Vergiss mich nicht Oder Der erste Schachzug des Heerführers - Celina Weithaas - E-Book

Vergiss mich nicht Oder Der erste Schachzug des Heerführers E-Book

Celina Weithaas

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

"Ich bin das, was von Gottes Schöpfungen übrig geblieben ist." Raysiel ist der Heerführer der Dämonen, geboren, um über die Welt zu herrschen. Sein Weg wird von Tod und Blut gepflastert, Verbündete tauscht er gegen Siege ein. Jeanne ist die Einzige, die Raysiel an die Gerechtigkeit erinnert, für die er einst gekämpft hat, bis Jeanne sich gegen ihn wendet. In blindem Zorn holt Raysiel zum Gegenschlag aus - gegen Gott selbst und jeden, der zu ihm hält.

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Seitenzahl: 572

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Vergiss mich nicht

© 2022 Celina Weithaas

Umschlaggestaltung und Design: Franziska Wirth

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Taschenbuch: 978-3-347-65515-7

ISBN e-Book: 978-3-347-65517-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Chroniken des Grauen Mannes

Phase I:

Die Poison-Trilogie:

Dark Poison (Oktober 2018)

Cold Poison (Januar 2019)

Dead Poison (September 2019)

Die Jahreszeitentrilogie:

Spring (31. Dezember 2019)

Fall (31. Dezember 2020)

Winter (31. Dezember 2021)

Phase II:

Die Märchendilogie:

Erzähl mir Märchen (05. November 2019)

Märchen für Dich (01. Mai 2020)

Die Mitternachtstrilogie:

Fünf Minuten vor Mitternacht (02. September 2020)

Zehn Sekunden vor Mitternacht (21. April. 2021)

Vor Mitternacht (13. Oktober 2021)

Die Dämonentrilogie:

Fürchte mich nicht (21. April 2022)

Vergiss mich nicht (02. September 2022)

Verlass mich nicht (01. Mai 2023)

Die Götterdämmerungstrilogie:

Götterdämmerung - Verschwörung (05. November 2023)

Götterdämmerung - Verlockung (01. Mai 2024)

Götterdämmerung - Verdammung (02. September 2024)

Die Ich-Bin-Trilogie:

Ich bin Du (21. April 2025)

Du bist Ich (13. Oktober 2025)

Wer ich bin (21. April 2026)

Phase III:

Die Geschichte des Grauen Mannes:

Die Geschichte des Grauen Mannes oder Komm mit mir nach Gestern (02. September 2026)

Chronicles of Kings and Queens:

Blutzoll (01. Mai 2027)

Blutangst (05. November 2027)

Blutrache (01. Mai 2028)

Blutdurst (02. September 2028)

Blutmond (21. April 2029)

Blut-Matt (13. Oktober 2029)

Phase IV:

Die Foscor-Trilogie:

Laufe (31. Dezember 2027)

Bleibe (31. Dezember 2028)

Vergesse (31. Dezember 2029)

Erinnere (31. Dezember 2030)

Verdamme (31. Dezember 2031)

Erwache (31. Dezember 2032)

Phase V:

Die Trilogie von Gottes Tod:

Von verblühender Unschuld (21. April 2030)

Von leidendem Verrat (02. September 2030)

Von verzweifelter Liebe (01. Mai. 2031)

Die Ewigkeitsdilogie:

Endlicher Triumph (13. Oktober 2031)

Triumphale Ewigkeit (01. Januar 2032)

Das Ende:

Nun, da es das Ende ist (31. Dezember 2032)

Für jeden, der im Tumult das Gleichgewicht verliert, in der Masse untergeht und an sich selbst verzweifelt. Für jeden, der nicht vergessen werden will.

1

„Das ist Wahnsinn! Niemand darf das Leben der gesamten Truppe vorsätzlich opfern! Du setzt es nicht nur aufs Spiel. Du willst sie nur abschlachten lassen.“

„Was Valerio nicht weiß, kümmert ihn nicht“, merke ich kühl an und betrachte konzentriert die fragilen Schmuckstücke vor mir. Vier Monate sind seit dem Sturz meiner Truppen vergangen, sie sind seit bereits drei Monaten durch Vampire und Höllenhunde ersetzt worden, Reykjavik und Dallas habe ich zusätzlich unter meine Kontrolle gebracht und Conrad diskutiert das gleiche, leidige Thema. Selbst wenn ich es wollte, ich könnte das Sterben meiner Truppen nicht rückgängig machen. Sind wir aufrichtig miteinander, waren diese Männer tot, lange bevor ich sie in den Kampf geführt habe. Der Lebensgeist wurde ihnen aus den Körpern getrieben, während sie unter anderer Führung standen.

„Aber Valerio wird erfahren, dass dieser Vernichtungsakt kein Versehen war.“

Vermutlich, irgendwann. Eine ferne Sorge. Schnurrend bettet sich eine prickelnde Ruhe in meinem Inneren. Dringlicheres treibt mich um. Zum Beispiel der passende Verlobungsring. Nicht zu pompös, nicht zu öde. Er soll Jeanne an mich binden, dass ich durch sie wahrhaft unbesiegbar werde.

„Magst du den linken oder den unten rechts mehr?“, wechsle ich das Thema und deute auf den Schmuck.

Conrad seufzt schwer. Tiefe Schatten liegen unter seinen abgestumpften Augen. „Mein Heerführer, Raysiel“, er räuspert sich heiser, „beim besten Willen, es gibt Wichtigeres als einen verdammten Verlobungsring. Die Hälfte der Dämonen steht nicht hinter dir, die Engel sind erzürnt, Tiamat selbst scheint zum Schlag gegen dich ausholen zu wollen …“

„Wenn die halbe Sippe nicht hinter mir steht, bedeutet das dennoch, dass mir die andere Hälfte bedingungslos folgt. Alles Übrige nehme ich hin.“ Wieder deute ich auf das Schaufenster. Die funkelnden Steine frustrieren mich wie Conrads Sorgen um Nichts. Was geschehen ist, ist geschehen. Es gibt keinen Weg zurück. In der Absolutheit unserer Entscheidungen liegt der Funken Weisheit jeder Welt. „Der linke Ring oder doch der unten?“, wiederhole ich meine Frage.

Aus Conrads Haltung spricht keine Missbilligung. Er verurteilt mich. Für das Beseitigen perfider Kameraden, die der Kameradschaft lange abgeschworen hatten. „Vermutlich wird sie den mit dem blauen Stein mehr mögen. Weniger auffällig als der rote, weißt du?“ Nachdenklich verschränke ich die Arme vor der Brust. Der mit dem blauen Stein. Das Schmuckstück könnte ihr tatsächlich imponieren, schmal genug, um unauffällig und keusch zu wirken, aufwendig genug gearbeitet, um eine gewisse Eleganz zu wahren. Ein Wort von Jeannes Lippen und ich sichere mir die Treue der einzigen Person, die von Bedeutung ist.

„Es gibt wirklich, wirklich, wichtigere Themen“, beharrt Conrad. Seine Stimme klingt gepresst und die Mundwinkel zucken. „Ezechiel ist wirklich nicht glücklich darüber, dass du deinen Schwur ihm gegenüber gebrochen hast. Er wird dich angreifen, vielleicht töten. Und wenn er dich nicht haben kann, dann vielleicht Jeanne. Sie wird wohl kaum vor einem Engel die Flucht ergreifen.“

Jeanne. Eine plötzliche, beißende Wut schlängelt sich durch meine Venen. Mein Blut droht sich in Asche zu wandeln. Langsam und kontrolliert presse ich die Zähne aufeinander und entspanne meine Rückenmuskulatur. Stück für Stück. Mein Zorn macht mich verwundbar.

Für einen flüchtigen Moment verschwende ich an diesem wolkenverhangenen Nachmittag, der dazu gedacht war, mir Ruhe und Fassung zu spenden, einen Gedanken an das Geschäftliche. Wenn durch meinen Wunsch die Engel gerecht zu strafen ihr Leid widerfährt, wird es tausendfach auf mich zurückfallen. Verletzen sie Jeanne, vernichten sie mich. Ein Engel schreckt vor dem Morden nicht zurück.

„Ich werde gegen Ezechiel zeitnah vorgehen“, sage ich. „Momentan hat er nicht oberste Priorität.“ Erneut deute ich auf die Ringe. Conrad presst missbilligend die Lippen aufeinander und geht einen Schritt rückwärts. Das Blut ist ihm aus dem Gesicht gewichen. Er wirkt zornesbleich. „Den Blauen, wie gesagt. Nimm den, leg ihn dir unter das Kopfkissen, bis du dir ganz sicher bist, und dann befasse dich endlich wieder mit den wichtigen Dingen. Zum Beispiel der Erhaltung deiner Siege. Du denkst nicht wirklich, dass die Engel es auf Dauer bei diesen Demütigungen beruhen lassen.“

Ich erwarte das nicht, nein. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Engel nicht zeitnah angreifen werden. Sie wissen, dass sie im Nachteil sind. Die Engel werden erst zu ihren Waffen greifen, wenn meine Truppe wankt. Jeder, der seine Treue vergaß, hat sein Leben vor Monaten gelassen. Vampire und Höllenhunde folgen dem, der sie füttert. Ich werfe ihnen alles zum Fraß vor, was sie begehren.

Ich bin stark, sie sind schwach. Die treuesten Krieger der Engel sind gefallen – und Antauras Herz liegt um meine Kehle.

