Fünf Minuten vor Mitternacht - Celina Weithaas - E-Book

Fünf Minuten vor Mitternacht E-Book

Celina Weithaas

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Beschreibung

"Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark. Ich hatte mir mehr erwartet. Mit dir geht kein Königreich auf, keines unter." Jeder kennt ihren Namen. Ihr Gesicht prangt auf jedem Titelblatt. Sie lebt für die nächste Schlagzeile. Chrona Clark ist der Inbegriff von Perfektion. In der Nacht ihres 21. Geburtstags springt Chrona in das Böhmen des frühen 17. Jahrhunderts. Statt des Applauses donnern Kanonen. Anstatt von ihrem Verlobten wird Chrona von einem Fremden empfangen. Schon bald droht Chrona zwischen den Epochen mehr zu entgleiten als nur ihr beispielloser Ruf.

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Fünf Minuten vor Mitternacht

© 2020 Celina Weithaas

2., vollständig überarbeitete Auflage 2021

Umschlaggestaltung und Design: Franziska Wirth

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Taschenbuch: 978-3-347-39853-5

ISBN e-Book: 978-3-347-39854-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Chroniken des Grauen Mannes

Phase I:

Die Poison-Trilogie:

Dark Poison (Oktober 2018)

Cold Poison (Januar 2019)

Dead Poison (September 2019)

Die Jahreszeitentrilogie:

Spring (31. Dezember 2019)

Fall (31. Dezember 2020)

Winter (31. Dezember 2021)

Phase II:

Die Märchendilogie:

Erzähl mir Märchen (05. November 2019)

Märchen für Dich (01. Mai 2020)

Die Mitternachtstrilogie:

Fünf Minuten vor Mitternacht (02. September 2020)

Zehn Sekunden vor Mitternacht (21. April. 2021)

Vor Mitternacht (13. Oktober 2021)

Die Dämonentrilogie:

Fürchte mich nicht (21. April 2022)

Vergiss mich nicht (02. September 2022)

Verlass mich nicht (01. Mai 2023)

Die Götterdämmerungstrilogie:

Götterdämmerung - Verschwörung (05. November 2023)

Götterdämmerung - Verlockung (01. Mai 2024)

Götterdämmerung - Verdammung (02. September 2024)

Die Ich-Bin-Trilogie:

Ich bin Du (21. April 2025)

Du bist Ich (13. Oktober 2025)

Wer ich bin (21. April 2026)

Phase III:

Die Geschichte des Grauen Mannes:

Die Geschichte des Grauen Mannes oder Komm mit mir nach Gestern (02. September 2026)

Chronicles of Kings and Queens:

Blutzoll (01. Mai 2027)

Blutangst (05. November 2027)

Blutrache (01. Mai 2028)

Blutdurst (02. September 2028)

Blutmond (21. April 2029)

Blut-Matt (13. Oktober 2029)

Phase IV:

Die Foscor-Trilogie:

Laufe (31. Dezember 2027)

Bleibe (31. Dezember 2028)

Vergesse (31. Dezember 2029)

Erinnere (31. Dezember 2030)

Verdamme (31. Dezember 2031)

Erwache (31. Dezember 2032)

Phase V:

Die Trilogie von Gottes Tod:

Von verblühender Unschuld (21. April 2030)

Von leidendem Verrat (02. September 2030)

Von verzweifelter Liebe (01. Mai. 2031)

Die Ewigkeitsdilogie:

Endlicher Triumph (13. Oktober 2031)

Triumphale Ewigkeit (01. Januar 2032)

Das Ende:

Nun, da es das Ende ist (31. Dezember 2032)

Für Julia, die dieses Buch vor einander überlappenden Uhrenzeigern bewahrt hat.

1

Angeblich geschehen ungebetene Überraschungen immer dann, wenn man es am wenigsten erwartet. Ich weiß nicht ganz, wem dieser schwachsinnige Gedanke gekommen ist. Egal wie sehr ich damit gerechnet habe, überraschte es mich trotzdem. Zu dem unpassendsten Zeitpunkt. Mein Kindermädchen half mir soeben die Tonnen an sündhaft teurem Kleid in den Wagen zu hieven, als der Butler auf uns zueilte, strammen Schrittes, niemals versucht zu rennen. Eine leichte Röte war ihm dennoch in die Wangen gestiegen, als er mir den blütenweißen Brief übergab.

„Er ist an Euch adressiert.“ Eine unnötige Information in Anbetracht dessen, dass er jede Mühe auf sich nahm, um mich vor der Abfahrt zu erreichen. Anstatt einer Antwort, mit der er ohnehin nicht gerechnet hat, bedeutete ich dem Chauffeur, die Tür zu schließen. Überbringer rätselhafter Nachrichten sind nicht willkommen. „Von wem ist er?“ Neugierig sieht mein Kindermädchen mich an. Ich werfe ihr einen abschätzigen Blick zu. Sie ist neu und blutjung. Irgendetwas zwischen einem hoffnungsfrohen Kind und einer restlos naiven Figur. Würde sie mich kennen, hätte diese junge Frau sich eher auf die Zunge gebissen, als eine unangebrachte Frage wie diese zu stellen. Ich bin versucht, sie hier und jetzt aus dem Wagen werfen zu lassen. Pikiert presse ich die Lippen aufeinander. Nur würde mir dann jemand fehlen, der mir den Champagner eingießt. Meine Schleppe hält. Mir die gierenden Diplomaten vom Hals hält. Ich zupfe an einer schimmernden, blonden Locke, die mein Gesicht vorteilhaft umschmeichelt. „Du darfst den Lichtschalter betätigen. Es fällt mir äußerst schwer, im Dunklen zu lesen.“ Vorne schlagen die Türen zu, leise summt der Motor. Je eher es vorüber ist, umso besser. Ich betrachte das Couvert mit aller Abscheu, die ich seinem Verfasser entgegenbringe. Meine Finger reißen den Umschlag auf. Wie die letzten fünf Male steht auch dieses Mal ausschließlich mein Name in salopper Schrift darauf. Keine Adresse, kein Absender. Genau wie die letzten fünf Male ist das Briefpapier vergilbt und riecht alt und staubig und bildet damit das krasse Gegenteil zu dem schneeweißen Umschlag.

„Hat Euer Vater Euch eine Besitzurkunde ausgestellt?“ Skeptisch sehe ich in die aufgeregten Augen des Kindermädchens. Es wäre um einiges naheliegender, dass er mir diese heute persönlich übergibt. Nicht zu vernachlässigen ist die Tatsache, dass mein Vater selbst aus der Hand der angesehensten Antiquare niemals ein rissiges Dokument akzeptieren würde. Es gehört kopiert, beglaubigt und das Original wohltemperiert aufbewahrt. Nie im Leben würde mein Vater, der wahrscheinlich mächtigste Mann der Welt, es nur in Betracht ziehen, etwas so Wertvolles wie ein Originaldokument in einem einfachen Umschlag zu verstauen und dem Butler anzuvertrauen. Nicht einmal für wenige Schritte. Angestellte sind lediglich solange vertrauenswürdig, wie man sie sehen kann. „Es ist der Brief eines Freundes“, erwidere ich kühl. So viel konnte ich dem Geschreibsel der letzten fünf Male bereits entnehmen. Das einzige Problem dabei? Besagtem Freund bin ich nie begegnet, habe nie von ihm gehört. Meine Berater haben Nachforschungen angestellt, um einen Stalker auszuschließen. Die geschwollenen Formulierungen wurden durch Datenbanken gejagt, die Schrift verglichen. Niemand scheint das Äquivalent zu dem geheimnisvollen Briefautor zu sein, auf den ich liebend gern verzichten würde. Das gelbliche Licht der kleinen Lampe über mir malt einen schimmernden Kreis auf das vergilbte Papier. Abschätzig betrachte ich die einzelnen Worte und Sätze. Kein Wunder. Für mich ist diese Handschrift nicht individuell, sondern desaströs. Man muss sie beinahe als gänzlich unleserlich einstufen. Mein selbsternannter, guter Freund besitzt weder den Anstand mit einem existenten Namen, noch mit einem Pseudonym zu unterzeichnen. Alles was er hervorbringt ist ein lächerliches A. A wie der Anfang des Alphabets? Wie ein Vorname? Der Nachname? Es wird meinen Beratern und der Security überlassen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Für mich gibt es weit bedeutendere Fakten zu durchdenken. Wie gelingt es mir, die nächste, gute Schlagzeile zu erhaschen? Wenn die russischen Oligarchen meiner Einladung gefolgt sind, werden sie ausreichend Alkohol zu sich nehmen, um meine Entwürfe prompt zu unterschreiben? „Welcher Freund, wenn es mir erlaubt ist zu fragen?“ Mit den Kuppen streichle ich über die Oberfläche des Briefs. Am linken Rand ist ein kleiner Wachstropfen zu finden, eingebrannt und rissig auf dem staubigen Dokument. Ich habe das Alter bestimmen lassen. Fünfhundert Jahre. Man machte mich darauf aufmerksam, dass die Existenz dieser Briefe unmöglich sei. Zum einen wurde vor einem halben Millennium eine andere Schriftart verwendet, zum anderen weicht der damalige Wortschatz doch sehr von dem heutigen ab. In diesen Briefen bleibt jeder Satz gut verständlich und nachvollziehbar. Eine Sprachbarriere ist nicht vorhanden. Meines Erachtens nach eine passionierte Fälschung.

