Führung lernt man draussen - Andrea Zuffellato - E-Book

Führung lernt man draussen E-Book

Andrea Zuffellato

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Beschreibung

Führungserfahrung ermöglicht es, komplexe Anforderungen angemessen wahrzunehmen, einzuschätzen und wirksam zu handeln. Viele Führungskräfte werden wegen ihrer Fachkompetenz befördert. Das Führen müssen sie aber meistens erst noch lernen. Der erfahrene Outdoortrainer Andrea Zuffellato zeigt vier Wege auf, wie Führungsverantwortliche sozial nachhaltig leiten können. Schritt für Schritt legt er beispielhaft dar, wie die angehenden Führungskräfte die zentralen Kompetenzen des Führungshandwerks auf unkonventionelle Weise er arbeiten und entwickeln können – durch nomadisches Reisen und natursportliche Herausforderungen –, um anschliessend ihre Führungsaufgaben wirksam anzupacken. Er vermittelt komplexes Know-how überzeugend und umsetzbar, bietet keine vor eiligen Rezepte, sondern kreative Zugänge, Perspektiven zur Reflexion und Möglichkeiten zur gezielten Wahl und Gestaltung des Praxistransfers von Führungserfahrungen.

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Andrea Zuffellato

Führung lerntman draussen

Bewährungssituationenals Kompetenzerwerb

Verlag Neue Zürcher Zeitung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich

Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2014 (ISBN 978-3-03823-916-1)

Umschlag: GYSIN [Konzept+Gestaltung] Chur

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN E-Book 978-3-03823-944-4

www.nzz-libro.ch

NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

Einleitung

«Führungserfahrung wird vorausschauend erarbeitet oder in Zeiten der Not teuer erkauft.»

Erfahrung ist die nachhaltigste Form des Lernens, weil wir im wahrsten Sinne des Wortes begreifen, weil wir ergriffen werden und uns voll und ganz einbringen müssen. Erfahrung ist eine wichtige Voraussetzung, um Herausforderungen schnell und wirksam zu meistern. Wir können dank der Erfahrung auf die Best Practice der Vergangenheit zurückgreifen und handeln dadurch weitsichtig und anschlussfähig. Erfahrung kann aber auch zum Hemmnis und gar zum Risiko werden, wenn sie zur unreflektierten Routine wird und die situative Aufmerksamkeit darunter leidet. Das Lernen von Führung fördert idealerweise sowohl den Erwerb als auch den Erhalt dieser situativen Aufmerksamkeit. Gleichzeitig trägt es dazu bei, unterschiedliche Erfahrungen in unterschiedlichen Führungskontexten zu sammeln und unterschiedliche Herausforderungen zu meistern.

Es gibt Parallelen zwischen den Führungsrealitäten in natursportlichen Outdoor-Projekten und dem Führungsalltag von Managern. Lernerfahrungen von Bergführerinnen, Seeleuten und Outdoor-Guides können für Leitungsverantwortliche in ganz anderen Bereichen relevant und lehrreich sein, und Outdoor-Erfahrung bietet sich als vielseitige und wirksame Lern-, Übungs- und Trainingsplattform für Führungskräfte an. Der Alpinismus etwa schult Selbstführung und Verantwortungsübernahme. Es bedarf der Disziplin, des Organisationstalents und der Zuverlässigkeit, um Kletterrouten erfolgreich zu meistern, man braucht Mut, Durchsetzungsvermögen und eine korrekte Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und der äusseren Bedingungen. Gruppenaktivitäten wie Seakajak-Touren oder Trekkings verlangen klare Kommunikation und präsente Führung. Die Leitung muss delegieren und übernehmen, die ganze Gruppe im Blick behalten, Etappenziele festlegen und das Vorankommen kontrollieren, um nötigenfalls Planänderungen durchzuführen. Kochen im Team wiederum hat Projektcharakter, Trainees üben Zeitmanagement, Controlling und Koordination, wenn sie ein mehrgängiges Menu entwickeln und umsetzen.