„Conrad, so sehr ich deine Bedenken schätze“, sage ich, „ich bin seit Monaten gezwungen mich mit nichts anderem als dem strategischen Verhalten der Engel auseinanderzusetzen, um den Namen meiner Familie rein zu waschen und diese Spezies zu retten. Zumindest an den Tagen, die ich außerhalb des Blutdurstes verbringe, sollte dein Fokus auf etwas anderem liegen.“ Mit dem Kinn deute ich auf den Schmuck. „Heute auf diesen Ringen.“

„Du hast noch nicht einmal ihren Vater gefragt, ob du sie überhaupt heiraten darfst“, murrt Conrad. Ich atme gegen das kriechende, zerrende Prickeln in meinen Venen an. Kein Duft von Orangen weht mir entgegen. Stattdessen steht mir das getreue Bild des Priesters klar vor Augen. Klar genug, um mir den Verstand zu verätzen. Jeannes Ziehvater. Der Priester und ich, wir sind einander zweimal begegnet. Einmal als ich mich mehr oder minder bewusst in sein Kaminzimmer teleportierte und ein weiteres Mal als er während meiner erniedrigenden Schicht das Café betrat. Er bekreuzigte sich und wünschte mich zur Hölle.

Der Priester hätte gemeinsam mit Jeff den gesamten Ort gegen mich aufhetzen können. Die kleine, heuchlerische, um Gottes Gnade lechzende Gemeinde. Jeannes Wort nahm ihm das Richtschwert aus den Händen und reichte ihm eine Bibel. Der Priester segnete mich – und ich trank stillschweigend das Blut, das mir durch die aufreißenden Schleimhäute in den Mund floss. Noch immer befürchte ich, dass dieser Segen der Weg des Priesters war, Jeannes Worte zu widerlegen.

Er ist gescheitert – und ich mit ihm. Den übrigen Nachmittag verbrachte ich fluchend und heilend allein. Jeanne mag mich in ihr Herz geschlossen haben. Jeannes Gegenwart mag Grund genug sein, die Macht Gottes zu verleugnen und zu vergessen. Jeanne macht mich unsterblich.

An diesem Tag war sie nicht mit mir in der Kirche. Der Priester segnete mich allein. Auf meine Anrufe und Nachrichten reagierte Jeanne nicht.

„Ich wende mich dem Krieg zu, wenn es Zeit für den Krieg wird“, wische ich dieses Thema vom Tisch und wende mich an den Juwelier, der uns seit geraumer Zeit skeptisch unter seinen Brillengläsern hervor mustert.

„Den Ring mit dem Saphir, bitte“, sage ich in dem resoluten Tonfall, den ich mir die letzten Monate über aneignete.

Er verzieht das von Falten übersäte Gesicht. „Mit Verlaub, mein Herr, ich möchte anzweifeln, dass Sie dieses Schmuckstück finanzieren können.“

Krieg ist Wirtschaft. Nutzt man ihn richtig, wird man reich.

Wortlos und ohne ihn aus den Augen zu lassen, ziehe ich einen Bruchteil meiner neuesten Auszahlung aus meiner Jackentasche. Bei dem Bündel an hohen Scheinen weiten sich seine Augen für einen flüchtigen Augenblick, ehe er sich weiße Handschuhe überstreift und meinem Wunsch Folge leistet.

Derweil betrachtet Conrad ungewöhnlich ruhig das Gerät auf dem Schreibtisch des Fachmannes. Seine Augen tasten die Kanten ab und scheinen jedes noch so kleine Detail der Hardware abzuspeichern. Ich kenne Conrad. Sein Wunsch, den Bildschirmschoner fort zu klicken und durch die Dateien zu zappen, jederzeit bereit jede noch so unwichtig wirkende Information mithilfe seines außerordentlich ausgebildeten Gedächtnisses abzuspeichern, ist leicht zu erraten. Möglicherweise ist Conrad ein mittelmäßiger Soldat, doch gibt es nicht einen, der ihn in Scharfsinn und Cleverness nahekommt. Er ist der wertvollste Mann, den ich habe.

Mit leicht holprigen Schritten, die von seinen in die Jahre gekommenen Knien zeugen, geht der Juwelier auf die Vitrine zu und öffnet sie. Sollte ich den Mut aufbringen Jeanne zu fragen, Gott den Rücken zuzukehren und mir ihre Treue zu schwören, hätte ich den Ring zur Hand. Das weiße Gold schmiegt sich gegen die sauberen Handschuhe.

Nicht, dass ich sie zeitnah mit einer Frage nach ewiger Treue überfordern sollte. Jeanne ist fest davon überzeugt, dass sie niemanden vor ihrem zwanzigsten Lebensjahr heiraten wird. Und, wenn sie einem Mann ihr Ja-Wort gibt, soll der Priester ihn lieben wie sie selbst. Mehr noch: Der Priester sollte diesen Mann für sie ausgewählt haben.

Jeanne distanziert sich von mir. Der Ring wird sie wieder an mich binden.

Conrad beharrt darauf, Jeanne wüsste, dass ich sie bezüglich des Kampfes zwischen Engeln und Dämonen belüge. Und meiner Rolle darin. Wenn dem so wäre, würde sie meine Berührungen scheuen und meine Nähe verachten.

Wir haben einander seit Tagen nicht mehr gesehen. Durchschreite ich die Dimensionen und begrüße sie in ihrem Zimmer, schickt sie mich fort.

Meine Finger duften nicht mehr nach Orangen.

Dieser Ring wird Jeanne an mich binden. Er wird ihr das einzige Versprechen abringen, das jemals zählte.

Alle Zweifel, die sie plagen, werden verschwinden und eines Tages wird sie in der Lage sein, mich mit all den Aufgaben zu lieben, die auf mich warten.

Unser letztes, flüchtiges Gespräch klingt nach. Ich sei zu blass, wirke verschlossen, sei zu berechnend. Jeanne sagt sie liebt mich, betont es Mal um Mal.

Dieser Ring wird sie an mich binden. Er wird ihr das gute Gefühl zurückgeben und mich an die Person erinnern, die sie in mir gesehen hat. Die ich bereit bin, für sie zu sein. Dieser Ring wird mir alle Macht zurückgeben, die ich durch Jeanne errungen habe.

Kein Mann, der dem Priester imponiert und Jeanne umgarnt, wird bedeutsam genug sein, um ihr Versprechen ins Wanken zu bringen. Jeanne sagt, sie liebt mich. Für heute ist das genug. Für morgen brauche ich ihre Treue dringender als die Luft zum Atmen.

Wortlos überreicht der Juwelier mir den in einem kleinen Kästchen ordentlich auf blauen Samt gebetteten Ring. Im Tausch dagegen erhält er von mir Scheine. Geld ist der Menschen Höllentor.

Mit einem unverbindlichen Lächeln nimmt er seinen Lohn entgegen, verstaut ihn sorgsam in seinem Portemonnaie und faltet die Hände wieder ordentlich auf dem Rücken.

„Ich wünsche den Herren einen angenehmen Tag“, verabschiedet der Juwelier uns.

„Den wünschen wir Ihnen auch“, beweist Conrad seine gute Erziehung. Ich werfe dem Juwelier einen knappen Blick zu. Ein drückendes Ziehen, das ich nicht identifizieren kann, pirscht durch meinen Brustkorb, spannt seine Fäden und raubt mir die Luft zum Atmen.

Dieser Ring wird mir zu alter Macht verhelfen, Jeanne an meiner Seite.

Stumm halte ich Conrad die Tür auf, er nickt dem Alten noch einmal zu und betritt Seite an Seite mit mir die belebte Straße.

„Wirklich besser gelaunt scheinst du jetzt aber auch nicht zu sein“, murmelt Conrad und weicht geistesgegenwärtig einen Schritt zurück, um nicht durch einen unachtsamen Fahrradfahrer den Boden unter den Füßen zu verlieren.

„Mir bleibt kein Grund zur guten Laune“, sage ich kühl und lasse die kleine Schachtel mit dem Ring, den ich Jeanne schnellstmöglich übergeben sollte, in meine Hosentasche gleiten.

Conrad schüttelt langsam den Kopf. Die dunklen Haare fallen ihm in die bleiche Stirn. Die durchwachten Nächte zehren an uns beiden. Wer die Engel stürzen will, muss ihnen fünffach voraus sein.

Ich folge Conrad, während ich versuche, das Lärmen der Menschen auszuschließen. Der dumpfe Gestank, der in der Luft liegt, lässt mich die Nase kraus ziehen und mit dem Gedanken spielen, inmitten dieser minderbemittelten Wesen meine Macht offensichtlich zu demonstrieren und mich Heim zu teleportieren.

Jeanne würde das nicht gutheißen. Sie würde mich kaum eines Blickes würdigen. Ich dürfte sie nicht berühren. Sie würde sich mir entziehen und ich wäre … allein.

Das drückende Ziehen in meinem Brustkorb entflammt sich selbst. Langsam ziehe ich durch die Zähne die bitter schmeckende Luft ein. Conrad hat durchaus Recht. Es gibt für mich dringlichere Fragen als die, ob ich Jeanne verlieren könnte. Ich glaube nicht daran, dass Ezechiel allzu bald und überstürzt seine Rache dafür ausüben wird, dass ich Reykjavik einnahm ohne sein vereinbartes Vetorecht zu beachten und ohne von Gott gestraft zu werden. Aber mir steht dennoch klar vor Augen, dass die Engel allzeit bereit sind, ihre Armeen gegen mich marschieren zu lassen. Nur mit Vampiren und Höllenhunden als Brennmaterial bewaffnet, kann ich die Engel zwar überrennen und sie mit meinen Fähigkeiten und denen meiner Verbündeten in die Knie zwingen; gegen ein echtes Aufgebot der Stärke und Macht der Engel bliebe mir kaum eine nennenswerte Chance. Ich bräuchte Dämonen, Verbündete, um zum finalen Schlag ausholen zu können.