„Ich will nicht darüber reden.“ Damit ist das Gespräch beendet. Mein Kindermädchen neigt leicht den Kopf. Das Getratsche, das sie in wenigen Stunden anstoßen wird, glaube ich bereits hören zu können. Die junge Clark-Tochter verheimlicht einen mysteriösen Liebhaber. Er schreibt ihr Briefe. Wie außerordentlich romantisch. Sie verbrennt sie, sobald sich die Möglichkeit ergibt und befiehlt sowohl den Beratern als auch der Security zu schweigen, wenn ihnen ihre Anstellung lieb ist. Damit ihre Eltern die Zeilen nicht finden? Ob sich die beiden unglücklich Verliebten wohl treffen? Und wo? Ist er ebenso gutaussehend wie Mademoiselle selbst? Kommt er aus gutem Hause?

Ich sehe bereits die zusammengesteckten Köpfe und die aufgeregt funkelnden Augen vor mir, während sich das lächerliche Gerücht zwischen all jenen verbreitet, die für mich die niedersten Arbeiten verrichten. Dabei findet sich nichts Romantisches an diesen Briefen. An Vieles aus ihnen kann ich mich kaum erinnern – es ist faszinierend, wie belanglos und zusammenhangslos man einen Inhalt gestalten kann – der erste Satz des ersten Briefes aber, den ich erhielt, hat sich mit Leichtigkeit in mein Gedächtnis gebrannt. „Wenn du das liest, so mag der Tod mich längst geholt haben.“ Ich bin versucht das zu glauben. Die Tinte auf dem Papier wurde als ebenso alt wie der Brief selbst bestimmt. Der Ausdruck ist zu tragend, zu gehoben, zu überholt. Die Rechtschreibung des mysteriösen Freundes eine kleine Katastrophe. Der selbsternannte Historiker unter meinen Beratern amüsiert sich über dieses Detail göttlich. Als versuche jemand die heutige Sprache mit der damaligen zu verbinden. Mir ist gleichgültig, aus welchem Grund der Verfasser schreibt, wie er es tut. Interessieren werden mich diese Briefe erst, wenn die simpelsten Regeln der Orthographie befolgt wurden. Ein Projekt für die nächsten fünfhundert Jahre.

Der Wagen biegt von der Ausfahrt auf die Straße, verzerrte Lichter der Nacht zeichnen sich vor den getönten Scheiben ab. Hinter uns verschwimmt das helle Herrenhaus im Unwetter. Ich beuge mich näher über den Brief, um ihn entziffern zu können. Die Anrede fehlt, so wie jedes Mal, ebenso die Unterschrift. Es sind hastig auf Papier geschmierte Worte. Tagebucheinträge würde ich behaupten, wären die Ränder eingerissen, als hätte man den Bogen aus einem Heft herausgetrennt. Unglücklich, dass der unversehrt ist.

„Der Mond treibt mich zur Turmuhr. Oh schlüge sie die Stund, oh kämest du, mein Engel, hinab vom Himmel dort, zu sehen meine Leiden. Mit Inbrunst erwarte ich nur dich, mein Liebstes, deine Wiederkehr im schummrigen Klang des blütenweißen Schnees, der deine Schultern küsst und mich verzehrt. Die Uhr schlägt zwölf, doch Leid und Angst, nicht dein Antlitz mir entgegenstrahlt. Kanonendonner von nah und fern, erinnert an des Todes Stern. Vergaßt du mich, der Zeiten Wunder, so fällt mein Herz in Trümmern nieder. Ach, schon Knallen die Musketen. Weh, bald sterben sie dahin. Mein Engel dort, wo bliebest du? Fern von der Turmuhr, das bist du.“

„Es wirkt sehr alt“, stellt das Zimmermädchen fest, als ich den Brief zusammenfalte, in dem Umschlag verschwinden lasse und in meinem Dekolleté verstaue. Ich werfe ihr einen vernichtenden Blick zu. Ich habe ihr nicht die Erlaubnis erteilt, meine Post mitverfolgen zu dürfen. Wäre der Abend weniger prestigelastig, ließe ich sie längst auf offener Straße zurück. Diese Angestellte ist eine himmelschreiende Beleidigung. Mein altes Kindermädchen sollte ich verklagen, dafür, dass sie mir diese Katastrophe aufgehalst hat. „Vielleicht”, sinniert das Kindermädchen, „ist es das Werk von jemandem, der seinen Verstand nicht mehr beisammen hat.“ Die Ampel schaltet auf grün und das Licht fängt sich in meinem Collier, dessen Wert ich nicht zu schätzen wage. Meine liebe Mutter schenkte es mir zu meinem heutigen Geburtstag, stolz darauf, dass ich nun endlich Seite an Seite mit ihr über den einzigen Ort regieren werde, an dem sie und Vater sich zu Hause fühlen: die Börse. Sie sind König und Königin über die Kurse, scheinen sie im Voraus zu kennen, und wissen genau, in was es sich zu investieren lohnt. Selbst wenn das weißgoldene Collier mit den perfekt geschliffenen, strahlenden Diamanten ebenso unbezahlbar ist, wie ich es erwarte, wäre es dennoch nichts weiter als eine neue, nette Aufmerksamkeit. Was ist schon unbezahlbar, wenn man über nahezu jeden Cent auf diesem Planeten verfügt? Menschen, die meinen Eltern das erste Mal begegnen, sind davon überzeugt, dass sie die mächtigsten, reichsten und feinsten Persönlichkeiten sind, die existieren. Mir bleibt nichts anderes übrig, als das zu belächeln. Mächtig, durchaus, reich, ohne Frage. Aber wären sie fein, wären sie ebenso arm wie die Bettler, die des Nachts aus ihren Löchern hervorkriechen und versuchen, den tatkräftigen Menschen das letzte Geld aus den Taschen zu stehlen. Wären meine Eltern fein, würden sie sich in Bescheidenheit üben. Aber wer will schon bescheiden sein, wenn er mächtig sein kann? Sie lassen ihre ungeteilte Macht jeden einzelnen Investor spüren, jeden Handelspartner, der sie nicht gänzlich überzeugt. Letzten Endes speisen sie jedermann ab, der sich zu lange mit ihnen umgab, beuten aus, wer tatsächlich glaubte, er könnte sich mit ihnen messen. Das ist der Grundstein des ungeteilten Reichtums: Skrupellosigkeit. Ich beherrsche es ebenso, dieses Fundament zu legen wie meine geliebten Eltern. Sie haben mir früh beigebracht, wie man Geschäfte gewinnt. Wie man sie definiert und wie sie wachsen. Beherrschte ich diese Kunst nicht, wäre ich nicht die Tochter meiner Eltern und hätte nicht die Ehre, ein Collier zu tragen, von dem all die Mädchen, die geistlos in ihren Kinderzimmern sitzen und sich die Haare kämmen, nicht einmal träumen können. „Denkt Ihr, es handelt sich um einen Stalker?“ Die Angestellte klingt ernsthaft besorgt. Ich rolle die Augen und versuche durch die verschwommenen Lichter und den prasselnden Regen auszumachen, wo wir uns befinden. Das Wasser nimmt mir die Sicht. Es schwimmt die Scheiben hinab und vermischt sich in einem überdrehten Farbenregen mit den Werbetafeln und Ampeln. Das Mädchen wird mir einen Regenschirm halten müssen, sobald wir den Wagen verlassen. Ich möchte nicht aussehen wie eine nasse Katze, wenn ich meinen künftigen Geschäftspartnern gegenübertrete.

„Unwahrscheinlich.“ Um die nächste Biegung müsste der Wagen halten. „Bitte kümmere dich um meine Schleppe und die Frisur. Soweit ich informiert bin, dürfte ein Regenschirm im Kofferraum aufbewahrt sein.“ Sie nickt eifrig, sich sehr wohl bewusst, dass sie ebenso ersetzbar ist wie alle Mädchen vor ihr. „Darf ich Eure Schuhe tragen?“, fragt sie aufgeregt. Lächerlich. Wie ein kleines Kind, dem nie Respekt beigebracht wurde. „Wenn du dich um den verdreckten Saum meines Kleides sorgst, gerne. Und mir nach dem Marsch nach drinnen die Füße wieder säuberst.“ Sie verzieht leicht das Gesicht. „Ich kümmere mich um den Regenschirm.“ Der Chauffeur hält und öffnet die Tür. Auf ihrer Seite. Der Regen weht hinein und perlt von den hellen Lederpolstern ab. Vorwurfsvoll rutsche ich so weit wie möglich fort, raffe den Saum zusammen und verschränke die Arme schützend vor der Brust. Eine Ecke des Umschlages rutscht nach oben. Ich falte ihn noch einmal in der Mitte, ehe ich ihn etwas tiefer verstaue und meine Frisur und das Make-Up in der Scheibe ein letztes Mal überprüfe. Meine Lippen haben den weichen Roséton beibehalten, meine Augen funkeln strahlend grün unter dem dezent schimmernden Lidschatten. Wenige blonde Locken fallen in mein Dekolleté und lassen das zart roséfarbene Kleid weit weniger gewagt wirken, als es tatsächlich ist. Perfekt. Das Zimmermädchen verschwindet gemeinsam mit dem Chauffeur im strömenden Regen, die Tür bleibt sperrangelweit geöffnet. Resigniert beobachte ich, wie kleine Bäche in den Fußraum fließen. Meine Eltern werden außer sich sein.

