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In dieser Arbeit werden Mechanismen von Führung und Repräsentation in sozialen Bewegungen untersucht. Dieses Thema ist ein blinder Fleck der Bewegungsforschung. Eingeleitet wird diese Arbeit von einem langen historischen Bogen, wie Führung in modernen sozialen Bewegungen gedacht wurde: in der industriellen Phase der Arbeiter:innenbewegung nach der Französischen Revolution, in den Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1960ern und in der globalisierungskritischen Bewegung um die Jahrtausendwende. Danach wird konkret anhand des Mobilisierungsprozesses der globalisierungskritischen Bewegung 2005-2007 gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm Führung anhand von Organisation, Framing und strategischer Ausrichtung von Protest untersucht.
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Seitenzahl: 543
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Gewidmet meinen Eltern Mercedeh Mohseni & Reza Shahyar
Diese Arbeit ist mein Dissertationsprojekt, das ich 2023 an der Universität Jena eingereicht und verteidigt habe. Ihre Entstehung und Vollendung waren eine lange Reise. Ich hatte zunächst in den Jahren 2006-2007 vergeblich versucht, bei Prof. Helmar Schramm am Institut für Theaterwissenschaften an der Freien Universität Berlin über Entschleunigung und Zeitwahrnehmung zu promovieren. Nach dem Abbruch dieses Projektes ging ich zurück in das mir bekanntere Feld der Sozialwissenschaften und der sozialen Bewegungsforschung. Bei diesem dem Ausflug in die Theaterwissenschaften stieß ich auf das Phänomen der „Krise der Repräsentation“ im Theater und in der performativen Kunst. Diesen Begriff gab es auch, zwar mit anderer Bedeutung, in der Politikwissenschaft und auch in den sozialen Bewegungen. Ich fand diese Überlappung der „Krise der Repräsentation“ in verschiedenen Disziplinen spannend, und hieraus wurde die Idee geboren, über Repräsentation und Führung zu promovieren.
Großer Dank geht an dieser Stelle an Prof. Ulrich Brand, der mich dann für das Graduiertenkolleg der Rosa-Luxemburg-Stiftung „Kapitalismus und Demokratie“ an der Universität Siegen empfahl. Dank dieses Stipendiums 2008-2010 konnte ich die Grundlage dieser Arbeit entwickeln. Trotz seines wirklich vollen Arbeitsplanes übernahm Prof. Brand dann auch die Zweitbetreuung und verhalf mir zur Finalisierung dieses Projekts. Eine wichtige Hilfe war damals Mario Candeias, der mein Exposé überarbeitete. Eine unheimlich fruchtbare Erfahrung waren im Graduiertenkolleg die Lektüre-Kurse mit Alex Demirovic, in denen ich vieles an theoretischen Grundlagen für diese Arbeit gewinnen konnte.
Nach zwei Jahren Arbeit am Projekt erhielt ich – für mich überraschend – keine Verlängerung des Stipendiums. So arbeitete ich einige Jahre auf eigene Faust und Sparflamme an der Arbeit weiter. Doch je mehr Zeit verstrich, desto mehr entwickelten sich die anderen Projekte in meinem Leben weiter, und ab Mitte der 2010er Jahre spürte ich immer weniger Kraft und Motivation für die Fertigstellung dieser Dissertation. Direkt nach dem Stipendium baute ich eine Social-Media-Agentur für progressive Bundestagsabgeordnete auf, arbeitete als freier Journalist sowie Blogger und begann nach einem längeren Aufenthalt in Argentinien eine Laufbahn als Tango-Lehrer und Event-Veranstalter. In den Jahren 2018/19 entschied ich dann endgültig, diese Arbeit aufzugeben und dieses unvollendete Projekt nicht mehr mitzuschleppen; alle Kisten mit den Text-Ordnern verstaute ich im Keller.
Kurz nachdem ich die Arbeit aufgegeben hatte, brach die Corona-Pandemie aus. Das Tango-Projekt war inzwischen meine Hauptbeschäftigung, und diese brach von einem Tag auf den anderen ein. Wie die gesamte Branche, fiel auch ich in ein tiefes Loch. Nach den ersten Wochen und Monaten im Lockdown suchte ich nach einem Projekt, und im Sommer 2020 kam ich auf die Idee, mich erneut dieser halbfertigen Arbeit zu widmen. Ich schickte den bisherigen Stand der Arbeit meinem Freund mit den größten akademischen Fähigkeiten Fahim Amir zu und fragte ihn, ob er es für machbar hielt, diese Dissertation zu finalisieren. Er las alles, antwortete mit „definitiv ja“ und gab mir sehr gute Ratschläge. Ohne sein Zutun hätte ich mich nicht an die Finalisierung herangetraut, somit ist er der heimliche Mentor dieser Arbeit. So las und schrieb ich während des Lockdowns und hatte zum zweiten Corona-Winter die Rohversion der Arbeit fertig. Ich hatte das große Glück, Prof. Maria Backhouse als grandiose Tango-Tänzerin zu kennen, die sofort meine Anfrage nach Betreuung bejahte. Sie war eine fantastische Betreuerin, die es verstand, mit der nötigen Härte meine Schwächen aus der Arbeit auszutreiben und gleichzeitig meine Motivation zu erhöhen. Ich habe durch die lange Reise in den verschiedenen Graduiertenkollegs und Promotionsseminaren unheimlich viel Leiden bei den Doktorand:innen anhand mangelnder und mangelhafter Betreuung erleben müssen. Durch die Betreuung von Prof. Backhouse hatte ich das Privileg, nicht nur nicht zu leiden, sondern so begleitet zu werden, dass ich nie die Sicherheit verlor, diese Arbeit mit Freude zu Ende bringen zu können.
Aufgrund dieser langen Zeit hat diese Arbeit an damaliger Aktualität verloren und ist etwas historischer geworden. Das untersuchte Mobilisierungsereignis war 2007, kurz bevor die sozialen Medien aufkamen. Ich weiß noch, wie ich mich kurz nach diesen Protesten nach einer Empfehlung von Sven Giegold bei Facebook angemeldet habe. Die sozialen Medien ändern grundlegend die Organisation von Mobilisierungen und begründen einen Paradigmenwechsel in der Frage nach Führung und Repräsentation. Daher ist diese Arbeit – wie Ulrich Brand in seinem Gutachten kritisch bemerkte – ‚etwas aus der Zeit gefallen‘. Aber die sozialen Medien sind auch schwerer erfassbar, und so war es auch ein Vorteil, dass diese Mobilisierung von 2005-2007 gegen den G8-Gipfel mir eine Feldstudie ermöglichte, die ich aus der eigenen Beteiligung heraus einigermaßen gut überblicken konnte.
Dass ich neben den sonstigen beruflichen Tätigkeiten imstande war, mit viel Energie diese Arbeit zu Ende zu bringen, verdanke ich meinen damaligen Chef:innen Sabine Leidig und Kathrin Vogler, die über die Jahre auch wunderbare politische Mitstreiter:innen waren, sowie Kirsten Krüger, ohne deren Werk und Vertrauen ich nicht da wäre, wo ich bin. Asadeh Shahyar, Maryam und Hamid Mohseni waren mir mit kritischen Kommentaren immer eine wichtige Hilfe. Eine besondere Rolle hatte Peter Wahl, der nicht nur mein wichtigster politischer Mentor in der Zeit war, von der diese Arbeit handelt. Er war über die Jahre stets ein kritisch-konstruktiver Begleiter und motivierte mich damals, in die Theaterwissenschaften zu gehen, wodurch ich einen neuen Horizont für mein Leben und auch für diese Arbeit bilden konnte. Bedanken will ich mich auch für das tolle Lektorat bei Christoph Schachenhofer und für das Cover-Design bei Anya Kovalieva. Und last but not least wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung von meiner Lebenspartnerin Christina Wegener auf allen möglichen Ebenen, inklusive der hochqualifizierten Endredaktion.
