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Die U7 in Berlin – 2 junge Menschen begegnen sich zufällig. Der flippige Cornelius mit seinen bunten Haaren verliebt sich Hals über Kopf in die elegante Annette, die gerade auf dem Weg zum Geigenunterricht ist. Scheinbar treffen zwei Welten aufeinander, die doch mehr verbindet als anfangs gedacht. Es entwickelt sich eine spannende Liebesgeschichte, die von Vorurteilen geprägt und durch die persönlichen Umstände der jungen Leute erschwert wird. Wege trennen sich, um an anderer Stelle erneut gekreuzt zu werden. Hat so eine Liebe eine Chance in der Hauptstadt, die viel zu groß erscheint, um sich zu finden?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel: In der U7Autor: Renate Habets
Originalausgabe August 2023
Covermotiv: Renate Habets + Pixabay.com
Covergestaltung: Michael Frädrich
© Edition Paashaas Verlag, Hattingen
Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-127-4
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d–nb.de abrufbar.
In der U7
Roman
Vor vielen Jahren habe ich sie gesehen, mitten in Berlin, in der U-Bahn, sie und ihn, an eben diesem Platz. Natürlich nicht in der Realität. Sie sind nie wirklich gewesen, sondern haben nur in meinem Kopf existiert, waren aber wirklicher als alles um mich herum.
Damals habe ich gedacht: Sie sind der Stoff, aus dem Romane sind, und habe ein wenig vor mich hin phantasiert, was das Leben mit ihnen macht, wie es mit ihnen weitergehen könnte.
Dann habe ich sie vergessen.
Nach einiger Zeit gab es eine Ausschreibung im Edition Paashaas Verlag für eine Anthologie “Heiter bis verliebt“. Da waren sie plötzlich wieder da, sie im Kaschmirpullover und mit Kettchen, er mit seinem Irokesen und der Tätowierung.
Da habe ich eine Geschichte aus ihnen gemacht: “In der U7“. Sie erschien im Jahr 2017.
Dann waren sie beide wieder eine ganze Weile weg, bis ich sie beim Veröffentlichen meiner Erzählungen wieder traf. Sie konnten keine Geschichte bleiben, sie mussten ein Roman werden. Das war klar.
Aber: wo ich die Geschichte offen enden lassen konnte, “sie kam lächelnd auf ihn zu“, bewusst offen, und damit dem Leser die Entscheidung überließ, genau da begann die Qual des Romans. Es konnte nicht mehr offen bleiben, in der Hand oder eher in dem Kopf des Lesers liegen, was geschah, sondern ich musste entscheiden – ich, die Autorin, die ihren Figuren, die in ihr sind, Kontur und Leben gibt.
Ich musste sie mit allem versehen, was zu ihnen gehört: der Vorgeschichte, dem derzeitigen Leben, ihren Motiven, ihrer Arbeit und was sie in der Freizeit tun, Menschen um sie herum mussten gefunden werden, Leben musste erdacht, erspürt und schreibend Wirklichkeit werden, richtige Wirklichkeit, nicht nur in der Phantasie. Der Kopf musste Realität schaffen.
Das war schwer, es war mitunter äußerst quälend. Nicht selten gab es den Gedanken: Das schaffe ich nicht! Wie soll es weiter gehen? Aber es war auch schön, es ging weiter, immer weiter, mal langsam, mal ganz schnell, aber aus ihr sind Annette und aus ihm Cornelius geworden, die ich heute in Ihre Hand gebe.
Mögen Sie sie mögen! Ich habe sie schreibend lieb gewonnen …
Plan laut Wikipedia: U7 in Berlin
Teil
Rathaus Spandau steht vorne auf der gelben Bahn, die langsam in den Bahnhof Hermannplatz einfährt. Leer ist er um diese Zeit, sehr leer für seine Verhältnisse, wo sich sonst ein buntes Völkergemisch drängt und hastet. Schön hell ist die Station, hellgelb gekachelt, und so licht, das mag er. Langsam kommt die Bahn zum Stehen, und er schiebt sich durch die nun geöffnete Tür ins Innere, wendet sich nach links und freut sich, dass der Platz am hinteren Fenster frei ist. Den nimmt er immer, wenn er kann, das ist die äußerste der blau-schwarzen Bänke. Da sitzt man mit dem Rücken nach draußen und kann, wenn man will, rüber in den nächsten Waggon blicken. Man kann es aber auch bleiben lassen. Außerdem ist man hier dem wüsten Gedränge an der Tür und dem brandenden Lärm entzogen. Dem versucht er immer zu entfliehen.