Der Schirm wird gespannt, bevor sich die Tür auf meiner Seite öffnet. Das Mädchen greift sofort nach meiner Schleppe. Zu übereifrig. Ich spüre einen leichten Zug an der Schnürung. „Wehe du zerreißt es.“ Sie zuckt zusammen. „Entschuldigt meine Ungeschicklichkeit.“ Sollte ich im Gebäude so aussehen wie sie jetzt, wird das äußerst schwierig werden bis hin zu nicht möglich. Bitten schützt vor Strafen nicht. „Sorge dich um mein Äußeres, danach können wir dieses Gespräch fortsetzen.“ Das Mädchen nickt eifrig. Abschätzig verziehe ich den Mund. Ihr Enthusiasmus ist zu bewundern. Der Stoff des durchweichten Kleides klebt an der Angestellten wie eine zweite Haut, das aufwendig gemachte Haar tropft in Strömen. Dennoch strahlt sie, als wäre dies ihr Hochzeitstag. „Das wird so aufregend“, ruft sie, meine Schleppe lieblos über den Arm geworfen. Ich verbiete mir, das jämmerliche Bild, das meine Angestellte gibt, näher zu betrachten. Ihr Glück ist es, dass ich ein Gastzimmer in der obersten Etage besitze und dort einige ausgewählte Stücke meiner schon einmal benutzten Abendgarderoben aufbewahrt werden. Selbstverständlich, um die Brust herum wird ihr jedes meiner Kleider zu groß sein und um die Hüfte etwas zu schmal. Wenn ich mich recht entsinne, hängt in diesem Schrank ein Ballkleid, das man schnüren kann. Damit sollte es möglich sein, ihre mittelmäßigen Maße zu kaschieren. Die Schuhe meiner Angestellten scheinen mir hoch genug zu sein, um den Saum davon abzuhalten, auf dem Boden zu schleifen. „Werden auch Königsfamilien da sein?”, fragt sie aufgeregt. „Das wäre so romantisch!“ Scheiche werden mit Sicherheit auf sie warten. Aber die Monarchen aus Europa? Die haben lange nicht mehr die Bedeutung, um an einem derart fulminanten Fest teilnehmen zu dürfen.

Eine Veranstaltung, die dazu dienen wird, neue Geschäftsbeziehungen einzugehen. Mir zu Ehren. „Deinen Prinzen wirst du heute nicht finden.“ Ich werfe ihr nun doch einen abfälligen Blick zu. Monarchen haben selten Interesse an klitschnassen Zimmermädchen, die dem Star des Abends Schleppe und Schirm halten. Der rote Teppich quietscht leise unter meinen Absätzen, als das Wasser blubbernd hinaustritt. Ein Blitz zuckt über den Himmel und erhellt die ohnehin taghell beleuchtete Stadt. Endlich fängt das gläserne Vordach den Regen ab und der Chauffeur nimmt meiner Angestellten den Schirm aus der Hand, um ihn weit von mir entfernt zu schließen. Ein Tropfen berührt dennoch meinen Unterarm und perlt kitzelnd hinab. „Darf ich Eure Schleppe hinter Euch drapieren?“, fragt mich das Mädchen mit leuchtenden Augen. „Sollte es hier trocken sein”, erwidere ich, „gern.“ Sie zögert für einen kleinen Moment, dann hockt sie sich hin und berührt den Teppich. Zufrieden legt sie den Stoff darauf ab, breitet ihn aus. Das beinahe weiße Rosa meines Kleides schimmert wie ein Meer aus perfekten Perlen. Makellos. „Darf ich die Schleppe noch festhalten?“ Es ist höchstens ein Meter Stoff, den ich hinter mir herziehe. Diese Mühe könnte nicht nutzloser sein. Ich zucke die Achseln und gehe festen Schrittes voran.

Die junge Dame, vor der sich der Türsteher mit angemessenem Respekt verneigt, ist weit mehr als eine einfache Prinzessin. Sie ist eine strahlende Göttin, getaucht in das bunte Licht der größten und pompösesten Stadt der Welt, die Hände locker an den Seiten hängend, über und über geschmückt mit den wertvollsten Stoffen und Metallen, die diese Welt bereithält. Ich bin der Mittelpunkt einer jeden Welt, ihre Königin, ihr Ideal – und wer sollte es den Menschen verübeln? Schönheit fesselt mehr als das skurrilste Kunstwerk, bewegt bestimmter als jeder Befehl. Es wäre eine Beleidigung, würde nicht jedes noch so winzige Kind bewundernd zu mir aufsehen. Der Fahrstuhl ist geräumig genug, damit mein Zimmermädchen und ich gemeinsam hineinpassen, ohne dass sie meine Robe ruiniert. „Es steht dir frei, in das oberste Stockwerk zu fahren”, sage ich. Konzentriert beuge ich mich nah zu meinem Spiegelbild. Meine Haut? Feinster Alabaster. „Links gibt es ein Zimmer, in dem meine alten Kleider aufbewahrt werden. Du darfst einen der Angestellten darum bitten, dich in das Violette einzuschnüren. Die anderen werden dir vermutlich zu eng sein.“

Mein Kindermädchen öffnet leicht den Mund, völlig fassungslos. Zumindest ist sie sich der unendlichen Ehre bewusst, die ihr hier zu Teil wird. Ihre Lippen öffnen sich. „Ich darf eines Eurer Kleider tragen?“

Ich zupfe das Collier zurecht und stecke eine der Locken zurück in die aufwendige Frisur, für die ich stundenlang vor dem Spiegel saß, fremde Hände an meine Haare gelassen habe, und zusah wie aus einem bewundernswert schönen Mädchen ein atemberaubendes wurde. Eine schlanke, durchaus ansehnliche Lady hat sich um mein Gesicht gekümmert, die Lippen noch etwas voller gezaubert, meine Augen unglaublich groß und glänzend grün. Kein Detail dieser Mühe ist verschwunden. Wenn überhaupt haben die Stunden, die niemand mich angerührt hat, mich weiter erstrahlen lassen. Ich bin das Kunstwerk dieser Lady. Hätte sie mich auf eine Leinwand gebannt, wäre ich viele Hundertmillionen Dollar wert. Und genau so behandelt mich die wartende Gesellschaft. Meine Eltern stehen mit einem Glas voll Champagner in der Hand vor dem sich öffnenden Fahrstuhl und nehmen mich mit einem angemessenen Lächeln in Empfang. Es spricht weder Freude noch Stolz daraus. Keine der Empfindungen habe ich tatsächlich erwartet. Am heutigen Abend tat ich noch nichts, das Überschwang rechtfertigen würde. Ich bin lediglich erschienen.

Der Beginn eines erfolgreichen Festes. „Chrona.“ Das erste Mal in meinem Leben knickst meine Mutter leicht vor mir und bietet mir ihren Champagner an. Es ist ein unglaubliches Gefühl, ihr das Glas aus der Hand zu nehmen und leicht daran zu nippen, ehe ich der wartenden Gesellschaft zuproste. Als hätte sie das Zepter an mich übergeben. Diese winzige Geste hat mich von der Prinzessin der Börse zu ihrer neuen Königin erhoben. Die wenigsten Namen der Umstehenden sind mir geläufig. Mein Vater hat mir eine digitale Gästeliste zur Verfügung gestellt, ergänzt um Bilder der einzelnen Personen. Nach den ersten zwei Seiten habe ich sie fortgelegt. Meine Geburtstagsfeier. Es gibt nur einen einzigen Namen, der tatsächlich zählt, und das ist mein eigener. „Es ist mir eine Freude.“ Ich ahme Mutters feine Geste nach und stelle mich den versammelten Anwesenden. Ich muss nicht auf sie zugehen, sie umschmeicheln mich wie die Motten das Licht. Weil Schönheit gepaart mit Macht anziehender ist als alles andere auf dieser Welt.