1. Einleitung und Methodik
1.1. Führung, soziale Bewegungen und Demokratie: Spannungen und Dilemmata
1.2. Forschungsstand und Begriff von Führung in sozialen Bewegungen
1.3. Aufbau der Arbeit
1.4. Die qualitative Studie
2. Konzept von Führung in modernen sozialen Bewegungen
2.1. Theorie der Avantgarde: das Paradigma der Partei
2.1.1. Babeuf und Blanqui: die Genese der Partei
2.1.2. Marxismus und die Partei
2.1.3. Kulturelle Hegemonie
2.2. Hierarchiekritik und die Oligarchisierungshypothese
2.2.1. Libertäre Kritik und die Emphase der Unmittelbarkeit
2.2.2. Massenpsychologie und Michels Diktum
2.2.3. Soziale Bewegungen und Institutionalisierung
2.3. Neue Soziale Bewegungen: das Paradigma des Netzwerks
2.3.1. Netzwerk als Organisationsmodell
2.3.2. Modernisierungsschub und Dezentralisierung
2.3.3. Der antiautoritäre Impuls
2.4. Globalisierungskritische Bewegung: das Paradigma des offenen Raumes
2.4.1. Das Sozialforum als offener Raum
2.4.2. Globalisierung: Diversität und Einheit im Konflikt
2.4.3. Neue Technologien: globale Öffentlichkeit und Netzwerkkultur
2.4.4. Zapatismus: Macht, Staat und die Muster einer Antipolitik
3. Führung in Organisierung: Facilitating und Brokerage in Mobilisierungsstrukturen
3.1. Theorie und Begriff von Organisation
3.2. Das organisatorische Feld der Mobilisierung
3.2.1. Attac
3.2.2. Dissent
3.2.3. Interventionistische Linke
3.2.4. Institutionelle Akteure
3.3. Spektrenübergreifende Mobilisierungsstrukturen
3.3.1. Organisatorisches Dach einer Gesamt-Dramaturgie: der Hannover-Kreis
3.3.2. Aktionskonferenzen in Rostock
3.3.3. Facilitating des Protests: die Arbeitsgruppen (Module)
3.3.4. Die Kampagne BlockG8
3.4. Konflikte und Vermittlung
3.4.1. Repräsentativität in Organisations- und Entscheidungskulturen
3.4.2. Militanz und Gewalt
3.4.3. Rolle von Parteien
3.4.4. Aktionskonsens Block-G8
3.5. Ergebnisse: Facilitating und Vermittlung
3.5.1. Facilitating: Ressourcenallokation und Strukturierung des Raumes
3.5.2. Integrative Vermittlung: Moderieren des Disparaten
3.5.3. Selektive Vermittlung: Ausschluss, Kohärenz und Öffnung des Raumes
3.5.4. Mechanismen im Zusammenhang
4. Politische Gelegenheitsstrukturen, Strategie und Taktik
4.1. Theorie und Begriff von Gelegenheitsstrukturen
4.2. G8-Gipfel als politische Gelegenheit
4.2.1. Öffnung im politischen System und in der globalen Öffentlichkeit
4.2.2. Politische Geographie Heiligendamm
4.2.3. Alliierte
4.2.4. Dritte-Partei-Interventionen
4.2.5. Staatliche Repression
4.3. Strategieentwicklung: informelle Zellen und Trust-Networks
4.3.1. Attac: Scharniere, Wachstum und Zentrierung
4.3.2. Interventionistische Linke: Strömung und Repertoire
4.3.3. Dissent: Raum und Hallmarks
4.4. Strategische Steuerung: Taktik in dynamischer Umwelt
4.4.1. Razzien
4.4.2. Die Aktionswoche
4.4.2.1. Kontrollverlust Großdemonstration 2.6.2007
4.4.2.2. Intervention und Steuerung
4.4.2.3. Spaltung verhindern: die Sicherung der Gesamtdramaturgie
4.4.2.4. Wendepunkt Montag: Aktionstag Migration
4.4.2.5. Die Blockaden
4.5. Ergebnisse: Gelegenheit, Strategie und Taktik
4.5.1. Strategieentwicklung: strategische Zellen und Vertrauensnetzwerke
4.5.2. Zieldefinition: Kalkulation und Antizipation
4.5.3. Taktik: Zeit, Ad-hoc-Netzwerke und Organisationsmacht
4.5.4. Mechanismen im Zusammenhang
5. Framing und mediale Repräsentation
5.1. Theorie von Framing und Medien
5.2. Strategisches Framing: Targeting G8
5.2.1. Kollektive Identität und das Framing einer gemeinsamen Bewegung
5.2.2. Delegitimierung: das Framing über Demokratie
5.2.3. Resonanz und Dramatisierung
5.3. Mediale Repräsentation
5.3.1. Infrastruktur für das mediale Großereignis
5.3.2. Pluralismus, Konsens und Sprecher:innenposition
5.3.3. Embedding Media
5.3.4. Selektion der Sprecher:in durch die mediale Arena
5.3.5. „The Battle of Rostock“: der Kampf um die Bilder
5.3.6. Abkopplung der Sprecher:innen von der Gruppe
5.4. Ergebnisse: Dramatisierung, Arenas und Sprecher:innenposition
5.4.1. Delegitimierung als strategisches Framing
5.4.2. Arenas und kognitive Verortung
5.4.3. Defensives Sprechen
5.4.4. Mechanismen im Zusammenhang
6. Zusammenfassung und Ausblick
6.1. Warum Führung in sozialen Bewegungen analysieren?
6.2. Integrativer Ansatz von Führung in sozialen Bewegungen
6.3. Exkurs: Liquid Leadership als normativer Ansatz von Führung
Glossar Abkürzungen
Auflistung Interview-Partner:innen
Verwendete Literatur
In dieser Arbeit untersuche ich die Führungsmechanismen in zeitgenössischen sozialen Bewegungen. Wie ich zeigen werde, sind Führung und Repräsentation im Kontext von sozialen Bewegungen wissenschaftlich unterbeleuchtet und können als eine Forschungslücke gelten. Dieses Thema ist auch den neueren sozialen Bewegungen verpönt, weil das Konzept von Führung in Spannung zu demokratischen Prinzipien steht und im Kontext sozialer Bewegungen oft als ein Widerspruch zur Basisdemokratie gedeutet wird. Wie ich in der vorliegenden Arbeit herausarbeiten möchte, ist Führung aber dennoch auch in basisdemokratischen Bewegungen ein zentrales Phänomen. Anhand der Erfahrungen von neueren progressiven und antiautoritär geprägten sozialen Bewegungen versuche ich, empirisch fundiert, Führung als Funktion, Handlungsmatrix und Mechanismus zu beschreiben, die jeglicher Formierung sozialer Gruppen inhärent ist und über ihre Entwicklung und Mächtigkeit entscheidend mitbestimmt. Mein Ziel ist es, einen Forschungsbeitrag zur Entwicklung einer funktionalen und normativen Theorie von Führung zu leisten, welche das Verständnis von Führung stärker in Einklang mit demokratischen Idealen zu bringen vermag (vgl. Ruscio 2004; Wren 2007).
Dafür untersucht die vorliegende Arbeit die globalisierungskritische Mobilisierung gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007. Dieser Mobilisierungsprozess verlief über zwei Jahre, von 2005 bis 2007, und war das Highlight der Globalisierungskritischen Bewegung (GKB) in Deutschland, das ich als initiierendes Mitglied führend begleitet habe. Gipfelproteste dieser Art sind nicht nur Orte zur Artikulation von Protest, sondern auch Räume der Emergenz der GKB, wo die spezifischen Charakteristiken dieser Bewegung gut zu beobachten sind. Mittels meiner eigenen initiierenden und aktiven Rolle in dieser Mobilisierung wird in der folgenden Studie eine Art protagonistischer Forschung1 versucht, die natürlich große Gefahren der Voreingenommenheit in sich birgt und methodisch abzusichern ist, aber ebenso den großen Vorteil eines einzigartigen Zugangs zu den untersuchten Akteur:innen bietet: Ich konnte 10 initiierende und führende Mitglieder dieser Mobilisierung aus den drei zentralen Bewegungsorganisationen ausführlich zu ihren Rollen und Handeln befragen. Das Interview-Korpus dieser Arbeit ist daher ein besonderes historisches Zeitdokument, das nur durch das eigene enge, aktive und persönliche Verhältnis zu den befragten Schlüsselakteur:innen dieser Mobilisierung zu erschließen war. Der theoretische Ausgangspunkt dieser Arbeit ist ein Dilemma: Führung ist ein inhärentes Moment von kollektiver Handlung (Blondel 1987), steht aber in Spannung zu den demokratischen Idealen als Kernelement von modernen sozialen Bewegungen (della Porta 2020). Bereits die Arbeiter:innenbewegung des 19. Jahrhunderts schrieb sich die Demokratie auf ihre Fahnen und verstand sich als die Bewegung der Mehrheit, die die Repräsentation des Volkes im Anschluss der Französischen Revolution vollenden wollte (Rosenberg 1988). Die Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1960er Jahren sind als demokratisches komplementäres Element in den liberalen Staaten oder als antisystemisches Moment zur demokratischen Befreiung gedeutet worden. In der liberalen Tradition werden sozialen Bewegung als Reaktion auf die Entfernung des politischen Systems von den verschiedenen Ebenen der Gesellschaft verstanden (Habermas 1998). In einer systemtheoretischen Perspektive entwickeln sie sich, wenn die institutionelle Politik eine selbstreferentielle Eigendynamik entfaltet und ein kommunikativer Abstand sowie eine Dissonanz zu anderen Bereichen der Gesellschaft auftritt. Soziale Bewegungen werden hierbei als eine Art intermediäre Sphäre aufgefasst, die gewisse Teile der Bevölkerung mit dem politischen System kommunikativ rückkoppeln. Demnach werden Bewegungen konstitutiv für liberale Demokratien, die so auch als Bewegungsgesellschaften beschrieben werden (Neidhardt/Rucht 1993; Meyer/Tarrow 1998). In einem kommunikationstheoretischen Ansatz sind soziale Bewegungen ein wichtiger Ort deliberativer Politik (Lösch 2005), durch die das Feld der Beratung und Meinungsbildung über die institutionelle Ebene hinaus in die Gesellschaft ausgeweitet wird. Anders als in diesem, dem Liberalismus komplementären Ansatz werden in einem antiautoritären, staatskritischen Denken soziale Bewegungen als der Ort zur Behauptung der individuellen oder kollektiven Autonomie gegenüber dem staatlichen Zugriff und der Kontrolle gedeutet (Agnioli 2004). Sie sind der Ort, an dem gegenüber einer instrumentellen herrschaftlichen Macht des Staates eine andere Logik der Macht, eine demokratisch-kollektive Macht, verwirklicht werden kann (Holloway 2002). In den zeitgenössischen Bewegungen zeigt sich der Diskurs der Demokratisierung durchgängig und noch verstärkt. Hatte sich die GKB als die Kraft für die Demokratisierung des Globalisierungsprozesses verstanden, definierten sich die globale Anti-Austeritätsbewegung infolge der Finanzkrise 2008 und die Welle der Aufstände nach 2011 in der arabischen Welt als dezidierte Revolten für demokratische Ordnungen gegen die despotische Herrschaft. Sowohl die Occupy-Bewegung als auch die Bewegungen des Arabischen Frühlings wurden durchgängig als „leaderless“ (Hurwitz 2021) bezeichnet und fungierten ohne führende Symbolfiguren. Sogar rechtsgerichtete Bewegungen wie die „Tea Party“ in den USA oder „PEgIdA“ in Deutschland identifizieren sich selbst als Ausdruck einer nicht repräsentierten Volksmeinung und in diesem Sinne als demokratisierende Elemente gegen eine vom Volk abgehobene Elite.