Mit dem gewohnten Geräusch schließen sich die Türen, nachdem die Lautsprecherstimme verstummt ist. Es ruckelt leicht, die Bahn fährt an. Geradeaus blickt er an die hellgelb gekachelte Wand, die schnell von der Dunkelheit des Tunnels abgelöst wird. Lichter begleiten dort draußen den fahrenden Zug, die beleuchteten Fenster des Wagens huschen an der Mauer des Tunnels vorbei, Leuchtkörper weisen hie und da den Weg.
Das wird jetzt so bis Spandau gehen, denkt er, eine lange Strecke ist das. Die längste, die Berlin überhaupt hat. Aber es ist ja leer im Waggon, und er hat seinen Lieblingsplatz, da lässt sich gut träumen.
Unwillkürlich gleitet sein Blick zu dem Nachbarwagen, mustert die Scheiben mit dem aufgedruckten hellen Brandenburger Tor, verweilt kurz bei dem Handabdruck, den irgendwer dort hinterlassen hat und …
Ey, was ist das? In dem anderen Waggon sitzt ja jemand diagonal ihm gegenüber, bemerkt er eher zufällig. Nein, nicht einer, eine! Braune lange Haare hat sie, die nach vorne fallen, ihr bis weit über die Schultern reichen und ihr Gesicht für ihn unsichtbar machen. Völlig unbewegt sitzt sie da, hat den Kopf gesenkt, ganz konzentriert ist sie. Nur Teile ihres Oberkörpers kann er erkennen. Wohin schaut sie nur? Auf ihren Schoß? Auf den Boden? Oder hält sie ein Buch und liest darin?
Und da, was ist das? Konzentrierter blickt er hin. Einen hellbraunen Pullover trägt sie, hochgeschlossen. Ein Rollkragen ist das, über dem sie … Es ist kaum zu fassen, sie trägt ein Kettchen, ganz brav ein Kettchen! Der Rollkragen sieht aus wie …, ja, das muss was ganz Edles sein. Hat er mal an der Französischen Straße in den Galeries gesehen. Geht er ja sonst nie hin, war nur ein Zufall. Kaschmir, schweineteuer!
Fertig ist sein Bild: Papas Tochter, ganz Papas Tochter. Professor ist der wohl, vielleicht doch eher Bankdirektor? Oder ein bekannter Immobilienhai? Kaschmir …
Jedoch kann er den Blick nicht von ihr wenden. Durch die beiden verschmutzten Fensterscheiben starrt er in den Waggon vor dem seinigen, zu der anderen Bank. Nun hebt sie die rechte Hand, streicht mit ihr eine Haarsträhne zur Seite, lässt sie wieder sinken, ganz langsam. So wie man es tut, wenn man mit etwas ganz anderem beschäftigt ist, völlig in die eigenen Gedanken verloren. Es rührt ihn fast, wie sie da sitzt. Sieht aus, als hätte sie total vergessen, dass sie sich in der U7 nach Spandau befindet und sicher bald umsteigen muss. „Übergang“ wird die Stimme des Lautsprechers dann melden, „Übergang zur …“. Sicher irgendetwas, wo es vornehm ist, ruhig, gediegen. Ja, gediegen ist das Wort, das ihm einfällt, als er sie betrachtet. Wird nicht Siemensdamm sein, wo er raus muss, weil er mit seiner Mutter in der Siedlung wohnt.
Der Bahndurchgang, durch den er immer geht, strotzt von Graffiti und Schmierereien. Charlottenburg, da wohnt sie wohl, Charlottenburg, oder, noch besser, ja, das ist viel besser: Dahlem. In Dahlem ist sie zu Hause, beschließt er, nahe bei der Uni, der westlichen, der feinen, wie er denkt. Er studiert lieber im Osten, an der Humboldt! Die sind sehr gut in Volkswirtschaft!