Nach hundertfachem Händeschütteln, einigen Gläsern voll Champagner und Namen, die ich mir nur partiell merke, ist es ein durchaus attraktiver junger Mann offensichtlich mit italienischen Wurzeln, der mir ein Glas Wasser anbietet. „Alkohol bekommen Sie vermutlich von jedem.“ Sein Lächeln ist ebenso eingeübt wie mein Augenaufschlag. Mit einem verbindlichen Kopfnicken nehme ich es entgegen. Er ist mir nicht bekannt. Warum lässt er sich mir nicht vorstellen? Der Alkohol stimmt mich milde. „Darf ich erfahren, mit wem ich spreche?“ Eine pikierte Frage. Er zieht die Augenbrauen nach oben. „Sollten Sie das nicht wissen?“ Eine lächerliche Frage, die nur ein unerfahrener Tölpel stellen kann. Ich deute in den überfüllten Raum hinein. „Mir zu Ehren haben sich zweihundert Menschen versammelt. Sie sind nicht gekommen, damit ich ihren Namen ausspreche.“ „Vielleicht doch. Es gibt keine größere Ehre.” Befremdet beobachte ich, wie der junge Mann meine Hand ergreift und einen zarten Kuss darauf haucht. „Sollten Ihre letzten Wochen nicht dem Lernen von Gästelisten zum Opfer gefallen sein?“ Offensichtlich sind sie das nicht. „Es wirkt auf mich, als würden Sie lediglich versuchen, es zu vermeiden, mich bei meinem Namen zu nennen,” erwidere ich und suche nach einem bekannten Gesicht in der Menge. „Eine wahre Peinlichkeit, wenn man die Gastgeberin nicht begrüßen kann.“ Der junge Mann mit dem sonnengeküssten Hautton lacht leise auf, während ich einen Schluck aus meinem Glas nehme. Wasser tut gut. Nach dem Alkohol klärt es meinen Kopf und hilft mir, aufnahmefähiger zu werden. „Sie haben Recht.” Erneut küsst er meine Hand. „Es war schon eine Herausforderung. Chrona Elizabeth Josephine Hel Clark. Interessante Namen. Und viele. Ich hoffe inständig, dass ich sie in der richtigen Reihenfolge vorgetragen habe.“ Anerkennend lächle ich ihn an und proste ihm mit dem Wasser zu. „Darf ich erfahren, wie Sie heißen? Oder verschweigen Sie mir Ihren Namen, damit ich das nächste Mal meine wertvolle Zeit in Gästelisten investiere?“ Der junge Mann schüttelt leicht den Kopf. „Das wäre eine reizvolle Vorstellung.“ Grinsend schwenkt er den Champagner in seinem Glas herum. „Gioseppe Riva.“ Ich pfeife leise durch die Zähne. „Sie sind Italiener?“ „Assolutamente.“ Absolut. „Ihr Englisch ist erstaunlich gut. Nahezu akzentfrei gesprochen.“ Er zupft an seinen Anzugärmeln, sichtlich zufrieden mit sich selbst. Der Stoff scheint edel, aber seine Diamantohrringe? Es sind Splitter, eingelassen in Silber. Jedes Schulkind könnte sich ein Schmuckstück dieser Verarbeitung leisten. Abfall der Industrie. „Ihr Familienname”, sage ich glatt, „ist mir nie zuvor zu Ohren gekommen.“ Gioseppe fährt sich durch die akkurat geschnittenen, gut gegelten Haare. „Wir sind eher neu in diesen Geschäften. Mein Vater hat aber ein Händchen dafür.“ Eine selbstgefällige Behauptung. „Wirklich?” Lächelnd gebe ich vor, dass er mein Interesse geweckt hat. „Wohinein investiert er?“ „Gold“, antwortet Gioseppe wie aus der Pistole geschossen. Ich verziehe den Mund. Das tun sie alle. „Wie steht es mit Cannopy Growth C? Meine Eltern haben damit ein kleines Vermögen erringen können.“ Gioseppe schüttelt den Kopf und nippt an seinem Glas. Eine weißgoldene Krone am linken, vorderen Schneidezahn? Oder ist das eine einfache Füllung? Für Weißgold wirkt es zu blass und trist. „Silber, Holz, das Übliche halt.“ „Schon einmal etwas von Supra Pharmaceuticals gehört?“ Eine leichte Röte steigt ihm in die Wangen. Das ist Antwort genug. „Du weißt, wo es Geld gibt, oder?“ Ich präsentiere ihm meinen rechten Ringfinger. „Ebenso wie mein Verlobter.“ Gioseppes Augen werden kugelrund, als er den blauen Diamanten begutachtet. „Der ist ein Vermögen wert“, stellt Gioseppe fest. Ich beginne mich zu fragen, wie er und seine Familie auf diese Feier eingeladen werden konnten. Es muss ein Versehen gewesen sein. Ein Schmuckstück raubt ihm den Atem? Erbärmlich. „Wieviel verdienen deine Eltern monatlich?”, frage ich sacht. „Oder sollte ich lieber nach der Wochenentlohnung fragen? Dem Tageslohn? Stundenlohn?“ Gioseppe lacht zittrig. Seine Ohren glühen. „Im Monat um die 200.000 US-Dollar.“ Das ist erbärmlich. Abschätzig verziehe ich den Mund. „Manchmal auch 210.000“, ergänzt er hastig. „Es kommt immer darauf an.“ Peanuts. „Ich bin davon überzeugt, Sie finden noch viele interessante Gesprächspartner heute Abend. Womöglich ziehen einige von ihnen Sie als Geschäftspartner in Betracht.“ Ich reiche Gioseppe die Hand. Dieser Junge ist meine Zeit nicht wert. „Genießen Sie den Abend und das Essen. Es ist vorzüglich.“ Bei ihm gibt es nichts zu holen. „Chrona“, setzt Gioseppe an. „Ich bevorzuge es”, falle ich ihm lächelnd ins Wort, „wenn man mich mit meinem Nachnamen anspricht, es sei denn ich habe das Gegenteil angeboten.“ Gioseppe reckt das Kinn in die Höhe und verschränkt die Arme mit steinerner Miene vor seiner Brust. Zumindest hat er diesen Wink verstanden. „Miss Clark, es war mir eine Ehre.“ Mein Kindermädchen verlässt den Fahrstuhl und sieht nahezu ansehnlich aus in meiner alten Ballrobe. Das Violett harmoniert hervorragend mit den mausbraunen Haaren. Man könnte sie fast für jemanden aus dem Mittelstand halten. Einsam wirkt sie zwischen all den Namen und Größen. „Gioseppe”, sage ich, „wenn Sie Interesse haben, mit diesem Mädchen kann man sich sehr gut unterhalten.“ Sie ist wohl eher seine Kragenweite. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass ich Gioseppe gedemütigt habe, als er wortlos und mit hoch erhobenem Haupt in der Menge verschwindet. Ich schüttle kaum merklich den Kopf. Glaubte er für nur eine Sekunde, ich sei an der Gesellschaft eines Dilettanten interessiert? Er muss zu viel getrunken haben. Festen Schrittes bahne ich mir meinen Weg durch diskutierende und händeschüttelnde Menschen, von denen sich nicht wenige vor mir verneigen.

Meine Eltern warten vor dem Buffet auf mich, ebenso strahlend wie ich selbst. Vater hat einen Arm um Mutters Taille gelegt. Sie hat ihre Absatzhöhe perfekt auf Vaters Körpergröße abgestimmt. Wäre Mutter nur einen Zentimeter größer als Vater an dem heutigen Abend, wären die Spekulationen der Presse unerträglich gewesen. Der Anblick des gepflegten Mannes neben ihnen lässt mein Herz höherschlagen. Meine Mundwinkel kräuseln sich von allein. Das I-Tüpfelchen meines perfekten Lebens. Der Verlobte, der nicht nur reich und gutaussehend ist, sondern mindestens genauso treu. Mit einem anerkennenden Lächeln entdeckt er mich, streckt mir die Hand entgegen und in diesem Moment bin ich weniger die erhabene Göttin als die verliebte Prinzessin, die auf ihren Prinzen zueilt, der es kaum erwarten kann, sie endlich in die Arme zu schließen.

2

„Achim.“ Ich schlinge ihm eine Nuance zu überschwänglich die Arme um den Hals. Seine Wärme, seine Nähe. Beides habe ich bis zur Besinnungslosigkeit vermisst. Achim schüttelt kaum merklich und mahnend den Kopf. „Nicht so stürmisch, Liebste.“ Sanft drückt er mir einen Kuss auf die Lippen. Diese sanfte Berührung ist ebenso beherrscht, elegant und schön wie alles an ihm. „Hat sich dein Fest bereits für dich gelohnt?“ Für einen flüchtigen Moment berührt Achims Hand meine Hüfte und gibt mir Halt. Ich strahle ihn an, verliere mich in diesen endlos blauen Augen.

Wimpernschläge lang fühlt sich alles perfekt an. Ich stehe genau dort, wo ich hingehöre, werde von dem Mann berührt, der meiner würdig ist. Spüre die Blicke aller Anwesenden auf mir wie anerkennende Handschläge. Viel zu schnell macht Achim einen Schritt zurück und lässt mich los. Ich schenke ihm ein glattes Lächeln. In der Öffentlichkeit ist es immer so. Körperkontakt wird vermieden, jeder steht seine Autorität für sich allein. Eine Frau an seiner Seite benötigt ein Mann erst, wenn sie seinen Namen trägt und die Feste gemeinsam mit den preisgekrönten Managern plant und ausrichtet.

Das ist die Welt, in der ich aufgewachsen bin. Der Mangel an Nähe ist mir bekannter als mein Name oder mein atemberaubendes Spiegelbild. Nachdem wir uns allerdings beinahe zwei Monate lang kaum gesehen und nicht berührt haben – exakt der Zeitraum, in dem die ominösen Briefe erstmals auftauchten – habe ich auf wenige Sekunden mehr mit ihm gehofft. Auf einen aufrichtigeren Kuss oder eine schmetterlingszarte Berührung mehr.

Hin und wieder malte ich mir vor dem Zubettgehen aus, wie er meine Hand für einige Sekunden hält und die Fotografen diesen kostbaren Augenblick für die Ewigkeit festhalten. Kühne Träume. Sobald er meinen Nachnamen trägt, werden sie endlich wahr werden.

Achim spiegelt mein Lächeln exakt: professionell, glatt, ausschließlich für den unbeteiligten Beobachter charmant. Selbst mit dem Wissen, dass wir nach dieser Feierlichkeit, voraussichtlich gegen drei, vier Uhr morgens, in mein Zimmer verschwinden werden und dann endlich Zeit für uns allein haben, bessert sich meine Laune kaum. Soweit ich informiert bin, geht morgen um drei Uhr nachmittags sein Flieger zurück nach London. Wenn das Fest endet, wie Mutter es geplant hat, und die Müdigkeit uns nicht einholt, haben wir erbärmliche zwölf gemeinsame Stunden. Zwölf Stunden, in denen ich ihn berühren darf, wie ich es möchte. Höchstens zwölf Stunden in denen wir all das sagen dürfen, was nur für unsere Ohren bestimmt ist. Eine winzige Zeitspanne, um sich geliebt zu fühlen. Danach wird er seinen Geschäften erneut nachgehen und ich mein perfektes Image pflegen.