Doch müsste ich jeden einzelnen von ihnen aus der Hölle zu mir beordern, schlau gewählt und immer kontrolliert. Dafür kann ich nicht garantieren. Meine Macht steht auf Messers Schneide. Die Dämonen achten mich so lange, wie ich ihnen den Sieg bringe. Sobald die Engel mich zurückdrängen, ist mein Kopf der erste, der rollt. Durch das Schwert eines Dämons.

Ich brauche mehr Verbündete. Fürsten, die vor mir in die Knie gehen und mir ihre Männer überlassen.

Ich muss Jeanne an meiner Seite wissen. Ich bin der Schiffer auf hoher See, Jeanne mein sicherer Hafen. Ohne sie drifte ich hinaus aufs Meer und verliere die Küste aus dem Blick.

Noch immer hängt nur ein Herz an der fragilen Kette um meinen Hals. Eines ist zu wenig. Mit einem Fürsten an meiner Seite kann ich kein Ultimatum aufweichen und gegen kein Heer ausgebildeter Engel bestehen.

Ich bluffe. Ich bluffe auf höchstem Niveau.

Die Engel werden sich nicht ewig hinhalten lassen.

Die Zeit der Verhandlungen ist vorüber. Kein Engel lässt sich mehr darauf ein. „Ein Gott sollte nicht betteln, er sollte sich nehmen, was ihm gehört“, verhöhnten sie mich. Und das zu tun, das beabsichtige ich. In jeder Hinsicht.

Sobald die Zeit dazu gekommen ist.

Jeanne wirft mir das vor. Blutvergießen könne keine Lösung sein. Ich müsse verhandeln. Ich müsse friedlich siegen.

Was, wenn niemand mehr bereit ist, mit mir zu sprechen?

Wenn Jeanne wüsste, dass ich sie belogen habe, sie würde mich meiden. Sie würde meine Berührung scheuen.

Ich habe sie seit Tagen nicht mehr gesehen. Meine Finger riechen nicht mehr nach Orangen. Die metallischen Nuancen von Blut haften an ihnen.

Wenn sie wüsste, dass ich sie belogen habe, würde sie kein Wort mehr mit mir wechseln.

Jeanne spricht noch mit mir. Ich darf sie küssen. Ich darf sie halten.

Von Zeit zu Zeit.

Ich räuspere mich. Der Druck in meiner Brust bleibt.

„Du hast einen Ring für Jeanne. Und ich wette, wenn du mit ihrem Vater gesprochen hast und er dich abgesegnet hat, wird sie kein Problem damit haben ihn anzunehmen. Also was ist los?“ Conrads Frustration ist greifbar. Fast erheiternd.

„Ihr Vater ist nicht allzu angetan von mir“, entscheide ich mich für die Wahrheit.

Ich verziehe das Gesicht. Dabei hat der Priester keinen Grund, mich zu verurteilen. Ich sorge mich nicht nur um seine Ziehtochter, während er nach seiner ausschweifenden Feier das Vergnügen in der Kirche suchte, habe ich den Abwasch gemacht. Eine würdelose Arbeit, mit der ich mich nicht hätte befassen müssen und es doch tat, um meine Sorge um seine Tochter zu überspielen.

„Bei Lucifer, dann lächle ein bisschen lieb, lass deine charmante Seite raushängen. Du tust so, als könntest du den Willen der Menschen nicht durch ein einziges, gezieltes Lächeln unterwerfen“, schnaubt Conrad.

Damit der Priester mich erneut segnet? Während von Jeanne jede Spur fehlt?

„Möglicherweise werde ich mich alsbald damit befassen“, murmle ich.

Es gibt einen Grund neben Jeannes Ziehvater, der mich zaudern lässt. Einen, der unbedeutend genug sein sollte, um ihn zu ignorieren: der Anflug eines Gewissens, der mich von Zeit zu Zeit befällt. Es ist selbstsüchtig Jeanne durch diesen Ring an mich binden zu wollen. Es ist selbstsüchtig, sie bei mir halten zu wollen, während sie … von einem anderen Mann schwärmt, der nicht Gottes Namen trägt. Und auch nicht meinen.

Binnen der letzten Wochen beschlich mich die Ahnung, dass ich für Jeanne nur eines war: eine rebellische Phase. Eine Phase, die sie nun gelebt hat.

Jeanne sagt, sie liebt mich. Ist das Grund genug, um sie zu einem Leben an meiner Seite zu verdammen?

Während sie von jemand anderem spricht? Während sie mir nicht mehr in die Augen sehen kann.

„Solltest du“, sagt Conrad harsch. „Sonst werden wir nie damit fertig unser Reich wieder zu der gewohnten Größe zu führen. Wenn du sie dazu brauchst, dann nimm sie dir. Du kannst es. Warum Rücksicht auf sie nehmen?“ Conrad schnippt schwachsinniger Weise mit den Fingern. „Apropos, willst du deinen Job im Café nicht langsam kündigen? Du bist schon lange nicht mehr darauf angewiesen. Valerio schüttet dir pro Sieg Unmengen aus, weswegen wischst du wegen der paar Cent noch Tische ab?“

Jeanne befindet sich dort. Häufig. Von Zeit zu Zeit.

Sie lässt mich erbärmlich werden. Das Brennen in meinem Brustkorb sträubt die Nackenhaare und wird zu einem glühenden Trommeln. Sie macht mich schwach.

Ich lecke mir über die Zähne. Der Ring wird sie an mich binden. Mit diesem Ring wird alles getan, was getan werden muss.

„Ich befasse mich mit Menschen, um sie besser zu verstehen“, antworte ich sachlich.

Conrad tritt an die Straßenkante und streckt die Hand aus, um ein Taxi anzuhalten. „Du hältst die Menschen doch für das minderwertige Geschlecht. Also warum?“

Ich zucke achtlos die Achseln und öffne die Tür des haltenden Wagens. Conrad nennt dem Fahrer die Adresse und zurrt den Gurt fest um seine Schulter. Ich unterlasse es. Das ist eine schwachsinnige menschliche Eigenart. Sollte der Fahrer gegen einen Baum fahren, könnte ich vermutlich noch immer vollkommen unbeschadet das Gefährt verlassen. Sich anzuschnallen ist verschwendeter Kraftaufwand.

„Menschen studieren die Gewohnheiten von Ameisen, um sie möglichst effektiv zu beherrschen und im Notfall auch zu beseitigen“, sage ich. „Warum sollte ich irgendetwas dem Zufall überlassen? Vielleicht sind sie nicht mächtig, aber sie sind viele.“ Nachdenklich zieht Conrad das Smartphone aus seiner Jackentasche und beginnt darauf herum zu tippen. Eine Angewohnheit, die er zeigt, sobald er eine ganz und gar andere Meinung vertritt als ich, es jedoch nicht für notwendig erachtet, das zu diskutieren.

„Aber du liebst einen Menschen oder willst du das leugnen?“, nimmt er das Thema schließlich doch wieder auf, den Blick noch immer starr auf die sich hastig bewegenden Zahlen und Buchstabenfolgen auf seinem kleinen Gerät geheftet.

„Ich liebe Jeanne nicht. Sie ist ein Mittel zum Zweck.“

Conrad schnaubt leise und verändert die Kombinationen genug, um sie außer Kraft zu setzen. Die Seite, die Conrad nun betritt, ist mir fremd und könnte mich kaum weniger interessieren.

„Wenn du die Kleine nicht liebst, warum hast du dann diesen Ring gekauft?“ Weil allein der Gedanke daran, dass sie eines Tages in den Armen eines anderen einschläft, ein anderer sie dabei beobachtet, wie die Träume hinter ihren geschlossenen Lidern flackern und ihre Lippen sich selbst im Schlaf noch etwas öffnen, um zu ihrem Gott zu beten, mein Blut zu Asche wandelt. Diese Momente sollten mir gehören.

„Letzten Endes wird diese Situation auch für dich begreiflich werden“, verspreche ich ihm.

Conrads ungläubiger Seitenblick belegt, was ich bereits weiß: Er glaubt mir kein Wort. „Weißt du was, Raysiel? Egal wie herzlos du tust und wie sehr du dich darum bemühst, dass alle Welt dich als kaltherzigen Heerführer sieht, du wirst es trotzdem nie schaffen die, die dich vor dieser Zeit kennenlernen durften, davon zu überzeugen, dass du kein Herz besitzt.“ Conrad hebt die Schultern. „Also, von mir aus, lass den gnadenlosen, immer rechtschaffenden Gott gegenüber all deinem Brennmaterial und deinen Verwandten raushängen, vielleicht auch noch vor den Fürsten, aber vergiss nicht, dass dich vielleicht gerade deine Gabe Gefühle zu empfinden zu diesem unverzichtbaren Heerführer macht.“ Ich öffne den Mund, um zu widersprechen. Conrad nimmt sich das Recht heraus mich zu unterbrechen, ehe ich auch nur dazu kam, ein Wort zu sagen. An Tagen wie diesen wird mein Funken zu meiner größten Strafe.

„Denk einfach darüber nach. Wenn du wieder ein bisschen mehr zu Ray wirst und den allmächtigen Raysiel hinter dir lässt, dann legen sich vermutlich auch deine Beziehungsprobleme.“

Conrad ist meine bitterste Prüfung.

„Es gibt keine Konflikte in meiner Beziehung zu Jeanne“, sage ich. Mühsam kontrolliere ich meine Atmung und halte die Miene starr. Conrad wischt mit den Fingern über sein Smartphone. Der Homebildschirm leuchtet auf, einen neuen Link in der rechten Ecke.