Dieses Buch stellt vier Wege systemischer Führung vor, die eine Brücke von der Outdoor-Erfahrung zum Führungstraining bilden. Die vier Wege konkretisieren und operationalisieren das Handwerk, der Weg betont dabei den handlungsorientierten und prozessualen Charakter von Führung. Dabei gelten die Wege über Outdoor-Bewährungssituationen hinaus und bieten Zugang zu einer nachhaltigen Führungserfahrung und zur persönlichen Weiterentwicklung als Führungskraft.

Über Führung nachdenken heisst, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, sich Haltungen und Werte bewusst zu machen und sowohl das eigene Handeln als auch das Handeln bedeutsamer Menschen zu reflektieren. Dabei durchdringt das Führen alle möglichen Lebensbereiche, von der Gestaltung privater und professioneller Beziehungen über das Selbstmanagement, die Berufsausübung und die Freizeitgestaltung bis zur Lebensführung ganz allgemein.

Über Führung nachdenken bedeutet aber auch, unsere Kommunikation und die Art und Weise, wie wir anderen zuhören, zu reflektieren. Es bedeutet sich zu fragen, wie es uns gelingt, einander zu sehen und zu verstehen und in welcher Qualität wir miteinander sprechen, was unsere Botschaften sind und wie wir unsere Bedürfnisse und Absichten mitteilen.

Es heisst zudem, die Rahmenbedingungen und Voraussetzungen, die den Führungskontext ausmachen, bewusst wahrzunehmen und einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Wer oder was führt hier auch noch?, könnte eine Frage lauten. Die Auseinandersetzung mit Führung soll aber über die reine Betrachtung hinausgehen. Aus dem Nachdenken sollen (Selbst-)Erkenntnisse resultieren, die wiederum das Handeln bestimmen und Wandel und Entwicklung anstossen.

Führungsaufgaben, Entscheidungen und Entwicklungsarbeit sind in modernen Organisationen und Institutionen komplex und vielschichtig. Sie stellen hohe Anforderungen an Führungspersonen und fordern fachliche, soziale und persönliche Kompetenzen. Dennoch kann Führung nicht (mehr) von einer einzelnen Person gewährleistet werden, auch wenn sie noch so kompetent ist. Vielmehr ist es die Aufgabe aller Führungsverantwortlichen – und das ist konsequenterweise die Mehrheit der Mitarbeitenden –, die Organisation zur Selbstführung zu befähigen. Kommunikation ersetzt in diesem Prozess der Befähigung zur Selbststeuerung die klassische Hierarchie oder ergänzt diese zumindest.

Wenn Führung eine so zentrale Rolle in diesen wichtigen Systemen einnimmt, dann sollte man sich mit ihren Funktionsweisen und Disziplinen sinnvollerweise vertraut machen – Führung professionalisieren, anstatt sie zu heroisieren.

Die Weisheit eines Systems, die Entscheidungskompetenz und -befugnis erwachsen aus diesem gemeinsamen Kommunikationsprozess. In einer Organisation werden unzählige Informationen aufgenommen, verarbeitet, gefiltert, geprägt und weitergegeben. Auch wenn vielleicht einzelne Personen letztlich für bestimmte Entscheidungen oder Handlungen verantwortlich gemacht werden, speist sich auch deren Wirklichkeit aus diesem Geflecht der gemeinsamen Wirklichkeitsverarbeitung und Kommunikation. Dieser Lebendigkeit und Komplexität wird keine Theorie gerecht. Vereinfachende Modelle können Perspektivenwechsel ermöglichen und Verständnis fördern, aber schliesslich kann Führung mit allen ihren Dimensionen sozialer Interaktion und Kommunikation nur in der Kombination aus realen Lernerfahrungen und angemessener Reflexion gelernt werden. Es braucht einfache Konzepte, die das Führen erfassen und erklären, ohne es zu simplifizieren, und es braucht Gelegenheiten, Führung zu üben und Führungserfahrungen zu ermöglichen.