Ja, am Fehrbelliner Platz wird sie aussteigen und die U3 nehmen, nach Dahlem Dorf, wo der Zug oberirdisch fährt. Dort geht sie dann an dem kleinen Fachwerk-Bahnhof vorbei zu den Villen, wo sicher schon eine Haushälterin darauf wartet, ihr Tee zu reichen …
Er sieht die Szene vor seinen Augen, ganz real. Die Bedienstete mit der weißen Volant-Schürze an der schweren Eichenholztür, die freundliche Begrüßung, das Esszimmer aus Mahagoniholz. Sie lässt sich in ihrem hellbraunen Rollkragenpullover nieder und …
Mittlerweile haben sie den Mehringdamm und die Möckernbrücke passiert, ohne dass er das mitbekommen hätte. So tief ist er in seine Phantasien verloren, so konkret sieht er ihr Leben vor sich. Ganz heiß ist ihm geworden, so dass er seine Hand hebt und sich die Stirn wischt.
Plötzlich richtet sie den Kopf auf. Sie wendet ihn leicht nach links und schaut ihn an. Geradewegs. Ihn. Schnell möchte er den Blick von ihr abwenden, aber er kann es nicht. Er starrt es weiter wie gebannt an, das Mädchen mit dem hellbraunen Kaschmirpullover, dem Kettchen, den langen glatten Haaren und großen dunklen Augen, wie er nun sieht. Sie blickt ihm ins Gesicht, direkt, unverstellt, eine lange Weile, so, als wolle sie ihn ganz wahrnehmen, und dann, dann … lächelt sie. Sie lächelt ihn an, ihn!
Sie hat in der U7 gesessen und in ihren Noten gelesen. Immer wieder hat sie die Stelle anschauen müssen, die sie eben in Rudow nicht hinbekommen hat. Zu blöd, aber es ist nicht gegangen. Sie weiß noch nicht, woran das gelegen hat. Also versucht sie es rauszubekommen, vergeblich bisher.
Donnerstags fährt sie immer zur Geigenstunde nach Rudow. Die Strecke kennt sie ganz genau, jede einzelne Station. Sie schaut gar nicht mehr auf. Vierzig Stationen sind das von Rudow bis Spandau, wo sie hin muss, von einem Ende der Strecke zum anderen. Sechsundfünfzig Minuten Fahrzeit. Aber ihr Vater, der als Beamter im Rathaus von Spandau arbeitet, meint ja, nur dort, in Rudow eben, sei die beste Geigenlehrerin aller Zeiten. Für seine Tochter ist ihm nichts gut genug, da kratzt er den letzten Cent zusammen. Also macht sie die Fahrt jede Woche einmal. Sie kommt ja auch vorwärts. Das muss sie zugeben.
An der Möckernbrücke fühlt sie sich gestört, irgendwie. Wodurch, weiß sie gar nicht, aber irgendetwas hat sie aufgeschreckt. Also hebt sie den Kopf, wendet ihn nach links und schaut durch zwei Fensterscheiben geradewegs in zwei Augen, die sie zu fixieren scheinen. Ihr schräg gegenüber sitzt auf dem letzten Platz des nächsten Waggons ein Junge. Ein Junge? Oder doch eher ein junger Mann? Schätzen kann sie sein Alter nicht. Aber wie ein Schüler sieht er nicht aus, wie sie blinzelnd bemerkt. Ein wenig kurzsichtig ist sie schon, aber viel zu eitel, um dauernd eine Brille zu tragen. Sie kneift die Augen ein wenig zusammen, um besser sehen zu können. Es lohnt sich! Das ist ja ein …, tatsächlich, ein Irokese, der sie so anstarrt! Ein Iro, nicht zu fassen.
Von der Stirn bis in den Nacken zieht sich ein schmaler Streifen gefärbter Haare, die wie ein Regenbogen aussehen: grün, gelb, rot. In dieser Reihenfolge. Von unten nach oben. Sie stehen steif in die Höhe, wie ein Schweif. Daran muss er lange gearbeitet haben. Der Rest des Kopfes ist kahl rasiert. Ob der mit Zuckerguss arbeitet? Oder nimmt er Bier? Haarlack gibt es ja wohl auch, aber damit endet auch bereits ihr Wissen. Was er trägt, kann sie so genau nicht sehen, nur dass es ein schwarzes T-Shirt mit so einer weißen Zeichnung ist, das kann sie erkennen.
Als er nun erneut die Hand hebt und sich die Stirn wischt, bemerkt sie, dass er wohl auch tätowiert ist. Aber nur mit schwarzer Farbe, und – wenn man genau hinsieht – es scheint ein Muster zu sein, keltisch? Schön eigentlich …, nicht so ein blöder Mädchenkopf oder ein Auto oder so.
