Früher war alles besser - Michael Miersch - E-Book

Früher war alles besser E-Book

Michael Miersch

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Beschreibung

Vier Männer wagen den Blick zurück: polemisch, ironisch, herrlich böse

Tatsächlich, früher war wirklich alles besser: Kulenkampff erfüllte den Kulturauftrag. Küsse schmeckten besser als Männer noch Männer und Frauen allein für die Verhütung zuständig waren. Drogen ohne Chemie machten das Leben bunt. Und die Kindheit war auch viel schöner, weil noch geschlagen werden durfte … Es gab Buchclubs und die DDR, Wählscheibentelefone, Kriegsversehrte und Kröpfe. Vorehelicher Geschlechtsverkehr war ein Delikt, Mädchen trugen modische Schlüpfer und die Putzfrauen waren deutsch. Wie schade, dass die Eiswaffel (weiland 20 Pfg) bald genauso verschwunden sein wird wie Dujardin in der Eckkneipe, die Sekretärin – und womöglich die SPD. Anderes war tatsächlich immer schon überflüssig: die Dritte Klasse in der Bahn, Dritte Welt, Kannenwärmer und Kalter Krieg. In diesem Buch geht die unkonventionellste Viererbande des deutschen Journalismus durch die Bestände unseres Lebens und führt uns auch vor Augen, was wir alles bekommen können, wenn wir nicht so viel zurückdenken: Mobiltelefone und medizinischen Fortschritt, kernlose Weintrauben und rasierte Achseln.

Eine total andere Kultur- und Sozialgeschichte von vier der einflussreichsten Journalisten Deutschlands.