Um als Geselle anerkannt zu werden, gehen Zimmerleute auf die Walz. Die Handwerkertradition der Lehr- und Wanderjahre schöpft bewusst aus dem Reichtum des Lernens durch Erfahrung, um neue Arbeitspraktiken und (Arbeits-)Kulturen kennenzulernen. Für das Führungshandwerk gibt es keine vergleichbare Schulung. Das ist schade, denn gerade die biografisch geprägte Führungspraxis kann von unterschiedlichen Erfahrungswelten und Umständen profitieren. In diesem Buch lade ich zu solchen Bewährungssituationen ein. Ich schöpfe dabei einerseits aus der frühen eigenen Erfahrung als Spitzensportler, als ich über den Kampfsport Durchhaltewillen, Disziplin und Fairness lernte, international reüssierte und schon bald jüngeren Judokas zur Seite stand, und andererseits aus natursportlichen Hobbies als junger Erwachsener, bei denen ich als Gleitschirm-Flughelfer, Divemaster, Snowboardlehrer, Kletterhallenbetreuer und Raftguide Menschen zu Land, zu Wasser und in der Luft begleiten und anleiten konnte. Ausserdem konnte ich in bewusst gewählten Führungsaufgaben bei meinem Berufseinstieg als Lehrer in Regel- und Sonderklassen, als Gründer und Leiter einer Schule für Schülerinnen und Schüler in schwierigen Lebenssituationen, als Lehrtrainer, Outdoor-Trainer und Coach sowie als Inhaber und Leiter von planoalto, einem Institut für Aus- und Weiterbildung in natursportlicher und systemischer Erlebnispädagogik, im Outdoor-Training und in naturorientierter Organisationsberatung wichtige Erfahrungen sammeln. Mit diesem Buch stelle ich einen Werterahmen sowie ein Kompetenzmodell zur Verfügung, die zur Reflexion anregen und Möglichkeiten zur gezielten Entwicklung von Führungsfähigkeiten auf der Grundlage einer systemischen Haltung bieten.

1 Soziale Systeme führen

Man möchte meinen, dass ein Begriff wie «Führung» keinerlei Erklärungen mehr bedarf, denn er ist branchenübergreifend gültig, in unserem Sprachgebrauch omnipräsent und fester Bestandteil des gesellschaftlichen Grundvokabulars. Management nimmt in dieser Führungsgesellschaft ökonomisch, gesellschaftlich wie politisch viel Raum ein, besonders wenn es sich um schlechtes Management handelt.

Leadership wird noch immer mit heroischen Vorstellungen überfrachtet und dementsprechend hochgehalten. Die Idee von Führung setzt die Existenz von Zielen oder zumindest einer bevorzugten Richtung voraus und dass es bestimmte, gewünschte Wege gibt, aber eben auch die reale Möglichkeit, sich zu verirren, sich zu verzetteln oder auf der Strecke zu bleiben. Vielleicht gerade deshalb lohnt etwas Skepsis und ein prüfender Blick auf das Phänomen Führung.

Soziale Systeme, ob es sich nun um Lerngruppen, Arbeitsteams oder eine Sportmannschaft handelt, werden sehr unterschiedlich definiert und begriffen. Es gibt Ansätze, sie über die Zusammensetzung ihrer Individuen und deren psychische und physische Eigenheiten zu beschreiben, wie das etwa bei Fussballmannschaften oft passiert. Funktionale Ansätze versuchen soziale Systeme vor allem über ihre Aufgaben zu definieren und darüber, wie sie sich bei der Erfüllung dieser Aufgaben anstellen, also über ihr Verhalten. Andere Ansätze interessieren sich für die Kommunikationsmuster innerhalb der Gruppen und wie sie mit ihren relevanten Umwelten agieren. Jede dieser Perspektiven führt zu einem anderen Verständnis von Führung.

Historisch betrachtet war Charisma wohl am längsten mit dem Anspruch an Führung gekoppelt. Führung wurde auf die Eigenschaften von Menschen bezogen und im Wesentlichen vererbt – to be or not to be a leader. Später fokussierten Führungsansätze auf die Beziehungsdimension zwischen den Menschen, und daraufhin wurden Führungsstile und Verhaltenskodizes für Führungskräfte definiert und entwickelt. Situatives Führen wurde propagiert, um der Tatsache Herr zu werden, dass unterschiedliche Situationen auch unterschiedliche Führungsstile oder Verhaltensweisen bedingen.1