„Klar. Ich weiß. Ihr seid glücklich wie am ersten Tag.“ Conrad rollt die Augen. „Vielleicht denkst du trotzdem darüber nach.“

Der Gedanke, dass er mir kein Wort glaubt, dünnt mein Nervenkostüm weiter aus. Der Taxifahrer wirft uns einen Blick über den Rückspiegel zu. Finster gebe ich ihn zurück und verschränke die Arme vor der Brust. Der Muskelanteil in meinem Körper hat über die letzten Monate exponentiell zugenommen. Waffentraining stand an, körperliche Fitnessübungen bis meine Muskeln streikten und ich kaum noch fähig war mich zu bewegen. Liegestütze bis zum Erbrechen. Ausdauertraining, bis meine Beine nachgaben. Die Torturen hätten mich umbringen müssen, damit ich Gabe gegenüber meinen suboptimalen physischen Zustand eingestehe.

Wie Valerio feststellte, wirke ich wieder wie ein Krieger. Auch an Jeanne ging diese Entwicklung nicht vorüber. Sie rollte den alten Streit über die Gefahren des Kampfes wieder auf. Den Streit darüber, dass sie sich in einen Jungen verliebt hat, der Gerechtigkeit mit Worten und nicht mit Waffen suchte, der bereit ist alles von sich selbst zu geben, um diese Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sie drückte mir gegenüber ihre Enttäuschung aus und ihre Ratlosigkeit. Sie könne sich keine Zukunft vorstellen. Nicht mit mir. Nicht so.

Eine Woche später berichtete sie erstmals von ihrem Klassenkameraden, Alexander. Er sei so humorvoll, clever, aufmerksam. Das exakte Gegenteil von dem Alexander, der für mich im Kampf sein Leben gab. Ein Name, zwei Seelen, die nicht gegensätzlicher sein könnten.

Alexander sei sanftmütig und charmant. Er wüsste sich zu artikulieren und ihr zu schmeicheln.

Ich vermute, Jeanne wünscht sich diese Wesenszüge an mir zu erleben. Es gibt Dinge, die ich ihr nicht geben kann.

„Jeanne liebt mich“, sage ich unvermittelt. Sie hat es mir versprochen.

Conrad fährt sich einmal energisch durch die kurzen, braunen Haare. „Daran zweifle ich keine Sekunde. Jetzt noch nicht. Aber wie sieht es in ein paar Wochen aus, Monaten, wenn die größte Verliebtheit verschwunden ist?“

„Das wird nicht geschehen. Sie ist mir verfallen“, sage ich energisch. Zu energisch. Durch diesen Ring werden unsere Probleme sterben.

Conrad zuckt noch einmal die Achseln. „Darauf würde ich nicht setzen. Wir hatten ein paar interessante Gespräche und …“

„Du hast dich mit ihr unterhalten und keiner von euch beiden hat mich darüber in Kenntnis gesetzt?“, unterbreche ich Conrad. Der Versuch meine Fassungslosigkeit in Zaum zu halten, scheitert kläglich.

Augenscheinlich nach und nach erbost, wirft Conrad die Hände in die Luft. „Natürlich! Verdammt, du bist uns beiden wichtig! Und wir hassen die Veränderung, die du momentan durchmachst, beide! Wir fragen uns, wie es sein kann, dass in so kurzer Zeit aus jemanden, der verzweifelt seine Bestimmung erfüllen will, so jemand geworden ist!“ So jemand? Einer, der seine Ziele verwirklicht und nicht länger bereit ist die Schwäche seiner Umgebung zu akzeptieren? Dieser Krieg verzehrt Leben, seitdem ich denken kann. Hoffen und Beten wird ihm kein Ende setzen. Es muss ein Mann kommen, der sich nicht davor scheut, das zu tun, was nötig ist. Der bereit ist, den Thron Gottes zu erklimmen. Koste es was es wolle.

„Sei doch so gut, Conrad, und definiere ,so jemand‘“, bitte ich ihn gefährlich ruhig.

Er presst die Lippen aufeinander, ehe er es tatsächlich wagt mir zu antworten. „Jemand, der rücksichtslos seine Ziele durchsetzt, bereit ist alles zu tun, um das eigene Bild stimmig zu halten. Jemand, der seine eigenen Freunde verrät.“ Conrad spielt auf Casper und Adriana an. Ihnen ist nichts geschehen. Sie tragen die Konsequenzen für ihre eigenen Entscheidungen. In welcher Form diese Konsequenzen sich zeigen? Wird mir eines Tages gleichgültig sein. Wenn mein Herz endlich so kalt ist wie Lynn und Valerio es wünschen.

„Ich befinde mich in einer anhaltenden Notsituation“, sage ich glatt. Zu glatt.

Conrad rollt leidgeprüft die Augen. „Das ist Unsinn. Ich bin dabei. Die ganze Zeit über.“ Und da findet sich das Problem. Conrad hat mir bei all meinen Geschäften Gesellschaft geleistet – und meine Entscheidungen von Mal zu Mal schärfer verurteilt.

„Alles, was ich tue, ist notwendig“, beharre ich. Und sei es nur, um mich emotional von den Engeln zu lösen. Emotionen machen mich nicht stärker. Sie zeigen mir meine Schwächen auf. Schuldgefühle zermalmen mich. Sie nehmen mir die Ruhe zum Denken. Ohne meinen Funken hätte ich heute keinen Ring gekauft.

Ohne das, was ich empfinde, bräuchte ich Jeanne nicht, um unbesiegbar zu werden.

„Natürlich“, schnaubt Conrad erneut und starrt desinteressiert aus dem Fenster. Ich folge seinem Blick. Die breiten, überfüllten Straßen sind schmaler geworden und die hohen Gebäude wurden durch ansehnliche Einfamilienhäuser ersetzt. Nicht mehr lange und mein Viertel wird erreicht.

„Weißt du, seitdem du so bist, frage ich mich immer öfter, woran ich bin, wenn du mich nicht mehr brauchst. Als mein Anführer bietest du mir noch vor vier Monaten das Du an, aber in dieser Zeit ist viel passiert und ich weigere mich schlichtweg nur zu tun und zu lassen, was du willst. Ich bin kein guter Soldat, Raysiel. Nicht, wenn mir der Anführer nicht gefällt.“

Ich rolle einmal mit den Schultern, um die frustrierte Spannung loszuwerden. Conrad begreift nicht. Er sieht den Punkt nicht.

„Lediglich auf diese Art und Weise respektiert man mich.“ Dämonen besitzen kein Herz. Sie sind rational.

Meine Hände riechen nicht mehr nach Orangen. Ich lecke mir über die Lippen. Dämonen besitzen kein Gewissen. Sie tun, was sie für richtig erachten, und stehen dafür mit ihrem Namen ein.

Der Taxifahrer biegt endlich in die richtige Straße ein.

„Das ist Unsinn! Ich habe dich respektiert, Bastian und Alexis auch, in gewisser Weise sogar Tiamats Sohn! Aber dachtest du wirklich, dass du aus dem Nichts kommst und allseits verehrt wirst?“ Ja. Das war meine Bestimmung. Wie ein Phönix aus der Asche emporzukommen und als Heerführer Engel und Dämonen zu einen – oder das Ungleichgewicht zu vernichten.

Nichts geschieht, wie es geschehen soll. Zu lange mussten die Dämonen mit der Angst leben, ich sei nicht länger unter ihnen. Sie hätten feiern sollen, als der verlorene Sohn zurückkehrte. Stattdessen zweifelten sie und hetzten mir unkontrollierbare Männer auf den Hals, die ich stolz meine Armee nennen sollte. Was ich lang genug tat. Bis sie mich verrieten.

Indem sie Jeanne durch die Hölle gehen ließen.

„Ich bin euer Heerführer, mehr sogar, euer Gott“, betone ich leise. „Ihr solltet vor mir niederknien.“ Ich bin endgültig. Conrad springt aus dem Wagen, ehe er steht, und stapft wie ein junges Balg in das Haus. Wortlos und mit eisigem Blick, der mir das Schweigen des Menschen garantiert, überreiche ich ihm das Geld passend und steige ebenfalls aus.

Der Mensch hat schneller gewendet und ist unverzüglicher verschwunden, als ich das Haus betreten konnte. Seine Reaktion ist kein Grübeln wert, stattdessen werde ich das Gemüt meines ersten Offiziers kühlen müssen, um ihn davon zu überzeugen für mich zu diesem Dinner heute Nacht zu gehen. Conrad soll meine Pläne darlegen und die Erfolge verdeutlichen, während ich meine Zeit bei Jeanne verbringe. Möglicherweise folgt sie mir heute auf die Straße für einen Spaziergang. Vielleicht lässt sie heute eine Berührung zu. Die unvermittelte Nähe der Schatten ist für mich angenehmer als das Stechen der Kreuze in ihrem Zimmer.

Um sie zu sehen, könnte man mich an mein eigenes Kruzifix schlagen. Für Jeanne bleibe ich, bis sie eingeschlafen ist, akzeptiere die Schmerzen. Wenn diese Toleranz nicht Liebe ist, was dann?

Conrad ist weiter gekommen, als erwartet. Die Tür fällt krachend hinter mir ins Schloss und die kalten Neonröhren erwachen knisternd zum Leben. Es ist demütigend hinter dem ersten Offizier herhasten zu müssen, um eine Bitte anbringen zu können. Es sollte andersherum sein. Möglichkeiten eröffnen mir keine neuen Wege.

Wann immer ich in diesem Tempo an Hausangestellten vorbei gehe, kichern sie bereits, wohlwissend, dass der Heerführer wiederholt dazu verdammt wurde, seinem ersten Offizier hinterher zu laufen. Ich sollte ihm die Leviten lesen. Letzten Endes würde ich darunter mehr leiden als er.

