du vorhast, den Rest der Nacht schmollend hier drin zu verbringen, dann schlafe ich noch ein bisschen«, erklärte Vic. »Weck mich, wenn es etwas zu töten gibt.«

Damit schloss das Schwert sein Auge. Ich seufzte und schob es wieder in seine Scheide. Zumindest machte Vic keine Anstalten mehr, mir Vorträge zu halten. Oder noch schlimmer, mich voller Mitleid anzustarren.

Ich wanderte zum Bett und setzte mich darauf, direkt neben ein Foto, und griff danach. Das Bild zeigte mich, wie ich auf den Stufen vor der Bibliothek der Altertümer saß, einen Arm um Logan gelegt. Er hatte dieselben schwarzen Haare und blauen Augen wie in meinem Traum, aber das spöttische, schelmische Grinsen auf seinem Gesicht erschien nie in meinem Albtraum. Es war ein willkommener Anblick, dessen ich nie müde wurde, besonders wenn man die schrecklichen Bilder bedachte, die mein Hirn ständig über Logan ausspuckte.

Er lächelte zu mir auf, und ich ließ die Finger über sein Gesicht gleiten.

»O Spartaner«, flüsterte ich. »Ich wünschte, du würdest gerade wirklich auf den Bibliotheksstufen sitzen. Und ich wünschte, ich wäre bei dir.«

Logan grinste mich weiter an. Natürlich antwortete er nie, wenn ich so mit ihm sprach. Und er hatte auch auf keine meiner SMS oder Mailboxnachrichten reagiert. Manchmal erschien mir Logan wie ein wunderbarer Traum – der für immer verschwunden war. Vielleicht waren die Albträume deswegen so schrecklich … weil Logan nicht hier war, um mir zu zeigen, dass er kein Monster war; mir immer wieder zu beweisen, was für ein guter Mensch er war. Vielleicht war das der Grund, warum ich mich so oft in sein Zimmer schlich. Damit ich mich daran erinnern konnte, wie der wirkliche Logan war – und hoffen, dass er zur Vernunft kommen und bald an die Akademie zurückkehren würde.

Dass er bald zu mir zurückkehren würde.

Ich schnaubte. Ja, Vic hatte recht. Albträume hin oder her, ich benahm mich absolut, total jämmerlich.

Auf dem Bett lag auch ein hübscher silberner Bilderrahmen mit einem Muster aus Blumen und Ranken. Logan hatte das Foto rahmen wollen, um es mir zum Valentinstag zu schenken. Ich hatte meine Psychometrie eingesetzt, um Bild und Rahmen zu blitzen. Er hatte gelächelt, als er den Rahmen in einem der Läden von Cypress Mountain ausgesucht hatte, und darüber nachgedacht, wie gut sich das Bild von uns auf meinem Schreibtisch machen würde, neben dem Foto von meiner Mom mit Professor Metis, als die beiden Teenager gewesen waren.

Ich seufzte, und meine Hand glitt zu der Kette um meinen Hals. Sechs dünne, silberne Stränge schlangen sich um meinen Hals, und die diamantenbesetzten Enden des eleganten Schmuckstückes trafen sich in der Mitte, um eine Schneeflocke zu bilden. Die Kette war ein Weihnachtsgeschenk von Logan gewesen. Ein Geschenk, das ich fast immer trug, trotz der schlechten Erinnerungen, die inzwischen damit verbunden waren – von seinem Angriff auf mich.

Für einen Moment schmerzte meine Brust. Ich ließ die Kette los und massierte mir die Stelle über meinem Herzen. Dort zogen sich zwei Narben über meine Haut. Eine stammte von Logans Angriff. Die andere war von Preston Ashton verursacht worden, einem Schnitter, der mit einem Dolch auf mich eingestochen hatte, der gleichzeitig ein Artefakt war. Daphne und Professor Metis hatten beide ihre Heilmagie eingesetzt, um die Narben verschwinden zu lassen, aber es hatte nicht funktioniert. Metis hatte erklärt, dass mächtige Artefakte manchmal Male zurückließen, die niemals verschwanden – genau wie meine Erinnerungen an diese Kämpfe niemals verblassen würden.

Außerdem zogen sich zwei Narben über meine Handfläche – eine von dem Kampf mit Logan, die andere stammte aus der Nacht, in der Vivian mich mit dem Helheim-Dolch geschnitten hatte, um mein Blut für die Befreiung von Loki einzusetzen. Das Seltsame war, dass die Narben auf meiner Hand genau die über meinem Herz spiegelten – bis hin zu Größe, Form und der seltsamen, nicht ganz perfekten X-Form, die sie bildeten. Ich fragte mich, wie viele weitere Narben ich wohl davontragen würde, bevor Loki – oder ich – den Tod gefunden hatte.

Die Gedanken an Vivian, Preston und die anderen Schnitter sorgten dafür, dass Wut in meiner Brust hochkochte und meine Melancholie vertrieb. Doch um ehrlich zu sein, war ich nicht nur wütend auf die Schnitter – ich war auch wütend auf Logan.