Irgendwie alternativ ist der, denkt sie und sieht dabei sofort die besetzten Häuser in der Rigaer Straße vor sich. Innerlich geht er vor ihren Augen durch ein vollgestelltes Treppenhaus – Kinderwagen, Körbe, Fahrräder, Kleinmöbel, Taschen – über ächzende alte Holzstufen in den dritten Stock, öffnet dort mit seinem Schlüssel eine knarrende Wohnungstür und betritt sein winziges Zimmer in der WG. Voll von Postern hängen die Wände, und eine Matratze auf dem Boden dient ihm als …
Immer noch starrt er zu ihr rüber und sie zu ihm. Beider Augenpaare können sich nicht loslassen, verhaken sich ineinander, sind wie gebannt, einander ganz nahe nun und doch getrennt durch zwei Fenster und die Wände der Waggons. Zwischen Yorckstraße und Kleistpark rattert die Bahn durch den Tunnel, aber beide nehmen nichts davon wahr, sondern sehen nur die Augen des anderen.
Schlagartig wird ihr diese Situation klar, und sie muss lachen, ihm zu, dem Mann mit dem Iro und der Tätowierung, der ihr gegenüber in einem anderen Wagen sitzt.
Sie lacht, lacht ihn an – und ihr Lachen ist so offen, so herzlich, so natürlich und einladend, dass er gar nicht anders kann. Er muss zurücklachen, mit offenem Mund und blitzenden Zähnen.
So warm ist sein Lachen, so breit, so einnehmend, dass sie alles vergisst: seinen Irokesen, sein labberiges T-Shirt, die Tätowierung. Nur sein Lachen sieht sie, das ihr gehört. So sehr verändert es ihn, macht ihn neu für sie. Nun sieht sie den Mann unter dem Irokesen. Und der …, der gefällt ihr.
So warm ist ihr Lachen, so liebevoll, so gelöst, dass er gar nicht mehr an das Kettchen und den braven hellbraunen Kaschmir denkt, sondern nur noch das nun strahlende Gesicht sieht, ihm zugewandt. Nur für ihn lacht sie so.
Ganz warm wird ihm ums Herz, das sich kurz zusammenkrampft und dann heftiger schlägt. Das Blut ist ihm in den Kopf geschossen, und Flammen scheinen ihn erfasst zu haben. Ganz und gar. Ich muss sie kennenlernen, ich muss zu ihr, denkt er und springt im letzten Moment am Kleistpark aus der Bahn, wo diese mittlerweile angehalten hat. Hastig spurtet er zu der nächsten Tür, die sich aber, ehe er sie erreichen kann, geschlossen hat. Und die U7 setzt sich in Bewegung.
Fassungslos blickt er zu dem Gesicht in dem nächsten Wagen, von dem das Lachen nun weicht, das kleiner wird und dann im Tunnel verschwindet. Sie fährt davon, zum Fehrbelliner Platz, und er steht am Kleistpark, mitten unter Schöneberg, wo er überhaupt nichts zu suchen hat. Weg ist sie, weg aus seinem Leben, in das sie doch gerade erst getreten ist.
Ungeduldig wartet er auf den nächsten Zug, der bald kommt. Bis zur nächsten Station zermartert er sich das Hirn, auf welche Weise er sie wohl wiedersehen kann. Nichts fällt ihm ein, überhaupt nichts. Er weiß ja rein gar nichts von ihr, kennt nur ihr Lachen.
Nächste Station Eisenacher Straße sieht er die Leuchtschrift, und schon taucht er in die Helligkeit des Bahnsteigs.
Leer ist es auch hier, aber… Kann das sein? Hat er Halluzinationen?
Langsam fährt er mit der Bahn auf einen hellbraunen Kaschmirpullover zu, Kettchen, Geigenkasten in der linken Hand. Das ist doch … Schon fällt er fast aus der Tür, die sich öffnet, der jungen Frau entgegen, die dort auf ihn zu warten scheint.
Lächelnd kommt sie ihm entgegen …
Ganz ohne Scheu, ganz ohne Ziererei geht sie auf ihn zu, der vor Verblüffung abrupt stehen geblieben ist, nachdem er zunächst mit großen hastigen Schritten auf sie zugeeilt ist. So sehr hat er gefürchtet, dass sie wieder verschwindet. Nur ein Phantom, eine von seinen Gedanken herbeigezauberte Einbildung ist.