Die Systemtheorie beschreibt Teams, Gruppen und Organisationen als soziale Systeme, die im Hinblick auf einen Gründungszweck nützliche Kommunikations- und Interaktionsmuster aufbauen und aufrechterhalten. Diese Muster werden konstant wiederholt und bilden so die individuellen Strukturen und Routinen, die jedes soziale System schliesslich ausmachen. Neben einigen Grundprinzipien der Musterbildung gibt es viele individuelle, kontext- und letztlich personenabhängige Faktoren, die zur Originalität jedes einzelnen Systems beitragen. Führen bedeutet aus dieser Sicht gezieltes Eingreifen in die Kommunikationsmuster im Hinblick auf ihre Ziele. Führen integriert dabei aber auch die zirkulären Wirkungsdimensionen von Kommunikation und Interaktion sowie den daraus resultierenden Kontrollverlust und die grundsätzliche Unberechenbarkeit sozialer Systeme.2

Führung ist in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts zum festen Bestandteil wohl der Mehrheit aller gesellschaftlichen Aufgaben und Berufsbilder geworden. Multioptionsgesellschaft, globalisierte Vernetzung, Technologisierung und soziale Netzwerke sind nur einige der Stichworte, die verdeutlichen, wie sich der individuelle Anspruch an Führung verändert hat. Kaum ein Lebensbereich, in dem man heute nicht entscheiden, planen, managen oder führen muss. Angefangen vom Selbstmanagement über das Interagieren in realen oder virtuellen sozialen Netzwerken bis hin zur Erledigung beliebiger Aufgaben, die heute allesamt Schnittstellenfunktionen zu haben scheinen. Führen heisst somit keinesfalls nur mehr Personalführung, Abteilungsleitung und Topmanagement. Führen ist zu einem Überbegriff für Lebensführung und insbesondere für die Gestaltung von Interaktionen und Beziehungen sowie der Erfüllung von Aufgaben geworden.

Führung wird heute bereits in der Schule gefordert und äussert sich in Begriffen wie Schlüsselqualifikationen, Selbstorganisation, Selbstkompetenz usw. Anstelle des (blinden) Gehorsams wird Mitdenken und Mitgestalten verlangt, und das ist natürlich auch gut so. Doch es ist eine nicht weniger hohe Anforderung, die an die heranwachsende Generation und natürlich auch an alle anderen Vertreterinnen und Vertreter der Gesellschaft gestellt wird. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass viele diesem Anspruch nicht gerecht werden, egal, ob Schüler oder Studentin, Handwerker oder Architektin, ob Lehrerin oder Manager, ob Angestellter oder Geschäftspartnerin. Vielleicht liegt es daran, dass die aktuelle Gesellschaft, ihre Pädagogik und ihr Berufsbildungssystem dieser Entwicklung hinterherhinken und die Komplexitätszunahme noch nicht verarbeitet haben. Wohl stehen inhaltlich die neu geforderten Kompetenzen in den Lehrplänen und Berufsbildern, aber viele Ausbildungsstätten kultivieren nach wie vor eine alte Schule des Gehorsams und der Disziplin. Aber anstelle des Gehorsams und des reinen Ausführens von Anweisungen muss heute die Fähigkeit entwickelt werden, Zusammenhänge zu erkennen und interdisziplinär zu denken. Nur so kann die Orientierung in komplexen Handlungsabläufen und Zusammenhängen erworben und trainiert werden.

Der Mensch war nie weiter von den Handlungsabläufen und ihren Konsequenzen entfernt und von der Wertschöpfungskette entkoppelt. Er benötigt gerade deshalb diesen Blick umso mehr. Nie in der Geschichte hatten so viele Menschen so viele Möglichkeiten, nie war Wissen so breit zugänglich, nie war die Gefahr, sich zu verirren, grösser. Der umfassende Anspruch an alle Mitgestalterinnen und Teilhaber der Gesellschaft in den unterschiedlichsten Lebensbereichen, Führung zu übernehmen, ist ein konsequenter Effekt dieser gewachsenen Komplexität. Dabei kann auch nicht mehr ausschliesslich von einer Führungsperson und einer Gefolgschaft gesprochen werden, wie das lange der Fall war und was noch immer einen Grossteil der vorherrschenden Bilder und Konzepte von Führung prägt. Die Möglichkeiten, die einem heute zur Lebensgestaltung offenstehen, aber auch die permanenten und hochfrequenten Veränderungen, denen man unterliegt, fordern Entscheidungen, Priorisierungen und systematisches Handeln, letztlich eben Führung. Dabei wird schnell deutlich, dass man sein Handeln und Wirken nicht als abgeschlossen betrachten kann, sondern dass man selbst vom Handeln und Wirken vieler anderer beeinflusst ist und seinerseits auch andere in ihrem Handeln und Wirken beeinflusst. Führen konstituiert sich folglich als Führungskontext und als Führungssystem. Es wäre eine Illusion zu denken, dass jemand alleine eine Schulklasse, eine Abteilung oder gar einen Konzern führt.