Mir war klar, dass er das Gefühl gehabt hatte, er müsste Mythos verlassen, weil er befürchtete, er könnte mich wieder verletzen; dass er Zeit brauchte, um mit allem umzugehen, was passiert war. Logisch betrachtet wusste ich das. Trotzdem fühlte es sich an, als hätte er mich verraten – als hätte er mich zurückgelassen, um allein gegen die Schnitter zu kämpfen und mich meinen Albträumen zu stellen.

Ich lachte bitter auf. Vielleicht war ich nicht so sehr wütend, sondern vielmehr eifersüchtig. Denn wenn ich nie wieder in meinem Leben einen Schnitter sah, wäre das immer noch nicht früh genug. Doch es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.

Überhaupt nichts.

Also schob ich das Bild von Logan und mir zurück in den Rahmen, dann drückte ich ihn mir an die Brust, als könnte das meine Wut dämpfen. Als würde es den hohlen Schmerz in meiner Brust lindern, als könnte dieses Stück Metall mein Herz davon abhalten, noch weiter zu brechen.

Natürlich konnte es das nicht. Aber zumindest hatte ich das Gefühl, wieder atmen zu können, und auch die Wände kamen nicht länger auf mich zu. Also blieb ich noch eine Weile dort auf Logans Bett sitzen und umklammerte das Bild von uns beiden.

Ich schaffte es vor der Ausgangssperre um zehn zurück in mein Zimmer, schlief aber in dieser Nacht nicht viel. Jedes Mal, wenn ich eindöste, wachte ich mit einem Ruck wieder auf, weil ich Angst hatte, in einen weiteren Albtraum über Logan und die Schnitter zu rutschen. Schließlich gab ich auf, wickelte mich in die Bettdecke, setzte mich zusammengerollt auf meine gepolsterte Fensterbank und starrte in die Dunkelheit der Nacht. Falls Vivian und der Rest der Schnitter angriffen, sah ich sie auf diese Art wenigstens kommen.

Doch es tauchten keine Schnitter auf, die Sonne stieg über den Horizont, wie sie es immer tat, und ich musste mich einem neuen Tag stellen.

Waffentraining mit meinen Freunden Oliver und Kenzie in der Sporthalle. Vormittagsunterricht. Mittagessen mit Oliver und Alexei. Nachmittagsunterricht. Ein kurzer Ausflug vom Campus, um Grandma Frost zu besuchen. Immer dasselbe Lied, bis es so weit war, meine Schicht in der Bibliothek der Altertümer anzutreten.

Normalerweise hätte ich um diese Zeit quer auf dem Bett gelegen, meine neuesten Comics gelesen und irgendwelche süßen Köstlichkeiten in mich hineingestopft, die Grandma Frost für mich gebacken hatte. Doch im Moment saß ich in einem anderen Wohnheimzimmer, in dem Wände, Decke und Vorhänge pink waren. Ich rutschte auf dem Bett hin und her und verknitterte dabei die Bettdecke, die ebenfalls, man konnte es sich denken, pink war. Sonnenlicht fiel durch die Spitzenvorhänge, die vor dem Regal in der Ecke hingen, und beleuchtete die Bücher darin. Selbst ihr Mythengeschichtsbuch hatte einen rosafarbenen Umschlag. Wie hatte sie das geschafft?

Ich hielt mich selbst nicht gerade für unweiblich, aber ich war sicherlich kein Mädchen-Mädchen, und von so viel Rosa umgeben zu sein sorgte dafür, dass mir ein wenig schwindlig zumute wurde. Wahrscheinlich würde Logan im nächsten Traum, in dem er mich umbrachte, eine rosa Lederjacke tragen. Ich schnaubte bei dem Gedanken.

Plötzlich schnippten Finger direkt vor meinem Gesicht, gefolgt von ein paar prinzessinnenrosa Funken. Ich wich vor der Magieexplosion zurück und sah auf, nur um Daphne Cruz zu entdecken, die mit in die Hüften gestemmten Händen vor mir stand, während ihr Fuß einen schnellen Rhythmus auf den Boden trommelte.

»Gwen? Hörst du mir überhaupt zu?«

»Sicher«, erklärte ich fröhlich. »Ich habe nur darauf gewartet, dass du das nächste Kleid anziehst.«

Daphne kniff die schwarzen Augen zusammen, und noch mehr Funken schossen aus ihren Fingerspitzen. Wie alle Walküren stieß Daphne immer mehr Magie aus, wenn sie wütend, aufgeregt – oder, wie in diesem Fall, genervt war … von mir und meinem totalen Mangel an Modeverstand.