Er schüttelt den Kopf, als müsse er eine Erscheinung abschütteln, vertreiben, indem er die grüne Wand der Station – alles grün hier, nicht gelb, denkt er, um sich abzulenken – fixiert, dann wieder in die Richtung blickt, in der er sie eben noch zu sehen geglaubt hat. Alles Quatsch, Wunschdenken, reine Phanta… Nein, sie ist wirklich da, steht nun vor ihm, lacht ihn an.
„Entschuldigung“, hört er, „aber ich muss Sie was fragen.“
‚Sie‘, schüttelt er innerlich den Kopf. Ist doch gar nicht üblich in ihrem Alter, aber da spricht sie schon weiter.
„Eigentlich gehört es sich ja nicht, dass ich Ihnen diese Frage stelle, aber Sie haben so nett gelacht. Und dass Sie jetzt auch noch hier aussteigen mussten …, welches Glück ich doch habe.“
Glück?
Auffordernd blickt er sie an, lächelt ein wenig unsicher – was will sie nur? –, fordert sie mit einer Handbewegung auf weiter zu sprechen.
„Ihre Frisur …“, fährt sie fort – sie hat tatsächlich ‚Frisur‘ gesagt! –, „ich würde Sie gerne fragen, wie die so fest wird.“
Waaas, hat sie das jetzt wirklich gesagt? Fassungslos fasst er sich in die noch verbliebenen Haare, grün, gelb, rot, von unten nach oben, und starrt sie an. Kann kein Wort rausbringen, wendet den Kopf erneut zu der grünen Rückwand des Bahnhofs.
„Oh, entschuldigen Sie, ich hab ja gesagt, so etwas fragt man nicht. Aber ich war doch so …“
„Was?“, ächzt er, mehr bringt er noch nicht heraus. Er ist doch sonst eigentlich nicht auf den Mund gefallen. Aber das hier? Das hat ihm nun doch die Fassung geraubt, mehr als nur ein wenig. „Was?“, wiederholt er, um sie, die sich bereits umwendet, am Fortgehen zu hindern.
„Ruhig fragen, muss ja nicht antworten“, murmelt er schnell. Ihm hat es eigentlich noch immer die Sprache verschlagen.
„Ich bin doch nur so furchtbar neugierig, wie man die Haare so steif bekommt. Und Sie haben so nett gelächelt, da hab ich gedacht, Sie kann man so etwas fragen.“
„Ja?“, fordert er sie nun mit festerer Stimme auf.
Die dunklen Haare sind ihr wieder ins Gesicht gefallen. Mit einer ihm schon fast vertrauten Geste hebt sie die rechte Hand, streicht sie beiseite und scheint sich nun endgültig ein Herz zu fassen.
„Was nehmen Sie? Zuckerwasser, Bier, Haarlack oder irgendetwas, das ich gar nicht kenne?“, will sie wissen.
„Äh …, ich nehme Zuckerwasser, einfach Zuckerwasser, das …“, hebt er an zu erklären.
„Danke“, ruft sie ihm zu, wendet sich hastig, tut ein paar Schritte und verschwindet in der U7, die mittlerweile erneut wieder eingefahren ist und abfahrbereit auf dem Gleis steht.
„Aber …“ sprintet er auf die Bahn zu, deren Türen sich jedoch vor ihm schließen. Wieder einmal. Er sieht nur noch ihr Lächeln, das sie ihm aus dem Fenster heraus schenkt, während sie ihren Platz findet und den Geigenkasten vorsichtig neben sich abstellt.
Entgeistert schaut er der U-Bahn hinterher, die mit ihr und dem Geigenkasten die Station verlässt und nur die grüne Wand zurücklässt, die er schockiert fixiert. Grün, ein leuchtendes Grün sieht er, mehr nicht.
Und nun?
Weg ist sie, ein zweites Mal weg. Er weiß immer noch nicht, wo sie wohnt, wer sie ist, wie sie heißt. Das Schlimmste jedoch ist, er weiß immer noch nicht, wie er sie erreichen kann.