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Inhaltsverzeichnis
Früher war alles besser
A
Adenauer
Aktentasche
Alkohol am Steuer
Ami-Flittchen
Anhalter
Aralsee
Arbeiter
Arbeiterrückfahrkarte
Aufstehen
Augsburger Puppenkiste
Ausgehen
Aussteiger
Copyright
Früher war alles besser
»Damals gab es von allem viel mehr - natürlich auch mehr Abenteuer«, schreibt Käpt’n Blaubär in seinen Lebenserinnerungen. Mit dieser Gewissheit spricht der gebildete Bär vielen Menschen aus dem Herzen. Mancher bastelt sich eine ganze Weltanschauung daraus. Kaum verschreibt der Augenarzt die erste Gleitsichtbrille, reift die Überzeugung, dass früher alles besser war.
Früher war vor allem eines besser: Man war jünger. Die erste Liebe, die erste Reise, der Zorn gegen die saturierten alten Säcke waren großes Kino. Hinein ins donnernde Leben. Aber war die Welt besser? Die Kultur, die Technik, die Umwelt, die Sitten? Wer möchte zurück? Wir nicht.
Und dennoch trauern auch wir gelegentlich alten Zeiten nach, als Rauchen noch cool war, die GIs den Rock’n’Roll brachten und Oswald Kolle die gewagte These aufstellte, über Sex könne man sprechen.
Bei einem dieser sentimentalen Anflüge entstand die Idee für die vorliegende Sammlung persönlicher Erinnerungen. Nachdem wir vor ein paar Jahren gemeinsam ein Lexikon des politisch korrekten Neusprech (»Schöner denken«) verfasst hatten, beschlossen wir, nach der gleichen Methode - Subjektivität plus Lustprinzip - ein Lexikon der eigenen Vergangenheit zu erstellen. Es soll von den unspektakulären Dingen des Alltags erzählen, die seit der Nachkriegszeit verschwunden sind oder sich komplett verändert haben. Ein Rückblick auf kuriose Phänomene wie Bahnsteigkarten, Polit-Pin-ups, die Sozialistische Einheitspartei Westberlins oder Käse-Igel, aber auch auf große Ereignisse, die unser Leben erschütterten (Waldsterben, Minirock). Wer möchte, kann es als kleine Kultur- und Sozialgeschichte Deutschlands lesen.
Michael Miersch als Student 1980 (Liz Schuster)
Auch wenn manches in diesem Buch nostalgisch klingt: Wir finden, früher war vieles schlechter. Das Schöne am Ältersein ist nämlich, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie sich die Welt verändert hat. Das ist viel besser, als mit zwanzig unter dem Gefühl zu leiden, dass sich nichts bewegt (und deshalb endlich eine Revolution kommen muss).
Die Momente der Weltveränderung bemerkt man selten, höchstens in dramatischen Augenblicken wie dem Mauerfall. Normalerweise ist der Wandel schwer zu erkennen. Er findet am undeutlichen Rand unseres vom Zeitgeist verengten Blickfeldes statt. Erst in der Rückschau wird er sichtbar - oft zur eigenen Überraschung, obwohl er einen doch die ganze Zeit begleitet hat.
Das liegt unter anderem daran, dass die meisten Revolutionen ohne Sturm auf die Bastille stattfinden. Sie werden von keinem Komitee beschlossen, sondern passieren einfach so - nebenbei und zwischendurch. Weil die Menschen sich neue Freiheiten nehmen, alte Sitten und Gebräuche ablegen, neue Möglichkeiten nutzen, welche ihnen die Technik eröffnet, oder weil sie einfach wohlhabender werden und länger leben.
Henryk M. Broder 1970 als junger Journalist (Felix Kuballa)
Es gibt, neben den Weltkriegen, Völkermorden, Revolutionen und all den anderen großen Dramen, die in die Geschichtsbücher eingehen, eine zweite Ebene des Wandels. Letztere wälzt das Leben oft heftiger und nachhaltiger um.
Verhütungspille, Massenmotorisierung, Billigflüge, Antibiotika, Impfungen, moderne Pflanzenzucht, Computer und Internet lösten technisch-soziale Revolutionen aus, die unser Leben heftig veränderten. Von einem Drittel der Obstsorten im Gemüseladen um die Ecke hatten unsere Großmütter nie gehört. Ganz zu schweigen von Sushi.
Vieles, an das wir uns gewöhnt haben, war für unsere Großeltern eine ferne Utopie. Wir sind die erste Generation, die Frieden, Freiheit und Wohlstand als Dauerzustand kennengelernt hat.
Eine Neuheit in der Geschichte.
Dennoch, oder vielleicht auch deswegen, hat sich unsere Generation in die Apokalypse verliebt. Auf den Titelblättern der vergangenen Jahrzehnte war es immer fünf vor zwölf. Raketenrüstung, Waldsterben, Atomstaat, vergiftetes Essen, Bevölkerungsexplosion, das Ende aller Ressourcen, Klimakatastrophe, Rinderwahnsinn und viele andere Desaster drohten unentwegt mit dem Schlimmsten. Steigende Lebenserwartung und wachsender Wohlstand hingegen schafften es nie auf Seite eins.
Gerade in Deutschland sind deshalb viele Menschen zutiefst davon überzeugt, dass die »gute alte Zeit« besser war. Sie erblicken überall Kulturverfall, Ungerechtigkeit, Umweltverschmutzung und eine immer dümmer und frecher werdende Jugend. Dieses Lamento ist so alt wie die Menschheit. Und es war schon immer falsch. Es gibt Rückschläge in der Geschichte, die Gefahr der Barbarei ist nie ganz gebannt. Doch wer möchte ernsthaft mit den Lebensumständen seiner Großeltern tauschen oder gar mit deren Großeltern? Der amerikanische Schriftsteller P.J. O’Rourke schrieb, man brauche nur ein Wort, um die Mär von der guten alten Zeit zu widerlegen: Zahnheilkunde.
Nicht nur die Kunst der Zahnärzte ist humaner geworden. Nahezu alle Kennzahlen, an denen man Lebensqualität messen kann, sehen heute besser aus als während unserer Kindheit. Die Lebenserwartung ist weltweit drastisch gestiegen, die Kindersterblichkeit gesunken. Die Zahl der Analphabeten nahm rapide ab, die der Demokratien hat sich mehr als verdreifacht. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren fast alle Staaten nach heutigen Maßstäben Entwicklungsländer. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen stellte fest, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die weltweite Armut stärker zurückgegangen ist, als in den fünfhundert Jahren zuvor. Sogar die Zahl der Kriegsopfer weltweit ging zurück, trotz Irak und Afghanistan. In einem Satz: Es lebte sich früher deutlich ungemütlicher und gefährlicher.
Josef Joffe als Schüler 1957 (privat)
Die Statistiken der Vereinten Nationen vermitteln ein optimistischeres Weltbild, als der heutige Zeitgeist erlaubt. Wenn man sie liest, kommt man nicht umhin festzustellen, dass so etwas wie Fortschritt eventuell doch existiert. Auf den Gedanken kann man aber auch ganz ohne Statistik kommen, falls man die Zwanzig schon leicht überschritten hat. Es genügt, sich einfach mal zu erinnern. Zum Beispiel daran, wie ledige Mütter in unserer Kindheit angesehen und behandelt wurden.
Oder daran, dass zurückgekehrte Emigranten sich dafür rechtfertigen mussten, dass sie Nazideutschland verlassen hatten.
Dirk Maxeiner 1979 als junger Journalisc (privat)
Im Laufe unseres Lebens wurden Dinge real, die einst völlig unmöglich schienen. Dass es einmal Internet, kernlose Weintrauben oder offen homosexuelle Bürgermeister geben könnte, war für niemanden absehbar. Auf den Zusammenbruch des Kommunismus hätten wir keinen sauren Hering verwettet, er erschien uns so unabänderlich wie Frost in Sibirien.
Zugegeben, nicht alle Überraschungen waren angenehm. Dass ein Teil der deutschen Linken einmal Arm in Arm mit erzreaktionären Gottesmännern gegen Israel demonstrieren würde, hätten wir nicht für möglich gehalten. Anderes hat sich ebenfalls verschlechtert: Es gab kein Aids, mehr Parkplätze, niedrigere Steuern, kaum Islamismus, und die deutsche Fernsehunterhaltung hatte ihren Tiefpunkt noch nicht erreicht.
Die Perspektiven unseres Quartetts haben manches gemeinsam, sind aber nicht gleich. Wir sind alle vier Journalisten, männlich und in Westdeutschland aufgewachsen. Doch wir gehören zu unterschiedlichen Alterskohorten und haben unterschiedliche Lebenserfahrungen hinter uns. Zwei von uns sind Immigrantenkinder, sie wurden in Polen geboren, kamen in den Fünfzigern nach Westen und haben noch Erinnerungen an Trümmerdeutschland. Die anderen beiden sind Wirtschaftswunderkinder. Alle wurden mehr oder weniger durchgerüttelt von den kulturellen Umwälzungen der 60er und 70er Jahre, als »Sex and Drugs and Rock’n’Roll« die Verhältnisse zum Tanzen brachten. Und alle haben in dieser nervösen Epoche auch ein paar Irrwege genommen. Gemeinsam ist uns, dass wir die kulturpessimistische Floskel, dass früher alles besser gewesen sei, für ziemlich schlecht begründet halten. Den klügsten Satz dazu hat unser Lieblingsphilosoph Karl Valentin gesagt: »Die Zukunft war früher auch besser.«
Berlin, im Juli 2010 Michael Miersch (mm)Henryk M. Broder (hmb)Josef Joffe (jj)Dirk Maxeiner (max)
A