Diesem demokratiepolitischen Ethos steht eine elitistische Tradition der Idee der Führung und Repräsentation gegenüber (vgl. Schumpeter 2005). Darin ist die Grundlage der Demokratie relativiert, weil bestimmte Personen über andere entscheiden müssen, da nur sie aufgrund ihrer besonderen Attribute dazu imstande sind, die richtigen Entscheidungen für eine größere soziale Gruppe treffen zu können. Hinzu kommt das Problem der strukturellen Trennung von Führung und Basis. So finden wir schon bei Rousseau die Kritik der Repräsentation darin, dass Repräsentant:innen sich von den zu Repräsentierenden abkoppeln und entfremden, weshalb demokratische Strukturen letztlich nur in kleinen sozialen Gruppen zu verwirklichen sind (vgl. Marti 2012). Die Erfahrung der Oligarchisierung der Arbeiter:innenbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts in einerseits bürokratisch verwaltete Sozialdemokratien und andererseits die despotische Stalinisierung der kommunistischen Bewegung scheint die antiautoritäre Kritik zu bestätigen, die bereits in jeder Form der Delegation von Macht zu einer zentralen Instanz, die über andere entscheiden kann, den Niedergang der demokratischen Formen sieht. Die Institutionalisierung der Neuen Sozialen Bewegungen nach 1968 ist zwar vielseitig gedeutet worden (Rucht et al. 1997), die Übertragung einer gewissen repräsentativen Führungsschicht in das etablierte politische System scheint aber dennoch die Oligarchisierungshypothese zu bestätigen, wonach Repräsentation und Delegation von Macht zwangsläufig zu einer neuen konservativen Elite führen (Michels 1987, 2008a). Relevante Teile der Generation, die aus der 1968er Revolte und den daran anschließenden Neuen Sozialen Bewegungen heraus in das liberale System der repräsentativen Demokratie hineingewachsen sind, passten sich an die etablierte politische Ordnung und den folgenden Neoliberalismus an. Diese Erfahrung ist ein wichtiger Hintergrund für den noch stärker werdenden repräsentationskritischen und antiautoritären Diskurs der folgenden GKB und der zeitgenössischen sozialen Bewegungen. Und dennoch, und das ist der Ausgangspunkt dieser Arbeit: Führung und Repräsentation finden statt! Sie sind im Sinne stellvertretender Handlung jeder sozialen Gruppe inhärent (Blondel 1987; Barker et al. 2001; Keohane 2010):
“Leadership is as old as mankind. It is universal, and inescapable. It exists everywhere – in small organizations and in large ones, in business and in churches, in trade unions and in charitable bodies, in tribes and in universities. It exists in informal bodies, in street gangs and in mass demonstrations. It is not, indeed, confined to human race: it can be found in many animal societies, precisely where animals form a society. Leadership is, for all intense and purposes, the no. 1 feature of organizations. For leadership to exist, of course, there has to be a group: but wherever a group exists, there is always a form of leadership” (Blondel 1978: 1).
In der Forschung wird Führung insbesondere über Einfluss begründet (Burns 1979; Blondel 1987; Rost 1991; Barker et al. 2001; Wren 2007; Pelinka 2008): „Leadership is an influence relation among leaders and followers that facilitates the accomplishment of group or societal objectives” (Wren 2007: 2). Führung ist also nicht allein die Folge formaler Positionen, sondern definiert sich dadurch, wie das Handeln Einzelner das Handeln von vielen beeinflusst. In diesem Sinne verwende ich den Begriff Führung synonym mit Repräsentation: Führung ist der Einfluss stellvertretender Handlungen Einzelner auf andere, wodurch deren politische Praxis und Identität beeinflusst und mitgeprägt wird.
Bis heute ist der Begriff von Führung in den Sozialwissenschaften uneindeutig geblieben, daher versuche ich hier im nächsten Schritt eine eigene Begriffsbestimmung. Ausgangspunkt ist die Definition von James McGregor Burns in seiner klassischen Studie „Leadership“, die mit dem Fokus auf Konflikt und Mobilisierung für die Analyse von sozialen Bewegungen besonders fruchtbar erscheint:
„Leadership over human beings is exercised when persons with certain motives and purposes mobilize, in competition or conflict with others, institutional, political, psychological, and other resources so as to arouse, engage and satisfy the motive of followers” (Burns 1979: 18).
Soziale Bewegungen basieren, als eine Art von „contentious politics” (Tilly/Tarrow 2007), auf einer Mobilisierung in Konflikten zwischen antagonistischen Parteien. Führung ergibt sich hier aus diesem konfliktzentrierten Feld: „The question, then is not the inevitability of conflict, but the function of leadership in expressing, shaping, and curbing it. Leadership as conceptualized here is grounded in the seedbed of conflict” (Burns 1979: 38). Hieraus leitet sich die funktionale Relevanz bei der Untersuchung von Führung ab: Es geht um die Mobilisierungsfähigkeit in Konflikten und im Wettbewerb mit anderen Akteur:innen. Ein besseres Verständnis von Führungsmechanismen zielt auf die Ermächtigung von sozialen Bewegungen, indem durch adäquate Führung ihr Personal besser die verschiedenen Ressourcen ihrer sozialen Gruppe zu mobilisieren lernt. Somit ist Führung eine Frage der Mächtigkeit von sozialen Bewegungen.
Die normative Relevanz der Fragestellung nach Führung betrifft das demokratische Dilemma. Führung wird grundlegend mit der unterschiedlichen Verteilung von Macht und Handlungspotenzialen in einer Gruppe begründet (Blondel 1987; Rost 1991; Pelinka 2008). Menschen sind mit unterschiedlichen Möglichkeiten ausgestattet, woraus sich verschiedene, auch vertikale Positionen und Führungspotenzen ableiten. Diese Annahme steht gegen die egalitäre Idee von der gleichen Position aller Mitglieder einer demokratischen Gruppe. Die unterschiedlichen Positionen innerhalb einer Gruppe müssen nicht elitistisch aus einer negativen Anthropologie wie bei Hobbes oder der Massenpsychologie der klassischen Moderne folgen, wonach die Mehrheit von ihren personalen Attributen her nicht im Stande sei, politische Verwaltung der Gesellschaft gut zu bewältigen. Dennoch sind faktisch die personalen Ressourcen in jeder Gruppe ungleich verteilt. Mit Bourdieu gehe ich von der unterschiedlichen Ausstattung der Einzelnen mit verschiedenen Macht- und Kapitalsorten aus, woraus sich unterschiedliche Handlungspotenziale ableiten (Bourdieu 1986, 1992). Die verschiedene Ausstattung mit Kapitalsorten als Ressourcen sind nicht statische Werte von Attributen, sondern dynamisch veränderbar und situativ in den jeweiligen sozialen Räumen von unterschiedlichem Wert und Potenz. Ohne diese unterschiedliche Ausstattung zu negieren, liegt die demokratiepolitische Herausforderung bei der Frage der Repräsentation darin, wie Führungsmechanismen von statischen personalen Bindungen gelockert werden können. Dafür werden in dieser Arbeit Führung und Repräsentation als apersonale Funktionen und Mechanismen beschrieben. Indem Führung als Handlung und Technik erfasst wird, kann sie bewusster eingesetzt und lernbar werden. Dabei ist die Dispersion das normative Motiv: Wenn Führung als Mechanismus erkennbar ist, kann sie als soziale Fähigkeit (Ganz 2000) besser erlernt und in einer Gruppe verteilt werden. Dadurch können feste Bindungen von Führungspositionen an einzelne Personen gelockert, die Grenzen zwischen Führenden und Folgenden verwischt und die personale Positionierung fluider werden. Diese Verflüssigung kann die Spannung zwischen Führung und Demokratie reduzieren.
In der Forschungsliteratur zu sozialen Bewegungen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Führung ein Desiderat auf diesem Gebiet ist (Barker et. al 2001; Melluci 1996; Klandermans 1997; Raschke 2004; Morris/Staggenborg 2006;). Es gibt keine Monographie zu diesem Thema, eine übersichtliche Menge an Artikeln (Aminzadeh et. al 2001; Ganz 2000; Voss/Sherman 2000; Napstad/Clifford 2006; Valls et al. 2017) und gerade zwei Sammelbände von Colin Barker et al. 2001 und Jan Willem Stutje 2012, die sich systematisch der Frage von Führung und sozialen Bewegungen widmen. Daher wundert es nicht, dass in den Enzyklopädien zur politischen Führung die Kategorie „soziale Bewegungen“ nicht vorkommt (vgl. Rhodes/Hart 2004; Goethals 2004). Erst in der neueren Forschung, insbesondere in der US-amerikanischen, die von neuerer Bürgerrechtsbewegung und Gewerkschafts- und Community-Organizing inspiriert ist, taucht verstärkt ein neuer systematischer Zugang zur Führung in sozialen Bewegungen auf, der mehr auf Mechanismen fokussiert als auf Personen im Sinne einer abgehobenen Instanz einer Gruppe (Dixon 2014; Crutchfield 2018).
Während sich in den Sozialwissenschaften bis heute keine allgemeine, eindeutige Definition von Führung herausgebildet hat, wird diese in der Bewegungsforschung hauptsächlich als die zentrale Instanz der strategischen Entscheidungen für eine Gruppe definiert (Breyman 1998; Ganz 2000; Morris/Staggenborg 2006). Die Vernachlässigung von Führung geht einerseits auf das Verhältnis von Struktur zu Agency in den zentralen Strängen der Bewegungsforschung zurück (Melucci 1996). So wurde bei der Analyse der politischen Prozesse und Gelegenheitsstrukturen dem Verhältnis von Bewegungen zu den Umweltfaktoren besondere Aufmerksamkeit geschenkt, während personale Faktoren, Agency und Strategie vernachlässigt wurden (Aminzadeh et. Al 2001; Morris/Staggenborg 2006). Sogar in der „Ressource-Mobilization-Theory“, die Organisationen ins Zentrum der Analyse stellt, blieb ein strukturalistischer Bias bestehen. Die zentralen Autoren dieses Stranges, John D. McCarthy und Mayer N. Zald, stellen fest: „[We] were almost silent, at least theoretically, on the issue of strategic decision making“ (McCarth/Zald 2002: 543). Ein viel zitiertes Gegenbeispiel für eine empirisch fundierte Leadership-Analyse ist im Kontext der Organisationstheorie die Studie von Marshall Ganz, in der die unterschiedlichen Erfolge von gewerkschaftlichen Organisationen entlang der Frage der Führung und strategischen Kapazität beschrieben werden (2000). Darin liefert Ganz eine Qualifizierung des Ressourcen-Ansatzes, indem er zeigt, dass nicht nur die Menge an materiellen Ressourcen, sondern deren strategischer Einsatz die Erfolgsbedingungen von Bewegungen bestimmen. Eine akteurszentrierte Agency-Analyse finden wir im Sammelband von Jan Willem Stutje, in dem Charisma als ein zentrales Element des persönlichen Faktors für Führung in sozialen Bewegungen diskutiert wird (2012). Die fruchtbare Analyse von historischen Figuren ist allerdings auf die Erfahrung neuerer Bewegungen kaum übertragbar, da die Figur der charismatischen Führung in diesem Feld empirisch keine große Relevanz mehr besitzt. Mit wenigen Ausnahmen (wie zum Beispiel Greta Thunberg) finden sich keine charismatischen Figuren mehr in den zeitgenössischen sozialen Bewegungen, die das Bild und die Wahrnehmung der Bewegung prägen. In der GKB erlebten wir bei Subcomandante Marcos mit der inszenierten Maskierung eine Verheimlichung von personalen Merkmalen und der Identität und darin einen intendierten Abbruch des personalen Charismas.