Seit wenigen Wochen hängt mein Bild in der Ahnengalerie. Zumeist verharre ich, um es zu betrachten. Um diese Ehre zu verdienen, habe ich alles hinter mir gelassen, wofür ich stehe.

Heute nicht.

Conrad hat sich das Recht herausgenommen meine Räumlichkeiten ohne meine ausdrückliche Erlaubnis zu betreten.

Mit einer Laune, die den Gefrierpunkt bereits unterschritten hat, stoße ich die lediglich angelehnte Tür auf, wohlwissend, dass Conrad bereits vor dem Computer sitzt und die wichtigsten Informationen protokolliert.

Der Computer brummt leise, mattes Tageslicht fällt durch die nachlässig geschlossenen Vorhänge auf den dunklen Holzfußboden, über den selbst bei Sonnenschein noch die Schatten geistern.

Nur ist die Person auf dem gepolsterten Stuhl davor nicht Conrad, sondern Arthur. Meine Hände verkrampfen sich und ich verstaue sie in meinen Taschen. Arthurs engelsblonde Locken stehen ihm wirr vom Kopf ab, während er mit aller Ruhe meine Daten durchforstet. Ein Dämon mit dem Gesicht eines Engels.

Er ist der hinterhältigste von allen.

„Was für eine Freude, Bruder!“ Bei dem eisigen Klang meiner Stimme zuckt er zusammen. Mit einem effektvollen Krachen fällt die Tür ins Schloss und trennt uns von der Außenwelt.

Mit weit aufgerissenen, blauen Augen dreht er sich langsam zu mir um wie der ertappte Sünder. Und eben das ist er in dieser Sekunde.

„Raysiel!“ Das Lächeln auf seinen Lippen könnte keinen Vampir überzeugen, keinen Höllenhund. Es ist fragil wie mein Glaube in die Gerechtigkeit. Ich beginne Conrads Leidenschaft für das Verschlüsseln von Dateien zu verstehen. Heute hat es mir einen entscheidenden Vorteil gesichert – vor meinen eigenen Männern.

„Was tust du hier?“ Der Zorn pirscht durch meinen Körper, die Nackenhaare aufgestellt. Mit aufgesetzter Lässigkeit schlendere ich zu meinem Bett und lasse mich auf die harte Matratze sinken, die Muskeln gespannt, jederzeit bereit auf ihn loszugehen und ihn büßen zu lassen.

Sein Blick huscht zu hastig über mich, über den geschlossenen Raum, bis hin zu dem einen leicht angelehnten Fenster. Arthur hat über die letzten Monate gelernt mich zu fürchten. Eine weise Entscheidung. Angst ist die einzig scharfe Waffe, die ich gegen meine eigene Familie schwingen kann. Wer sich fürchtet, folgt.

Und Treue? Bleibt das Ziel. Blinde Soldaten, die benötige ich. Und sie werden mir durch meine gnadenlose Arbeit zugesprochen.

„Vater wollte, dass ich mich ein wenig umsehe“, entscheidet Arthur sich schließlich für einen Fakt, der beinahe der Wahrheit entsprechen könnte. Beinahe. Wüsste ich nicht Dank Conrad, dass Valerio selbst nicht selten Gebrauch von meinen computertechnischen Gerätschaften macht, um sich besser in mein taktisches Gelage hineinversetzen zu können.

„Hast du etwas gefunden, das die Mühe wert war, Bruder?“ Seelenruhig lehne ich mich gegen die Wand und beobachte ihn wie ein Falke seine Beute. Arthur bemerkt die Intensität hinter meinem Blick. Er registriert sie und sie missfällt ihm.

„Nein, zugegebenermaßen nicht.“ Mit einer Selbstsicherheit, die er nicht empfindet, steht Arthur auf und zieht das weiße Hemd glatt. „Ich freue mich bei dem abendlichen Dinner auf deine Anwesenheit, Bruder“, verabschiedet er sich kühl und durchmisst mit gezielten Schritten den Raum. Für einige Momente spiele ich mit dem Gedanken ihn nicht gehen zu lassen, entscheide mich dann jedoch dagegen. Bliebe er, würde Blut fließen.

Arthur greift nach der Klinke und kann sie nach unten drücken, das Schloss löst sich leise knackend und er betritt den Gang. Ich folge ihm still auf den Fuß, etwas was er erst registriert, als er mit stolz erhobenem Kopf die Tür hinter sich zuschlagen will. Mit einer Hand fange ich sie auf und schließe sie ordnungsgemäß.

„Wir wollen übermäßige Lautstärke vermeiden. Es ist Mittagszeit“, erinnere ich ihn sanft, klopfe dem Bruder auf die Schulter, ehe ich meinen Weg gehe, fort von ihm, hin zu Conrad.

Um ihn an seinen Schwur zu erinnern. Den, der mir seine Gehorsamkeit sichert. Etwas, das von Mal zu Mal schwieriger wird. Conrad betont regelmäßig, dass er unter einem egoistischen Mann nicht kämpfen möchte, ihm sein Leben dafür zu wertvoll ist. Er versucht an meine Werte zu appellieren, die ich zu großen Teilen lediglich namentlich kenne und nie zu vertreten verstand.

Es sind zu jeder Zeit anstrengende Fachsimpeleien, die mit Kompromissen enden, an die sich niemand hält. Aber ich schätze das ist es, was Heerführer tun: Sie halten ihr Herz kalt und betrügen, um an der Macht zu bleiben. Andererseits würden sie fallen. Und als Gott kann ich mir die Blöße einer Niederlage noch weniger geben, als wenn ich lediglich der Anführer wäre.

Meine Hände riechen nicht mehr nach Orangen. Nuancen von metallischem Blut haften daran. Leise röcheln die Neonröhren. Der Ring drückt sich gegen meinen Oberschenkel.

2

Ich finde Conrad in dem alten Keller, wo vor einigen Monaten noch die Truppe ihr Leben fristete. Schweigend dreht er an Kabeln und verknüpft sie auf eine mir suspekte Art und Weise. Es ist durchaus faszinierend, wie schnell und präzise seine Finger arbeiten, um möglichst effizient das Ziel zu erreichen. Conrads Hände sind wie mein Geist: Sie ruhen nie.

Er bemerkt mich erst, als ich mich direkt hinter ihm stehend räuspere. Im Gegensatz zu Arthur zuckt er nicht zusammen, sondern vollendet seine Arbeit und schenkt mir dann erst seine Aufmerksamkeit.

„Was willst du?“, fragt er und vergreift sich dabei erheblich im Ton. Schmallippig betrachte ich meinen ersten Offizier. Möglicherweise braucht es doch einige gewaltsame Lektionen, um ihn auf seinen Platz zu verweisen.

Die Wahrheit ist: Ich wäre nicht in der Lage dazu.

Ein weiteres Mal gebe ich meiner Schwäche nach und setze mich auf den bloßen Boden. „Dich um deine Gesellschaft bei dem heutigen Dinner bitten“, antworte ich ihm höflich.

Conrad schnaubt abfällig und macht sich an die nächsten Schaltkreise und Kabelverknüpfungen.

„Und ich dachte schon, du willst mich um deine Stellvertretung bitten, damit du wieder ein wenig Zeit hast, um deine Jeanne verzweifelt weiter um den Finger zu wickeln.“ Bei seinen harschen Worten zucke ich beinahe zusammen. Conrad kennt meine Gewohnheiten genau. Meine Schwächen hat er studiert. Und in einem Anflug von Unbedarftheit habe ich es zugelassen.

„Heute nicht“, sage ich. „Jeanne und ich haben am heutigen Abend keine Verabredung.“ Eine dreiste Lüge. Nach Arthurs zweifelhaftem Auftreten bleibt mir nichts, als meinen Standpunkt selbst zu vertreten. Bei einem Abendessen mit Wesen, die ich am liebsten aufgelöst in Säure sähe.

Als Heerführer ist es meine Pflicht, meinen Männern zu dienen. Private Angelegenheiten werden zurückgestellt. Sie können niemals die gleiche Bedeutung haben wie mein Heer. Wie mein Auftrag. Selbst wenn meine privaten Angelegenheiten das Einzige sind, was mir ein wenig Ruhe spendet.

Nahezu mahnend scheint der Ring in meiner Hosentasche zu glühen, jederzeit bereit mich daran zu erinnern, dass jeder noch so kleine Fehltritt dazu führen kann, dass ich Jeanne endgültig verliere. Eine Möglichkeit, die mir nichts ausmachen sollte, mich aber umso mehr zerreißt. Die Vorstellung nur eine rebellische Phase zu sein … Jeannes rebellische Phase. Ein unbedarfter Moment. Mein eisig-gerechtes Herz schmerzt mir in der Brust.

„Klar doch“, spottet Conrad ohne mich anzusehen. Conrad bringt mir offensichtlich Verachtung entgegen und ich bin nicht dazu in der Lage, etwas gegen sein Verhalten zu unternehmen. Ein unachtsamer Augenblick würde mich nicht nur um meine fachkundige Begleitung am heutigen Abend bringen, sondern auch um den einzigen Vertrauten, der mir geblieben ist. Um den letzten … Freund.

Conrad tischt keinen Tee auf.

„Würdest du mich begleiten?“, beharre ich auf meine Frage.

Conrad schließt den Schaltkreis und dreht sich auf den Fersen hockend zu mir um. „Wirklich viel bleibt mir doch eh nicht übrig, oder?“

Ich begreife diesen leichten Hoffnungsschimmer in seinen Augen nicht. „Ich wüsste gerne um deine Unterstützung“, betone ich.