Adenauer

Der erste und nach Kohl dienstälteste Kanzler der Republik (1949-1963) sowie der coolste Politiker der Nachkriegszeit, prägte er doch den Satz: »Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?« Diese Maxime zeugt von Realitätsbewusstsein und Anpassungsbereitschaft; heutige Politiker begründen dagegen sehr weitschweifig, warum sie in Wahrheit ihre Position überhaupt nicht geändert haben bzw. die neue Sprachregelung pure Kontinuität verheißt. Adenauer war auch der progressivste Politiker im Lande, machte er doch den homophilen Heinrich von Brentano zum Außenminister, bevor Guido Westerwelle auf die Welt kam. Umso agitpropmäßiger ist das Etikett der »Adenauer-Restauration«, das ihm seine progressiven Feinde angeklebt haben. Nichts wurde restauriert (außer den zerbombten Gebäuden): weder die Macht des Adels noch des Militärs, noch des gehobenen Bürgertums.
Stattdessen erlebte Westdeutschland einen gewaltigen Modernisierungsschub: Industrialisierung, Säkularisierung, Urbanisierung, Entschärfung uralter Konflikte zwischen Stadt und Land, Nord und Süd, Protestanten und Katholiken. Dazu kam rasante soziale Mobilität, von der horizontalen gar nicht zu reden: erst Gardasee, dann Rimini, dann Disneyland. Der deutsche Chefrestaurator dagegen hieß Walter Ulbricht und herrschte über die → DDR: Gleichschaltung der Medien, Parteienverbot, Diktatur, Pseudo-Wahlen, Geheimpolizei.
Den besten Beweis für den Bruch mit alten totalitären Träumen vom »Neuen Menschen«, rechten wie linken, liefert Adenauers Spruch: »Nehmen Sie die Menschen, wie sie sind, andere gibt’s nicht.« jj

