Märchen für Dich - Celina Weithaas - E-Book

Märchen für Dich E-Book

Celina Weithaas

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Beschreibung

"Man schenkte dir zehn Sekunden, die sich anfühlen sollen wie zehn Jahre. Deine Zeit läuft ab." Zwischen den verstaubten Seiten eines Märchenbuchs leben die atemberaubendsten Abenteuer. Adeline stürzt sich kopfüber in jedes von ihnen. Gemeinsam mit Liutwin, Prinz von Mirlando, trifft sie auf die schönsten und geheimnisvollsten Prinzessinnen aller Zeiten - und jede von ihnen verbirgt ein dunkles Geheimnis. Schon bald muss Adeline einsehen, dass Märchen nie für Kinder geschrieben wurden und ein gutes Herz nicht reichen wird, sie zu retten.

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Seitenzahl: 560

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Märchen für Dich

© 2020 Celina Weithaas

2., vollständig überarbeitete Auflage 2021

Umschlaggestaltung und Design: Franziska Wirth

Bilder: Samreen Holz

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Taschenbuch: 978-3-347-39450-6

ISBN e-Book: 978-3-347-39452-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Chroniken des Grauen Mannes

Phase I:

Die Poison-Trilogie:

Dark Poison (Oktober 2018)

Cold Poison (Januar 2019)

Dead Poison (September 2019)

Die Jahreszeitentrilogie:

Spring (31. Dezember 2019)

Fall (31. Dezember 2020)

Winter (31. Dezember 2021)

Phase II:

Die Märchendilogie:

Erzähl mir Märchen (05. November 2019)

Märchen für Dich (01. Mai 2020)

Die Mitternachtstrilogie:

Fünf Minuten vor Mitternacht (02. September 2020)

Zehn Sekunden vor Mitternacht (21. April. 2021)

Vor Mitternacht (13. Oktober 2021)

Die Dämonentrilogie:

Fürchte mich nicht (21. April 2022)

Vergiss mich nicht (02. September 2022)

Verlass mich nicht (01. Mai 2023)

Die Götterdämmerungstrilogie:

Götterdämmerung – Verschwörung (05. November 2023)

Götterdämmerung - Verlockung (01. Mai 2024)

Götterdämmerung - Verdammung (02. September 2024)

Die Ich-Bin-Trilogie:

Ich bin Du (21. April 2025)

Du bist Ich (13. Oktober 2025)

Wer ich bin (21. April 2026)

Phase III:

Die Geschichte des Grauen Mannes:

Die Geschichte des Grauen Mannes oder Komm mit mir nach Gestern (02. September 2026)

Chronicles of Kings and Queens:

Blutzoll (01. Mai 2027)

Blutangst (05. November 2027)

Blutrache (01. Mai 2028)

Blutdurst (02. September 2028)

Blutmond (21. April 2029)

Blut-Matt (13. Oktober 2029)

Phase IV:

Die Foscor-Trilogie:

Laufe (31. Dezember 2027)

Bleibe (31. Dezember 2028)

Vergesse (31. Dezember 2029)

Erinnere (31. Dezember 2030)

Verdamme (31. Dezember 2031)

Erwache (31. Dezember 2032)

Phase V:

Die Trilogie von Gottes Tod:

Von verblühender Unschuld (21. April 2030)

Von leidendem Verrat (02. September 2030)

Von verzweifelter Liebe (01. Mai. 2031)

Die Ewigkeitsdilogie:

Endlicher Triumph (13. Oktober 2031)

Triumphale Ewigkeit (01. Januar 2032)

Das Ende:

Nun, da es das Ende ist (31. Dezember 2032)

Für meine Mama, die mich unterstützt, wo sie nur kann

Wer den Thron besteigt, muss sich selbst vergessen, um nur ihm zu dienenOder das Märchen vom Froschkönig

Liu steht mit dem Rücken zu mir, die dunklen Haare wirr und die Muskeln zum Zerreißen gespannt. Seine Hände liegen auf dem schlichten, silbernen Bilderrahmen, der das Gemälde des Froschkönigs behütet. Hohe Nadelbäume umgeben einen kühlen Brunnen. Mit dem Rücken zum Betrachter kniet die Prinzessin, das pastellfarbene Kleid um sich herum ausgebreitet wie eine Blüte.