Conrad zuckt die Achseln, streckt den Rücken einmal durch und kommt um einiges fließender auf die Beine, als ich ihm zugetraut hätte.

„Nein darf ich sowieso nicht sagen“, murrt Conrad erstaunlich übellaunig.

„Ja“, antworte ich eisig. „Du dienst der Truppe, wie ich es tue.“ Sein stetiges Fragen und das Zerren an dem immer gleichen Thema ermüden mich über alle Maße.

Conrad richtet sich auf, sieht mir fest und unverschämt ruhig in die Augen. „Dann bis zum Abendessen, euer Hochwohlgeboren.“ Der Spott in seiner Stimme schmerzt mich mehr, als er sollte. Ein Verbündeter ist er, ja. Doch was, wenn er allzu bald zum Verräter wird? Mich haben bereits genug meiner eigenen Männer verraten. Conrad soll nicht dazu zählen. Sich gegen ihn wenden zu müssen, könnte mich in einen emotionalen Konflikt stürzen.

Mit einer Dreistheit, die kaum mehr in Worte zu fassen ist, stolziert Conrad an mir vorbei, die Treppe hinauf, und lässt mich in dem alten Keller zurück, dessen Boden noch immer dunkle Flecken von verschütteten Getränken aufweist.

Ich zupfe die Fliege zurecht und werfe mir einen letzten Blick im Spiegel zu. Über den Oberarmen hat das Sakko zu spannen begonnen, eine äußerst unangenehme Tatsache in Anbetracht dessen, dass ich am heutigen Abend wie der tadellose Heerführer wirken sollte. Ein weiteres hängt nicht in meinem Schrank. Die Fliege engt mich ein. Ich drehe meinem Spiegelbild den Rücken zu und stolziere durch den Gang auf den Speisesaal zu. Der große Raum wird in letzter Zeit häufig in Anspruch genommen, nachdem er so lange verwaist war, dass die Bediensteten tagelang nichts zu tun hatten, als den Staub zu entfernen. Risse wurden geflickt, Spinnen vertrieben, der Kamin wieder in Betrieb genommen.

Wäre der Speisesaal nie eröffnet worden, hätte es mir weniger widerstrebt. In diesem Raum haben wir als kleine Kinder Messen abgehalten, Vater hat Lynn beschworen. In diesem Raum habe ich Menschen sterben sehen und Engel und alle darüber und dazwischen. Ihr Blut habe ich getrunken und meinen Funken vergessen.

Ein guter Heerführer ist ein gleichgültiger Heerführer. Der Ring in meiner Tasche scheint mich zu verhöhnen.

Der Gang zum Dinner gleicht einem Todesmarsch. Jeder meiner Schritte hallt kalt von den nackten Wänden wider, einsam. Ich sollte bei Jeanne sein. Was auch immer zwischen uns geblieben ist, es ist fragil. Der kleinste Fehltritt könnte sie mir entziehen.

Stattdessen öffne ich die Tür zu dem Kaminsaal. Der Duft von den unterschiedlichsten, aufwendig zubereiteten Speisen schlägt mir entgegen gemeinsam mit den leisen, angespannten Gesprächen zwischen den Teilnehmern des heutigen Dinners, allesamt wichtige Persönlichkeiten. Und doch zumeist lediglich Menschen oder mäßig begabte Dämonen. Einzig Cayl könnte mir das Wasser reichen. Im entferntesten Conrad. Sonst wird das eine Konversation über Tatsachen, von denen keiner der Anwesenden eine Vorstellung hat.

„Meine Herren.“ Ich verneige mich leicht vor den anwesenden Männern, will mich schon setzen, als mir Seraphima ins Auge fällt. „Meine Dame.“ Seichter Spott schwingt in meiner Stimme mit, als ich ganz allein ihr eine weitere Verbeugung widme, lediglich um die Sitten zu ehren, bevor ich meinen Platz einnehme direkt neben meinem ersten Offizier. Wie es sich gehört. Unter ihren Blicken werde ich zu einem Maskottchen. Ein Heerführer ist nur so mächtig wie der Glaube in ihn.

„Raysiel.“ Valerio hebt sein Weinglas in meine Richtung. Prostet mir zu. Ein Akt des Respekts, den er mir ohne die zahlreichen Anwesenden niemals entgegenbringen würde. Der Höflichkeit halber erwidere ich seine Geste dennoch, allerdings mit einem Glas Milch in der Hand.

„Mein Heerführer.“ Ihr stolzes Murmeln hallt durch den Raum, wird von dem Knistern der Flammen erstickt. Sie sind kein weiteres Nicken wert. Stattdessen richte ich mich auf, erhebe mich über meine Untertanen.

„Meine Herren, lasst mich Euch über die letzten Errungenschaften informieren.“ Zu ihrem eigenen Glück lassen sie zu, dass ich aufstehe und den Stuhl ordentlich an den Tisch schiebe. Ich bin nicht hier um zu essen. Jede einzelne, verdorbene Seele in diesem Raum widert mich an.

„Mit der Unterstützung meiner drei Offiziere habe ich Tokyo, Reykjavik und Dallas zurückerobert. Einige Vampire sind zu unserem Wohl gefallen und gezählte Höllenhunde. Die Zahl der Engel wurde weiter der unsrigen angepasst, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.“

Die Beine von Conrads Stuhl scharren leise über den Boden, als er sich zu mir gesellt, ebenso angespannt wie ich selbst unter den stechenden Blicken der Menschen und Cayl.

„Dämonen an Eurer Seite hätten weniger Kollateralschäden verursacht“, gibt ein Mann zu bedenken, dessen Namen ich nicht kenne.

„Dämonen kennen in seltenen Fällen Treue“, antworte ich schlicht. „Und ich benötige blinden Gehorsam, um unsere Spezies zurück an die Spitze zu führen.“

„Und Macht. Macht, die dir nur Dämonen geben können.“ Ich bleibe stumm und blicke nüchtern in Cayls pechschwarze Augen. „Machen wir uns nichts vor, Raysiel, du stehst bis jetzt nur ungeschlagen da, weil du dich mit keinem komplizierten Stützpunkt befasst hast. In Aspen wird deine Taktik des Verheizens einfach nicht mehr aufgehen.“

Mit einer Ruhe, die ich nicht empfinde, schenke ich Cayl meine Aufmerksamkeit, nie vergessend, dass er der Grund für die Narbe an Jeannes Hüfte ist. Seine Boshaftigkeit, seine Skrupellosigkeit. Den irrationalen Hass herunter zu kühlen ist schwieriger, als es sein dürfte.

„Ich siege, so ist es doch“, antworte ich.

Er rollt abfällig die schwarzen Augen. „Noch. Aber würde meine Mutter …“

„Tiamat musste sich mir geschlagen geben. Sie ging vor mir in die Knie.“

Ein Muskel in seiner Wange zuckt, dann erhebt Cayl sich ebenfalls, steht mir und Conrad gegenüber, die feingliedrigen Finger zu Fäusten geballt. „Mutter ließ dich gehen. Weil sie Erbarmen kannte.“

„Sie unterlag meiner Macht. Ich selbst sprengte ihre Fesseln und verwüstete ihr Reich.“ Als die nüchterne Tatsache, die das Geschehen nun einmal ist, formuliere ich es, und als eben diese nimmt es jeder abgesehen von Cayl auf. Er schlägt unkontrolliert mit beiden Händen auf den Tisch, dass die Gläser klirren. Verhält sich wie ein Kind. Er empfindet ähnlich intensiv wie ich. Cayl wird einen höheren Preis zahlen.

„Du bist ein heuchlerischer Betrüger.“

„Ich bin dein Anführer“, weise ich seinen gewissenlosen Einwand ab. Cayls Antwort ist ein herbes Lachen. Aus dem Augenwinkel kann ich unschwer erkennen, wie Conrad mir einen zögerlichen Blick zuwirft, ehe er seine Gabel ergreift und vorsichtig damit gegen sein Glas schlägt. Das helle Klingen schwingt sich durch die angespannte Atmosphäre im Raum und bringt erste leise Diskussionen zum Verstummen.

„Mein Anführer und ich kamen heute nur, um euch über die Erfolge in Kenntnis zu setzen und über die 500 benötigten Vampire.“

„Ihr habt erst vor einem Monat eine derart unerhörte Anzahl gefordert!“, wirft einer der älteren Menschen ein.

Seraphima schenkt ihm ein spottendes Schnauben. „Unserem Heerführer steht zu, was er verlangt. Gebt seiner Forderung nach“, drängt sie sanft. Die Wangen des alten Herren färben sich rot und er schlägt die Augen nieder.

„Für heute. Aber vergesst bei eurem Krieg nicht, es ist nicht allzu einfach eine so hohe Anzahl von Vampiren aufzutreiben. Auch sie müssen erst geschaffen werden und …“

„Ihr kennt Euch damit mit Abstand am besten aus. Meine Herren, meine Dame.“ Wieder dieses lachhafte Verneigen meinerseits. „Andere Pflichten rufen. Es würde mich erfreuen Sie alle bei unserem nächsten Zusammentreffen begrüßen zu dürfen.“ Dämonen sollten nicht lügen. Ich bin ihr Heerführer, für mich gelten andere Regeln. Also kommen mir diese unwahren Worte mit einer verbotenen Leichtigkeit über die Lippen, ehe ich der dinierenden Gesellschaft den Rücken zuwende und gehe.

