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Auch diese Geschichten sind Fundstücke: lustig, böse, rührend, zum Nachdenken anregend, ganz so wie das Leben. Ganz unterschiedlich nehmen sie den Leser gefangen, wie Fundstücke eben! Renate Habets zeigt, wie das Leben so sein kann, mit allen Facetten.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel: Fundstücke 2Autor: Renate Habets
Originalausgabe November 2024
Covermotiv: Renate Habets
Covergestaltung: Michael Frädrich
© Edition Paashaas Verlag
Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-155-7
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d–nb.de abrufbar.
Fundstücke 2
Fundstück:
“Gegenstand oder ähnliches, was von jemandem entdeckt wurde“, habe ich gelesen, als ich meine ersten Geschichten als “Fundstücke“ veröffentlicht habe.
Entdeckt, gesehen, betrachtet, angenommen, habe ich damals gedacht, denke es noch heute – Fundstück.
Lustig kann es sein, böse, rührend, kurios oder auch traurig. Geschrieben und – oft vergessen, dass es geschrieben worden ist. Neu gelesen und wieder entdeckt – ein Fundstück halt.
So ist es mir mit diesen Geschichten gegangen. Vieles habe ich beobachtet, wahrgenommen, ausgedacht, niedergeschrieben, vergessen – und: wieder gefunden!
Aber nicht nur die Geschichten sind Fundstücke in mehrfachem Sinn, sondern auch das Bild.
Ich bin am Meer entlang gegangen, und da lag er vor mir, der Blumenstrauß im Sand am Rand der Wellen. Ich habe ihn fotografiert und so nach Hause mitgenommen, ein Fundstück auch er.
Die Texte habe ich, wie ich sie gefunden habe, zusammengestellt: ungeordnet, ein bunter Strauß von Fundstücken.
Einige der Geschichten sind in Anthologien des Edition Paashaas Verlag erschienen, die meisten unveröffentlicht.
Viel Spaß beim Lesen der “Fundstücke 2“ wünsche ich.
Die Feier war vorüber, die Gäste waren gegangen. Nun waren nur noch sie beide übrig geblieben, sie und die Mutter. Die alte Dame saß in ihrem grauen Seidenkleid in dem Lehnsessel am Fenster, den sie so liebte, weil sie ihn aus ihrer Wohnung in das Heim mitgebracht hatte, in dem sie nun lebte und die weitaus älteste Bewohnerin war.
Lang war der Tag gewesen. Der Bürgermeister hatte seine Glückwunsche überbracht, für das Zeitungsfoto hatte die Mutter ihrer allerschönstes Lächeln aufgesetzt.
„Sie hat ja noch so viel Charme“, sagten die Leute.
Ein Kinderchor hatte gesungen, und der Pfarrer war auch mit ein paar warmen Worten und zwei Flaschen Rotwein – „Der ist gesund für ein langes Leben, haha“ – vorbeigekommen, das ließ er sich nicht nehmen.
Die Mutter hatte es genossen, alles, jede Sekunde dieses Tages, an dem sie wieder einmal uneingeschränkt im Mittelpunkt gestanden hatte. 103 Jahre war sie geworden, das sollte ihr mal jemand nachmachen! Alle hatte sie überlebt, wirklich alle, die früher viel gesünder gewesen waren als sie, die als zart gegolten hatte. Dieses Überleben war ihr Triumph! So konnte sie nun voll Zufriedenheit auf diesen Tag zurückblicken.
Die Tochter kauerte in der Ecke auf einem Schemel, erschöpft, die Hände ineinander verkrampft und konnte es nicht fassen. 103 Jahre war die Mutter heute alt geworden, 103 Jahre. Sie würde auch noch einen weiteren Geburtstag erleben, dessen war sie sicher. Über diesen Gedanken erschrak sie. Musste sie denn nicht froh sein, dass die Mutter noch bei ihr war? Wie oft hatte sie früher um ihr Leben gefürchtet, voller Angst im Krankenwagen gesessen, wenn man die Mutter mal wieder als Notfall eingeliefert hatte oder sie in der Nacht in atemberaubendem Tempo die 40 Kilometer von ihrem Zuhause zum Krankenhaus zu ihr gefahren war. Nach all den vielen Operationen, bei denen es um alles gegangen war, hatte sie gebangt und gebetet, dass die Mutter es überleben möge, dass sie noch nicht von ihr Abschied nehmen müsse. Nun war sie 103 Jahre alt geworden, und sie fürchtete den nächsten Geburtstag! Das durfte nicht sein, man liebte seine Mutter doch, es war schön, sie noch zu haben!