Ein weiteres grundlegendes Problem für die Erforschung von Führung ist die institutionelle Unbeständigkeit und strukturelle Fluidität von sozialen Bewegungen. In anderen Disziplinen mit ausdifferenzierten Handlungsstrukturen ist das Verhältnis von Führenden und Gefolgschaft als „akteurszentrierter Institutionalismus“ im Studium politischer Akteur:innen im institutionellen Arrangement gut erfassbar (Helms 2008): In den Wirtschaftswissenschaften von Vorgesetzten zu Angestellten, in der Pädagogik von Lehrpersonal zu Studierenden, in der Politikwissenschaft von Spitzenpersonal von Parteien und staatlichen Institutionen zu Mitgliedern oder zum Wahlvolk. Soziale Bewegungen sind als mobilisierte kollektive Handlungsstrukturen von hoher Fluidität bestimmt, wodurch auch das Verhältnis von Führung und Gefolgschaft viel dynamischer und empirisch schwerer fassbar ist. Joachim Raschke sieht wegen dieser fehlenden organisatorischen Stabilität und Ausdifferenzierung das strukturelle Problem der Strategiefähigkeit in den sozialen Bewegungen (1985, 2004). Bei den Mobilisierungen als Kernelement von Bewegungen haben wir es vor allem mit informellen situativen Organisierungen und geringer struktureller Ausdifferenzierung zu tun. Hier finden wir vorwiegend ein „Crowd-Modell of Leadership“ (Reicher et. al 2001), in dem das spezifische Personal allerdings schwer mess- und untersuchbar ist. Bei den verfestigten Strukturen von NGOs und Non-Profit-Organisationen, wo das Personal ausdifferenziert, gut erkennbar und untersucht werden kann (Franz/Zimmer 2008), bewegen wir uns wiederum auf organisatorische Formen zu, die bei stärkerem Institutionalisierungsgrad immer weniger der Kategorie von sozialer Bewegung als Mobilisierung entsprechen. Neuere soziale Bewegungen entziehen sich besonders einer klassischen Institutionalisierung mit starken vertikalen positionellen Ausdifferenzierungen, was auch als Ausdruck von basisdemokratischen Werten gedeutet werden kann.
Die Schwierigkeit mit Institutionalisierung ist also auch normativ verfasst und betrifft die vertikale Ausdifferenzierung von Positionen, die dem demokratischen Gehalt progressiver Bewegungen widerspricht. Diese vertikale Position der Führung ist vor dem Hintergrund eines ökonomischen Modells zu erklären, das im 20. Jahrhundert die Vorstellung von Führung zentral geprägt hat (Blondel 1987). Dieses Modell ist nach Rost in einem industriellen Paradigma der Moderne verhaftet und ist nicht mehr für die Herausforderungen der Zukunft geeignet:
„1. a structural-functionalist view of organizations, 2. a view of management as the preeminent profession, 3. a personalistic focus on the leader, 4. a dominant objective of goal achievement, 5. a self-interested and individualistic outlook, 6. a male model of life, 7. an utilitarian and materialistic ethical perspective, and 8. a rational, technocratic, linear, quantitative, and scientific language and methodology” (Rost 1991: 180).
Das ökonomische Modell des industriellen Paradigmas sorgt für einen elitistischen Bias insbesondere darin, dass die vertikalen Positionen in sozialen Gruppen als feste Hierarchien gedacht werden. Die Attribute und Fähigkeiten, die hier für die Führung angenommen werden, sind durchweg als die des „Machers“ maskulin bestimmt (Pelinka 2008). Dies ist Gegenstand feministischer Kritiken (Kokopeli/Lakey 1984; Kellermann/Rhode 2007; Geißel/Meier 2008), die unter anderem die Bedeutung von femininen Eigenschaften und Stile in Führungspositionen in ihrer Wirkungsmächtigkeit beschreiben. Barbara Kellermann und Deborah L. Rhode weisen zu Recht darauf hin, dass nicht biologische Merkmale, sondern kollektive soziale Erfahrungen dabei entscheidend sind, diese unterschiedlichen Führungsstile von Frauen zu begründen (2007: 163 ff.). Die spannende Studie von Belinda Robnett zeigt anhand der Erfahrungen der Bürgerrechtsbewegung in den USA, wie Frauen auf der lokalen und Mesoebene stark integrative Funktionen zwischen verschiedenen Bewegungssegmenten erfüllten, die der in dieser Arbeit benutzten Kategorie der „Brokerage“/Vermittlung (Diani 2003b) am ehesten entsprechen (1997).
Um eine grundlegende Alternative zum ökonomischen maskulin-industriellen Modell von Führung zu begründen, betont Rost folgende Punkte:
„Values as collaboration, common good, global concern, diversity and pluralism in structures and participation, client orientation, civic virtues, freedom of expression in all organizations, critical dialogue, qualitative language and methodologies, substantive justice, and consensus-oriented policy-making process” (Rost 1991: 180).
Gegen die statische und homogene vertikale Position der alten industriellen Moderne lässt sich an das Bild einer „flüchtigen Moderne“ anknüpfen (Bauman 2003), in der Führung positional verflüssigt wird. Diesen radikalen normativen Ansatz leiten Colin Barker et al. im Sinne eines „dialogischen Modells“ aus der Sprachtheorie ab: „Listeners become speakers, and speakers become listeners, in a transforming process of social dialogue. On both sides, we find agency and creativity“ (2001: 7). In diesem Modell von Führung wechseln die Positionen von Führenden und Folgenden darin, wer wen beeinflusst. Dies bedeutet nicht die generelle Aufhebung von vertikalen Positionen in sozialen Räumen, sondern im Sinne eines Liquid Leadership2 deren Verflüssigung und eine permanente situative Rekomposition und Neuausrichtung.
Hieran schließt die Vorstellung von Führung als einer Rolle bei Chris Dixon an. Inspiriert von der Bürgerrechts-Aktivistin Ella Baker und von den Erfahrungen des neueren Gewerkschafts- und Community-Organizings wird ein antiautoritäres Modell von Führung beschrieben, das Leadership „as a set of capacities and activities – skills, knowledge, confidence and responsibility“ definiert: „rather than an exclusive form of power and command, this is leadership as a set of collective practices interwoven with individual capacities” (Dixon 2014: 176 ff.). Gegen die antiautoritäre Ablehnung von Führung macht sich Dixon anhand dieser Definition für „Leaderful Movement” stark, ein Begriff, der aktuell häufiger fällt und auch in der Arbeit von Leslie R. Crutchfield aufgegriffen wird. Sie verbindet in der Studie über Erfolg von sozialen Bewegungen die normative und funktionale Ebene von Führung. Hier wird aus dem Kontext der „Black Lives Matter“-Bewegung der Begriff von „Leaderful Movements“ verallgemeinert (2018: 143 ff.): „Leaderful movement leaders give the grassroots the tools and roadmaps to success – not commands or detailed instructions that must be followed“ (ebenda: 146). Im Einklang mit den in dieser Arbeit verwendeten Begriffen von Facilitating und Vermittlung wird ein Begriff von Führung verwendet, der nicht als zentrale Entscheidungsinstanz, sondern auf Empowerment und Ermöglichung basiert und über Erfolg und Misserfolg von Bewegungen entscheidet: „The more we studied various movements and their individual leaders, the more we began to see that the successful ones were actually not ‘leaderless’, but instead were ‘leaderful’” (ebenda: 151). Anknüpfend an dieses dialogische und auf Empowerment ausgerichtete normative Verständnis schlage ich einen Begriff von Führung vor, der sich von statischen personalen Positionen und Attributen löst und Führung als Handlungsmatrix und sozialen Mechanismus definiert.
In den Sozialwissenschaften setzt sich verstärkt eine relationale, interaktionistische Vorstellung im Verhältnis zwischen Führungspersonal, der sozialen Gruppe und dem gesellschaftlichen Kontext durch, die von den Wünschen und Belangen der Gruppe ausgeht (Burns 1978; 2003; Rost 1991; Wren 2007, Nye 2008). In diesem „interactionist paradigm” (Elgie 2015) sehen wir die „shifts from Leaders to Leadership“ in dem Sinne, dass „Leadership should be understood as an influence relation among leaders and followers that facilitates the accomplishment of group or societal objectives“ (Wren 2007: 1). Entweder kann die Gruppe in einem „transactional“ Verhältnis mittels Austausch von Ressourcen mit dem Leadership dem Erreichen ihrer gewünschten Zielen näherkommen, oder die Führung ist „transformativ“ und verändert durch ihre Wirkung die Ziele der Gruppe (Burns 1978).
In dieser Arbeit wird Führung von personalen Attributen gelöst. Während die Frage der Persönlichkeit und Führung von der sogrannten Leadership-Trait-Analysis bestimmt wird (vgl. Rosenberger 2005; Elgie 2018; Wehrkamp 2020), wird in dieser Arbeit ein apersonaler Begriff von Führung angewandt. Untersucht werden Leadership/Führung als kollektive Praxen und nicht als Wirkungen von Leaders als Führungspersonen: Leadership „as function“ (Burnes 1978: 427) wird als ein komplexes Set von Handlungen und als apersonaler Führungsmechanismus angenommen. Unter Mechanismus verstehe ich „a demilited class of events that alter relations among specified sets of elements in identical or closely similar ways over a variety of situations” (Tilly/Tarrow 2007: 29). Es geht also darum herauszufinden, welche sich wiederholenden Aspekte einer repräsentativen Praxis in welcher Weise zur Formierung sozialer Bewegungen führen, und wie sich dies auf die Mächtigkeit der Bewegung auswirkt.
Führung als apersonale Mechanismen zu beschreiben, löst diese Rolle von unersetzbaren Persönlichkeiten. Normativ motiviert wird die Möglichkeit der Demokratisierung von Führung darin eröffnet, dass diese Praxen leichter identifiziert und als Ressource erlernt und verteilt werden können. Die Rolle des Führenden kann somit systematisch von verschiedenen Personen ausgeführt und die Abhängigkeit der sozialen Gruppe von den führenden Personen strukturell reduziert werden. Solche Mechanismen aus dem Innenleben der Bewegungen zu extrahieren, die in ihrer Genese und Formgebung die Krise der Repräsentation in sich tragen, haben zusätzlich das Potenzial, Vorbilder für deliberative und partizipatorische Innovation in anderen politischen und sozialen Institutionen der Gesellschaft zu sein (della Porta 2020: 142 ff.).