Sie hatte mich gebeten, ihr dabei zu helfen, die richtige Kleidung für ein großes Date auszusuchen, das sie für nächstes Wochenende mit ihrem Freund, dem Musikfreak Carson Callahan, geplant hatte. Ich saß jetzt bereits eine Stunde auf Daphnes Bett und sah ihr dabei zu, wie sie Kleider, Pullover und ab und zu ein Paar pinke Designerjeans anprobierte, jeweils kombiniert mit den passenden Handtaschen, Schmuckstücken und anderen Accessoires.

»Und?«, verlangte sie zu wissen. »Wie findest du das hier?«

Sie drehte sich, sodass ihr das blonde Haar um die Schultern wehte und der kurze Rock ihres rosafarbenen Kleides um ihre Beine wogte. Der satte Ton des Stoffes sorgte dafür, dass in mir Gelüste nach Grandma Frosts selbstgemachtem Erdbeereis aufstiegen.

»Ähm … es ist sehr … rosa?«

Daphne verdrehte die Augen. »Natürlich ist es rosa. Gibt es überhaupt eine andere Farbe? Aber gefällt dir dieses rosa Kleid besser als das himbeerfarbene, das ich vor einer Minute anhatte? Oder was ist mit dem zuckerwattefarbenen, das ich dir davor gezeigt habe? Ich glaube, ich habe irgendwo auch noch einen kaugummifarbenen Pullover …«

Daphne stiefelte zu ihrem Schrank, zog noch mehr Kleidung aus seinen Tiefen und warf sie zur Seite, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Dank ihrer Walkürenstärke flogen die Kleidungsstücke durch den ganzen Raum und landeten auf dem Regal, dem Fernseher und sogar auf den Computerbildschirmen, Servern und Festplatten auf ihrem Schreibtisch, an denen sie so gerne herumdokterte.

Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig, um nicht von einem pinkfarbenen Rollkragenpulli getroffen zu werden. Verzweifelt und hilfesuchend sah ich zu Vic, den ich beim Hereinkommen ans Kopfende des Bettes gelehnt hatte. Doch der Mund des Schwertes hing offen, und es schnarchte leise. Vic interessierte sich keinen Deut mehr für Mode als ich. Ich hatte auch Nyx mitgebracht, aber die kleine Wölfin kauerte auf dem Boden am anderen Ende des Raumes und machte sich bereit, ein Hello-Kitty-Stofftier anzuspringen, das ganz unten in einem der Regale stand. Selbst das Stofftier trug ein rosa Kleidchen.

»Da ist er!« Daphne trat mit einem hellen Pullover in den Händen vom Schrank zurück. »Was hältst du von dem?«

Sie hielt den Pullover über das Kleid, und die Farbe ließ ihre bernsteinfarbene Haut noch makelloser erscheinen als gewöhnlich.

»Der gefällt mir«, meinte ich. »Er ist sehr … pink.«

Ich verzog das Gesicht, doch Daphne strahlte mich an.

»Das ist einer meiner Lieblingspullis.« Sie drückte den Stoff wieder an ihre Brust und bewunderte ihre Reflexion im Spiegel über der Kommode. »Keine Ahnung, warum ich nicht schon früher daran gedacht habe. Danke, Gwen.«

»Gern geschehen. Kein Problem.«

»Ich bin mir sicher, er ist perfekt für das Restaurant, in das Carson mich ausführen will.«

»Ja. Perfekt.«

Daphne musste meinen nicht gerade enthusiastischen Tonfall bemerkt haben, denn sie drehte sich abrupt wieder zu mir um. »Es tut mir leid. Ich sollte nicht über Carson reden und über irgendein dämliches Date, zu dem er mich ausführt. Nicht wenn Logan …«

Ihre Stimme verklang, und dieses Mal zuckte sie tatsächlich zusammen.

»Nicht wenn Logan weg ist«, beendete ich ihren Satz.

»Es tut mir leid, Gwen. Das war eine dämliche Idee, oder? Ich wollte dich einfach nur ein wenig aufmuntern …«

Ich hob eine Hand, um sie zu unterbrechen. »Nein, es ist okay. Dass Logan nicht hier ist, heißt nicht, dass das Leben nicht weitergeht. Dass wir nicht weitermachen müssen. Ich bin froh, dass du mit Carson glücklich bist. Und heute hierherzukommen, hat mir geholfen, mich von … anderen Dingen abzulenken.«

Und zwar von meinen Albträumen, auch wenn ich ihr das nicht erzählte. Ich hatte auch Grandma Frost oder Professor Metis nichts von den Träumen erzählt. Vic und Nyx waren die Einzigen, die wussten, dass ich immer wieder davon träumte, wie Logan mich erstach. Und das auch nur, weil sie sich jede Nacht bei mir im Zimmer aufhielten und meine Schreie hören mussten.