Sie selbst war nun auch schon weit über siebzig, seit vielen Jahren pensioniert und frei, wie sie gedacht hatte, als sie aus dem Dienst gegangen war. Aquarellieren hatte sie wieder gewollt, in Ausstellungen gehen, auch eine Fahrt nach Australien hätte sie sehr gereizt – all das eben, was in der Zeit des Berufes zu kurz gekommen war. Die Farben waren im Schrank geblieben, nur hin und wieder hatte sie sie sehnsuchtsvoll in die Hand genommen, in Museen war sie auch nur dann gekommen, wenn die Mutter ihr ein wenig Luft gelassen hatte, und Australien war unerreichbar für sie gewesen: Die Mutter hatte sie gebraucht. Seit sie pensioniert war, hatte die Mutter ihre Hilfe noch viel mehr benötigt, war scheinbar hinfälliger gewesen, hatte der Tochter stets bedeutet, wie sehr sie sie brauchte. Sie hatte schließlich früher auch alles für die Tochter getan, da konnte man sie doch nicht im Stich lassen. Manchmal zweifelte die Tochter, ob es wirklich notwendig sei, dass sie in das Heim zu der Mutter fuhr, nur um ihr Bett zu überziehen oder die Zweitbrille zu suchen. Es gab immerhin Leute im Heim, die das tun konnten. Aber dann hatte sie sich diesen Gedanken wieder verboten. Das war zu egoistisch, die Mutter war doch sehr alt, wer weiß, wie lange sie noch leben würde. 103 Jahre, und sie war immer noch Tochter! Aber durfte man sich denn wünschen, dass die Mutter starb? Man durfte doch den Tod nicht wollen! Wenn die Mutter ihr nur ein wenig mehr Luft zum Atmen ließe ..., einmal drei Wochen ungestört an die Ostsee fahren, das wäre schön.
Sie schaute auf die Mutter, die in ihrem Feststaat am Fenster saß und lächelte wie ein junges Mädchen. Sie, die Tochter, war zu müde zum Lächeln, zu alt geworden, viel mehr als 103 Jahre.
Es war einmal ein kleines Mädchen, das trug voll Stolz ein Kleid mit wunderschönem Muster, und alle Menschen, denen es begegnete, bewunderten es wegen dieses Kleides. Sie schauten es gerne an, lächelten und freuten sich mit ihm, und das kleine Mädchen lächelte zurück, ging aufrechten Hauptes durch die Welt und fühlte sich ganz sicher mit seinem Kleid.
Eines Tages aber kam ein gewaltiger Sturm auf, als das Mädchen im Wald spazieren ging. Es versuchte sich vor ihm zu verstecken, aber dieser zerrte an seinem Kleidchen so lange, bis das Mädchen es loslassen musste und der Sturm es mit sich nahm.
Das Mädchen weinte bitterlich, denn es war doch so stolz auf dieses Kleidchen gewesen, das es so sicher gemacht hatte und an dem alle sich erfreut hatten. Nun entdeckte es, dass es nackt war und erschrak sehr. Es mochte nicht mehr unter die Leute gehen, die es alle nur mit dem wunderschönen Kleidchen gekannt hatten. Es zog sich zurück, saß nur in seinem Kämmerchen, weinte und wollte nicht mehr leben.
Das ging so lange, bis es eines Tages eine Stimme hörte, die zu ihm sprach: „Weine nicht, kleines Mädchen, es kann alles gut für dich werden. Aber du darfst nicht nur in deinem Kämmerchen sitzen. Gehe hinaus in die Welt, so wie du bist!“
Zögernd erhob sich das kleine Mädchen und ging verschämt und ängstlich hinaus in die Welt, bedeckte nur mühsam seine Blöße. Wenn es in die Gesichter der Menschen schaute, die es traf, glaubte es, in ihnen zu lesen, dass sie es nicht mehr mochten wegen seiner Nacktheit, und es schämte sich noch mehr. Es ging gesenkten Kopfes, damit niemand es mehr erkannte, und langsamen Schrittes. Es wollte nicht mehr leben.