Frustriert fällt er auf die nächste Bank, streckt die Beine in den Jeans weit von sich und lässt seinen Kopf auf die Lehne sinken. Über sich sieht er die beiden leuchtenden Röhren. Dann wendet er den Kopf ein wenig: Grün, die grünen Wände des U-Bahnhofs der Eisenacherstraße, über ihm die lebhafte Grunewaldstraße. In der Bahn, deren Lichter gerade in dem Tunnel verschwinden: sie. Sie, von der er nichts kennt als ihr Lächeln, ihr umwerfendes Lächeln. Nun auch ihre Stimme, immerhin. Dunkel ist die, das hatte er gar nicht erwartet. Wie Gesang war sie ihm vorgekommen, als sie ihn gefragt hat … So’n Quatsch hat sie ihn gefragt. Wie er seine Haare zum Stehen bringt! Was geht sie das denn an? Ist doch sein Ding!
Langsam denkt er sich ins Negative. Wer fragt denn sowas? Kann nur `ne dumme Tussi sein, ist doch wahr! Aber …, und wieder sieht er ihr Lächeln vor sich, ihr Lächeln durch die beiden verschmierten Fenster, ihres und seines. So offen war es, natürlich, einladend, gelöst, lud ein mitzulachen. Eigentlich … liebevoll, ja, ganz liebevoll, obwohl sie ihn doch gar nicht gekannt hat.
Es nützt nichts, sie sich mies machen zu wollen. Ihr Lächeln lässt das nicht zu. Das weiß er nun ganz genau. Und nun?
Nett war er, denkt sie, als der Zug die grüne Station verlässt und nun über die Berliner und die Blissestraße Richtung Rathaus Spandau fährt. Mehr als die Hälfte der Fahrt hat sie hinter sich, die heute eine so nette Unterbrechung gehabt hat. Zuckerwasser, sinnt sie vor sich hin, also einfach Zuckerwasser. Nun weiß sie es. Warum wollte sie das eigentlich unbedingt wissen? Sie wird doch nie Zuckerwasser brauchen! Erst recht nicht für die Haare. Da ist sie ganz sicher. Nett war er, der Irokese, dieser Junge. Nein, dieser junge Mann, verbessert sie sich in Gedanken, dieser junge Mann mit diesem Lächeln, so offen. Sie hat seine blitzenden Zähne dabei sehen können, durch zwei schmuddelige Fensterscheiben der Bahn hindurch hat sie es sehen können. So einnehmend ist es gewesen, dass sie sich getraut hat, ihn zu fragen. Wie gut, dass er an der Eisenacher Straße hat aussteigen müssen.
Als sie aus ihren Gedanken aufschrickt, weil der Zug anhält, blickt sie erschrocken zu der Wand draußen neben ihr.
Wilmersdorferstraße steht auf den Kacheln der stilisierten Lilie. „Wilmersdorferstraße“, murmelt sie gedankenverloren vor sich hin. In Charlottenburg ist sie schon, da hat sie doch mindestens fünf Stationen nicht mitbekommen! Fast schuldbewusst greift sie zu dem Notenheft, mit dem sie sich vor der Unterbrechung mit ihm beschäftigt hat. Da war doch diese Stelle, die … Die Stelle, die sie nicht hinbekommen hat. Schnell blättert sie in ihren Noten, senkt den Kopf, sucht, was sie verstehen muss, damit es das nächste Mal besser geht. Das dunkle Haar verdeckt ihr Gesicht bis zur Endstation Rathaus Spandau, während sie konzentriert ihren eben gemachten Fehler sucht. Dort muss sie aussteigen.
Rattern im Bahnschacht reißt ihn aus seinen Gedanken. Rasch springt er auf. Valentin wird schon auf ihn warten, fällt ihm ein. Heute ist Donnerstag, da hat die Mutter Spätschicht. Er muss sich beeilen. Schnell eilt er auf die einfahrende U7 zu, springt beim Öffnen der Türen in einen der Waggons und lässt sich auf eine der längsstehenden Bänke fallen und starrt aus dem Fenster gegenüber, ohne etwas zu sehen: weder sein Gegenüber noch die aufblitzenden Lichter draußen, noch die Dunkelheit in dem Schacht. Bis zum „Siemensdamm“, wo er aussteigen muss, geht ihm ein ganz bestimmtes Lächeln nicht aus dem Sinn.