Daphne kaute zweifelnd auf ihrer Unterlippe, und noch mehr Magiefunken schossen um sie herum durch die Luft. Ich zwang mich, sie anzulächeln, in der Hoffnung, sie zu überzeugen, dass ich mich prima amüsierte. Ja, vielleicht war es mir wirklich nicht leichtgefallen, ihr dabei zuzuhören, wie sie fröhlich von ihrem Date mit Carson erzählte – besonders nachdem mein einziges Date mit Logan vor ein paar Wochen damit geendet hatte, dass das Protektorat mich verhaftet hatte. Doch ich versuchte eine gute Freundin zu sein, und ich wollte Daphne nicht den Spaß verderben, nur weil ich müde war und schlechte Laune hatte und mir Sorgen um Probleme machte, die außerhalb meines Einflussbereichs lagen.

»Bist du dir sicher?«, fragte Daphne, warf den Pulli zur Seite und ließ sich neben mir auf das Bett plumpsen. »Wir können auch was anderes machen.«

»Ich bin mir sicher«, antwortete ich bestimmt. »Außerdem hast du doch erst deinen halben Schrank durchgegraben. Wir können doch jetzt nicht aufhören.«

Daphne zog eine Augenbraue hoch. »Ich habe den Sarkasmus bemerkt.«

Sie schnappte sich ein Kissen vom Bett und warf es auf mich, aber ich lachte nur und duckte mich mühelos darunter weg.

Dann klingelte der Wecker an meinem Handy und erinnerte mich daran, dass mir noch fünfzehn Minuten Zeit blieben, um meinen Hintern in die Bibliothek der Altertümer zu bewegen.

»Und damit ist der Spaß offiziell beendet«, sagte ich, zog eine Grimasse und stand auf. »Ich muss mich wieder in der Bibliothek abrackern. Du weißt doch, wie Nickamedes sich auf mich stürzt, wenn ich nur eine Sekunde zu spät komme.«

Auf dem Boden gab Nyx ein wildes Knurren von sich und sprang endlich das Stofftier an, um mit ihren scharfen Milchzähnen darauf herumzukauen. Vic riss das Auge auf, als er hörte, wie Stoff riss, und starrte den Wolfswelpen an.

»Gut gemacht, Fellknäuel«, sagte er. »Du wirst schon viel besser darin, Dinge anzuspringen. Meine Anerkennung. Bald schon bist du bereit, dich mit Schnittern anzulegen.«

Nyx schüttelte sich stolz und verbrachte die nächsten zwei Minuten damit, von einer Seite des Raums zur anderen zu rennen. Hello Kitty hing aus ihrem Maul, und sie präsentierte das Stofftier stolz erst mir, dann Vic und schließlich Daphne.

»Du weißt, dass das mein Lieblingsstofftier war, oder?«, grummelte Daphne.

»Ach, sieh es so«, flötete ich, »jetzt kannst du dir ein neues kaufen … das noch mehr Rosa trägt.«

Daphne schubste mich, wobei sie sorgfältig darauf achtete, mich mit ihrer Walkürenstärke nicht zu verletzen. Ich lachte und schmiss das Kissen nach ihr.

Nyx setzte sich auf den Hintern, legte den Kopf in den Nacken und stieß ein triumphierendes, wenn auch ein wenig quietschendes Heulen aus. Sie hatte Hello Kitty total erledigt und wusste es genau. Darüber musste sogar Daphne lächeln.

Daphne bot an, mich zur Bibliothek zu begleiten, aber ich erklärte ihr, sie solle dableiben und den Rest ihres Schrankes durchforsten. Widerstrebend stimmte sie zu.

Gewöhnlich hätte Alexei vor Daphnes Wohnheim, Walhalla, auf mich gewartet. Aber heute hatte er mir eine SMS geschrieben, um zu sagen, dass er noch mit etwas beschäftigt war und mich an der Bibliothek treffen würde. Also drückte ich mir meine graue Tasche an die Brust, befestigte eine purpurfarbene Leine an dem Halsband, das Nyx auf Anweisung von Linus Quinn und dem Protektorat trug, und zog los.

Heute war es sogar noch kälter als gestern, und der pfeifende Winterwind fuhr durch die dicken Schichten meiner Kleidung, als wären sie gar nicht vorhanden. Aber heute Nachmittag war der Campus um einiges belebter, weil die Schüler zu ihren Clubs, dem Sporttraining und anderen Veranstaltungen eilten, Richtung Speisesaal gingen, um sich etwas zum Abendessen zu holen, oder Richtung Bibliothek schlurften, um endlich mit dem Aufsatz anzufangen, der, na ja, morgen früh fällig war.

Ich wanderte über den gepflasterten Weg, der sich den Hügel nach oben zog, und betrat den oberen Hof, um den sich die fünf Gebäude gruppierten, in denen die Schüler den Großteil ihrer Zeit verbrachten – das Gebäude für Englisch und Geschichte, das mathematisch-naturwissenschaftliche Gebäude, die Turnhalle, der Speisesaal und die Bibliothek der Altertümer.

Ich schob das Kinn tiefer in meinen Schal und eilte zur Bibliothek. Trotz der Kälte hielt ich kurz am Fuß der Haupttreppe an, wo die zwei Greifenstatuen standen.