Da hörte es wieder diese Stimme, die sprach: „Hebe deinen Kopf, kleines Mädchen, damit du die Rettung siehst. Folge mir, und ich werde dir helfen.“
Und im gleichen Augenblick sah das kleine Mädchen einen Vogel, der vor ihm her hüpfte und mit den Flügelchen schlug. Es ging eine ganze Weile hinter ihm her, bis sie tief im Wald an einen Brunnen kamen. Hier hielt der Vogel an und verschwand.
„Spring in diesen Brunnen, der blaue Fluss dort unten wird dir Rettung bringen“, hörte es wieder die Stimme, aber das Mädchen traute sich nicht, sondern blieb nur hilflos vor dem Brunnen stehen und weinte.
„Spring in diesen Brunnen“, sagte die Stimme erneut.
Aber wieder traute sich das Mädchen nicht, sondern weinte noch viel mehr.
„Spring in diesen Brunnen“, hörte es die Stimme nochmals. Weil es so verzweifelt war und es schlimmer nicht noch kommen konnte, nahm es all seinen Mut zusammen und sprang in den Brunnen.
Es fiel und fiel und fiel, bis es endlich unten den blauen Fluss fand. Aber dieser machte ihm Angst, und es wusste nicht, was es tun sollte. Nachdem es eine ganze Weile gewartet hatte, stieg es vorsichtig mit beiden Beinen in den Fluss, blieb aber dort stehen, weil es die Kälte erschreckte.
„Geh in ihn, vertrau dich ihm an“, hörte es.
Da ging es tiefer in den Fluss hinein. Weil es aber Angst bekam, als der Fluss seinen Körper benetzte, strampelte es heftig und versuchte zu fliehen.
„Vertrau dich ihm an, nur so kann dir geholfen werden.“
Es ging also weiter, bis seine Füße keinen Boden mehr fanden.
„Du musst ihm vertrauen“, hörte es die Stimme zum dritten Mal, und da legte es sich auf das Wasser und ließ sich treiben. Als es ganz ruhig geworden war, schaute es um sich und sah, dass der Fluss ein wunderbares, heilsames Blau hatte, und es spürte, dass er es trug. Es sah, wie der Fluss ganz in der Ferne zu einem riesigen dunkelblauen Strom wurde, der in das Meer mündete. Was es sah, gefiel ihm. Einen Augenblick dachte es nicht mehr an seine Nacktheit. Es breitete die Arme aus und ließ sich von dem Fluss tragen, und immer, wenn es wieder ängstlich wurde, dachte es an die Stimme: „Vertrau ihm!“
So trug der blaue Fluss es immer weiter abwärts. Je länger es trieb, umso mehr vertraute es dem Fluss und umso weniger dachte es an seine Nacktheit. Das Blau des Flusses hüllte es ein, trug es weiter, mit jeder Welle stieg es empor und senkte sich mit ihm, und es fühlte sich wundersam geborgen in diesem Blau.
Der Fluss wurde zum unendlichen Strom. Als er sich dem Meer näherte, schaute das Mädchen an sich herab. Und es sah, dass es nicht mehr nackt war, sondern ein neues, noch viel schöneres Kleid trug mit einem gar wunderbaren Muster. Als es genauer hinschaute, sah es, dass in dieses neue Muster das alte gewoben war und beide gemeinsam die Pracht des Kleides ausmachten.
Ehe der Fluss das Meer erreichte, streckte sich das kleine Mädchen noch einmal ganz in dem Wasser aus, dass jedes Fetzchen Haut vom Wasser berührt wurde. Dann ließ es sich ans Ufer treiben. Ruhig nahm es ein wenig von dem blauen Wasser in seine Hände. Wie in einem Kelch trug es es nach Hause.
Aufrechten Hauptes und frohen Blickes erreichte es seine Heimat. Alle Menschen, die es sahen, lächelten ihm zu. Das blaue Wasser, das sie in seinen Händen sahen, machte sie so froh, dass sie sich mit ihm freuten, mehr als je zuvor. Und das kleine Mädchen ging immer sicherer seinen Weg.