Aktentasche

Auf Fotos von Straßenszenen der Vorkriegzeit haben fast alle Männer einen Hut auf, Handwerker, → Arbeiter, Bauern und Jugendliche zumindest eine Mütze. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich männliche Barhäuptigkeit nach und nach durch. Die Schmalztolle der Rock’n’Roller duldete keine Kopfbedeckung. Aufstrebende Wirtschaftswunderdeutsche zeichneten sich durch ein anderes männliches Accessoire aus: die Aktentasche. Ein Angestellter oder Beamter, der auf sich hielt, verließ nicht ohne seine Aktentasche das Haus. Manche Professoren ließen sie sich von einem Studenten hinterhertragen. Wie sehr die Aktentasche zur Standardausstattung der gebildeten Schichten gehörte, zeigen Fotos von Studentenprotesten der 60er Jahre. Da trägt selbst Rudi Dutschke beim Demonstrieren auf dem Kurfürstendamm eine Aktentasche. Was ihn als das zeigt, was er war: ein sehr deutscher Revolutionär.
Später kam dann insbesondere bei BWL-Studenten der Diplomatenkoffer in Mode. Die Soziologen und Philosophen schleppten ihre Bücher in griechischen Hirtentaschen umher. Die 90er Jahre waren die Zeit der Pilotenkoffer. Einen echten Fortschritt brachte der kleine City-Rucksack, durch den der deutsche Mann endlich beide Hände frei hatte. Derzeit ist die Streetbag angesagt, die das Prinzip Hirtentasche laptoptauglich erneuert. mm

Alkohol am Steuer

Früher die Regel, heute die Ausnahme. max

Ami-Flittchen

Die jungen Amerikaner sahen meist gut aus, waren locker drauf und außerdem ziemlich einsam. Junge deutsche Männer waren Mangelware, viele im Krieg gefallen, in Gefangenschaft oder als Krüppel zurückgekommen. Besonders in den großen amerikanischen Garnisonsstädten wie etwa Hanau oder Frankfurt kam es zum natürlichsten Vorgang der Welt. Deutsche Mädchen verliebten sich in amerikanische Soldaten und umgekehrt. → »Fräulein, Fräulein« hieß ein Gassenhauer und eine amerikanische Liebeserklärung an die deutsche Frau. Das ging oft gut und oft nicht, ganz normal also. Viele heirateten ihren → GI und gingen mit ihm in die Vereinigten Staaten, andere blieben hier oder kamen aus Heimweh zurück. Die waren, so wurde dann in der Nachbarschaft geraunt, »sitzengelassen« worden. Ging ein Kind aus der Beziehung hervor, handelte es sich nicht etwa um eine alleinerziehende Mutter, sondern um ein »sitzengelassenes Ami-Flittchen«. Gesellschaftlich war die deutsch-amerikanische Liebesbeziehung weitgehend geächtet, nicht nur in Deutschland, manchmal auch in den USA. Den deutschen Frauen wurde Berechnung unterstellt, weil ihr Freund aus dem PX-Laden schon mal ein paar → Nylons mitbrachte. Auf die Idee, es könne sich um aufrichtige Liebe handeln, kam kein Mensch. Ein Phänomen, das wir heute unter umgekehrten Vorzeichen beobachten können, wenn deutsche Männer eine Partnerin aus Asien heiraten. Den Paaren wird gerne unterstellt, er habe sie als lüsterner Sextourist in einem thailändischen Bordell kennengelernt. Und sie habe ihn nur geheiratet, um der Armut zu entkommen. Der Gedanke, dass auch hier Liebe im Spiel sein könnte, ist nicht sehr verbreitet. max
→ Mischehe → Nylonstrumpf