Der Frosch sitzt mit ihr auf Augenhöhe, eine goldene, schwere Kugel neben sich. In verschnörkelten Lettern steht auf dem Bilderrahmen: In den alten Zeiten, wo das Wünschen nochgeholfen hat. Ich liebäugle mit diesem Märchen, seitdem ich den Korridor das erste Mal betreten habe. Es ist einzigartig, es ist verlockend und es ist eines meiner Liebsten. Seit jeher. Die Geschichte der Prinzessin, die den Prinzen rettet. Die Geschichte einer bösen Zauberin, deren Magie einfach im Nichts verpuffte. Unter gewöhnlichen Umständen würde ich aufgeregt auf den Fußballen auf und ab wippen.

Je länger ich auf die eingeritzten Buchstaben blicke, desto mehr verzehre ich mich danach, die fadenscheinige Barriere zu durchschreiten. Auf der anderen Seite wartet das Glück auf mich. Oder zumindest eine Ahnung dessen.

Liu sieht mich über seine Schulter hinweg an, ein gequältes Lächeln auf den Lippen. Er ist ein wandelndes Mahnmal. Er erinnert mich an die finstere Seite der Märchen. An ein düsteres Versprechen, das im Herzen einer kleinen Kapelle gesprochen wurde. Schützend schlinge ich die Arme um mich. Die Temperatur in dem regenbogenhellen Korridor scheint drastisch zu sinken. Dieses Märchen hier wird besser werden. Schöner. Der Froschkönig begleitet mich, seitdem ich denken kann. Das zarte Mädchen auf dem Gemälde würde niemals zulassen, dass irgendwem etwas zustößt.

„Du hast lange gebraucht“, stellt Liu fest. Seine Stimme klingt anders. Leer. Blechern. Unwillkürlich strecke ich eine Hand nach ihm aus und verschränke unsere Finger miteinander. Die Hitze seiner Berührung sinkt in meinen Körper. Wie eine zweite Haut haftet der Geruch nach Wald und frischer Luft an ihm. Hat er den Morgen im Garten verbracht?

„Aufwachen, duschen“, zähle ich auf und versuche mich an einem leichten Kichern. Ich scheitere kläglich. Liu gibt einen zustimmenden Laut von sich. Seine Lippen wirken unnatürlich rot. Hat er sie sich nervös zerbissen? Nachdenklich sehe ich ihm in die bernsteinklaren Augen. „Hast du gut geschlafen?“

„Keine Sekunde.“ Liu umklammert meine Hand krampfhaft. Mein Herz stockt. Beinahe fühlt es sich an, als glaubte er, dass ich verpuffe, wenn er nur einen Zentimeter von meiner Seite weicht. „Uns bleiben ungefähr drei Wochen.“ Er räuspert sich, den Daumen nervös über meine Haut kreisend. „Ich glaube nicht, dass ich je wieder schlafen kann.“

Ein glühendes Band legt sich um meine Kehle und schnürt sie zu. Drei Wochen. Ein Wimpernschlag.

Schwer schluckend stelle ich mich auf die Zehenspitzen und hauche ihm ein Kuss auf die Lippen. „Du hättest bei mir schlafen können“, flüstere ich.

Eine tiefe Falte gräbt sich zwischen Lius Brauen. „Das wollte ich“, sagt er und hält meine Hand fester. Die Knochen scheinen aneinander zu schaben. Es kümmert mich nicht. „Das wollte ich wirklich. Nur hat es sich falsch angefühlt, wann immer ich mich dir genähert habe. Als würde ich dir wehtun, wenn ich nur da bin.“ Die Verzweiflung in seinen bernsteinklaren Augen raubt mir den Atem. Wo ist das Lachen hin? Seine beißende Arroganz? Lius hochmütiger Stolz. „Es war einfach verrückt, verstehst du? Ich konnte nicht zu dir gehen.“ Er lehnt seine Stirn gegen meine und streichelt mir mit dem Daumen erschreckend sanft über die Wange. „Ich konnte es nicht, Adeline.“

Bebend schlinge ich die Arme um ihn. In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, da waren wir glücklich. Jede Freude scheint zu purer Qual zu verkümmern, die sich grau und staubig in unsere Sinne frisst. „Alles ist gut“, belüge ich uns und küsse Liu scheu auf das Kinn. „Alles wird gut.“ Er nickt und atmet tief durch. Wie lange? Wie lange werden wir in dieser Lüge leben können, ohne davon zerfressen zu werden? Ich stehle mir einen Kuss. Süß schmeckt er und nach Sicherheit. Wir werden es ertragen. Lang genug, damit alles gut wird.