Wie oft ich mir geschworen habe, ich benutze keine Ausreden mehr, ich weiß es nicht. Das ist ja eigentlich schon wieder eine Ausrede, merke ich gerade. Es geht nicht um Ausreden, es geht um Lügen. Lügen sind nämlich all diejenigen Aussagen, die nicht stimmen. Wenn ich sie ausspreche, weiß ich, dass sie nicht stimmt, also unwahr ist. Je sicherer ich das tue, sie nämlich aussprechen, desto eher glaubt der Zuhörer sie. Davon gehe ich aus. Wenn ich lüge, rufe ich einen falschen Eindruck hervor. Basta, so ist es. Eigentlich weiß ich das.
Mein Problem: Mitunter will ich ja auch einen falschen Eindruck erwecken! Das ist oft genug schiefgegangen … Daher habe ich mir vorgenommen: Ich lüge nicht mehr. Bin fest davon überzeugt gewesen.
So auch heute. Ein schöner Tag ist es. Von einem blauen Himmel strahlt die Sonne hernieder. Es ist für einen Frühlingstag nicht zu kalt, aber auch nicht zu warm. Einer regnerischen, stürmischen Woche ist er gefolgt, in der ich kaum vor die Tür gekommen bin. Es auch gar nicht wollte.
Aber heute! Es juckt in allen Gliedern, als ich aus dem Fenster auf die besonnte Straße schaue und die Studenten unten erblicke, die in bereits leichter Bekleidung lachend und fröhlich aufeinander einreden und in die Vorlesung eilen. Jetzt an den See, schießt mir durch den Kopf, meine Runde drehen, vorbei an den blühenden Wiesen, die bis an den Uferrand reichen. Dann in den lichten sonnenbesprenkelten Hain eintauchen, der ein wenig Schatten spendet, aber auch immer wieder die Sonnenstrahlen durch die noch kleinen Blättchen lässt. Ganz genau kann ich mir ihn vorstellen, diesen Weg, den ich so liebe. So oft schon bin ich ihn gegangen, habe meine Freude, aber auch meinen Schmerz mitgenommen. Beides hat er stets gemäßigt: den Überschwang, zu dem die Freude verführen kann, aber auch den Schmerz, den er gelindert und abgeschwächt hat.
Mein Lieblingsweg ist er auf diese Weise geworden. Auch heute drängt es mich zu ihm, meinen Höhlenkoller der letzten Tage dort zu lassen. Schnell eile ich ins Schlafzimmer, um mir eine leichte Cordhose und den gestreiften Pullover, den ich nur trage, wenn ich gut drauf bin, zu holen, da bleibe ich abrupt an der Türe stehen.
Schiete! Und noch mal Schiete, schießt es mir durch den Kopf. Da ist doch … Ja, da ist dieser 60. Geburtstag, zu dem ich eingeladen bin. Seit Wochen schon. Zugesagt habe ich auch, obwohl ich eigentlich überhaupt keine Lust hatte, hinzugehen. Aber …, ich bin überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass man ja absagen kann. Es gab keinen Grund, ich habe frei an diesem Abend, also sagt man zu. Man ist ja schließlich ehrlich!
Schiete. Das wird sicher wieder furchtbar. Veganes Essen! Puh! Und dann diese Frauen vom Lauftreff, die sicherlich wieder alle da sein werden. Der ganze Abend wird bestimmt damit vergehen, dass sie sich gegenseitig ihre Lauferfolge mitteilen. MITTEILEN! Übertrumpfen werden sie sich. Eine wird schlimmer als die andere sein. Wenn dann noch ihre Männer eins drauf tun – mir graust.
Über nichts anderes wird geredet werden: den furchtbaren Trainer, die ungerechte Beurteilung, die Mühen der Strecke, die Last der Anstrengung, die kneifende Unterhose, die fehlende Rücksichtnahme aller …
Immer gemeiner werden meine Gedanken, immer abstoßender die Vorstellungen, immer ätzender das Empfinden. Dazu veganes Essen! Trinken kann ich auch nichts, muss ja Auto fahren.