Adlerköpfe, Flügel, die Körper von Löwen, lange Schwänze, gebogene Schnäbel, scharfe Krallen. Die Greifen wirkten, als stünden sie kurz davor, aus ihrer steinernen Hülle auszubrechen und jeden anzugreifen, der sie auch nur schief ansah. Doch für mich waren sie nicht nur etwas Besonderes, weil sie so wild aussahen. Tief im Stein fühlte ich etwas … einen lebendigen Funken. Ich hatte ihn schon früher gespürt, wann immer ich die Statuen berührt hatte, und auch jetzt konnte ich ihn fühlen. Doch statt mich wie früher mit Entsetzen zu erfüllen, vermittelte mir die Tatsache, dass die Greifen über mich wachten, ein tröstliches, friedvolles Gefühl. Als würden sie zum Leben erwachen und zu Hilfe eilen, falls hier etwas Schreckliches geschah.

Eine weitere kalte Windböe peitschte über den Hof und brachte mich zum Zittern. Also salutierte ich kurz in Richtung der Greifen, um dann die Statuen hinter mir zu lassen, die Stufen nach oben zu eilen und die Bibliothek zu betreten.

Draußen mochte es ja kalt, dunkel und düster sein, aber die hohe Kuppel über dem Hauptbereich der Bibliothek verlieh ihrem Inneren eine helle, luftige Aura. Bücherregale zogen sich rings um den runden Raum, mit einem breiten Gang, der mitten zwischen ihnen hindurchführte und zu einer Reihe von mit Glaswänden abgetrennten Büros in der Mitte führte. Der Boden und die Wände bestanden aus Marmor, aber mein Blick glitt sofort zum ersten Stock und den Statuen dort – den Statuen von all den Göttern und Göttinnen aller Kulturen der Welt.

Die Statuen zogen sich um die gesamte Galerie, und jede von ihnen schaute in die Mitte der Bibliothek, als wachten sie zusammen über die Schüler, die unter ihnen lernten. Schlanke Säulen trennten die Statuen voneinander, obwohl es mir manchmal vorkam, als würden sich die Götter und Göttinnen um die Säulen herumlehnen und sich flüsternd über die Vorgänge unter ihnen unterhalten. Doch das konnte auch meine Psychometrie sein, die mir Streiche spielte, wie sie es so oft tat – besonders wenn es um Statuen ging.

Ich wanderte den Hauptgang entlang, doch statt hinter den Ausleihtresen zu treten, mich im Computer einzuloggen und mich an die Arbeit zu machen, bog ich nach rechts ab, wo ein Kaffeewagen frei zwischen ein paar Studiertischen und den Regalen stand. Ich reihte mich in die Schlange ein und sog den köstlichen Geruch von heißem Espresso in mich auf, der sich in der Luft mit den sanfteren Düften von Schokolade, Vanille und Zimt vermischte.

Vielleicht lag es an der Kälte draußen, doch ich war nicht die Einzige, die sich nach einem Getränk oder einem Snack verzehrte. Mehrere Schüler standen vor mir an. Während ich in der Reihe stand, fühlte ich Blicke auf mir ruhen. Nur dass es diesmal nicht die Statuen waren, die mich beobachteten – sondern meine Mitschüler.

Ich wusste, was sie sahen, wenn sie mich anschauten – ein Mädchen mit violetten Augen und kraus gelocktem braunem Haar, das Nicht-Designerjeans, Turnschuhe, ein graues T-Shirt und einen grauen Pullover unter der purpurn karierten Jacke trug. Nichts davon war besonders außergewöhnlich oder eindrucksvoll, aber die Schüler fingen trotzdem an zu tratschen.

»Schau. Da ist Gwen Frost.«

»Ist das ein echter Fenriswolf, den sie dabeihat? Er ist so süß!«

»Ich frage mich, was sie jetzt vorhat?«

»Das Gypsymädchen? Wahrscheinlich denkt sie drüber nach, wie sie die Schnitter aufhalten soll. Man sagt, sie sei Nikes Champion …«

Diese geflüsterten Worte und weitere umwehten mich wie der aufgewirbelte Schnee auf dem Hof. Ich verzog das Gesicht, doch ich konnte nichts anderes tun, als mir den Anschein zu geben, nicht zu hören, dass alle über mich redeten und dass ihre Handys piepten, weil sie ihre Freunde über die letzte Gwen-Frost-Sichtung informierten. Daphne hatte mir erzählt, jemand habe sogar eine App programmiert, mit der man meine Bewegungen auf dem Campus verfolgen konnte. Als hätte ich nicht schon genug Probleme, ohne dass jeder zu jedem verdammten Zeitpunkt genau wusste, wo ich mich gerade aufhielt.