„Bisher war der Abend mäßig erfolgreich“, antworte ich. Es ist mir gleichgültig, dass mein Verhalten gegen die Etikette verstößt. Ich drücke Achim einen weiteren winzigen Kuss auf die Lippen. Achim lässt es zu. Ich konzentriere mich auf seinen warmen Atem, den bekannten Duft, seine heiße Haut. Hinter geschlossenen Lidern sehe ich das Blitzlicht flackern. Wenige Atemzüge stehle ich uns noch, dann beende ich den Kuss. Achims Augen funkeln. Die Wangen schimmern unter dem sorgfältig aufgetragenen Puder rot. Mein Herz schlägt höher und ich lasse mich in eine kurze Umarmung sinken. Sie geht von ihm aus. Achims Geburtstagsgeschenk an mich? „Ich habe heute erst mit einer Person gesprochen. Dieser jemand hatte kein Interesse daran, mir zu gratulieren”, fahre ich fort. Achim hebt eine Augenbraue und legt locker einen Arm um meine Hüfte. Ich verbiete mir, zu meinen Eltern zu sehen. Ich kann ihre tadelnden Blicke spüren, ohne mich rück zu versichern. „Gioseppe Riva. Hast du von ihm gehört?“ Achim verzieht leicht den Mund, das Gesicht sonst starr gehalten, während er über die Menge blickt. Wir werden in weißes Licht getaucht, das wie Blitze über uns hinwegrast. Jedes Zucken bedeutet ein Bild. Ein Bild, das nie wieder aus dem unendlichen Gedächtnis des Internets verschwinden wird. „Nein“, sagt Achim. „Er ist niemand, mit dem man sich befassen muss.“ Zu dem gleichen Schluss bin auch ich gekommen. Je länger ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich davon, dass es eine wertlose Füllung war, die Gioseppes Schneidezahn versiegelte. Das Material war zu glanzlos. Für Platin hat es nicht ausreichend geschimmert. Eine bodenlose Peinlichkeit. Damit hätte Gioseppe exakt die gleiche, wenn nicht sogar noch eine schlechtere, Behandlung erhalten wie jeder gewöhnliche Bürger mit seinem Monatseinkommen von rund 3.000 Dollar. Solche Menschen sollten sich nicht in meiner Gesellschaft befinden. Erfahrungsgemäß wissen sie sich nicht angemessen zu verhalten. Geschweige denn, dass sie sich der Ehre bewusst werden, die es bedeutet, hier anwesend sein zu dürfen.

Allein die möglichen reißerischen Überschriften der Presse halten mich davon ab, Gioseppe persönlich der Feier, meiner Feier, zu verweisen. Ich versuche, zu beurteilen, ob es sich bei dem Schemen mit der schlechten Haltung links vom Eingang um Gioseppe handelt. Sicher ist, dass mein Zimmermädchen sich angeregt mit diesem jungen Mann unterhält. Sollte er es sein, kann sie vielleicht einen Teil ihres Monatsgehalts in seine jämmerlichen Goldaktien investieren. „Beruhigend“, nehme ich den Faden wieder auf und neige den Kopf leicht in Achims Richtung. Achims Atem streicht über meine Wange wie eine warme Sommerbrise. Ich kämpfe gegen den Impuls an, genüsslich die Augen zu schließen. „Gioseppe Riva wirkte auf mich wenig vielversprechend.“ Achim lächelt mich an. Wieder strahlen seine Augen. Er legt zu viele Emotionen in seine Gesten. Bemerkt er das blitzende Gewitter vor uns nicht? „Warum? Investiert Mister Riva in fallende Aktien?“ Ich schnaube abfällig. Wenn es das nur wäre. „Nein. Gold, Silber, Holz. Er kannte nicht ein Unternehmen, das ich ihm auflistete. Vielversprechende Investitionen besitzen weder er noch seine Eltern.“ Achims Brust bebt leicht, als er lacht, ohne eine Miene zu verziehen. „Ich wüsste zu gern, wer ihn hierher eingeladen hat.“ Ich nicke leicht in Richtung meiner Eltern. Vater hat schützend einen Arm um Mutters Hüfte gelegt, während sie leichte Konversation mit einem Aktionär aus Saudi-Arabien führen, einander hin und wieder ansehend, an den gefüllten Gläsern nippend. Gemurmelte Zahlen werden zu uns hinübergetragen, die einen beachtlichen Deal versprechen. „Ein kleiner Italiener in den großen Weiten Amerikas“, seufzt Achim und drückt mir einen sanften Kuss in den Nacken, als niemand hinzusehen scheint. Das Klicken vor uns verspricht eine obszöne Schlagzeile am morgigen Tag. „Deine Eltern sollten nicht jedes Kleinkind überfordern, das einen Fuß an die Börse gesetzt hat.“ Ich kichere leise und sehe Achim mit nach oben gezogenen Augenbrauen an. „Wenn ich ihn nicht missverstanden habe, sind es seine Eltern, die investieren, nicht er. Bestenfalls profitiert er davon.“ Ich verkneife mir ein weiteres Lachen. „Sie verdienen 200.000 Dollar. Im Monat! Ich kann beim besten Willen nicht begreifen, was sie hier suchen. Es muss für die Frau Mama bereits eine kaum zu stemmende Ausgabe gewesen sein, sich ein Abendkleid zu leisten, das Rang und Namen hat.“ Achim hält mich etwas fester. Jeder kann erkennen, dass wir zueinander gehören. Achim und ich geben das gleiche, perfekte Bild ab wie meine Eltern. Wunderschön, professionell, elegant. Mächtig.

Wir sind nicht verheiratet, diese Nähe ist unangemessen. Wir verstoßen gegen jeden Anstand. Vermutlich wird Achim die Geste mit meinem Verlobungsring entschuldigen, der mit seinen blauen Augen um die Wette funkelt, sollte die Presse ihn auf unseren Körperkontakt ansprechen. „Nach dem, was du erzählt hast, war sie vermutlich die Frau in dem Kleid von Chanel. Ich hielt sie anfänglich für eine Angestellte und bat sie um einen starken Espresso.“ Achim gluckst gedämpft und lässt den Blick desinteressiert über die Reihen von Fotografen wandern. „Sie verfluchte mich auf Italienisch als respektlosen Amerikaner. “Ich presse meine Lippen fest aufeinander, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.

Ein Kellner bietet uns Champagner an. Das neue Glas fühlt sich willkommen kühl unter meinen Fingern an. Einzelne Tropfen perlen das edle Kristallglas hinab und küssen zart meine Haut. Der Champagner schmeckt noch etwas prickelnder als der letzte. Blumig. Zart und intensiv zugleich. „Woher die Rivas nur wussten, dass du nicht einer ihrer Landsmänner bist“, necke ich Achim. Er hat für diesen Scherz lediglich ein müdes Lächeln übrig. Mein Verlobter ist die letzte Person, die man als ungehobelten Italiener bezeichnen könnte. Anstatt von glühendem Temperament trägt er aalglatte Entscheidungsgewalt und Konsequenz zur Schau. Er verliert sich nicht in Diskussionen, sondern überzeugt binnen weniger Sätze. Vater und Mutter hätten mich nicht mit Achim verlobt, wäre sein Werdegang nicht derart vielversprechend, wie er ist. Ein junger Mann der sein Jurastudium in Harvard binnen von vier Semestern absolvierte, ist mehr als nur reich und engagiert. Achim ist vermutlich die intelligenteste Person im gesamten Raum. Ich selbst fühle mich oft belanglos und dümmlich neben ihm, selten sogar ein wenig tollpatschig. Müsste man männliche Tadellosigkeit in einem Bild beschreiben, würde man Achim malen, genauso wie er hiersteht, eine Hand locker auf meinem Hüftknochen, den Kopf kaum merklich geneigt, um die perfekte Fotografie zu garantieren. Allein mit seiner Liebe mir gegenüber nimmt Achim mir jede Sorge mit der gleichen Leichtigkeit, wie er inkompetente Handelspartner über den Tisch zieht. Vater nannte ihn einmal den Napoleon unter den Brokern. Er hat Recht behalten.

„Monsieur Depót beobachtet dich seit geraumer Zeit“, murmelt Achim in mein Ohr und lässt den Arm von meiner Hüfte gleiten. Kurz stolpert mein Herz. Ich folge seinem Blick zu einem gepflegten Mann mittleren Alters. Monsieur Depót saß bereits einige Male mit meiner Familie am Tisch, um Verträge zu schließen. Ein durchaus kluger Mann, der es versteht, die Karten verdeckt zu halten und die Unterschrift unter einen Vertrag zu zwingen, der einem die Schlinge um den Hals legt. Wenn meine Mutter vor einem Menschen Respekt besitzt, dann ist er es mit seiner undurchsichtigen Art, die man nur zu schnell als freundlich und zuvorkommend auslegen kann. Das ist nicht zuletzt seinem charmanten, französischen Akzent geschuldet. Sobald man aber zu diesem Trugschluss gekommen ist, wäre es Wahnsinn, sich auf einen Vertragsabschluss einzulassen. Mit Sicherheit ruiniert er einen.

„Denkst du, ich kann das?“, flüstere ich Achim zu, während ich Monsieur Depót über meinen Champagner hinweg zunicke. Achims Lippen streifen meine Ohrmuschel. „Halte dich von bindenden Abmachungen fern und achte darauf, dass die Konversation flach bleibt. Das sollte kein großes Problem für dich darstellen.“

Ich sauge sein unerschütterliches Vertrauen in mich auf. Achim setzt seine Hoffnungen niemals in die falsche Person. Wenn er an mich glaubt, werden die kommenden Minuten ein Kinderspiel. Ohne einen Blick zurück, entferne ich mich von meiner Familie. Die Schleppe schleift leise hinter mir über das gebohnerte Parkett. Ich nehme jeden Zentimeter, den ich mich auf Monsieur Depót zubewege, übermäßig genau wahr. Er nähert sich mir ebenfalls, die Schritte gemessen, seine Hände locker an den Seiten hinabhängend. Mein Lächeln sitzt perfekt.