Vergleichbar mit den unbewussten und teilweise sogar autonomen Körperfunktionen wie dem Atmen, der Regulierung der Körpertemperatur oder der Verdauung sind auch die Funktionsweisen des Führens in sozialen Systemen oft unbewusst, unreflektiert oder sogar autonom. Führung geschieht in sozialen Systemen so oder so; die Herausforderung besteht darin, Führung zweckdienlich und wirksam auszugestalten.

Was weiss ich über das Führen?

Welches sind meine zentralen Führungserfahrungen und was habe ich aus diesen gelernt?

In welchen Lebensbereichen führe ich und in welcher Rolle und Funktion?

Wie führe ich? Was sind meine zentralen Aufgaben?

Was sind meine Ziele als Führungskraft?

Welche Wirkung möchte ich als Führungskraft in meinem Umfeld erzielen?

Welche «Hebel» sind beim Führen besonders wirkungsvoll?

Welche Haltung liegt meinem Führungsverständnis zugrunde?

Was wird von mir als Führungskraft erwartet und von wem?

Wie wird Führung gelernt und gelehrt?

1.1 Die vier Bühnen der Führung

Führung kann man lernen, zumindest viele können es – und müssen es auch. Sie spielt sich aus systemischer Perspektive auf vier unterschiedlichen sozialen Bühnen ab, die alle ihre Eigenheiten haben und auf denen eigene Gesetze wirken. Der Anspruch an das Erlernen von Führung und damit auch den Erwerb von Führungserfahrung betrifft alle vier Bühnen. Natürlich gehen diese Bühnen in der erlebten Wirklichkeit zu einem gesamthaften Erleben ineinander über. Aber es lohnt sich dennoch zu lernen, diese Bühnen zu unterscheiden, damit man sich freier auf ihnen bewegen kann und insgesamt handlungsfähiger wird.

Führen beinhaltet persönliche Aspekte, die landläufig mit Selbstmanagement umschrieben werden. Diese Teilkompetenzen werden oft als erste erworben, auch wenn es einige Führungspersönlichkeiten gibt, die das Gegenteil beweisen. Führung deckt aber auch interaktive Wirkungsfelder ab, die hier mit den Begriffen Kooperation und Intervention bezeichnet werden, sie umfassen Beziehungsgestaltung, Interaktion und Kommunikation. Auf diesen Bühnen bleibt Führen immer auch Handeln mit offenem Ausgang, denn man kann vielleicht kontrollieren, was man in eine Kommunikation einbringt, was aber die Gegenüber damit machen, entzieht sich weitgehend dem eigenen Einfluss. Und Führung bezieht sich auch auf funktionsgebundene und organisationsspezifische Wirkungsfelder. Diese umfassen die eigentliche Erfüllung von Aufgaben und die Zielerreichung, aber auch die Einbindung in organisationale Strukturen und Routinen und die Leitung von Veränderungsprozessen.

Für das Verständnis von Selbstmanagement und Kooperation mögen die intuitiv zurate gezogenen Konzepte aus der Psychologie und den Lerntheorien nützliche Dienste erweisen, um aber die Dynamik von Gruppen und insbesondere von grösseren sozialen Systemen wie Organisationen zu verstehen, scheinen Konzepte der System- und der Kommunikationstheorien passender zu sein.