∞
Siemensdamm, er ist da! Hier muss er raus. Er springt auf den Mittelbahnsteig und hastet zu der Treppe rauf zum Rohrdamm. Für die Besonderheit der Station, die im Krisenfall ganz schnell in einen Schutzraum für etwa 4500 Menschen – man denke sich – verwandelt werden kann, hat er heute keinen Blick. Dabei bewundert er diese hochtechnische Leistung, bei der zahlreiche zivilschutz-technische Einrichtungen verbaut worden sind, doch sonst immer, wenn er aus der U-Bahn springt. Heute nicht, heute fällt sie ihm nicht einmal auf. Beeilen muss er sich, er ist schon spät dran. Valentin wird warten!
Ohne hinzuschauen jagt er an dem Luftfilterturm, dem eigentlich sonst seine ganze Aufmerksamkeit gilt, sieht er doch wie ein modernes Stelen Kunstwerk aus, vorbei. Die Siemensfabrikgebäude vor ihm ignoriert er.
Grau ist der Himmel an diesem Tag, was seine Stimmung wunderbar widerspiegelt, denn auch in ihm ist es Grau in Grau, obwohl er so recht nicht weiß, warum. Ja, da hat ein Mädchen gelächelt! Ja und? Noch schäbiger als sonst immer erscheint ihm "Der Lange Jammer“, ein endlos scheinender geschwungener Bau von Mietwohnungen, deren eine von seiner Mutter, Valentin und ihm bewohnt wird. Mögen die Touristen auch bewundernd vor ihm stehen, Otto Bartning, der sie erbaut hat, preisen und eigens dorthin reisen, um sie zu sehen. Mag ja beeindruckend sein, wenn man so vor dieser riesigen Anlage steht, sogar vielleicht einmalig, aber …, wenn man drin wohnt, ist das was ganz anderes, schäbig. Das hatten sie schon mal besser, viel besser.
Schnell schließt er die Haustür auf, klingelt dreimal kurz, damit Valentin weiß, dass er kommt, und springt die Treppe in den dritten Stock hoch.
„Da bist du ja endlich“, schallt es ihm mit hoher Kinderstimme entgegen, „ich hab schon sooo gewartet.“
Cornelius will aufbrausen, schluckt, bleibt dann aber doch ruhig, obwohl er am liebsten seinen Frust an dem Kleinen auslassen möchte.
„Ja, tut mir leid, aber jetzt bin ich ja da“, ruft er nach oben, nimmt zwei Stufen auf einmal und schließt dann den Bruder in die Arme. Rasch schmeißt er seinen Jutebeutel in das Zimmer, das er sich mit Valentin teilt, wäscht die Hände und wendet sich dem Kühlschrank zu.
„Kannst schon decken, muss nur noch den Auflauf warm machen!“
Jetzt ist sie wohl längst in Dahlem, schießt es ihm durch den Kopf, und in Gedanken sieht er die Hausdame, wie er es bei sich nennt, den Tee servieren, zu dem …
„Mensch, Con, wo biste denn? Hab schon dreimal gefragt, was wir für Besteck brauchen“, durchdringt die Stimme des Bruders seine Phantasien.
„Ja, äh“, reißt er sich aus seinen Gedanken, zwingt sich „Gabeln“ zu sagen und stellt den Auflauf, den die Mutter ihnen vorbereitet hat, in den Backofen.
Valentin, der nicht so gerne allein ist, hat sich mittlerweile auf die Eckbank in der Küche gequetscht. Hier ist er seinem großen Bruder ganz nahe, kann alles loswerden, was er heute erlebt hat. Bisher jedenfalls ist das so gewesen. Heute aber ist Cornelius nur halb, eigentlich nicht einmal das, bei den Erzählungen Valentins. „Da hat in der Schule …“, „ganz gemein war das“, „… aber ich habe …“
Satzfetzen ziehen an ihm, der abwechselnd nickt oder den Kopf schüttelt, als kommentiere er die Geschichten, die er ja gar nicht wahrnimmt, vorbei. Er ist gedanklich wieder in der U7, sieht ein Lächeln, einen hellbraunen Kaschmirpullover, auf dem ein Goldkettchen blitzt, hört eine dunkle, melodiöse Stimme, fragt sich …
„Mann, du hörst ja gar nicht zu!“, reißt ihn der Kleine, der zum Herd gespurtet ist und die Auflaufform herausgezogen hat, aus seinen Gedanken.