Ich drehe mich einmal in Jeannes Zimmer um, die Fliege locker um mein Handgelenk gewunden und das Jackett über meinen Arm geworfen. Doch egal wie oft ich mich umsehe, sie bleibt verschwunden. Kurzzeitig bin ich versucht zu dem Priester hinabzugehen und mich über ihren Verbleib zu informieren, entscheide mich dann aber für die um einiges sinnvollere Variante: Sie selbst aufzusuchen. Für eine atemberaubende Sekunde rauben mir die Dimensionen die Luft. Jeannes Gesicht halte ich mir klar vor Augen. Sie ist mein Dreh- und Angelpunkt. Das Leuchtfeuer, das mich aus dem Kaleidoskop hinausführt.

Als die tuchgleichen Dimensionen sich öffnen, bietet sich mir ein Anblick aus meinen düstersten Träumen. Hinter mir schließen sich die Welten und ich stolpere über meine tauben Füße gegen die kitschige Brokattapete. Der Geruch von Kaffee liegt in der Luft, der Duft von Zucker und Obst. „Du bist wunderschön.“ Beinahe ehrfürchtig sieht der durchaus attraktive junge Mann Jeanne an, einige penibel geschnittene, dunkle Strähnen in der Stirn. Der erste Eindruck zerrt an meinen Sinnen. Er wirkt wie Jeannes perfektes Gegenstück. Sein Lächeln ist weich wie ihr Lachen, die Augen intensiv wie ihre. Seine Stimme umschmeichelt und sie lehnt sich näher zu ihm, als führte er Jeanne an Fäden. Zwischen den beiden herrscht eine Anziehung, die mir die Kehle zuschnürt.

Der erworbene Ring scheint schmerzhaft gegen mein Bein zu klopfen, gut verstaut in der Hosentasche.

Leise lachend zwirbelt Jeanne eine blonde Strähne und neigt über ihrer dampfenden Tasse Kakao leicht den Kopf. Sein schwachsinniges, allzu offensichtliches Kompliment berührt sie. Alexander. Ich hatte kein Bild zu ihm vor Augen.

Ich hätte niemals darum gebeten. Seine Finger berühren ihre. Er darf sie anfassen. Er darf sie ansehen. Er darf ihr nahe sein. Sie lässt es zu.

Charmant. Aufmerksam. Freundlich. Empathisch.

All das, was ich nicht bin.

Jeanne strahlt. Sie wirkt glücklich. Aufrichtig glücklich. Zufriedener als sie es in meiner Gegenwart je war. Ihre einzige Liebe gilt Gott. Und sie betrachtet diesen Alexander, als wäre nur er von Bedeutung.

„Danke. Du auch.“ Jeannes Wangen werden feuerrot. „Also, naja, nicht schön, aber durchaus attraktiv.“ Ihr leises Kichern schneidet mir ins Herz und er fällt mit ein.

Angespannt warte ich darauf, dass Jeanne mich erwähnt. Als ihren Freund. Dass sie ihm ihre Hand entzieht und sich zurücklehnt.

Sie hat gesagt, sie liebt mich. Sie hat gesagt, sie bleibt.

Jeanne schweigt und nimmt lediglich einen Schluck aus der blassgelben Keramiktasse, während der Junge ihr gegenüber zu grinsen beginnt. Ich bilde mir ein zu hören, wie sein Herz erfreut schneller schlägt. Meine Macht rührt sich, geistert brennend durch meine Adern. Sobald sie die Oberhand gewinnt, werden sich meine dunkelblauen Iriden in völliger Schwärze verlieren und jede Emotion unterdrückt werden von unerklärlicher Rationalität, die ausschließlich nach den Fakten handeln würde. Die da wären, dass meine Gefährtin mich betrügt. Der Dämon in mir, allzu mächtig, würde ihren Tod fordern. Ihr Blut trinken. Ihre Leiche gegen die Tür des Priesterhauses schlagen.

Ich schaudere. Meine eigenen Gedanken machen mir Angst, während ich die beiden wie paralysiert beobachte. Mein Funken glüht, bis er mir den Verstand raubt. Bittere Galle.

„Du bist wirklich …“ Alexander räuspert sich und greift über den Tisch hinweg nach ihrer zweiten Hand. Sie sieht ihm in die Augen. Als wäre er ihr Dreh- und Angelpunkt. Ihr sicherer Hafen. Ihr Leuchtfeuer in finsterster Nacht. Jeanne verschränkt ihre Finger mit seinen.

Er ist wie sie. Wohlerzogen, verklemmt. Charmant, treu, ehrlich. Aufgeschlossen.

Verliebt.

„Du bist das wunderbarste Mädchen, das mir jemals begegnet ist“, haucht er.

Jeanne zieht die Schultern leicht nach oben. Das tut sie, wenn sie sich geschmeichelt fühlt. Zumeist folgte auf diese Geste ein flüchtiger Kuss. Ein leises Lachen, das mir ins Herz schnitt und mich gleichzeitig zum Leben erweckte.

Ich will mich von der Wand lösen und bemerkbar machen. Mein Körper verweigert mir den Dienst. Gestützt von den Schatten lehne ich am anderen Ende des Raumes und bete dafür, dass Jeanne meine Blicke bemerkt, ehe sie etwas tut, das mir meine Beherrschung raubt.

Ich will ihr nicht wehtun. Alles, was ihr widerfährt, strahlt tausendfach auf mich zurück.

Das Bild vor mir raubt mir den Atem. Eine zittrige Unruhe pirscht sich an mich heran.

„Danke.“ Ihre Augen glitzern. Mit dem Daumen streichelt Alexander ihr über den Handrücken. „Und du bist mit Abstand der freundlichste und liebste Junge, den ich je kennenlernen durfte.“ Steif kneife ich mir in den Oberarm. Der Schmerz zieht sich stechend durch meinen Körper, wird jedoch allzu schnell von den Qualen erstickt, die in Strahlen von meinem Herzen abgehen. Der liebste Junge, den sie je kennenlernen durfte?

Ich bin kein Junge mehr. Ich bin nicht lieb.

Jeanne ist mir fremd in einem Albtraum, den ich nicht begreife, als er sich langsam über den Tisch nach vorn beugt und sie küsst. Und sie es zulässt. Ihre blonden Strähnen fallen zwischen ihnen auf die Tischplatte, kitzeln ihn vermutlich im Gesicht. Während er sie so berührt, wie nur ich es durfte. Bis vor Momenten.

Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Die blonden Locken kringeln sich neben den Tassen. Wir waren verabredet.

Das Brennen wird stärker, raubt mir den Verstand und reißt die Schatten zu mir. Mein Blut verwandelt sich in Asche. Das Bild von Jeannes leblosem Körper huscht durch meinen Kopf. Blanke Panik klammert sich an mich und breitet sich langsam aus, bis jede meiner Fasern aus ihr besteht. Jetzt die Beherrschung zu verlieren, wäre zerstörerisch.

Schweigend warte ich darauf, dass Jeanne den Jungen von sich schiebt und ihm sagt, dass ihr Herz mir gehört. Oder Gott. Sie versprach sich Gott.

Sie tut es nicht. Alexanders Finger streicheln durch ihr Haar. Ich rieche Orangen und mir wird übel.

Jeanne wartet bis er zurückweicht und gibt ihm einen weiteren Kuss. In den letzten Wochen musste ich Jeanne um Zuneigung bitten. Ihm schenkt sie mehr, als er verlangt.

Ihr sanftes Kichern, das mich gleichzeitig peinigte und auferstehen ließ, erreicht mich kaum. Das Rauschen meines eigenen Blutes ist zu übermächtig. Ich sehe rot, als er die Hand ausstreckt und sie ihr in den Nacken legt – und Jeanne sich nicht wehrt.

Verzweiflung tut weh. Ich lernte sie bereits vor dem heutigen Tag kennen. Ihr unnachgiebiges Brennen, wie sie mir den Hals zuschnürt und die Luft zum Atmen nimmt.

Das hier geht tiefer, als ich nach der kleinen Schachtel greife, in der der grazile Ring ruht. Ich wusste, dass ich Jeanne nicht verloren habe. Was zwischen uns ist, das ist fragil. Ich gebe ihr, was ich ihr geben kann.

Ich bin nicht lieb, nicht charmant, nicht aufgeschlossen, nicht ehrlich.

Ich sehe sie dort mit einem Jungen, der zu ihr passt. Ebenso fromm, ebenso sanft. Ruhig, bedacht. Wie sie.

Es waren nur unbedachte Monate, die sie mir schenkte. Noch ein Kichern, das er mit einem kleinen Lachen beantwortet.

„Darf ich darauf hoffen, dass du … Also dass wir…“ Wieder räuspert er sich. Ich krampfe die Hand um die kleine Schachtel in meiner Hosentasche, hoffe darauf, dass er ihr nicht die Frage stellt, die ich befürchte. Mit einer unbedarften Ernsthaftigkeit weicht Alexander ein winziges Stück von ihr zurück und legt die Hände flach auf das beige Tischtuch. „Jeanne“, er räuspert sich und am Nachbartisch lacht eine fremde Frau laut auf, „würdest du meine feste Freundin sein wollen? Mit mir gehen vom heutigen Tag an?“

Jeanne zaudert. Ich habe zu atmen verlernt. Ihr Blick zuckt. Dann kehrt das Lächeln auf ihre Lippen zurück.

Sie sagte mir, dass sie mich liebt. Sie schwor es mir. Was ich ihr gebe, das ist genug. Sie liebt mich.

Die blonden Haare fließen um ihr Gesicht, über ihre Brüste.

Sie liebt mich. Sie vertraut mir.

Leise glucksend rollt sie die Augen.

Ich habe mir das mit ihr nicht genommen. Sie steht bei mir. Sie macht mich mächtig, sie lässt mich unbesiegbar fühlen.