O ja, alle schienen jede meiner Bewegungen zu beobachten. Seit dem Schnitterangriff auf das Winterkonzert war es noch schlimmer geworden. Jetzt wussten alle Schüler auf Mythos, dass ich Nikes Champion war – und dass von mir erwartet wurde, uns alle zu retten.

Sie kannten allerdings nicht alle Details. Sie wussten nicht, dass ich nur irgendein mysteriöses Artefakt finden musste, das es mir angeblich ermöglichen würde, Loki zu töten, der so ziemlich allmächtig und der Inbegriff alles Bösen war.

Nur kein Druck.

Nyx legte den Kopf schräg und starrte zu den anderen Schülern auf. Sie gab ein vorsichtiges Knurren von sich, in der Hoffnung, dass jemand in die Knie gehen und sie streicheln würde, doch das leise Geräusch sorgte nur dafür, dass die anderen Schüler vor ihr zurückwichen. Das konnte ich ihnen allerdings nicht übel nehmen. Die meisten Jugendlichen auf der Akademie waren daran gewöhnt, dass mythologische Kreaturen wie Fenriswölfe, Nemeische Pirscher und Schwarze Rocks versuchten, sie umzubringen.

Ich war die Letzte in der Schlange. Endlich kam der Moment, an dem ich bestellen konnte. Ich musterte die Karte neben der Kasse.

»Eine Flasche Wasser, eine Riesenbrezel mit Nacho-Soße und einen Schokobrownie, bitte.«

Schweigen.

Ich spähte um einen Stapel Blaubeermuffins herum. Auf einem Stuhl hinter der Registrierkasse saß eine Frau und las in einem Klatschmagazin, als wäre es das Interessanteste auf der Welt. Die Frau war alt – sogar älter als Grandma Frost. Ihr langes, weißes Haar schien in das weiße Kleid überzugehen, das sie trug. Ihre Augen waren so schwarz, hell und glänzend wie die eines Vogels, während dunkle Falten sich durch ihr Gesicht zogen, als wäre die hängende Haut dort mit Schatten gefüllt. Die Frau leckte sich über den Daumen und blätterte eine Seite des Heftes um, wobei sie mich vollkommen ignorierte, obwohl ich direkt vor dem Verkaufswagen stand, seit der Wikinger vor mir verschwunden war.

Ich seufzte. Heute war Raven hier. Ich hätte es wissen müssen.

Raven führte den Kaffeewagen. Das war einer der vielen Aushilfsjobs, die sie an der Akademie übernommen hatte. Außerdem saß sie im Sicherheitsrat, beaufsichtigte Mitglieder des Protektorats, wenn sie Tatorte aufräumten, und bewachte die Schnitter, die in dem Gefängnis im mathematisch-naturwissenschaftlichen Gebäude einsaßen. Ich wusste nicht genau, warum ausgerechnet Raven all diese Jobs machte, da sie für keinen davon besonders qualifiziert schien und immer in irgendeinem Klatschheft las. Aber irgendwie wurden die Aufgaben immer alle erledigt, und ich ging davon aus, dass sich die Mächtigen von Mythos nur dafür interessierten.

Ich räusperte mich, und endlich legte Raven ihr Klatschmagazin weg. Ich wiederholte meine Bestellung, und sie bewegte sich von einer Seite des Wagens zur anderen, erhitzte meine Brezel und die Käsesoße in der kleinen Mikrowelle und gab sie mir, zusammen mit einer Wasserflasche und dem Brownie. Ich griff in meine Hosentasche, zog einen Zehn-Dollar-Schein heraus und reichte ihn Raven über den Schalter, wobei ich sorgfältig darauf achtete, dass unsere Finger sich nicht berührten. Denn ich konnte nicht nur Gegenstände blitzen, sondern meine Psychometrie schaltete sich auch jedes Mal ein, wenn ich eine andere Person berührte. Im Moment hatte ich einfach keine Lust, genau zu spüren, wie sehr sich Raven dabei langweilte, am Kaffeewagen zu sitzen und den Schülern heiße Schokolade mit Pfefferminz zuzubereiten.

Doch als ich sie ansah, schienen ihre Züge für einen Moment zu flackern, als wäre etwas unter ihrem Gesicht verborgen. Genauso wie unter der Oberfläche der Statuen noch etwas lauerte.

»Eines Tages werde ich herausfinden, was Sie unter all diesen Falten verstecken«, verkündete ich.

Raven zog ihre buschigen Augenbrauen hoch, sagte aber nichts. Sie hatte noch nie mit mir gesprochen, also hatte ich keine Ahnung, wie ihre Stimme klang – ob sie hell und klar war oder eher das Krächzen einer alten Vettel.

Raven gab mir mein Wechselgeld, setzte sich wieder auf ihren Stuhl und steckte die Nase erneut in ihr Magazin. Ich verdrehte die Augen, schnappte mir mein Essen und eilte durch den Hauptgang zum Ausleihtresen. Nyx trottete mit klickenden Krallen neben mir her.