„Ich liebe dich“, murmelt Liu und hält mich so fest, als würden die drei Wochen in dieser Sekunde vorübersein, wenn er mich jetzt loslässt. „Ich liebe dich und ich liebe dich und ich werde dich ewig lieben.“ Das Regenbogenlicht küsst sein Gesicht. Weiche Farben stehlen ihm einen Teil der Anspannung. Sanft streichle ich ihm über die Stirn.

„Ich liebe dich und ich liebe dich und ich liebe dich und ich werde dich bis in alle Ewigkeit lieben“, schwöre ich Liu. Dabei rinnt uns unser Immer in dieser Sekunde durch die tauben Finger.

Lius Nicken wirkt ebenso gefasst wie zu der Sekunde, als Dante uns schmal anlächelte und verschwand, die düsterste aller Wahrheiten zurücklassend. „Glaubtest du wirklich, du hättest eine Zukunft, während du über den Wolken lebst?“ Dantes letzte Worte geistern mir durch die Sinne. Habe ich darauf gehofft? Oder habe ich einfach verlernt, an das Morgen zu denken? Wir leben in diesem Moment und bis vor Kurzem war das mehr als genug.

Liu macht keine Anstalten, sich aus unserer Umarmung zu lösen. Sein Herz schlägt sicher und regelmäßig über meinem. Befinden wir uns im Auge des Sturms oder warten wir noch darauf, dass er losbricht? Haben wir den Sturm längst überstanden und versinken wir in den Trümmerbergen?

„Wir sollten in das Märchen verschwinden“, wispere ich.

„Sollten wir?“

Mein tapferer, tapferer Held wirft mir einen zweifelnden Blick zu. Sprang Liu einst mit dem Kopf zuerst in den Kampf, scheint er nun wankend am Rand des Schlachtfeldes zu verharren, bereit jederzeit die Flucht zu ergreifen.

„Sollten wir“, bestätige ich leise und löse mich behutsam von ihm. Ein zartes Frösteln kriecht durch meinen Körper. Wird es sich so anfühlen, wenn ich Liu verliere? So endgültig? So eisig kalt.

Als ich meine Hand auf das Ölgemälde lege, rührt Liu sich nicht. Wir stehen starr nebeneinander. Unsere Träume verblühen vor unseren Augen, doch anstatt sich danach mit Vogelschwingen in die Lüfte zu erheben, brennen sie nieder und verlieren sich im düsteren Erdreich.

„Liu?“, wispere ich und werfe ihm ein zaghaftes Lächeln zu. „Kommst du?“

Er steht direkt hinter mir, eine Hand beschützend auf meiner Hüfte, während er die andere über meine auf das Märchen presst. Weich fühlen sich die Farben des Ölgemäldes unter meinen Kuppen an. Kühl. Ich versinke in dem Gefühl. Der Brunnen verschwindet mitsamt dem Froschkönig unter unseren miteinander verschränkten Fingern. Ich glaube, Lius Puls durch meinen Körper donnern zu fühlen. Der Regenbogen zu unseren Füßen fließt in demütigender Schönheit unter uns dahin. Er leuchtet, er funkelt, er lebt und scheint unendlich, genährt von tausend Hoffnungen und Träumen, während das Märchen uns behutsam die Handflächen küsst.

Ich glaube, die Kiefern riechen zu können, die mit dunklem Grün auf die Leinwand gebannt wurden, und ich höre ein leises Plätschern wie von Wasser, das gegen Stein spielt.

Ein neues Schicksal wartet auf uns. Eines, das wir retten können und werden.

Eines, das nicht zu unserem werden wird.

Eine seltsame Schwerelosigkeit schlingt ihre behutsamen Arme um mich und ich glaube zu fliegen in der Unendlichkeit des Unmöglichen. Für einen Moment trennt mich das pure Glücksgefühl von Liu, dann berühren meine Füße neuen Boden.

Er fühlt sich weich unter den Sohlen der Schuhe an und der Duft des Waldes lässt mich seufzend tief einatmen. Vögel zwitschern fröhlich und tanzende Sonnenstrahlen stehlen sich über die spiegelglatte Oberfläche eines malerischen Sees. Unter weißen und rosa Seerosen huschen goldene und silberne Fischchen entlang. Die Kiesel liegen sauber und schimmernd am sandigen Grund und beschützen die halb geöffneten Süßwassermuscheln zwischen sich. Ein Frosch bläst die Backen auf und wirft Liu und mir von seiner Seerose aus einen vorwurfsvollen Blick zu.