Selbstmanagement – sich selbst führen

Als Führungskraft steht man im Fokus der Aufmerksamkeit. Das eigene Kommunizieren, Entscheiden, Handeln und Verhalten gibt anderen Orientierung für ihr Handeln und Sein. Fritz B. Simon bezeichnet deshalb Führungskräfte als Entscheidungsprämissen in sozialen Systemen.3

Führungskräfte haben Modellcharakter, sie sind «Role Models». Schon aus ganz pragmatischen Gründen ist es deshalb nützlich, dass sie sich Bewusstheit über ihr Verhalten und Wirken erarbeiten und im Sinne ihrer eigenen Absichten und der Passung zum Kontext weiterentwickeln. Selbstmanagement umfasst die konkrete Auseinandersetzung und Förderung der individuellen Handlungskompetenz, Weiterbildung und persönliche Führungsschulung. Es umfasst die Selbstorganisation der eigenen Aufgaben, Ressourcen, Zeit und Kontakte. Es beinhaltet Selbstbeobachtung und Reflexion, Persönlichkeitsentwicklung und Charakterbildung. Und es schliesst auch die Sorge um die eigene Gesundheit und Weiterentwicklung in einem grösseren Kontext ein. Stephen Covey prägte für diesen Aspekt den Begriff «die Säge schärfen».4 Diese Perspektive fordert Selbstführung auf allen Ebenen menschlichen Seins und umfasst Achtsamkeit für Körper, Psyche und Seele. Mit dem Blick auf soziale Nachhaltigkeit scheint es auch als Führungskraft stimmig, seine körperliche und seelische Gesundheit zu pflegen oder für Inspiration und Freude zu sorgen.

Selbstmanagement bedeutet etwas salopp gesagt, das eigene Leben mehr oder weniger im Griff zu haben. Es bedeutet, die eigenen Motive und Einstellungen zu kennen und innerliche Klarheiten zu schaffen. Es beinhaltet den Erwerb und die Profilierung individueller Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und spezifischen Wissens. Es bedeutet, das eigene Handeln mit der eigenen Haltung in Einklang zu bringen, zu sagen, was man denkt, und zu tun, was man sagt.

Für die handwerkliche Ebene des Selbstmanagements, die Organisation der eigenen To-dos gibt es viele gute Ratgeber und Trainings. Die nachfolgenden vier Wege systemischer Führung bieten ihrerseits konkrete Ansatzpunkte, um auch auf dieser Ebene das eigene Führungsprofil weiterzuentwickeln: Entscheiden und Umsetzen sind wohl soziale Prozesse, sie sind aber auch auf die persönlichen Beiträge einzelner Individuen angewiesen. Selbstmanagement bedeutet, sich seines Einflussbereichs bewusst zu werden, innerhalb dieses Bereichs Verantwortung zu übernehmen und diesen Bereich, wenn möglich und gewünscht, auch zu vergrössern. Es bedeutet aber auch, den Einflussbereich von seinem Interessensbereich unterscheiden zu lernen, um seine Ressourcen gezielt einzusetzen.5

Wenn die «Eigenschaften» einer Führungskraft im Sinne des sozialen Konstruktivismus als Zuschreibungen betrachtet werden können und Menschen demnach diese Eigenschaften gar nicht zwingend selbst besitzen, ist es umso nützlicher, sich sein eigenes Bild von sich selbst zu erarbeiten und es von diesen Zuschreibungen unterscheiden zu lernen. Selbstbeobachtung und -reflexion sind dazu probate Vorgehensweisen und ergänzen Feedback, Coaching und Fremdevaluation.

Erfolgreiches Selbstmanagement zeigt sich besonders in sozialen Zuschreibungen wie Zuverlässigkeit, Verlässlichkeit, Disziplin, Verantwortungsgefühl, Authentizität usw. Es wird als Ausdruck von Konsistenz (in sich stimmig), Kohärenz (zusammenhängend und nachvollziehbar) und Kongruenz (übereinstimmend sowohl auf der Sach- als auch auf der Gefühls- und der Handlungsebene) wahrgenommen.