Die allgemeine Unschärfe der Begriffe von Führung und Repräsentation macht an dieser Stelle eine Einengung notwendig. Führung als Beeinflussung der Handlung anderer wird hier synonym mit Repräsentation im Sinne einer Logik der Stellvertretung verwandt.
Bei Hannah Pitkin (1967) und deren Rezeption bei Gerhard Göhler (1997) finden wir eine fruchtbare Basis für die Kategorisierung von Repräsentation. Stellvertretung Einzelner, bezogen auf eine soziale Gruppe, wird dabei entlang zweier Kategorien, einer handlungsorientierten und einer symbolischen, ausdifferenziert. Die Unterscheidung zwischen einer Stellvertretung als „acting for“ (handlungsorientiert) und einer als „standing for“ (symbolisch) beschreibt Idealtypen für die Funktionsweise von Repräsentation (Pitkin 1967). Mit repräsentativer Logik bezeichne ich den intendierten Bezug einer Handlung auf andere Personen oder eine ganze Gruppe.
Bei Gerhard Göhler finden wir eine weitere Vertiefung der beiden Kategorien: Die Handlungsebene der Stellvertretung ist auf eine Willensbeziehung gerichtet und die symbolische Ebene auf eine Beziehung zu Werten und Normen. Willensbeziehung bezeichnet eine Praxis, die durch das eigene Tun das Handeln anderer direkt beeinflussen will. Diese Ebene der Stellvertretung zielt also auf die Steuerung und Kreation von Handlungsrahmen für andere Menschen; ihr Gehalt sind operative Akte und Handeln in Strukturen. Symbolische Repräsentation wird vorwiegend über ihre Integrationsfunktion bestimmt. In Symbolen werden Werte, Normen und Vorstellungen aggregiert, ihre Akzeptanz bindet Gruppe zusammen. Diese Ebene der Stellvertretung zielt auf die Integration und Erstellung eines gemeinsamen kulturellen und normativen Rahmens einer Gruppe; ihr Gehalt sind Ideen und kulturelle Formen (Göhler 1997)3. Für die Wirkungsmechanik der beiden Formen der Stellvertretung lässt sich mit einem Rückgriff auf Hannah Arendt zwischen transitiver und intransitiver Macht unterscheiden (Arendt 1970): Transitive Macht beschreibt einen direkten Zugriff auf den anderen, während intransitive Macht eine Form der Macht beschreibt, die interaktiv und über Ausstrahlung greift. Mit Joseph S. Nye Jr. kann die Natur der Mächtigkeit in der handlungsorientierten
Stellvertretung in dem Sinne als hart angenommen werden, weil sie direkte Steuerung erzwingen will, während symbolische Repräsentation weich und indirekt, über die Vermittlung von Normen wirkt (Nye 2008). Hieran ließe sich die grundlegende Polarität von Führung als „positional“, also durch die vertikale Stellung in einem institutionalisierten kollektiven Handlungsrahmen, oder als „behavioural“, also durch Akzeptanz und Nachahmung, einfügen (Edinger 1974: 255 f.).
Repräsentationskritik basiert oft identitätspolitisch auf die Frage der richtigen personalen Abbildung einer Gruppe (vgl. Linden/Thaa 2011). Es gibt aber bei der Repräsentation eine Aporie darin, dass die Gruppe und ihr Wille, der abzubilden ist, erst mittels Repräsentation geformt werden:
„Es geht also nicht darum, einen bereits formierenden Willen auf die politische Ebene zu übertragen, sondern es geht darum, dem, was repräsentiert wird, eine Form zu geben, d.h. den Volkswillen zu bestimmen, der erst in dieser Bestimmung das ist, was er ist. Was hervortritt ist also der aktive und kreative Charakter des Repräsentierens“ (Duso 2006: 24).
Führung wird hier ausgehend von dieser „Aporie der Repräsentation“ (ebenda: 18 ff.) definiert, also einerseits als das Abbilden einer sozialen Gruppe und andererseits als das Kreieren des Gruppenwesens durch den Akt des Repräsentierens. In der vorliegenden Arbeit geht es bei der Frage der Repräsentation nicht um identitätspolitische Frage, sondern um die produktiven und kreativen Aspekte der Repräsentation. Soziale Bewegungen werden an dieser Stelle als soziale Gruppen verstanden, die in Konflikten mit anderen Gruppen oder Akteur:innen entstehen und über eine zeitliche Dauer durch bestimmte identifikatorische Merkmale und organisatorische Zusammenhänge gebundenen sind (Tilly/Tarrow 2007; Tarrow 2007; Staggenborg 2016). Führung in sozialen Bewegungen ist demnach eine auf Formierung ausgerichtete repräsentative Logik der Handlung. Stellvertretende Handlung kann Handlungsräume für andere eröffnen und bestehende steuern. Symbolische Repräsentation besitzt eine integrative Funktion über (auch affektive und emotionale) Vermittlung von Werten und Kulturen. Beide Momente bedingen sich und interagieren.
Funktionsweise Stellvertretung – repräsentative Logik
Die Unterscheidung der beiden Ebenen ist heuristisch motiviert und soll in Form von Idealtypen das Verständnis des reinen Mechanismus verbessern. Empirisch kann die Trennung nicht so scharf gezogen werden. Die Steuerung von strukturierten Handlungsrahmen durch stellvertretende Handlungen ändert natürlich auch die symbolische Repräsentation dieses Rahmens. Symbolische Stellvertretung ändert durch Integration von Handelnden auch deren Handlungsrahmen, indem kollektive Handlungen und deren Steuerung anders ermöglicht werden. Handlungsorientierte Repräsentation kann zur Modifikation der Symbolik und zur stärkeren Integration führen. Symbolische Repräsentation kann mittels Integration zur Vergrößerung der Handlungs- und Steuerungsmöglichkeiten führen. Auf der symbolischen Ebene steht die kognitive Dimension im Vordergrund, also die Deutung von und Identifikation mit Symbolen, durch die Gemeinschaft kreiert werden kann. Damit verlagert sich der analytische Fokus auf die kulturelle Dimension von sozialen Bewegungen, dahin „how people make sense of their world and actions, how they render cultural product meaningful, and how they interpret their grievance as political“ (Ulrich et al. 2014: 2).
Die Forschungslücke über Führung in sozialen Bewegungen motiviert einen generalistischen Zugang (vgl. Morris 2006), den ich im theoretischen Teil dieser Arbeit in einem groben historischen Umriss entwickeln werde. Darin wird das Phänomen von Führung entlang des Organisationsparadigmas in den drei Phasen von modernen sozialen Bewegungen beschrieben. Anschließend werden meine Befunde von konkreten Mechanismen von Führung in der untersuchten Fallstudie anhand der drei zentralen Paradigmen der Bewegungsforschung – Organisation, Strategie und Framing – strukturiert dargestellt.
Die Begriffsbestimmung von Führung wird in dieser Arbeit theoretisch aus der historischen Organisationssoziologie hergeleitet (Kapitel 2). Organisation ist ein über eine Dauer gebundener kollektiver Handlungsrahmen einer Gruppe und als solcher die entscheidende Basis für die Untersuchung von Führung. Führung setzt eine Ausdifferenzierung von verschiedenen Rollen entlang von unterschiedlichen Aufgaben voraus, die erst im Zuge einer Organisierung entsteht. Daher sind die konzeptionellen Reflexionen über Führung in sozialen Bewegungen vor allem vom organisationstheoretischen Zugang inspiriert (Mc Adam/Scott 2005: 6). Für die Annäherung an eine so allgemeine und wenig beleuchtete Frage soll im Folgenden ein langer historischer Bogen gespannt werden. Dieser ist notwendig, da es dem Begriff der Führung allgemein in den Sozialwissenschaften und speziell in der Bewegungsforschung an Schärfe mangelt. Diese historische Begriffsbestimmung zielt auf die Erfassung gewonnener Erfahrungen moderner progressiver Bewegungen zur Erarbeitung eines schärferen, funktionalen und normativen Führungsbegriffs. Sie wird aus Organisationsparadigmen im Sinne des Verhältnisses von Führung und Gruppe hergeleitet, die verschiedene Epochen von modernen sozialen Bewegungen prägen.
Charles Tilly sieht für die historische Unterteilung von modernen sozialen Bewegungen eine erste lange Phase vom 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, die von der Arbeiter:innenbewegung dominiert wird, eine zweite Phase ab den 1960ern mit den Neuen Sozialen Bewegungen und die dritte Phase in der Entstehung des transnationalen Aktivismus, die mit der GKB ihren Höhepunkt erreicht (Tilly 2009)4. Organisatorisch ist in der ersten Phase der Arbeiter:innenbewegung das Paradigma der Partei bestimmend, in der zweiten Phase der Neuen Sozialen Bewegungen geht es um das Paradigma des Netzwerks und in der dritten Phase der globalisierungskritischen transnationalen Bewegungen steht das Paradigma des offenen Raumes im Zentrum. Für die theoretische Herleitung der jeweiligen Paradigmen werden a.) der sozialstrukturelle Kontext und b.) die aus der Eigendynamik der Bewegung heraus entstandenen inneren Faktoren diskutiert. Den Kontext stellen gesellschaftliche Zäsuren und Modernisierungsschübe dar, welche die Entstehung von sozialen Bewegungen und die Genese ihrer organisatorischen Zusammenhänge mitbegründen und ihre Formgebung mitprägen (Rucht 1994). Methodisch wird hier eine Organisationssoziologie versucht, bei der die Formen von sozialen Bewegungsorganisationen im Verhältnis zu den Entwicklungen in den gesellschaftlich umgreifenden Organisationsformen, insbesondere den ökonomischen, diskutiert werden (vgl. McAdam/Scott 2005).