Heute ist es erstmals an mir, ihm die Hand zu reichen. Bei meinem Fest bin ich es, die in der Rangordnung höher steht. Es gleicht einem kleinen Triumph, ihm den Handschlag anzubieten, und einem noch größeren, als er seine Manieren nicht vergisst, seine Finger unter meine schiebt, und mir einen winzigen Kuss auf den Handrücken haucht. „Miss Clark”, seufzt er, den französischen Akzent schwer in der weichen Stimme. „Es ist mir eine Freude.“ Mein Herz beginnt aufgeregt zu rasen. Das hier fühlt sich an wie der perfekte Augenblick. Endlich bin ich genau dort angekommen, wo ich hingehöre: an der Spitze. Ich nicke Monsieur Depót zu. „Sie ist ganz meinerseits.“ Kurz schweigen wir. Ich weiß, dass es meine Aufgabe ist, unter diesen Umständen das Gespräch zu führen. Halt die Konversation flach. Dieser Ratschlag hallt wider, als ich Monsieur Depót einen Augenaufschlag schenke und den Kopf leicht schief lege. Wenn man mich in diesen Sekunden ablichtet, wird das Ergebnis makellos sein. „Genossen Sie eine angenehme Anreise?“

Monsieur Depót nickt und verzieht dabei leicht die Lippen, wodurch das Ziegenbärtchen an seinem Kinn kaum merklich hin und her schwingt. „Ihre Butler sind äußerst zuvorkommend. Es ist mir jedes Mal aufs Neue eine Freude, mich von ihnen einkleiden und chauffieren zu lassen. Nicht zu vergessen, der feine Wein, den Ihre Eltern mir bereitstellten. Richten Sie ihnen meinen aufrichtigen Dank aus.“ Ich lache kokett auf. „Für die Weinauswahl war ich zuständig. Es erfreut mich, dass er Ihnen geschmeckt hat.“ Monsieur Depót lässt locker die Hände in den Hosentaschen verschwinden. Er ist neben Achim die einzige Person, bei der diese Geste nicht unangebracht wirkt. Lediglich elegant und gelassen. Lächelnd verlagert er das Gewicht. „Beeindruckend, dass eine junge Dame wie Sie die Vorlieben der Gäste derart tadellos einschätzen kann.“ Ich lache leise auf und sehe durch meine Wimpern hindurch zu ihm auf. Eigentlich glich die Weinauswahl einem gezielten Raten, gepaart mit aufwendigen Recherchen und Überlegungen, welche Weinsorten die jeweiligen Gäste bei den zahlreichen Abendessen zu bestellen pflegten.

„Ich frage mich vermutlich zurecht, ob Ihre Fähigkeiten bezüglich der Aktienauswahl ebenso brillant einzuschätzen sind”, fährt Monsieur Depót fort. „Bereits bei unserem letzten Aufeinandertreffen prahlten Ihre Eltern mit ihrer Entscheidung, in Cannabis zu investieren.“

Tatsächlich war es Achims Vorschlag, den ich nur zu gern beherzigt habe. So wird es zukünftig immer sein. Er unterbreitet die Möglichkeiten, lässt sie von Beratern aufs Genaueste durchleuchten und den Großteil der endgültigen Entscheidungen werde ich treffen. Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine hübsche Frau, deren Lächeln allen den Kopf verdreht und deren Entschluss niemand anzuzweifeln wagt außer dem eigenen Ehemann. „Über mein Verhandlungsgeschick wird diskutiert“, antworte ich und schenke Monsieur Depót ein makelloses Lächeln. „Ihre atemberaubende Fähigkeit des Kalkulierens ist indiskutabel.“ Monsieur Depóts Mundwinkel heben sich leicht. Er lässt sich von meinen Schmeicheleien ebenso wenig beeindrucken wie ich mich von seinen. Diese Taktik – loben und dadurch siegen – habe ich von ihm übernommen. Es ist nichts, was ich gegen einen der gerissensten Manipulatoren meiner Zeit verwenden kann. „Sie sind erwachsen geworden, Miss Clark. Und wunderschön. Unmöglich es zu leugnen.“ Das ist eine Tatsache, keine Schmeichelei. Ich gehe trotzdem nicht darauf ein. „Nennen Sie mich doch Chrona, Monsieur Depót. Wir kennen uns so lange, Sie scheinen mir nahezu wie ein zweiter Vater zu sein.“ Einer, der keine Scheu davor hätte, all meine Mühen mit einem einzigen Vertrag in den Staub zu treten. So ist es an der Spitze der Macht. Die Reichsten sind die engsten Freunde und mindestens genauso arge Feinde. Jeder weiß es. Ein offenes, gepflegtes Geheimnis, das dafür sorgt, dass es Neulingen schwerfällt, in den hohen Kreisen Fuß zu fassen. Sie müssen von vorneherein ebenso abgebrüht und kaltblütig sein, wie es ein jeder von uns ist. Wozu das Können und die Diamanten uns geformt haben. Unter anderen Umständen gehört ihr Geld uns und ihr weiteres Schicksal ist gänzlich irrelevant für einen jeden Aktionär.

„Chrona, es ist mir eine Ehre.“ Monsieur Depóts kleine Verbeugung wirkt nahezu lächerlich. Gegenüber jeder anderen Person würde ich abfällig lächeln und gehen. Bei ihm ist es anders. Mir fällt es schwer, die Fassung zu bewahren. Es gibt keine größere Ehre. Ich bete dafür, dass einer der Fotografen diese kleine Geste mit einem kleinen Klicken für die Ewigkeit festhält. Frankreichs erfolgreichster Aktionär verneigt sich vor der Königin des Abends. Das wäre genau die Schlagzeile, die mich in meine Volljährigkeit begleiten sollte. „Ich hörte von Ihrer Verlobung.“ Monsieur Depót sieht an mir vorbei. „Der junge Mann, der die Augen nicht von Ihnen lassen kann, ist er der Glückliche?“ Ich drehe mich kurz um. Achim ist seinerseits in ein Gespräch verwickelt worden, die junge Dame scheint die Cousine des russischen Oligarchen Koroljow zu sein. Sie ist eine durchaus vielversprechende Partie für jeden Mann im Raum, der noch keine Fiancé vorzuweisen hat. Hübsch, intelligent, reich. Kurz hebt Achim den Blick und lächelt mir zu, dann konzentriert er sich erneut auf die Russin vor sich. „Ja, Achim Jameson“, antworte ich. Monsieur Depót nickt nachdenklich. „Der Wunderknabe, der binnen von zwei Jahren sein Jurastudium absolviert hat, wenn ich mich recht entsinne.“ „Das tun Sie.“ Ich entspanne mich nach und nach. Dieses Gespräch läuft gut. Bis jetzt habe ich nichts gesagt, das unpässlich wäre oder Monsieur Depót vor den Kopf stoßen könnte. Tatsächlich scheine ich auf dem besten Weg zu sein, die geschäftlichen Beziehungen meiner Eltern auf mich zu übertragen. „Ein äußerst intelligenter, junger Mann. Es ist beinahe eine Peinlichkeit zu gestehen, dass er mir im Alter von gerade einmal zwanzig Jahren eine halbe Milliarde Dollar abluchste.” Glucksend hebt Monsieur Depót sein Glas und nippt daran. „Ich bemerkte es erst, als die Unterschrift gesetzt und der Vertrag verstaut war.“ Ich widerstehe dem Impuls, überrascht zu blinzeln. Das hat Achim nie erwähnt. Monsieur Depót schenkt mir ein aufrichtiges, kleines Lächeln. „Ich nehme es ihm nicht übel. Tatsächlich bewundere ich diese Fähigkeit an jungen Menschen. Durch Sie mit ihm bekannt gemacht zu werden, Chrona, wäre mir eine Ehre.“ Ist das ein Angebot? Ich nehme es als solches und spiele den Ball zu ihm zurück. „In unserem Haus sind Sie stets herzlich willkommen, Monsieur Depót. Achim wird es mit Sicherheit gutheißen, wenn wir uns zu Verhandlungen niederließen. Soweit ich hörte, haben Sie vielversprechende Einsätze in der Robotik vorzuweisen. Ich habe vor kurzem in Sensomotorik investiert und Achim konzentriert sich auf das Unternehmen Tesla. Sie scheinen einen vielversprechenden Kurs zu fahren, Sir.“ Monsieur Depót lacht leise und zieht die Hände aus seinen Taschen. „Das hört sich nach einem erfüllten und interessanten Abend an. Wenn Sie sich wieder um die Weinauswahl bemühen, werde ich erscheinen, sobald es mein Terminkalender zulässt.“ Eine zufriedene Wärme steigt mir in die Wangen. Innerlich jubelnd, schenke ich ihm ein schwaches Lächeln. „Selbstverständlich. Ich hoffe, Sie verübeln es mir nicht, wenn ich Sie nun der Gesellschaft überlasse.“ Monsieur Depót schüttelt den Kopf und macht einen Schritt rückwärts. „Durchaus nicht. Chrona, meine Schöne.“ Ich biete ihm meine Hand an und er nimmt sie entgegen, verabschiedet sich mit dem gleichen, anständigen Kuss mit dem er mich begrüßte, ehe Monsieur Depót in der Menge untertaucht. Augenblicklich drehe ich mich zu meinem Mittelpunkt der Feier um. Die Cousine des Oligarchen nimmt soeben ein neues champagnergefülltes Glas von einem der dargebotenen Tabletts, ehe sie vor Achim knickst und sich neuen Partnern zuwendet.

Nie erschien es mir anstrengender, langsam und mit Stolz erhobenem Kinn die Menge zu durchqueren. Am liebsten würde ich rennen und ihm überschwänglich um den Hals fallen. Wir haben eine Verabredung mit Monsieur Depót. Wir beide! Niemand sonst. Er ist bereit, mit uns über Geld zu reden. Das ist ein größerer Erfolg, als ich mir von diesem Abend erhofft habe.