Führung besteht im Wesentlichen aus Kommunikation innerhalb eines sozialen Systems, deshalb sollten die eigenen Beiträge an diese Kommunikation, die eigene Sprache, die Wahrnehmungs- und Interaktionsmuster, die eigenen Entscheidungsprozesse und Verhaltensweisen Fokus der eigenen Beobachtung, Forschung und Entwicklung sein.

Selbstreflexion braucht Distanz zum Geschehen und genügend Zeit, um sich auf sich selbst einzulassen. Man muss aus der Beobachtung des Geschehens und der Reaktionen seines Umfelds auf eine Metaebene wechseln können, von der aus man sich selbst (beim Beobachten) beobachtet.

Führen bedeutet, in sozialen Systemen Spannungsfelder und Ambivalenzen auszuhalten, wie die genauere Betrachtung der vier Wege noch zeigen wird. Führen gleicht einer Pendelbewegung zwischen innen und aussen, der Vergangenheit und der Zukunft, den Ressourcen und den Möglichkeiten. Die Spannung zwischen diesen Polen muss aufrechterhalten werden und die Ansprüche des Systems, der betreffenden Personen und der eigenen müssen austariert werden. Diese «Position» – oder vielmehr dieses Pendeln – dauerhaft einzunehmen, ohne einseitig Partei zu ergreifen, ist anspruchsvoll und kräfteraubend. Selbstreflexion unterstützt Führungskräfte darin, diese Position und Funktion einzunehmen und nachhaltig innezuhaben. Selbstreflexion, Coaching und das Einfordern gezielter Fremdwahrnehmungen führen zu einem Verständnis der eigenen Person und sie machen Motive, Einstellungen, Haltungen, Werte, Selbstverständnis und konkrete persönliche Möglichkeiten und Grenzen sichtbar. Sie führen aber auch zu Klarheit in Bezug auf das eigene Rollenverständnis, die Werte und Wertigkeiten in Bezug auf Arbeitskontexte oder private Rollengestaltung.

Kooperation – andere Individuen führen

Die Bühne, auf der eine Führungskraft andere Individuen führt, kann als Kooperation bezeichnet werden. Um Missverständnissen vorzubeugen: Erstens beinhaltet Kooperation einen grossen Teil Selbstführung, und letztlich kann man wohl ohnehin nur die Verantwortung für die eigenen Anteile der Interaktion übernehmen. Zweitens geht es bei Kooperation nicht um Manipulation oder die Idee, Menschen im Sinne der Kontrolle von aussen steuern zu wollen. Menschen sind, wie Heinz von Foerster betonte, nicht trivial, ihr Verhalten folgt keinem kausalen Input-Output-Prozess, sie sind selbstbestimmt und selbstgesteuert.6 Dennoch kann man nicht nicht führen, denn der eigene Beitrag zum gemeinsamen Kommunikationsprozess führt zu irgendwelchen Reaktionen, die ihrerseits wieder Konsequenzen nach sich ziehen. Der Begriff der Kooperation soll verdeutlichen, dass hier eine gegenseitige Einflussnahme beabsichtigt ist, die konstruktiv verläuft und von der systemischen Grundhaltung geprägt ist, von der nachfolgend noch die Rede sein wird.

Kooperation mit Individuen unterscheidet sich von der Intervention dadurch, dass Kooperation das Zusammenwirken und das Führen von einzelnen Personen beschreibt, während Intervention die Interaktion in und mit Gruppen und Teams umfasst. Auf der Bühne der Kooperation sind einige Konzepte der Psychologie durchaus nützlich, so etwa die Motivationspsychologie, die Verhaltenspsychologie oder auch die Tiefenpsychologie.

In der direkten Beziehungsgestaltung mit Einzelnen können die Psychen der Individuen berücksichtigt und einkalkuliert werden. Kooperation als Bühne der Führung bedeutet dann professionelle Beziehungsgestaltung oder das Schaffen von Anreizsystemen.

Richard Sennett differenziert in seinem Buch Zusammenarbeit verschiedene Formen der Kooperation, unter anderem auch negative Formen, wie beispielsweise unter kriminellen Banden. Er verdeutlicht damit, dass Kooperation nicht per se gut oder schlecht ist, dass sie aber Handlungen ermöglicht, die für die einzelnen Individuen nicht erreichbar sind.7