Ich trat an den Tresen, legte mein Essen darauf und stellte meine Tasche auf den Boden neben einen großen Weidenkorb. Grandma Frost hatte mir den Korb geschenkt, damit Nyx einen bequemen Ruheplatz hatte, während ich arbeitete. Ich ging in die Hocke und löste die Leine vom Halsband der kleinen Wölfin. Das Halsband selbst blieb dran.

»Ich muss jetzt arbeiten, also bleib in deinem Korb, okay?«, murmelte ich, während ich sie zwischen den winzigen Ohren kraulte.

Nyx lehnte sich in meine Hand und gab ein zufriedenes Seufzen von sich. Dann ließ sie sich auf ihren süßen, runden Babybauch fallen, legte sich den Schwanz über das Gesicht und schloss die violetten Augen. Sie war jetzt schon mehrmals mit mir in der Bibliothek gewesen, also kannte sie den Ablauf.

»Das Fellknäuel hat den richtigen Gedanken«, sagte Vic und verzog seinen halben Mund zu einem heftigen Gähnen. »Weck mich, wenn es Schnitter zu töten gibt.«

»Etwas anderes würde mir nie einfallen.«

Vic starrte böse zu mir auf, weil er meinen Sarkasmus durchaus bemerkt hatte. »Hmph!«, schnaubte er, dann schloss er sein Auge.

Ich ließ Vic in seiner Scheide und lehnte das Schwert neben Nyx. Ich wusste, dass Vic mich trotz seiner schlechten Laune sofort rufen würde, falls er oder Nyx etwas brauchten, und dass Nyx mich sofort holen kommen würde, falls Vic etwas geschah. Mir gefiel der Gedanke, dass die beiden sich gegenseitig den Rücken freihielten, besonders in diesen Tagen, in denen die Schnitter überall und jederzeit angreifen konnten – auch in der Bibliothek der Altertümer.

Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und loggte mich im Computer ein. Dann öffnete ich meine Essenstüte und baute alles vor mir auf. Ich tunkte meine Brezel in die warme Käsesoße und wollte gerade einen großen Bissen nehmen, als sich eine Tür zu dem Bürobereich hinter mir öffnete und ich das Klappern von Lederschuhen auf Marmor hörte. Einen Moment später fiel ein Schatten auf mich, und jemand räusperte sich.

»Ja, Nickamedes?«

»Du kommst zu spät, Gwendolyn«, sagte er. »Muss ich das tatsächlich schon wieder sagen? Vielleicht wäre es passender, zu sagen, dass du wie gewöhnlich oder wie immer oder auch zum zigsten Mal zu spät kommst.«

»Ich bin nicht zu spät«, widersprach ich und wedelte mit meiner Brezel in seine Richtung. »Ich bin bereits seit zehn Minuten in der Bibliothek. Sehen Sie?«

Nickamedes schnaubte abfällig. »In einer Schlange anzustehen ist nicht dasselbe, wie tatsächlich hinter dem Ausleihtresen zu sitzen und zu arbeiten.«

Ich verdrehte die Augen. Manchmal erschien es mir, als wären wir beide einfach dazu bestimmt, unterschiedlicher Meinung zu sein.

»Würdest du mich bitte ansehen, wenn ich mit dir rede?«

Ich presste die Lippen zusammen, hob den Kopf und blickte zu ihm auf. Der Leiter der Bibliothek sah gut aus, zumindest für einen Kerl Mitte vierzig. Er hatte tiefschwarzes Haar und blaue Augen. Dem dunkelblauen Pullunder, dem Hemd, der Krawatte und den schwarzen Cordhosen, die er trug, zum Trotz konnte man erkennen, wie schlank er war. Wenn ich ihn ignorierte und mich stattdessen auf mein Essen konzentrierte, tat ich das nicht aus Unhöflichkeit. Wirklich nicht. Aber Nickamedes ähnelte seinem Neffen so sehr, dass es mir das Herz zusammenkrampfte. Der Bibliothekar erinnerte mich wieder daran, dass Logan nicht mehr hier war.

»Danke.« Nickamedes verschränkte die Arme vor der Brust. »Also, wie ich schon sagte, du bist mal wieder zu spät dran, und ich finde, dass …«

Sofort senkte ich den Blick wieder auf mein Essen. Okay, okay, ich ignorierte seine Moralpredigt total, aber nur, weil er mir exakt denselben Vortrag schon unzählige Male gehalten hatte. Außerdem war ich hungrig. Ich beugte mich gerade vor, um einen Bissen von meiner Brezel zu nehmen, als der Bibliothekar sie mir aus der Hand riss.

»Hey!«, meinte ich. »Ich esse!«

»Korrektur: Du wolltest essen«, sagte Nickamedes. »Aber jetzt wirst du Bücher einräumen.«

Er legte meine Brezel auf die Tüte auf dem Tresen, nahm einen Stapel Bücher von einem Metallkarren und drückte ihn mir an die Brust.