Der Startpunkt wird bei den plebejischen Bewegungen seit der Französischen Revolution angesetzt, wo sich vornehmlich die Partei und die Gewerkschaft als die zentralen Organisationsformen der Arbeiter:innenbewegung entwickeln, in denen Führung und Repräsentation als eine Avantgarde strukturell klar gegeben sind. Im Blickpunkt stehen hier die frühen Klassiker der Bewegungsforschung, in denen die Ideen der Führung von antagonistischen Bewegungen zum ersten Mal systematisch und konzeptionell entwickelt wurden. Führung ist in der frühen Phase der modernen Bewegungen mit einem militärischen Bias der Avantgarde verhaftet, die als stellvertretende Handlung linear geordnet ist, bei der die Folgenden den Führenden hinterherlaufen. Die Erfahrung der Oligarchisierung dieser Form von Führung zu einer bürokratischen Herrschaft und Kontrolle von oben (Michels 2008a; 2008b) ist als Negativfolie ein wichtiger Faktor für die neuen Formen der Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1960er Jahren. In Folge der Neuen Linken und der Neuen Sozialen Bewegungen entwickelt sich das Netzwerk zur dominanten Form der Organisierung von Bewegungen, in welcher Dezentralisierung, Segmentierung und Verwebung die neuen Organisationsprinzipien sind (Gerlach/Hine 1970). Dieses neue Paradigma der Organisierung ist als ein historischer Versuch zu deuten, die Oligarchisierung von Organisationen durch innere Machtstrukturen zu unterbinden (Tarrow 1998). Daraus wird der Begriff der „Vermittlung“ (Brokerage) als zentrale Kategorie von Führung aus der Netzwerktheorie gewonnen (Diani 2003b). In der GKB, dezidiert im Weltsozialforum, werden diese Prinzipien mit der Logik des offenen Raumes erweitert. Offener Raum steht nicht im Kontrast zum vorher beschriebenen Netzwerk-Paradigma. Es ist eine Vertiefung der Autonomie des Einzelnen in einem kollektiven Handlungsraum und stellt mit der dezidierten Ablehnung von personaler und programmatischer Stellvertretung eine Verschärfung der Krise der Repräsentation dar. Beim Sozialforum ist das Konzept der Autonomie und des Pluralismus gegenüber den Netzwerkformen der Neuen Sozialen Bewegungen noch stärker und expliziter. Daraus wird „Ermöglichung“ (Facilitating) als zentrale Kategorie von Führung abgeleitet (Whitacker 2004).
Diese beiden, aus der historischen Begriffsbestimmung extrahierten Definitionen von Führung als „Vermittlung“ (Brokerage) und Ermöglichung (Facilitating) sind konzeptionelle Alternativen zur Figur der Avantgarde in der klassischen Form der Partei: Stellvertretende Handlungen werden hier weniger als die Vorgabe an andere beschrieben, sondern stärker als die Ermöglichung eines kollektiven Handlungsprozesses einer Gruppe. Vermittlung ist die Technik zur Verwebung von Knotenpunkten im Netzwerk, die sowohl integrativ als auch selektiv disparate Teile zusammenbringt und bindet. Facilitating ermöglicht den kollektiven Handlungsrahmen durch Ressourcenallokation, wobei mit Bourdieu hier neben den materiellen Ressourcen auch die kulturellen (speziell die kommunikativen) Fähigkeiten und auch die sozialen (Netzwerke und Verbindungen) verstanden werden (Bourdieu 1986, 1992). Die aus diesem historischen Kapitel gewonnen Begriffe der Brokerage und des Facilitating sind die zentralen Linsen, durch die die Mechanismen von Führung in den folgenden drei empirischen Kapiteln zu Organisation, Strategie und Framing beobachtet werden.
Nach der historischen Begriffsbestimmung wird die Fallstudie entlang der zentralen Paradigmen der Bewegungsforschung strukturiert: a.) Organisation, b.) die politischen Gelegenheitsstrukturen und c.) Framing und kollektive Identität. Unter diesen Paradigmen wird in der Forschung die Genese, Entwicklung und Wirkungsmächtigkeit von Bewegungen diskutiert und analysiert (Mc Adam et. al 1996; Hellmann/Koopmans 1998). Die drei Ebenen können aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet und verschieden akzentuiert werden. Hier werden diese Ansätze für die Untersuchung von Führungsmechanismen handlungstheoretisch und akteurszentriert fokussiert.
Im Kapitel 3 werden die Organisierungsprozesse für die Mobilisierung untersucht, wobei diese auf das Feld auf der Mesoebene eingeengt werden. Die in den 1970er Jahren entstandene organisationszentrierte Ressource-Mobilization-Theory sieht Organisation nicht als Folge, sondern auch als Vorbedingung von Bewegungsaktivitäten (Mc Carthy/Zald 1977). Diese sind als aggregierte Ressourcen zu verstehen, die von Bürger:innen benutzt werden, um politische Prozesse zu verändern. Hierbei sind die Mechanismen von Führung von Interesse, die zur Erschaffung und zum Erhalt dieser Strukturen geführt haben. Dabei stehen die aus der Organisationstheorie gewonnenen Rollen des Brokers (Diani 2003b) und Facilitators (Whitaker 2004) im Fokus der Untersuchung und werden anhand der Erfahrungen der initiierenden Akteur:innen des organisatorischen Feldes empirisch analysiert.
Im Kapitel 4 wird ausgehend vom Konzept der politischen Gelegenheitsstrukturen die Strategie und Taktik untersucht. Mit politischen Gelegenheitsstrukturen sind die Umweltbedingungen für die sozialen Bewegungen gemeint, die ihre Genese und Entwicklung mitbestimmen (Tarrow 1998; Kolb 2007). Akteurszentriert fokussiere ich dabei auf die Wahrnehmung dieser Gelegenheitsstrukturen durch die Mobilisierungsakteur:innen und anhand dessen auf die Entwicklung und Steuerung von Strategie. In der Strategie als „Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulation“ (Raschke/Tils 2007) wird Führung als die relative Definition von Zielen im Verhältnis zu den eigenen Ressourcen und Umweltbedingungen verstanden. Die dynamischen und veränderbaren Umweltbedingungen bedingen taktische Steuerung im Sinne der Anpassung dieser Ziele. Untersucht wird hier als erstes der strategische Prozess im Sinne der Schaffung von Räumen für kollektive Strategiebildung. Anschließend werden unterschiedliche Strategien der Bewegungsorganisationen und ihre Auswertung durch die Akteur:innen dargestellt. Zweitens wird die Taktik untersucht als eine Reaktion auf die dynamischen Veränderungen der Umweltbedingungen. Besonderes Augenmerk liegt hierbei auf der Großdemonstration am 2. Juni 2007, deren Verlauf in den strategischen Überlegungen – wie ich herausarbeiten werde – von keinem der Akteur:innen eingeplant war.
Im Kapitel 5 wird abschließend das Framing in dieser Mobilisierung beschrieben. Ausgangspunkt ist ein Forschungsstrang, der ausgehend von der Gramsci-Rezeption und einem hegemonietheoretischen Zugang zur Kultur die Bedeutung von kollektiver Identität, Werten und konfliktorischen Deutungen der Wirklichkeit in den Vordergrund stellt (Snow/Benford 1988; Melucci 1989). Kollektive Identität erschafft eine Bindung von Gruppen nach innen; Framing ist der Kampf um die Deutung der Wirklichkeit und kultureller Vorherrschaft nach außen (Snow/Benford 1992; Johnston/Noakes 2005). Diese sind als aktive Momente zu verstehen, die zu den herrschenden Konventionen alternierende Verhaltenscodes oder Lebensweisen begründen (Melucci 1996). Nach innen schaffen sie Integration, nach außen sorgen sie für Grenzziehungen und Konflikte mit anderen symbolisch vermittelten Deutungen der Wirklichkeit. Deutung und vermittelte Identität beeinflussen maßgeblich die Legitimierung der kollektiven Handlung und die Hegemonie im Diskurs. Da kulturelle Kategorien oft schwer einzugrenzen sind, wird in dieser Arbeit Framing auf die Deutungsarbeit zur Herstellung eines Konflikts gegenüber der Institution G8 eingeengt. Neben der Beschreibung des Framing-Prozesses untersuche ich die operative Ebene der Medienarbeit. Denn schließlich war dieser Gipfel ein Medien-Großereignis (Diestlrath 2008). Da dieser noch vor der Zeit der sozialen Medien stattfand, ist die Wahrnehmung des Ereignisses in der breiten Öffentlichkeit noch sehr stark von der Berichterstattung der etablierten Medien abhängig. Als Führungsmechanismen werden Voraussetzungen der Sprechfähigkeit in Medien, die Rollen von Sprecher:innen und die Art und Weise, wie in der öffentlichen Darstellung ein Antagonismus zum Gegner und eine kollektive Identität der mobilisierenden Gruppen hergestellt wurde, untersucht.
Die aus dem historischen Kapitel gewonnenen Begriffe der Brokerage und des Facilitating waren maßgeblich für die Untersuchung dieser drei Ebenen der Organisation, Strategie und Framing. „Brokerage“ bedeutet in Organisierungsprozessen die Vermittlung (Verkopplung) von Gruppen zu einem Netzwerk, das Zusammenführen von disparaten Teilen zu einem strategischen Aktionsfeld (Fligstein/McAdam 2012), die ohne intendierte Handlung nicht zusammenkämen. „Frame-Bridging“ (Snow et al. 1986: 467), also das Zusammenführen von unterschiedlichen Frames zu einem übergeordneten Frame, ist in diesem Sinne als Vermittlung verschiedener Deutungen der Wirklichkeit zu einem gemeinsamen Narrativ zu verstehen. Auf die Strategie bezogen, ist Vermittlung vor allem die Antizipation von verschiedenen Sensibilitäten und eine Voraussetzung für eine Gesamtstrategie des erweiterten Feldes. Facilitating beschreibt im Rahmen der hier untersuchten Organisierung die Allokation unterschiedlicher Ressourcen für die Herstellung eines kollektiven Handlungsrahmens. Bezüglich des Framings ist es in dieser Fallstudie die Ermöglichung der Sprachfähigkeit im Sinne der Schaffung eines eigenen Medienapparates. Für den strategischen Prozess lag das Facilitating in der Kreation von strategischen Zellen und der Herstellung von strategischen Kapazitäten. Diese Zellen waren die Voraussetzung, um den strategischen Prozess einzuleiten und zu entwickeln, und fungierten bei taktischem Steuerungsbedarf als Ad-hoc-Netzwerke.