Neben mir räuspert Liu sich und verschränkt erneut seine Finger mit meinen. An seiner Hüfte hängt der verdammte Degen. Hatten wir nicht gesagt, dass er auf den künftig verzichtet? Augenrollend lehne ich den Kopf gegen seine Schulter.

Vor uns baut sich ein gigantisches Schloss auf. In sanften Wellen fließen die Hügel auf es zu und die Sonne wirbelt um die hohen, mit Fahnen bestückten Türme. Aus der Entfernung kann ich das Wappen nicht richtig erkennen. Prangt darauf ein Löwe? Die goldene, rote und schwarze Zier um das Herzstück herum blendet mich selbst aus der Entfernung. „Hier lebt also die kleine Prinzessin“, bricht Liu das Schweigen, einen Arm schützend um mich gelegt. „Sieht nicht so aus, als gäbe es hier viel zu tun. Also als würde hier überhaupt demnächst ein Märchen stattfinden.“ Liu reibt sich über den Hinterkopf. „Du musst die Prinzessin dazu bringen, in der Nähe des Brunnens mit ihrer goldenen Kugel zu spielen und los geht es.“

Ich ringe mir ein kleines Lächeln ab. „Du lässt das so klingen, als wäre es einfach.“

„Wird es sein.“ Liu zuckt die Schultern. „Du bist die Königin eines anderen Landes. Sie wird sich freuen, mit jemandem spielen zu können, der auch französisch spricht.“

Mir klappt der Mund auf. „Aber ich kann kein Französisch!“ „Das wird das Märchen dir schon noch rechtzeitig beibringen“, sagt Liu augenrollend.

Ich ziehe die Brauen zusammen. Selbst wenn, wer sagt, dass ich mit der Prinzessin Zeit verbringen will? Vielleicht ist sie nicht, wie ich sie mir vorgestellt habe. Oder sie mag mich nicht leiden.

Seufzend betrachte ich den Brunnen. Er ist nah an den Ausläufen des Waldes gelegen. Eine kecke Buche streichelt mit ihren Zweigen bei jedem starken Windstoß den grauen Stein und die kleinen Pflänzchen zwischen dem Gestein blinzeln uns fröhlich entgegen.

„Warum umgarnst du die Prinzessin nicht?“, seufze ich und zupfe an Lius Arm. Seite an Seite machen wir uns auf den Weg zu dem Schloss. Die Hügel wallen unter uns auf und werfen sich nieder wie ein unruhiges Meer. Der Duft von Rosen liegt in der Luft und scheint mit jedem fröhlichen Sonnenstrahl intensiver zu werden. „Damit hast du schon Dornröschens Märchen gerettet. Warum nicht auch das hier?“ Der Schalk blitzt in Lius Augen auf, als er mir einen verschmitzten Blick zuwirft. „Zuerst einmal, weil du krankhaft eifersüchtig bist.“

„Ich bin nicht eifersüchtig!“, rufe ich aus. „Aber ich muss es auch wirklich nicht gutheißen, wenn du mehr Zeit mit dieser attraktiven Prinzessin verbringst als mit mir, nur, weil sie so toll nach Blumen duftet.“ Die Bestie in meinem Inneren fährt schon wieder die Krallen aus und will sie in mein Herz schlagen. Ungeduldig dränge ich sie zurück. Wenn ich mal das Recht hatte, eifersüchtig auf jedes Mädchen zu sein, das sich Liu nähert, dann ist das jetzt vorbei. Unsere Zeit läuft ab. Ich glaube, die Bombe ticken zu hören, die bei ihrer Explosion alles mit sich reißt, was uns gehörte.

„Und zum Zweiten“, fährt Liu fort, ein selbstgefälliges Lächeln auf den Lippen, „soll die Prinzessin sich in ihren Froschkönig verlieben und nicht in mich. Dem Märchen zuliebe lasse ich dieses eine Mal die Finger von den schönen Frauen anderer Länder.“

Ich strecke ihm die Zunge raus. „Das glaubst du doch selbst nicht.“

„Und wie ich das glaube!“ Sorglos hebt Liu unsere miteinander verschränkten Hände und drückt mir einen Kuss auf die Fingerspitzen. „Das wird ein gutes Märchen“, prophezeit er mir. „Du wirst Französisch lernen und eine neue Spielkameradin gewinnen und ich genieße den Sonnenschein.“

Ich rolle die Augen. Mit Sicherheit. Damit Liu sich auf diese Wiese legt und in der Mittagssonne badet, muss ein Wunder geschehen.