Anhalter

Studenten am Straßenrand sind sehr selten geworden. Bis in die 80er Jahre drängelten sich in den Semesterferien oftmals Dutzende junger Menschen mit Rucksäcken an den Ausfahrten der Autobahntankstellen. Sie hielten Schilder in die Höhe, auf denen ihre Reiseziele standen, und stiegen bei Wildfremden ins Auto. Dieses gegenseitige Grundvertrauen, beruhend auf der Annahme, dass die allermeisten Menschen keine Serienmörder oder Vergewaltiger sind, ging verloren.
Aber nicht allein deshalb sieht man kaum noch Tramper, sondern weil es andere, bessere Möglichkeiten gibt, um billig zu reisen. Die Deutsche Bundesbahn und ihre europäischen Partner führten 1972 das Interrailticket ein, mit dem junge Leute für wenig Geld Europa erkunden können. Danach wechselten die meisten Schüler und Studenten auf die Schiene. Für jene, die weiterhin einen Beifahrersitz wollten, gab es bald immer mehr Mitfahrzentralen, die für wenig Geld private Fahrgelegenheiten vermitteln, ohne das Warten am Straßenrand und ohne das Risiko der völligen Anonymität.
Auch der wachsende Wohlstand machte Autostopp überflüssig. In vielen Familien reicht das Geld mittlerweile für einen Gebrauchtwagen, wenn Sohn oder Tochter den Führerschein bestanden haben. Schön, dass keiner das Trampen mehr nötig hat. Aber auch ein bisschen schade, dass kaum jemand mehr per Anhalter fährt. Fahrer und Mitfahrer, jung und alt, Bürger und studentischer Rebell saßen für ein paar hundert Kilometer dicht nebeneinander und mussten über irgendetwas reden. Die Situation zwang dazu. Oft hatten die einen den Draht zu ihren Kindern verloren, die anderen zu ihren Eltern. Für beide Seiten ergaben sich Einblicke ins gegnerische Lager des Generationskonflikts. mm
→ Teure Flugreisen

Aralsee

Eines der größten Binnengewässer der Erde verschwand vor aller Augen. In den Schulatlanten der 60er Jahre war er noch in voller Größe eingezeichnet. Auf heutigen Weltkarten ist nur mehr ein Drittel der einstigen Wasserfläche blau markiert. Der Rest ist Wüste. Auf manchen Darstellungen zeigt eine gestrichelte Linie den Umriss des ehemaligen Sees. Die Umweltkatastrophe begann, als das Politbüro unter Stalin beschloss, mit dem Wasser des Aralsees riesige Baumwollplantagen in den Sowjetrepubliken Kasachstan und Usbekistan zu bewässern. mm

Arbeiter

In der Weimarer Republik war der Arbeiter Liebling der Politik. Linke und rechte Parteien wetteiferten um seine Gunst. Dem Arbeiter, darin war man sich bis auf wenige Reaktionäre einig, gehörte die Zukunft. Die folgenden zwölf Jahre Zukunft gehörten dann einer Partei, die sich ausdrücklich Arbeiterpartei nannte. Die Arbeiter hatten jedoch nicht allzu viel davon, denn sie wurden in den Krieg geschickt, anstatt das versprochene Arbeiterparadies genießen zu können.
In den 50er und 60er Jahren hallte auch in Westdeutschland der Arbeiterkult noch ein wenig nach, hauptsächlich bei der → SPD. Doch nach und nach versuchten alle politischen Parteien nicht mehr für eine bestimmte Klasse zu stehen, sondern richteten ihre Programme an die »Mitbürger« oder, wie Helmut Kohl später sagte: »Die Menschen draußen im Lande«.
Die Verehrung des Arbeiters erlebte in den 70er Jahren eine Renaissance bei linken Studenten. Sie gründeten Sekten, die sich »Sozialistische Arbeitergruppe« nannten und Zeitungen, die »Arbeiterkampf« hießen. Nahe der Hamburger Uni gab es sogar eine studentische Buchhandlung namens »Arbeiterbuch«. Irgendwann haben dann auch Soziologiestudenten den soziologischen Wandel mitbekommen und hörten mit dem Arbeitertheater auf.
»Proletarier«, das marxistische Edelwort für Arbeiter, hat seinen einst erhabenen Klang vollständig eingebüßt und wird fast nur noch in verballhornter Form als »Prolet« oder »Proll« verwendet, womit man einen grobschlächtigen Menschen bezeichnet. mm

Arbeiterrückfahrkarte

Sie war die Vorläuferin der Pendlerpauschale, die im Deutschland des 21. Jahrhunderts in den Menschenrechte-Katalog aufgenommen wurde. Wer zu seiner Arbeitsstelle oder von dort zurück nach Hause fuhr, hatte ein Anrecht auf ermäßigtes Bahnfahren. Arbeiterrückfahrkarten gab es im Westen bis Mitte der 60er Jahre. Dann war die Arbeiterklasse voll durchmotorisiert und fuhr lieber mit dem eigenen Auto vors Werkstor.
Die DDR-Reichsbahn bot den Werktätigen stolze 75 Prozent Ermäßigung, bis in den frühen 90er Jahren die beiden deutschen Bahnbehörden vereinigt wurden. Arbeiterrückfahrkarten galten in West und Ost als große Errungenschaft in einer Zeit stetig steigenden Wohlstands. In dieser Ära war der Brotpreis nicht mehr der wichtigste soziale Indikator, der Benzinpreis war es noch nicht. Wie bedeutend das Billett war, zeigte der Aufstand vom 17. Juni 1953. Die Wut auf die Staatsführung kochte auch deshalb über, weil sie den Preis für die Arbeiterrückfahrkarte erhöht hatte. mm