Zum Schluss werden im Kapitel 6 zusammenfassend die Ergebnisse der jeweiligen Stränge zueinander in Beziehung gesetzt. Organisation, Framing und Strategie bedingen sich gegenseitig. Hierbei wird methodisch gegen eine falsche Einengung ein integrativer Ansatz der Bewegungsforschung verfolgt (Mc Adam et al. 1996; Koopmans 1998; Tarrow 2004). Im letzten Abschnitt wird ein kleiner normativer Ausblick versucht, indem das beschriebene Dilemma von Führung und Demokratie vor dem Hintergrund der Interviews mit den untersuchten Akteur:innen reflektiert wird. Dabei stand die Frage im Raum, inwieweit das Problem der Oligarchie sich auch in diesen Bewegungen nachzeichnen lässt, und ob in dieser Mobilisierung Ansätze eines fluiden Führungsverhältnisses zu finden sind, die im Einklang mit demokratischen Idealen stehen.
Seit der Entstehung der globalisierungskritischen Bewegung in Deutschland sind ihre Akteur:innen in verschiedenen Protestereignissen involviert gewesen. Die Mobilisierung gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 ist aber zweifelsohne das wichtigste Ereignis dieser Bewegung, da es als einziges großes Protestereignis in der BRD als genuines Produkt dieser Bewegung konzipiert und wahrgenommen wurde. Die Akteur:innen der Mobilisierung werden in Kapitel 3 dargestellt, während das politische Setting um diesen Gipfel herum im Kapitel 4 beschrieben wird. Es ist bei der Betrachtung dieses Protestereignisses und seines Vorlaufs darauf zu achten, dass eine Mobilisierungskampagne wie diese nicht identisch mit der Alltagspraxis vieler Akteur:innen der GKB ist. Die Kampagne ist eine spezielle Form von Praxis, und diese Spezifizität muss bei der Kategorisierung und Verallgemeinerung bedacht werden. Allerdings sind solche Mobilisierungen gegen transnationale Gipfel, allen voran die G8, konstitutiv für die GKB auf globaler Ebene gewesen, und es gibt in Deutschland auch kein vergleichbares Ereignis, an dem sich in diesem Ausmaß globalisierungskritische Akteur:innen beteiligt haben.
Die qualitativ und quantitativ besondere Bedeutung dieser Mobilisierung ist im Hinblick auf das Zusammenkommen von Bewegungsakteur:innen in einer konkreten Konfliktsituation fruchtbar für Generalisierungen. Dabei werden jene Akteur:innen besonders intensiv betrachtet, die Repräsentations- oder Führungsaufgaben beim Initiieren und bei der Steuerung von Prozessen innehatten, die nicht nur für eine partielle Zelle, sondern für das gesamte Ereignis von Bedeutung waren. Durch die Analyse ihrer Handlungen wird versucht, konkrete Techniken von Führung zu erfassen und daraus allgemeine Mechanismen herzuleiten. Dieses Protestereignis ist heuristisch auch gerade wegen des relativ langen Vorbereitungsprozesses spannend, denn anders als bei spontanen Protesten wandten die Akteur:innen gewisse Führungstechniken bewusster und weniger intuitiv an. Zudem werden durch die Dauer der Vorbereitung Wiederholungen von Praxen sichtbar, wodurch allgemeinere Mechanismen nachvollzogen werden können.
Die Akteur:innen kommen aus unterschiedlichen Organisationen, und dieses unterschiedliche organisatorische Umfeld prägt selbstverständlich die Identität, die politische Kultur und die Führungstechniken dieser Personen. Diese Unterschiede sind als Hintergrund nicht zu vernachlässigen. Die Untersuchung fokussiert allerdings auf die Handlungen der Akteur:innen in den spektrenübergreifenden Mobilisierungsstrukturen, also in von Bündnissen kreierten Strukturen. Der Begriff „spektrenübergreifend“ wurde in der Mobilisierung seitens der Akteur:innen selbst gesetzt und häufig benutzt (Interventionistische Linke 2007; Labournet 2007; Schoppengerd 2007, IP4, IP5, IP6). Damit war eine Kultur der pluralistischen und konsensorientierten Zusammenarbeit konnotiert. Es sind jene Strukturen gemeint, die explizit für diese Mobilisierung entstanden sind und in denen mehrere unterschiedliche Elemente aus den relevanten Akteur:innen des Mobilisierungsfeldes aktiv waren. Neben dem pragmatischen Motiv der Überschaubarkeit des Untersuchungsbereiches sind diese Mobilisierungsstrukturen auch qualitativ von besonderem Interesse. Durch die relativ lange Dauer der Mobilisierung konnten diese auf Koalitionen und politische Milieuvermischung basierenden Organisationen ein stärkeres Eigenleben entwickeln. Durch diese Vermischung können Mechanismen besser beleuchtet werden, die über eine:n spezielle:n Akteur:in des Feldes hinaus allgemeinere Gültigkeit für die Kultur der GKB in der BRD aufweisen. Damit wird eine Netzwerkanalyse verfolgt, die Koalitionsbildungen und Verbindungen im organisatorischen Feld der Bewegungen fokussiert, aus deren konfliktreichen Prozessen der Konsensbildung sich die Identität einer Bewegung herausbildet (vgl. della Porta/Diani 1999). Prozesse, die ein Agieren in Bündnissen voraussetzen, eignen sich darüber hinaus besonders gut, um das Führungspersonal von sozialen Bewegungen zu analysieren, da Bündnispolitik tendenziell stärker von professionellen Bewegungsakteur:innen betrieben wird (Shaffer 2000).
Diese Arbeit ist vor dem Hintergrund meiner eigenen Beteiligung in Repräsentations- und Führungsstrukturen der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel entstanden. Als Mitglied im Koordinierungskreis von Attac Deutschland, Gründungsmitglied der Interventionistischen Linken und zuständiger Mitarbeiter in der „Kontaktstelle Soziale Bewegungen der Fraktion Die Linke im Bundestag“ war ich auf verschiedenen Ebenen bei der Mobilisierung gegen den G8-Gipfel involviert. Diese Position schafft ein besonderes, fruchtbares und zugleich auch problematisches Verhältnis zwischen dem Forscher und dem Forschungsgegenstand. Anders als bei der teilnehmenden Beobachtung bin ich als Forscher nicht mit dem Zweck der Forschung in die Fallstudie hineingegangen, sondern war als Protagonist involviert. Ich versuche vor diesem Hintergrund, meine eigenen Erfahrungen und Beobachtungen einiger der anderen involvierten Personen problemzentriert zu theoretisieren. Die eigene Erfahrung ist das Hauptmaterial für das Kontextwissen, entlang dessen hier methodisch eine kritische Rekonstruktion verfolgt wird. Mit der Hilfe der anderen Daten, insbesondere den Expert:innen-Interviews mit den anderen Protagonist:innen, galt es die Ereignisse weiter zu rekonstruieren und den Kontextes der Analyse besser zu erfassen. Mittels Expert:innen-Interviews zielte ich hauptsächlich darauf, das Handeln der Protagonist:innen zu erfragen, wobei ich spezifisch an individuellen Handlungen interessiert war. Diese Interviews stellen das zentrale Material dieser Untersuchung dar. Die Befragung zielte nicht ethnographisch auf eine komplette Erfassung des gesamten Kontextes und des gesamten Handlungsrepertoires der Interview-Partner:innen. Vielmehr wurden, als „aktives Sampling“ (Layder 1993: 44), Mechanismen von Führung und Repräsentation als verallgemeinerbare Techniken gesucht. In diachronen Schnitten wurde versucht, durch punktuelle Aufhellungen in einem längeren Mobilisierungsprozess verallgemeinerbare Elemente von Führung und Repräsentation in Bewegungspraxen zu finden, um diese durch diese Beschreibung sichtbarer zu machen und normativ zu problematisieren.
Die eigene Stellung in dem untersuchten Feld entspricht nicht einer abgekoppelten, sondern einer involvierten Position, die der qualitativen Forschung generell innewohnt: „In this ‚humanistic‘ vision of social science, a verstehen approach was required whereby the researcher should seek an empathic understanding of the behaviour of those people being studied“ (Layder 1993: 38). Durch die protagonistische Involvierung im Untersuchungsfeld ist der empathische Zugang gegeben und gleichzeitig jede Illusion einer „objektiven“ Beobachterposition verunmöglicht. Die hier vorgenommene kritische Rekonstruktion wird von einem Moment der Selbstreflexion getragen, und eine „bewusste Parteilichkeit“ prägt dabei den Zugang des Forschers:
„Bewusste Parteilichkeit hingegen begreift nicht nur die ‚Forschungsobjekte‘ als Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Zusammenhangs, sondern auch die Forschungssubjekte selbst. Sie ist alles andere als bloßer Subjektivismus oder bloße Einfühlung, sondern schafft auf der Basis einer Teilidentifizierung zwischen Forschern und Erforschten so etwas wie eine kritische und dialektische Distanz. Sie ermöglicht die Korrektur subjektiver Wahrnehmungsverzerrungen auf beiden Seiten, auf der Seite der Forscher durch die Erforschten, auf der Seite der Erforschten durch die Forscher, und trägt sowohl zu einer umfassenden Erkenntnis der sozialen Realität bei als auch zur Bewusstseinsbildung der am Forschungsprozess Beteiligten“ (Mies 1995: 58).
Aus dieser bewussten Parteilichkeit heraus ist die untersuchungsleitende Fragestellung dieser Arbeit nach den funktionalen und normativen Formen von Repräsentationen und Führung entstanden. Funktional interessiert mich bei dieser Untersuchung, wie adäquate Führungsmechanismen die Wirkungsmächtigkeit von progressiven demokratischen Bewegungen erhöhen können, und normativ suche ich einen Führungsbegriff, der mit demokratischen Idealen besser im Einklang steht.
Meine eigene Beteiligung an den Protesten ermöglichte einen einzigartigen Zugang zu den Interview-Partner:innen. Unser persönliches Vertrauensverhältnis erleichterte die Gespräche über Mechanismen und Praktiken von Führung und Repräsentation. Die Diskussion über Führung ist bewegungsintern deshalb heikel, da viele Aktivist:innen Führung im Kontext basisdemokratischer Ansprüche grundsätzlich ablehnen. Das bestehende Vertrauensverhältnis ermöglichte auch die Wiederholung und Fortführung von Interviews nach Bedarf. Dies nahm den Druck aus der Interviewsituation und ermöglichte einen zirkulären Prozess zwischen der verschiedenen Interviewetappen und der Weiterentwicklung im Design der Arbeit. Die Interview-Partner:innen wurden punktuell in die Entwicklung der Thesen und die Debatte über die Ergebnisse involviert, wodurch ein Ansatz von kollektiver Auswertung probiert wurde. Die Paraphrasen und Unterstrukturierungen von Kapiteln entlang der Ergebnisse wurden mit einzelnen Interview-Partner:innen diskutiert und weiterentwickelt.