Rauschend rascheln meine Röcke über das grünende Gras. Am liebsten würde ich sie raffen. Das Kleid sieht hübsch aus, bestimmt. Und es ist mindestens ebenso schwer wie schön. Zumindest hat das Märchen mich nicht wieder in eine Korsage eingeschnürt. Atmen lernt man erst schätzen, wenn man von einer fremden Epoche eingekleidet wurde.

Schwer seufzend lasse ich mich von Liu über die Hügel ziehen. Das Zwitschern der buntesten Vögel schwillt an und verschwimmt zu der süßesten aller Melodien. Rosen umringen Springbrunnen und weitläufige Steingärten verzaubern mit ihrem eigenen Charme. Sind das Schwäne, die über uns fliegen? Automatisch halte ich nach einem Vogel Ausschau, dessen Flügel in Brennnesseln gewickelt wurde. Aber die Tiere verschwinden am Horizont und nichts weist auf verwunschene Königskinder hin.

„Wie lange, denkst du, wird das Märchen dauern?“, frage ich Liu und schleppe mich über den nächsten Hügel. Wer hat sich diese Kleider eigentlich ausgedacht?

Liu darf in Strumpfhosen und quietschbunter Weste mit Blumenstickereien herumstolzieren. Und ich? Mich hat man in alle Stoffreste gewickelt, die man in diesem und dem nächsten Königreich auftreiben konnte. Sobald sich mir die Gelegenheit dafür bietet, werde ich die gefühlten fünfzig Oberkleider abstreifen und wenn ich dann nur noch im Nachthemd durch die Gärten tolle, dann ist mir das relativ egal. Ohne die kratzenden Stützstrümpfe würde ich mich längst auf Händen und Knien fortbewegen.

„Woher soll ich das wissen?“, sagt Liu und geht leichtfüßig voran. Wir befinden uns in dem nächsten Märchen, Lius tiefschwarzen Sorgen scheinen wie fortgeschwemmt. Natürlich. Hier, in der Sicherheit von fremder Fiktion und absoluter Gedankenlosigkeit, waren wir nie weiter entfernt von der uns erdrückenden Realität.

Die Sonne zwinkert mir über den Griff von Lius Degen zu. Er sollte den wirklich nicht mehr bei sich tragen. Irgendwann wird er ihm zum Verhängnis werden.

„Das Märchen ist nicht so lang, oder?“, sage ich. „Die Prinzessin verliert die Kugel, der Frosch kommt ihr hinterher, sie muss mit ihm ihr Essen teilen und mit ihm in einem Bett schlafen, aus Wut wirft sie ihn an die Wand und alles ist schön.“

Liu zieht grinsend eine Braue in die Höhe. „So wie du das zusammenfasst, will man fast die Stelle des Prinzen einnehmen.“

Ich spitze die Lippen. Ach, will man das? „Du wärst mit Sicherheit der schleimigste Frosch von allen“, säusle ich lieblich. „Du würdest gar nicht von der Wand abfallen, sondern daran kleben bleiben.“

„Ich liebe dich auch“, sagt Liu leichthin und stiehlt sich einen Kuss. Protestierend öffne ich den Mund. Noch ein Kuss. „Ich hoffe, es ist in deinem Interesse, wenn dein schleimiger Frosch dich als seine Gemahlin vorstellt?“

Ich rolle die Augen. Damit gehen wir zumindest sicher, dass Liu keiner Prinzessin den Kopf verdreht und ich niemandem versprochen werde.

„Natürlich. Nichts wünsche ich mir mehr“, spotte ich und drücke meine Lippen auf seine Wange.

Liu verzieht den Mund. „Na dann, Adeline von Mirlando, benimm dich anständig, sonst nimmt uns das niemand ab.“ Eine sanfte, verspielte Leichtigkeit tollt durch seinen Tonfall. Die Ernsthaftigkeit des Moments bleibt greifbar. Er streicht mir eine dunkelblonde Strähne aus dem Gesicht.

Ich drücke Lius Hand. „Du musst dir keine Sorgen machen“, verspreche ich ihm. „Ich werde die liebste Frau sein, die du dir vorstelle kannst. Zumindest in diesem Märchen.“

Warum sein Lächeln traurig wirkt? Ich brauche einen kurzen Moment, um das zu verstehen. Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen und ich beiße mir auf die Lippe. Fieberhaft suche ich nach Worten, die zurücknehmen, was ich gesagt habe. Ich finde sie nicht.