Ich kann da nicht hin. Warum habe ich das nicht gleich bedacht? Wieso war ich so blöd, zuzusagen zu kommen? Weshalb …?
Nein, ich muss absagen. Ganz klar ist das nun. Aber wie? Obwohl ich es ja eigentlich besser weiß, fällt mir nur wieder eines ein: Erkältung. Ich bin krank! Dass ich diese Ausrede nie mehr benutzen wollte – das hatte ich mir geschworen, nicht nur einmal –, vergesse ich, sondern räuspere mich schon heftig, um meine Stimme auf angegriffen, geschwächt, elend einzustellen.
Während ich nach einer sehr kurzen Zeit des Bedenkens – Soll ich? Oder doch nicht? – die Telefonnummer wähle, bei der letzten Ziffer ein wenig verharre, sie dann aber doch entschlossen beende, schlägt mir das Herz bis zum Halse. Eigentlich sollte ich ganz schnell auflegen, das gehört sich nicht, dass ich …
Aber ehe ich mit diesem Gedanken zu Ende komme, wird der Hörer aufgenommen, die fröhliche Stimme des Geburtstagskindes ertönt, erwartungsvoll. Sicher erwartet sie jedoch nicht das, was nun kommt.
„Äh“, krächze ich mit tiefer dunkler Stimme, räuspere mich ausführlich (Ist das nicht zu viel?) und stottere dann meine Geburtstagswünsche. Erstaunt reagiert die Einladende, aber ehe sie etwas sagen kann, ächze und stöhne ich mit gebrochener Stimme, immer von Husten und Naseziehen unterbrochen, meine Absage. „Schwer erkältet. Fieber. Kann nicht.“ Mit fast ersterbender Stimme verabschiede ich mich, warte die Reaktion der Angerufenen nicht ab.
Basta, geschafft, ich bin frei, mein erster Gedanke. Der wird jedoch schnell abgelöst von vielen Fragen: War das echt? Habe ich übertrieben? Glaubt man mir? Ist man beleidigt? (Wäre ja berechtigt, gebe ich mir zu.)
Egal, ich habe abgesagt und kann an den See. Schnell greife ich meine Cordhose und meinen gestreiften Pullover, eile zum Auto und fahre los. Doch auf dem Weg zum See beschleicht mich bereits großes Unbehagen. Wie konnte ich nur?
Schamröte fühle ich aufsteigen, mir wird erst heiß, dann kalt, Beklemmung erfasst mich. Diese weicht auch nicht, als ich meinen gewohnten Gang um den See mache, der mir heute überhaupt nicht gefällt. Zu groß ist die Peinlichkeit, die mich erfüllt.
Wie konnte ich nur? Der Gedanke, der mich völlig einhüllt, mir die Freude raubt, mich unglücklich sein lässt.
Zudem ist die Nacht entsetzlich: Halsschmerzen quälen mich, das häufige Husten lässt mich kaum schlafen, die Nase läuft ununterbrochen. Zu allem Überfluss stellt sich Schüttelfrost ein, so dass ich am Morgen, als erneut die Sonne vom Himmel strahlt, schwer erkältet im Bett bleibe, dort noch weitere Tage bleiben muss, bis ich am ersten Regentag, der der schönen Periode folgt, endlich einigermaßen genesen bin.
Ich wusste es doch: Lügen haben kurze Beine, werden bei mir zur Wahrheit.
Aber …, war doch eigentlich nur `ne Ausrede. Nein, es war eine Lüge, siehe oben.
Die Brücke führt über den breiten Strom. Sie verbindet das eine Ufer mit dem anderen, den Vorort mit der Innenstadt, die Ruhe mit dem brausenden Leben, das Provinzielle mit der Weltstadt, das Enge mit dem Offenen. Sie führt über die Lebensader, die die Stadt zum Blühen brachte, ihr Einfluss gab, sie groß machte. Immer schon führte eine Brücke über den Fluss, verband und trennte, überwand das Hindernis, fügte Wachsendes zusammen. Sie überspannt das Teilende, fügt die Linie zusammen, schlägt Brücken zwischen Fremdem und Vertrautem, Weitem und Nahem, Ich und Welt.