„Ja“, flüstert Jeanne. „Unglaublich gerne.“ Ihre Antwort zieht mir den Boden unter den Füßen fort. Zischend verwandelt sich die Asche in Blut, das Blut zu Asche, die Asche zu Blut. Ich taumle, stütze mich hektisch an dem Tisch vor mir ab. Krachend verliert er das Gleichgewicht und fällt zu Boden. Die Tischdecke rutscht hinab, die bereitgestellten Gläser zerschellen. Nichts davon kümmert mich, während mein Blut pulsiert. Zu Asche wird. Glüht. Zischt. Mich mit einer Macht erfüllt, die jeden Anwesenden in der Luft zerreißen kann.

Bis Jeanne mich ansieht. Die grauen Augen hat sie erschrocken aufgerissen, den Mund leicht geöffnet. Schuldbewusst. Im krassen Gegensatz dazu steht die Irritation ihres … Geliebten.

Die Asche verdampft. Ich habe nichts zu bieten. Ich habe nichts, für das es sich zu kämpfen lohnt.

Jeanne sieht mich an und ich falle.

Der Ring verbrennt mir das Bein und ich wende ihr den Rücken zu.

„Ray?“ Unglauben? Angst? Ich begreife nicht, was in ihrer Stimme mitschwingt. Es dringt nicht zu mir durch. Nichts spielt mehr eine Rolle.

Ungelenk stoße ich die Türen auf, nehme nur am Rande wahr, dass einer der Kellner auf mich zueilt. Beißender Nachtwind schlägt mir entgegen. Mit einer Hilflosigkeit, der ich niemals hätte ausgesetzt sein sollen, rufe ich meine einzigen Verbündeten zu mir. Dunkel umwabern sie mich und schenken mir Kraft, als die Tür des Cafés ein weiteres Mal aufschlägt. Weit genug entfernt bin ich, um nicht mehr hören zu können, was sie sagt. Ich bin weit genug fort, um vorzugeben zu können, dass ich nicht höre, wie sie mir folgt.

Die emotionale Schwäche wird von der Kälte davongeweht und durch eine erschreckende Rationalität ersetzt: Aspen muss heute Nacht fallen, wenn sich für die Engel keine weitere Chance bieten soll ihren Stützpunkt besser zu sichern. In den nächsten Stunden muss es in Schutt und Asche liegen, um Cayl zu beweisen, dass tatsächlich ich es war, der die Fürstin in die Knie zwang für ein Mädchen, das die Treue, die ich von ihr benötige, nicht kennt und stattdessen einem Anderen das Versprechen gibt bei ihm zu bleiben.

Ich sollte ihr den Kopf abschlagen und ihr Blut trinken.

Alles, was Jeanne zustößt, fällt tausendfach auf mich zurück.

3

„Es ist mitten in der Nacht“, murmelt Conrad, die Augen zusammengekniffen. Ich ignoriere seinen vorwurfsvollen Blick, bekomme das Bild nicht aus dem Kopf, wie Jeanne und ihr Bilderbuchfreund sich küssen. Er durfte sie berühren. Er durfte ihr nahe sein.

„Wir werden noch heute Aspen einnehmen“, setze ich Conrad in Kenntnis.

Er schüttelt den Kopf und zieht sich die Decke bis zum Kinn. „Die Vampire sind noch nicht da. Und wir beide gegen hunderte? Ich hänge an meinem Leben. Alexis und Bastian würden das Ganze auch nicht besser machen. Sie sind mächtig, keine Zauberer.“

„Du widersetzt dich meinem Befehl?“

Vage erkenne ich, wie Conrad den Kopf schüttelt. „Gute Nacht, Raysiel. Lass uns diese Diskussion morgen weiterführen.“ Ich will sein Blut. Ich brauche seinen Tod. Leben, das durch meine Finger fließt und sich mir unterwirft. Bitter verziehe ich die Lippen. Conrad will nicht an meiner Seite kämpfen? In mir befindet sich ausreichend hilflose Wut, um Gottes gesamtes Himmelreich in Schutt und Asche zu legen. Ich bin mächtiger, als Engel und Dämonen sich träumen lassen.

Emotionskalt lasse ich Conrad in seinem Bett zurück, suche nicht nach Waffen oder Verstärkung, nach Treue oder Rückhalt, sondern ergreife die beste Möglichkeit, die sich mir momentan bietet: Ich gehe persönlich und allein mit meiner Macht gegen sie vor, Antaura verlässlich an meiner Seite. Wenn meine Männer morgen erwachen, werde ich als einsamer Sieger aus dieser Schlacht hervorgehen, das Blut von Jeannes Engeln noch am Körper und genau dann werde ich Jeanne aufsuchen, werde sie fortsenden und vergessen. Wie Jeanne es verdient hat, ihrerseits eine üblere Lügnerin als ich.

Auf einer eisigen Anhöhe lassen die Dimensionen mich zurück, direkt vor den Toren ihrer Festung. Ein elegantes Herrenhaus, wie auch Valerio es besitzt. Unbewaffnet, nur mit dem Ring in meiner Tasche und diesem Hass in meinem Herzen, greife ich Kraft meines Geistes nach der Klinke und verschaffe mir gewaltsam Zutritt, ohne zuvor darum gebeten zu haben.

Taghelles Licht empfängt mich im Inneren des Anwesens. Und ein bemitleidenswerter Engel.

Das Bild wie Jeanne Alexander ein weiteres Mal küsst, unaufgefordert, hat sich in meine Netzhäute eingebrannt. Ich musste um ihre Nähe bitten.

Es ist mir gleichgültig, ob dieser Engel etwas getan hat, was sein Sterben rechtfertigt. Er hat wie dieser Junge braune Haare und das genügt, um mich auf ihn zu stürzen. Er spannt die Flügel, wirbelt herum. Federn stieben in die Luft als ich ihn ohne Waffen, allein mit meinem Willen, bezwinge. Kraft meiner Gedanken die Hände um seinen Hals lege und ihm die Luftröhre abdrücke. Röchelnd sinkt er zu Boden. Jeanne würde mich hierfür hassen. Sie würde wollen, dass ich helfe und sei es nur in Form der letzten Gnade.

Aber ich sehe in seine flehenden, braunen Augen und gehe. Vielleicht wird sich später Skrupel unter den Schmerz misch. Viel später. Wenn ich nicht mehr ihr glückliches Kichern höre und sein zufriedenes Lachen. Nicht mehr höre, wie sie mit einem einzigen verdammten Wort, zwei Buchstaben, unsere Beziehung beendet hat und sich einem anderen versprach. Zwei Buchstaben, ein Moment.

Diese Tode, Jeanne, obliegen dir.

Ich stoße die Flügeltüren zu dem vermeintlichen Konferenzraum auf. Die murmelnden Stimmen ersterben. Die Engel sind nicht vorbereitet, sie sind erbärmlich, erwarteten einen großen Angriff und nicht einen einsamen geschlagenen Dämonen, der die Hände in die Höhe reißt, sich verzweifelt an allem festhält, das sich ihm bietet, nur um es zu zerfetzen und in einem tödlichen Wirbel wüten zu lassen.

Aus einer unbeschreiblichen Ferne höre ich meinen eigenen markerschütternden Schrei, während Holz kracht, Kronleuchter fallen, der Boden sich zum Himmel hebt und Engel beginnen ihre Kräfte gegen mich zu mobilisieren. Sie kämpfen vermutlich tapfer, sie treffen mich mehrmals. Ich spüre ein dumpfes Stechen in der Seite und weiß, dass der Engel für diese Wunde büßen musste. Ich weiß es, doch erlebe nichts davon.

Ja, unglaublich gerne. Unglaublich gerne. Wäre ich zu diesem Dinner nicht gegangen, vermutlich hätte ich sie umstimmen können. Sie wäre nicht mit diesem Jungen in dieses Café gegangen, er hätte sie nicht vor mir fragen können. Sie hätte seine verdammte Frage nicht bejahen können. Mein Herz, obwohl ich hätte schwören können, dass ich keines besitze, würde nicht diese Höllenqualen leiden mit ihrem leisen Lachen im Ohr, das nicht für mich bestimmt war.

Die Engel bekämpfen mich, während ich mich auf das brutalste gegen den Schmerz stelle. Er raubt mir die Sinne. Jeannes Kopf oder die Flügel der Engel. Ich bin eine Naturgewalt, entfessle mehr, als ich habe, sehe verschwommen in entsetzte Gesichter, verzerrt von derselben grausigen Überraschung, die ich empfand, als ich Jeanne diesem Jungen gegenüber auffinden musste. Glaubend, hoffend, dass sie zu mir steht, ihn darüber in Kenntnis setzt, dass ihr Herz bereits vergeben ist. Sie hat es nicht getan. Sie kannte keine Gnade.

Ihre Liebe gilt Gott.

Gott oder denen, die ihn lieben.

Gnade ist eine Idee. Sie erschließt sich mir nicht länger. Blutgetränkte Federn segeln durch die Luft, legen sich in einem dunklen Teppich auf den Boden und auf mich. Einige verbergen ihre Flügel verzweifelt in den letzten Sekunden, sodass man fast meinen könnte, ich kämpfte gegen Menschen.

Feuer aus Engelshänden verzerrt meine Sicht, Wasser in meinen Lungen nimmt mir die Fähigkeit zu atmen. Das alles sollte mich aus dem Gleichgewicht bringen, gar töten. Tut es nicht.

Ich bin ihr Gott. Ich bin ihr nächster Gott. Verschone ich sie, werden sie über kurz oder lang zu mir beten. Und ich sie vernichten.

Jeannes Verrat wiegt schwerer als jedes Leid der Welt. Der Verlobungsring in meiner Hosentasche. Würde ihr der blaue Stein besser gefallen? Der rote? Gar keiner, wenn er aus meiner Hand kommt.