Letzten Endes hindert mich die Schleppe daran, schneller zu laufen, als es angemessen wäre, und jede Sekunde, die vergeht, kommt einer zähen Ewigkeit gleich. Meine Mutter tritt gerade zu Achim, als ich die Empore erklimme. Ich knickse leicht vor ihr, sie quittiert das mit ihrem professionellsten Lächeln. „Die Zeit des Verneigens ist für dich vorüber, Chrona.“ Sie streicht sich energisch eine helle Strähne aus dem Gesicht. „Wie ist dein Gespräch mit Monsieur Depót verlaufen?“ Ich halte meine Mundwinkel nur durch jahrelang geübte Kontrolle davon ab, unaufhaltsam zu zucken. „Er möchte so bald wie möglich mit Achim und mir am runden Tisch sitzen.“ Mein Verlobter legt einen Arm um meine Hüfte und drückt mir einen verdienten Kuss auf die Wange. Ich seufze leise auf. Für diesen Moment, dieses kribbelnde, übersprudelnde Glücksgefühl in meiner Brust, würde ich tausende Monate der Trennung hinnehmen. Das ist mein Lohn für die Geduld der letzten Zeit. Er fühlt sich bedeutsamer an, als ich zu hoffen wagte.

„Ich bin stolz auf dich“, flüstert Achim mir ins Ohr. Meine Brust schwillt an und ich will ihm um den Hals fallen, ihn vor versammelter Gesellschaft küssen und mich mit ihm freuen, mein Glück in die Welt hinausschreien. Stattdessen drücke ich einmal kurz Achims Finger und lehne mich gegen seine Schulter. Heute habe ich mir diese Nähe, diese Zuneigung verdient. Ganz egal was die Presse schreibt. Achim runzelt die Stirn. „Was hast du da?“ Er nickt in Richtung meines Dekolletés. Mir schießt die Hitze in die Wangen, als ich die winzige, weiße Ecke des Umschlages zwischen meinen Brüsten entdecke. Ein anständiger Gentleman hätte sie nicht entdeckt. Ich unterdrücke den Impuls mir in den Ausschnitt zu fassen und den Umschlag wieder zu verstecken. Meine Finger zucken. Ich atme tief durch und schmiege mich tiefer in seine Umarmung. Griffe ich in mein Dekolleté, würde das Bild mit Sicherheit in jedem Klatschmagazin auftauchen. Das sind nicht die Schlagzeilen, auf die ich es anlege. Neckisch tippe ich Achim gegen die Wange. „Warum hast du das überhaupt entdeckt“, hauche ich ihm ins Ohr. Sein kurzes, unangebrachtes Grinsen ist Antwort genug.

Tadelnd ziehe ich eine Augenbraue nach oben und wende mich wieder meiner Mutter zu. „Was sagst du zu Monsieur Depóts Willen, mit uns zusammenzuarbeiten?“, knüpfe ich an dem alten Faden an. Kleine Fältchen werden um Mutters Mund herum erkennbar. „Das Angebot ist ein voller Erfolg. Sollten die Verhandlungen mit Monsieur Depót gutlaufen, werden mit Sicherheit weitere folgen. Ich bin beeindruckt, wie gewissenhaft du den Abend bis hierhin genutzt hast.“ Ich auch. Und überglücklich. Über dieses Erfolgserlebnis hinweg spüre ich kaum meine schmerzenden Füße oder den Anflug von Müdigkeit. Auch nicht mehr den sanften Nebel des Alkohols in meinem Kopf. „Ich danke dir, Mama“, flüstere ich, seltsam gerührt, und kann beim besten Willen nicht sagen, ob das an dem Alkohol oder der Tatsache liegt, dass Achim mich noch immer in der Öffentlichkeit berührt entgegen allen Anstandes. Es fühlt sich fast wie ein kleiner, rebellischer Akt an, vor aller Augen zu demonstrieren, dass wir zusammengehören. Ich entschuldige unsere Nähe nicht nur mit meinem Verlobungsring, sondern auch mit den gegebenen Umständen. Wir sehen uns viel zu selten für ein junges Paar. Wenn wir Glück haben, lassen Zeitverschiebung und Meetings eine Stunde wöchentlich zu, in der wir skypen können. Ich wünsche mir nichts mehr, als eine Woche allein mit Achim, in der wir Zeit miteinander verbringen und uns vor keiner reichen Gesellschaft der Welt verstecken müssen, obwohl alles an unserer Haltung, jede Nachricht der Presse, beweist, dass wir zusammengehören. Mutter betont, dass es am gesündesten ist, wenn man sich nur sieht, sobald es dringend notwendig wird. Dadurch entwickeln sich die notwendigen Freiheiten in einer Beziehung. Das mag wahr sein. Momentan würde ich es vorziehen, mit Achim in meinem Zimmer zu verschwinden, anstatt zu spüren, wie er den Arm von meinem Körper löst. Die Blicke liegen wieder auf mir allein.

„Die skandinavische Milliardärstochter möchte mit mir sprechen“, sagt Achim und entfernt sich, ehe ich protestieren oder nur ein Wort sagen kann. Wie hat er sie überhaupt bemerkt? Ich hatte nur Augen für ihn. Ein Verhalten, das meine Eltern nur zu gerne tadeln. Und wenn nicht sie, dann die Öffentlichkeit. Ich wünschte, ein Mal, nur ein einziges Mal würde nicht nur ich mich alleinig in diesen kostbaren Momenten verlieren.

Der Schluck, den ich aus meinem Champagnerglas nehme, ist etwas größer, als es der Anstand gebietet. Verstimmt beobachte ich Achim. Die Dame, auf die er zueilt, ist ein Beispiel dafür, dass reiche Menschen nicht gezwungenermaßen schön sind. Sie ist zu dick, trägt mit Sicherheit die französische Konfektionsgröße achtunddreißig, und hat eine Hakennase im Gesicht, die man in früheren Zeiten vielleicht als edel bezeichnete, die heutzutage jedoch durch eine Operation begradigt werden sollte. Ihre Oberweite ist zu klein und die Finger zu kurz, die Lippen von Hyaluron gedehnt und die Wangen rot geschminkt.

Achim tritt ihr destotrotz mit Respekt und Höflichkeit gegenüber, reicht ihr die Hand und lässt sie vor sich knicksen. Ganz der wohlerzogene junge Mann, bietet er ihr ein Glas Champagner an. Sie hat bereits zu viel getrunken, lacht zu laut, und nimmt es trotzdem in die Hand, um viel zu viel auf einmal hinunterzukippen. Sie wirkt ordinär. Es ist ihr Geld, das es ihr ermöglicht, solchen Festen beizuwohnen, nicht ihr Verhalten. Nicht ihr Äußeres. Trotzdem durchfährt mich ein eifersüchtiger Stich. Weil Achims Aufmerksamkeit auf ihr ruht. Nicht auf mir.

Meine Mutter berührt mich sanft an der Schulter. „Dürfte ich meine Tochter kurz entführen?“, bittet sie mich leise. Ich nicke, spüre die Anwesenheit eines Fotographen und lächle ihm strahlend in die Kamera, ehe ich mein beinahe unberührtes Glas an ihn abtrete und Mutter folge. Immer neue Menschen gratulieren mir zur Volljährigkeit, zu meiner Schönheit, zu meinem Auftreten, während wir uns den Weg in Richtung des Aufzugs bahnen. Manchmal glaube ich fast, Mutter verloren zu haben, aber ihren streng begradigten Rücken in dem smaragdgrünen Kleid erkennt man überall in dieser Gesellschaft wieder. Ihre Haltung gleicht einem Leuchtfeuer der Perfektion. Trotz ihrer schmalen, etwas kleineren Gestalt machen die Menschen ihr Platz, zollen ihr so ihren Respekt, und tun es mir gegenüber gleich. Musste Gioseppe sich mühsam durch die Menge kämpfen, ist es für meine Mutter und mich eine ehrenhafte, gerühmte Aufgabe, unseren Weg zu gehen und die anderen bei Seite treten zu lassen. Der Fahrstuhl wartet geöffnet auf Gäste, die die Festtage verlassen wollen, um zurück in ihre Hotels zu fahren oder sich in einem der oberen Zimmer unseres Towers einzumieten.

Mutters Absätze klacken laut auf dem Marmorboden des Aufzugs, als sie ihn betritt. Die Türen gleiten flüsternd zu und lassen uns in angemessener Stille zurück.

3

Mutter sagt kein Wort, bis wir in ihrem und Vaters Apartment angekommen sind. Die Angestellten grüßt sie nicht, die leise Geigenmusik kommentiert sie nicht, die aus den unsichtbaren Lautsprechern strömt. Kaum schließt sich die Tür klickend hinter uns, zieht sie sich die Schuhe von den Füßen. Ich tue es ihr gleich. Blut schießt stechend zurück in meine Zehen und betäubt sie. Ich wanke. Für einen flüchtigen Augenblick gleichen die kühlen Marmorplatten der hohen See und mein Körper ist dem Toben grausamer Naturgewalten unterworfen. Nur für einen flüchtigen Augenblick. Dann stabilisiert sich meine Wahrnehmung und ich folge Mutter still in den schwach beleuchteten Wohnraum.