Meine persönliche Involviertheit ebenso wie meine besondere Nähe zu den Befragten birgt allerdings auch die Gefahr von Projektionen und Betriebsblindheiten. Auch wenn das „Dilemma von Identifikation und Distanz“ nie gänzlich überwunden werden kann und Feldforscher damit nicht nur leben müssen (Lamnek 1995: 311 ff.), sondern im Rahmen meiner Studie produktiv gemacht wird (vgl. Flick 2009)5, muss die wissenschaftliche Qualität der Fallstudie über Transparenz und kritische Reflexion der eigenen Vorannahmen und Dateninterpretationen zusammen mit den Befragten sichergestellt werden. Ein wichtiger Ausgangspunkt ist zudem die Entwicklung eines Analyserahmens auf der Basis organisationssoziologischer Begriffe und Ansätze, die eine wissenschaftlich fundierte Reflexion der eigenen Vorannahmen und Schlussfolgerungen absichern.
Letztlich verhalf auch der große zeitliche Abstand von ca. einer Dekade bei der Auswertung und Finalisierung der Arbeit zu mehr Distanz gegenüber dem Untersuchungsgegenstand. Meine eigene Involviertheit in den beschriebenen Bewegungsorganisationen ist nun länger Geschichte, was die kritische Reflexion der Ereignisse erleichtert.
Die Expert:innen-Interviews sind der Hauptkorpus meines Materials, weil sie sich explorativ für die Orientierung in einem neuen Feld gut eignen und theoriegenerierend auf die Entwicklung von Typologien im untersuchten Gegenstand zielen (Flick 2009: 216). Sie sind ein adäquates Instrument zur Theoritisierung empirischer Erfahrungen. Sie eignen sich besonders für die Erhebung von Betriebswissen, also Handlungsabläufen in Organisationen und Netzwerken. Dabei ziele ich auf die Prüfung von Hypothesen mit Potenzial zur Generalisierung für homologe Räume (Meuser/Nagel 2005: 76). Gerade auch weil Führung in sozialen Bewegungen oft versteckte Mechanismen sind, lassen sich diese nicht in Dokumenten nachvollziehen, sondern besser aus den Gesprächen mit den Protagonist:innen herausarbeiten, wofür Expert:innen-Interviews das geeignete Mittel darstellen (Blee/Taylor 2002). Die Ergebnisse zu den Führungsmechanismen basieren ausschließlich auf der Auswertung dieser Interviews. Meine eigenen Beobachtungen und die weiteren Online-Quellen wurden als Ergänzungen herangezogen, aber nicht als Basis der hier präsentierten Ergebnisse genutzt.6
Die Erhebung durch die Interviews wurde vorstrukturiert. Diese erfolgte entlang der Hypothesen und Suchbegriffe, die sich aus dem theoretischen Vorarbeiten ergaben. Somit wurde methodisch eine „Theory-Driven Participant Observation“ verfolgt (Lichtermann 2002). Die Interviews wurden nach den ersten Ergebnissen der theoretischen Kapitel und des Forschungsdesigns als offene Leitfrageninterviews teilstandardisiert und nicht rein narrativ durchgeführt. Die Entscheidung hierfür war erstens durch den Fokus auf die handlungstheoretische Fragestellung gegeben: „semi-structured interviews bring human agency to the center of movement analyses“ (Blee/Taylor 2002: 96). Und zweitens wurde auch hierdurch methodische Kontrolle gesucht: Die Strukturierung und Teilstandardisierung erleichterten den Vergleich von Aussagen und die Sicherung der Validität. Anhand von Wiederholungen oder Ähnlichkeiten galt es, Verallgemeinerungen herauszulesen. Neben dieser Kontrollfunktion stellte eine grobe Strukturierung den problemzentrierten Charakter der Gespräche sicher. Zur Kompensation gegenüber dem universalistischen Charakter der Fragestellungen sollte der Leitfaden zu mehr Spezifität und Gründlichkeit führen und gegen ein zu weites Spektrum der Interviewführung wirken. Die Auswahl der Interview-Partner:innen ergab sich aus der internen und öffentlichen Präsenz dieser Personen in der Mobilisierung. Das erste Kriterium war die protagonistische Beteiligung in den Mobilisierungsstrukturen. Es galt, „key informants“ (ebenda: 105) zu finden, also Akteur:innen mit hohem Betriebswissen über Struktur, Strategien und der politischen Kulturen in den Mobilisierungsstrukturen. Es wurden jene Personen ausgesucht, die an prominenter Stelle initiierend, durchgehend und repräsentativ in den Mobilisierungsstrukturen tätig waren. Alle Interview-Partner:innen (IPs) hatten positionale Führung und repräsentative Rollen darin inne, dass sie erstens zum initiierenden Kreis der Mobilisierungsstrukturen gehörten und zweitens fast alle als Delegierte ihrer Organisationen eine repräsentative Stellung darin hatten, um mit anderen Bewegungsorganisationen Koalitionen zu bilden oder ihre Organisation in den Medien zu repräsentieren. Wichtig waren bei dieser Auswahl die Verbindungslinien der untersuchten Personen im Feld der Mobilisierung, deren Quantität und Qualität von Bedeutung für die Netzwerkanalyse sind (Diani 2003c).
Das zweite Kriterium betraf die Gesamtauswahl, wobei darauf geachtet wurde, dass die zentralen Mobilisierungsmilieus des Feldes bei den Interview-Partner:innen abgebildet sind. Das erfasste Feld wurde wegen der dezidierten Fragestellung dieser Arbeit auf die nicht-institutionellen Bewegungsorganisationen reduziert, auch weil Netzwerk- und Raumparadigma als untersuchungsleitende Kategorien bei Parteien und NGOs so nicht gegeben sind. Da der Fokus auf die Rekonstruktion von Führung und Repräsentationen innerhalb sozialer Bewegungen eine aufwendige Analyse, von den Mikropraktiken auf der individuellen über die Aushandlungsebene innerhalb der Bewegung bis hin zu dem politischen Kontext und der medialen Resonanz erfordert, sind zehn Interviewpartner:innen ausreichend. Dabei handelt es sich um lange Gespräche (1,5–3,5 Stunden), die in einigen Fällen auch über mehrere Treffen hinweg geführt wurden. Zudem wurden die Interviews ergänzt mit weiteren Datenquellen wie die Dokumentationen über den Gipfel-Protest und einige Mailing-Listen der Mobilisierungsstrukturen.
Publikationen waren besonders für das Kapitel 5 zu Framing wichtig, aber auch für die Ergänzung des Überblicks über den Mobilisierungsprozess. Mir standen mehrere Mailing-Listen zu Verfügung, die ich vor den Interviews gesichtet habe. Neben der Hilfe bei der Strukturierung der Fragen und der Vorbereitung der Interviews half dieser Materialkorpus auch postwendend beim Cross-Check in der Auswertung der Interviews. Da es zahlreiche Mailing-Listen bei der Mobilisierung gab, konzentriert sich die Analyse vor allem auf die Liste „Vorbereitung-Rostock“, die Arbeitsliste des Hannover-Kreises, also des zentralen bundesweiten Koordinierungsgremiums, in dem fast alle Interview-Partner:innen involviert waren. Da dieses Material aus den internen Kommunikationskanälen der Bewegungsstrukturen gewonnen wurde, verzichte ich auf Zitate oder direkte Hinweise. Es werden nur offizielle Dokumente direkt in der Arbeit zitiert (offene Briefe, Protokolle). Der Rest wurde gesichtet und nur für die Erweiterung des Kontextwissens benutzt. Geleitet von der Hypothese der Vermittlung als zentraler Führungsmechanismus versuchte ich, entlang des Mailverkehrs die internen Konflikte im Feld der Mobilisierung zu identifizieren (wie z. B. die Rolle von Parteien oder die Frage des Einsatzes von Gewalt als legitimer Protestform). Der Verlauf der Konflikte und das Handeln der Interview-Partner:innen konnten entlang der Mails nachvollzogen und dann in den Interviews vertiefend besprochen werden. Der Mailverkehr war somit eine Art Spurenleser von Konflikten.
Obwohl die meisten Interview-Partner:innen keine Probleme mit der namentlichen Darstellung ihrer Aussagen hatten, wurde eine Anonymisierung im Text vorgenommen, insbesondere um einen freieren Diskussionsrahmen für die Durchführung der Interviews zu fördern und bei der Auswertung mehr die Techniken und Mechanismen zu fokussieren als individuelles Handeln und Meinungen. Die Stellen in den Interviews, in denen die Interview-Partner:innen sich negativ über die Handlungen andere Interview-Partner:innen äußern, wurden komplett anonymisiert.
Die Durchführung der Interviews verlief aufgrund des kollegialen und persönlichen Vertrauensverhältnisses ohne größere Schwierigkeiten. Der Zugang war einfach, die Interview-Partner:innen hatten genügend Zeit und die Rahmen für die Interviews waren sehr angenehm. Nur in einem Fall (IP1) musste das Interview während einer Zugfahrt durchgeführt werden, und die Fragen konnten nicht komplett abgearbeitet werden. Da dies bereits in dieser Form das ausführlichste und längste Interview war, wurde auf ein weiteres ergänzendes Interview verzichtet. Beim vorletzten Interview (IP9) hat das Aufnahmegerät nicht funktioniert, so dass ich das Interview in der Form der schriftlichen Paraphrase aufzeichnete, und dabei wichtige Zitate festhielt.
Das bestehende Vertrauensverhältnis wurde für ein authentisches Interview noch darin verstärkt, dass die Interview-Partner:innen in die Fragestellung und in den groben Rahmen der Arbeit eingeführt wurden: “Most important: it is necessary at the outset of the interview to clearly explain the purposes of the interview, the topics in which the researcher is interested, and the depth of responsens the resarcher is seeking” (Blee/Taylor 2002: 99). Die Interview-Partner:innen waren in dem Fall über die drei inhaltlichen Blöcke der Arbeit (Organisation, Strategie, Framing) sowie über die ersten Ergebnissen aus der Ausarbeitung des theoretischen Zugriffs und von einigen zentralen Hypothesen (z. B. die Suche nach dem Mechanismus der Vermittlung) informiert.
Die Interviews wurden in drei Teile gegliedert: einen biographischen, einen deskriptiven und einen evaluierenden.