»Aber …«

»Kein Aber«, erklärte Nickamedes. »Jetzt Bücher. Essen später.«

Wieder verschränkte der Bibliothekar die Arme vor der Brust und bedachte mich mit einem strengen Blick. Er stand zwischen mir und meinem Essen, also hatte ich keine Möglichkeit, mir die Brezel zu schnappen, sie mir in den Mund zu schieben und meinen Snack mit zwischen die Regalreihen zu nehmen. Und wenn ich es versucht hätte, hätte Nickamedes sich nur darüber beschwert, dass ich Brösel auf seinen kostbaren Büchern verteilte. Gegen ihn konnte ich einfach nicht gewinnen.

»Jetzt, wenn du so freundlich wärst, Gwendolyn.«

»Ja, Meister«, moffelte ich.

Nickamedes kniff bei meinem bissigen Kommentar die Augen zusammen, aber das war mir egal. Ich bedachte mein Essen noch mit einem langen, sehnsüchtigen Blick, bevor ich die Bücher fester packte und in die Regalreihen schlurfte.

Die nächste halbe Stunde verbrachte ich damit, Bücher zurück in die Regale zu räumen. Als ich endlich zu meinem Essen zurückkehrte, war die warme, weiche Brezel hart und die flüssige Käsesoße zu einem kalten Brocken erstarrt. Also schmiss ich beides in den Müll und begnügte mich mit dem Brownie und dem Wasser.

Ich leckte gerade die letzten Schokoladenbrösel von meinen Fingern, als Nickamedes hinter den Tresen trat. Anscheinend hatte er ebenfalls Ravens Kaffeewagen besucht, dem Blaubeermuffin und der Wasserflasche in seinen Händen nach zu urteilen. Nickamedes nahm einen Schluck von seinem Wasser, dann stellte er die Flasche direkt neben meine auf den Tresen. Ich schob meine Flasche vorsichtig ein Stück zur Seite und drehte sie so, dass das Etikett Richtung Bibliothek zeigte. Damit wollte ich sicherstellen, dass ich die Getränke auseinanderhalten konnte. Ich hatte keine Lust, aus Versehen Nickamedes’ Bazillen zu schlucken. Dabei konnte ich mir sicher etwas Schreckliches einfangen, wie, na ja, zum Beispiel Pünktlichkeit. Außerdem fiel mir auf, dass der Bibliothekar keine Anstalten machte, seinen Muffin eine Weile rumliegen zu lassen, während er für einen Professor etwas im Computersystem nachsah.

Ich bedachte Nickamedes immer noch mit wütenden, eifersüchtigen Blicken, als Oliver Hector an den Ausleihtresen trat. Sandblondes Haar, grüne Augen, tolles Lächeln, muskulöser Körper. Der Spartaner war süß, aber, noch wichtiger, er war einer meiner Freunde. Oliver beobachtete, wie ich den Bibliothekar belauerte.

»Weißt du, wäre ich Nickamedes, wäre ich froh, dass du nur Berührungsmagie besitzt und nicht die Fähigkeit, Feuerbälle aus den Augen zu verschießen«, sagte Oliver langsam. »Sonst wäre Nickamedes jetzt nur noch ein rauchender Aschehaufen.«

Ich verdrehte die Augen, musste aber gleichzeitig lachen. »Nun, na ja, hätte ich diese Gabe, würde ich sie mir für die Schnitter aufsparen. Ich hätte nichts dagegen, Vivians Gesicht zu schmelzen. Oder das von Agrona.«

»Ich denke, das würde keinem von uns etwas ausmachen«, gab Oliver zurück.

Ich dachte an meinen wiederkehrenden Albtraum. Vielleicht könnte ich das nächste Mal, anstatt mich von Logan angreifen zu lassen, versuchen mich von der Bühne zu stürzen und gegen Vivian und Agrona zu kämpfen. Zweifellos würden sie mich in meinem Traum töten, aber das wäre nicht so schlimm, wie wieder einmal von Logan erstochen zu werden – und dabei in seine schnitterroten Augen sehen zu müssen.

Oliver wanderte um den Tresen, stellte seine Tasche neben meine und setzte sich auf einen Stuhl, der hinter mir an der Glaswand stand.

Ich runzelte die Stirn. »Was tust du da?«

Er zuckte mit den Achseln. »Alexei hat ein längeres Meeting mit den anderen Protektoratswachen, also hat er mich gebeten, ein Auge auf dich zu haben, bis er kommt.«

Ich seufzte. »Ich bin absolut fähig, auf mich selbst aufzupassen. Das weißt du, oder? Das habe ich doch inzwischen oft genug bewiesen.«

»Ich weiß«, antwortete Oliver. »Aber ich bin mir auch der Tatsache bewusst, dass die Schnitter es auf dich abgesehen haben, Gwen. Also entspann dich einfach und lass zu, dass wir dir den Rücken decken, okay?«