Das Licht strömt weißschimmernd aus den schmalen Streifen, die symmetrisch an den Wänden angebracht wurden. Die Sitzgarnitur wurde locker im Zimmer verteilt, die gläsernen Tische strahlen wie eigene Sterne. Wir werfen matte Schatten, vergänglich, kaum greifbar, während das leise Tapsen unserer Füße das einzige Geräusch auf der weiten Welt zu sein scheint. Die Räumlichkeiten meiner Eltern schließen jedes Wispern des Towers aus. Ausschließlich auf diese Weise ist absolute Konzentration auf die Arbeit möglich – und somit das Minimieren von Fehlern. „Wie geht es dir?“, fragt Mutter mich ruhig, sobald wir Platz genommen haben. Die weichen Polster des cremefarbenen Sofas schmiegen sich an meinen Körper und heben mich in den Himmel. Ich spitze die Lippen. Ein ungewohnter Beginn für ein Gespräch mit ihr. Für gewöhnlich gibt es wenig, was irrelevanter ist als meine Gefühlslage. Ob ich glücklich bin oder nicht. Was zählt, sind die zufriedenstellenden Ergebnisse, ganz gleich welche Emotionen sie formten. Nahezu unsicher hebe ich die Schultern. Eine winzige, unangebrachte Bewegung. Am runden Tisch würden sich die Verhandlungspartner darauf stürzen wie Löwen sich auf ihre Beute. „Sehr gut”, antworte ich, die Stimme gelassen. „Das Fest ist berauschend und Monsieur Depóts Angebot mehr als ich mir erhofft habe.“ Mutter nickt und lässt sich gegen die verglaste Wand sinken. Mit einer knappen, präzisen Bewegung entfernt sie eine der goldenen Haarnadeln aus ihrer makellosen Frisur. Dicke Strähnen fallen ihr in das Dekolleté. Sie betonen auf beinahe ordinäre Weise, was Mutter zu bieten hat. „Der Champagner floss in Strömen”, merkt sie an. „Keine Schwindelgefühle? Blackouts?“ Pikiert spitze ich die Lippen. Eine Frage um mein Befinden bleibt eine Falle, in die ich willig tappe. „Mein Alkoholkonsum hielt sich in Grenzen. Danke der Nachfrage.“ Mutter klatscht zwei Mal in die Hände und der Kamin an der gegenüberliegenden Wand beginnt lichterloh zu brennen. Die knisternde, entspannende Wärme wallt uns entgegen und lässt mich erschaudern. Schon fast gegen meinen Willen schließe ich die Augen und genieße die Hitze auf meiner Haut. Hinter geschlossenen Lidern tanzen Gespenster atemberaubende Reigen, schmiegen sich aneinander. Wie viel würde ich dafür geben, Achim so innig in der Öffentlichkeit berühren zu dürfen wie Schatten und Licht es tun. Seine Nähe so intensiv spüren zu dürfen wie die warme Berührung des Feuers.

„Es ist schön zu beobachten, wie sehr es dich freut, wieder bei deinem Verlobten sein zu können“, sagt Mutter ruhig. Ich nicke matt und lehne mich tiefer in die weichen Polster. Sie scheinen mir ein Gutenachtlied zu singen, untermalt von dem sanften Knistern des Feuers. Nur noch wenige Stunden, dann befindet sich Achim auf der nächsten Reise, immer dem Geld hinterher. Wir sehen uns voraussichtlich wieder, sobald Monsieur Depót zu Verhandlungen einlädt. Wieder werden Berührungen untersagt sein. Ein herzliches Lächeln, ein gestohlener Kuss? Nichts weiter als kühne Träume in einer müden Nacht. Ich kann es kaum erwarten, Achim das Jawort zu geben. Von da an wird sich unser Leben ändern. Das kokette Versteckspiel findet ein Ende, die Presse zerreißt unsere Küsse nicht mehr in der Luft und die Gesellschaft erkennt eine Umarmung als Selbstverständlichkeit an. Ich zähle die Tage bis zu diesem magischen Moment. Diesen Moment, in dem ich zu jemandem gehöre, der mich abgöttisch liebt und meine Meinung achtet.

„Wie laufen die Hochzeitsvorbereitungen?“ Erwartungsvoll sehe ich Mutter an. Sie wollte dieses Projekt an eine Planerin übergeben, die Mutter in regelmäßigen Abständen über Fortschritte informiert. Erste Skizzen des Hochzeitskleides ruhen in der obersten Schublade meines Schreibtisches. Es wird mehr sein als nur ein Traum in Weiß. Ich sehe die Schlagzeilen und Artikel vor mir, ein großes Bild von mir an Achims Seite, wie er den Arm um meine Hüfte geschlungen hat und mich vor aller Augen küsst, ohne dass wir uns den Kopf über Klatsch und Tratsch zerbrechen müssen. Er wird mir einen neuen Ring anstecken, einen, der noch schöner und kostbarer ist als dieser hier, und mir das Versprechen geben, dass ich von nun an immer an seiner Seite sein darf. Dass ich seine Gesellschaft nie wieder werde missen müssen. Dass er mich bis an das Ende unserer Tage bedingungslos liebt.

„Die Vorbereitungen laufen tadellos.“ Mutter schlägt die Beine übereinander und blickt auf die nächtliche Stadt hinab. Gelbe, rote, blaue Lichter werden auf ihr ebenmäßiges Gesicht gemalt. „Die Feier wird diese hier in den Schatten stellen und wie geplant stattfinden.“ Das bedeutet in gut einem Monat. Allein bei dem Gedanken an das nahe Datum beginnt mein Herz zu rasen und die Röte schießt mir in die Wangen. Nach diesem Tag müssen Achim und ich uns nie wieder die gesamte Nacht lang vor der Festgemeinschaft verstecken. Obwohl ohnehin jeder weiß, dass es sein Verlobungsring ist, der an meinem Ringfinger mit dem Collier um die Wette glitzert. „Kannst du mir sagen, was genau passieren soll? Wer wird auf der Gästeliste stehen?“ Aufgeregt lehne ich mich näher zu Mutter. „Wie viele Blumenmädchen werden für mich organisiert werden? Feiern wir tatsächlich in Europa?“ Mama legt eine Hand auf meine und drückt meine Finger. Eine Geste voller Zuneigung. Das kostbarste Geschenk von allen. „Sieh es als eine Überraschung an, mein Kind.“ Kurz zögert Mutter. „Die nahenden Feierlichkeiten waren nicht das, worüber ich in der heutigen Nacht mit dir sprechen wollte.“

Ich seufze leise und starre in die zuckenden Flammen des Kamins. Das war mir bewusst. Meine Hochzeit ist nur ein Randevent für meine Mutter. Mag die Presse sie auch für das Ereignis des Jahrzehnts halten, bleibt sie für meine Familie ein weiterer gewöhnlicher Festakt. Viele Worte darüber zu verlieren, ist sowohl für Vater als auch für Mutter verschwendeter Atem. Anstatt sie nach dem eigentlich angestrebten Thema zu fragen, schließe ich die Augen und genieße den Nebel des Alkohols in meinem Kopf. Er macht meine Glieder schwer und lässt mich gegen das Verlangen ankämpfen, mich tief in das Polster der Couch zu schmiegen, die Füße auf Mutters Schoß zu legen, und die Müdigkeit mit offenen Armen willkommen zu heißen. Die Uhr neben dem Kamin schlägt elf.

Noch drei Stunden, dann dürfen Achim und ich in meine Zimmer verschwinden, sollten wir nicht gerade dann in bedeutende Gespräche verwickelt sein. Ich kann Achims wohlbedachten Küsse schon schmecken. Sein leises Lachen hören.

„Beabsichtigst du noch immer, das College zu besuchen?“, fragt Mutter. Ich nicke. Es ist Pflicht, wenn nicht sogar eine Selbstverständlichkeit. Harvard, Oxford, eines der anderen englischsprachigen, hochgelobten Institutionen, an denen man mich angemessen zu behandeln weiß und mich niemand bedrängt. So brillant man seine Geschäfte auch abwickeln mag, letzten Endes wird man doch auf seinen Abschluss reduziert. Es wird der Tag kommen, an dem ich ein tadelloses Zeugnis benötige – und werde vorzeigen können. „Ein Juraabschluss wäre praktisch“, antworte ich und ringe um neue Energie, die meine Glieder wieder zum Leben erweckt und mich die noch junge Nacht überstehen lässt. „Ebenso Wirtschaft und Psychologie. Ich dachte, das stände außer Frage.“

Mutter nickt und zieht mir eine der Haarnadeln aus der Frisur. Automatisch halte ich ihre Hand fest. Sie schenkt mir ein leichtes Lächeln. „Darf die eigene Mutter der Tochter nicht mehr dabei helfen, sich bettfertig zu machen?“ „Ich muss noch einmal nach unten gehen.“ Mich verabschieden, für die Fotografen ein letztes Mal posieren, beweisen, dass ich über der Zeit und den Gästen stehe. „Das wird nicht zwingend notwendig sein”, sagt Mutter glatt. „Bilder wurden geschossen, Monsieur Depót ist bereit, sich mit dir und Achim auseinanderzusetzen. Je länger der Abend und je höher der Alkoholpegel, desto gefährlicher wird er.“ Das ist wahr. Die Zunge wird lockerer, der Verstand träger. Ich bin noch nicht Diplomatin genug, um bis tief in die Nacht Geschäfte abwickeln zu können, ohne mich dabei zu verhaspeln oder in eigene Fallen zu tappen. Diese Freuden überlasse ich meinem Vater und meinem Verlobten. Beide beherrschen die nächtlichen Verhandlungen weit besser als ich.

„Wird Achim bald zu mir kommen?“, frage ich Mutter. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mich endlich an seine Brust zu lehnen und das teure Aftershave einzuatmen. Seinen steten Puls an meiner Wange pochen zu fühlen. Seine Liebe ist ein viel zu seltener Luxus und raubt mir die klaren Gedanken. „Er dürfte bereits in deinem Zimmer auf dich warten.“ Kurz zaudert Mutter, etwas, das man von ihr nicht kennt. Sie wird dafür gefürchtet, dass sie jede noch so komplexe Frage binnen von Augenblicken beantwortet, jederzeit angemessen und korrekt. Zögern kennt sie nicht. Und hat es doch soeben getan. Die Nacht ist lang und anstrengend. Dieses Zucken beweist es.