Aufstehen

Kreislaufanregende Tätigkeit, die mit der Erfindung der Fernbedienung überflüssig wurde. max

Augsburger Puppenkiste

In den Stücken der Augsburger Puppenkiste waren die Kleinen ganz groß, die Schwachen stark und die Könige Knallköpfe - und zwar lange bevor das in Kinderfilmen üblich wurde. Viel erfolgreicher als die Frankfurter Schule unterwanderte die Augsburger Puppenkiste die steife Autoritätsgläubigkeit der frühen Bundesrepublik. Immer waren die Polizisten leicht vertrottelt, die Herrscher unfähig. Doch wenn die mächtigen Popanze in typischer Puppenkistenmanier ihren Kopf schief legten, sah man, dass sie doch nicht so ganz, ganz böse waren. Macht war komisch, am besten man ignorierte sie. Die dummen Autoritäten bestrafte das Leben. Sie hinkten den Ereignissen hinterher und wussten nie so recht, was eigentlich los war.
Oblong (der kleine dicke Ritter), Lukas und Jim, Kater Mikesch, Urmel und die anderen Helden aus Holz setzten moralische Maßstäbe, versuchten aber nie ihre jungen Zuschauer zu pädagogisieren. Pädagogik im Überfluss kam dann ab Mitte der 70er Jahre ins Kinderprogramm. Von nun an wurden Solidarität, Emanzipation und sonstige segensreiche Ideen den Kindern eingeschustert. Die Puppenkiste setzte dagegen auf sanfte Ironie. »Wir haben nie den erhobenen Zeigefinger gezeigt. Wir haben die Kinder immer ernst genommen und wollten sie ganz einfach gut unterhalten«, sagte Walter Oehmichen, der 1977 verstorbene Gründer. Das ist ihm perfekt gelungen. Zum Dank können wir das Lummerlandlied und den Marsch der Blechbüchsenarmee bis heute mitsingen. mm
→ Deutsches Fernsehen → Hessischer Rundfunk

Ausgehen

Oder »Sich Verabreden«: ein Junge, ein Mädchen. Heute ein komplizierter kollektiver Verhandlungsprozess, der per Handy oder via Facebook gestaltet wird. Dieser beginnt zur abendlichen Essenszeit am elterlichen Tisch, etwa beim Salat, und endet gegen 22 Uhr. Dann hat sich eine gemischtgeschlechtliche Gruppe formiert, die sich um 23 Uhr am jeweils angesagten Ort trifft. Dass die Kids erst um drei Uhr wieder zu Hause aufscheinen, stört den Schlaf der Eltern nicht. Denn sie wissen: In der Herde kommt es nicht »zum Ärgsten«, um eine altmodische Redewendung zu bemühen. Dies sei als sittlicher oder zumindest Schlaf fördernder Fortschritt zu preisen. jj

Aussteiger

Angeblich war schon Diogenes ein Aussteiger, weil er laut (falscher) Legende in einem Fass Wohnung nahm und sich so von sämtlichen Zwängen und Konventionen des bürgerlichen Lebens befreite. In Deutschland kam das Aussteigen aber erst in den 70er Jahren richtig in Schwung, als die gut gebildete und auch sonst wohl versorgte junge Generation beschloss, ihren Eltern zu zeigen, was eine Harke ist. Während die Alten unerschütterlich den Segnungen des Wirtschaftswunders hinterherhechelten, beschlossen Sohn oder Tochter, nach höheren Zielen zu streben. Diese sollten keine materiellen sein, was den unschätzbaren Vorteil hat, dass der Weg dorthin nicht mit Arbeit verbunden war. Anstatt fleißig zu studieren, Häusle zu bauen oder sonst wie Rentenansprüche zu erwerben, stieg man kurzerhand aus. Allenthalben wurden Landkommunen gegründet, die ein sinnerfülltes und »selbstbestimmtes« Dasein versprachen, sich aber früher oder später als gruppendynamische Hölle entpuppten. Billige Bauernhäuser gab es überall, weil die junge Landbevölkerung von eben diesem Leben die Schnauze voll hatte und sich
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