Fürchte mich nicht - Celina Weithaas - E-Book

Fürchte mich nicht E-Book

Celina Weithaas

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Beschreibung

"Götter werden nicht geboren. Sie werden gemacht." Raysiel ist der Heerführer der Dämonen. Bis ein Engel ihn stürzt. Als er aus seinem Exil zurückkehrt, hat Raysiels Welt sich verändert. Seine Spezies droht auszusterben. An Raysiels Namen will sich niemand mehr erinnern. Seine Taten wurden vergessen. Auf der Suche nach einem Weg, der das Überleben der Dämonen sichert, trifft Raysiel auf Jeanne und verliebt sich in sie. Mit Jeanne als größte Schwäche wird Raysiel auf die Probe gestellt, während ihm Engel und Dämonen nach dem Leben trachten.

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Fürchte mich nicht

© 2022 Celina Weithaas

Umschlaggestaltung und Design: Franziska Wirth

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Taschenbuch: 978-3-347-51275-7

ISBN e-Book: 978-3-347-51276-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Chroniken des Grauen Mannes

Phase I:

Die Poison-Trilogie:

Dark Poison (Oktober 2018)

Cold Poison (Januar 2019)

Dead Poison (September 2019)

Die Jahreszeitentrilogie:

Spring (31. Dezember 2019)

Fall (31. Dezember 2020)

Winter (31. Dezember 2021)

Phase II:

Die Märchendilogie:

Erzähl mir Märchen (05. November 2019)

Märchen für Dich (01. Mai 2020)

Die Mitternachtstrilogie:

Fünf Minuten vor Mitternacht (02. September 2020)

Zehn Sekunden vor Mitternacht (21. April. 2021)

Vor Mitternacht (13. Oktober 2021)

Die Dämonentrilogie:

Fürchte mich nicht (21. April 2022)

Vergiss mich nicht (02. September 2022)

Verlass mich nicht (01. Mai 2023)

Die Götterdämmerungstrilogie:

Götterdämmerung – Verschwörung (05. November 2023)

Götterdämmerung - Verlockung (01. Mai 2024)

Götterdämmerung - Verdammung (02. September 2024)

Die Ich-Bin-Trilogie:

Ich bin Du (21. April 2025)

Du bist Ich (13. Oktober 2025)

Wer ich bin (21. April 2026)

Phase III:

Die Geschichte des Grauen Mannes:

Die Geschichte des Grauen Mannes oder Komm mit mir nach Gestern (02. September 2026)

Chronicles of Kings and Queens:

Blutzoll (01. Mai 2027)

Blutangst (05. November 2027)

Blutrache (01. Mai 2028)

Blutdurst (02. September 2028)

Blutmond (21. April 2029)

Blut-Matt (13. Oktober 2029)

Phase IV:

Die Foscor-Trilogie:

Laufe (31. Dezember 2027)

Bleibe (31. Dezember 2028)

Vergesse (31. Dezember 2029)

Erinnere (31. Dezember 2030)

Verdamme (31. Dezember 2031)

Erwache (31. Dezember 2032)

Phase V:

Die Trilogie von Gottes Tod:

Von verblühender Unschuld (21. April 2030)

Von leidendem Verrat (02. September 2030)

Von verzweifelter Liebe (01. Mai. 2031)

Die Ewigkeitsdilogie:

Endlicher Triumph (13. Oktober 2031)

Triumphale Ewigkeit (01. Januar 2032)

Das Ende:

Nun, da es das Ende ist (31. Dezember 2032)

Für Franzi. Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde. Dein Genie gibt meinen Büchern das schönste Gesicht.

Prolog

Menschen sterben tausend Tode, ehe ihre Seelen zerbrechen. Für mich genügte ein einziger Moment in einer regnerischen Novembernacht unter dem schweren Blutmond, der unheilvolle Schatten auf die nassen Gräser warf, um meine Seele zu verlieren.

Dämonen ruhen nie. Diese Dämonin suchte mich seit jeher heim. Sie kam aus dem Nichts, die schmalen, schneeweißen Finger gefaltet und den Kopf stolz gesenkt. Das Haar, blass wie der Polarstern, fiel ihr in die hohe Stirn. Die blutleeren Lippen bewegten sich nicht, als sie auf mich zukam. Kein Atem ging durch ihren Körper. Ihre Bewegungen waren die einer Toten, während sie lebendiger war denn je.

Menschen hören tausend Worte, ehe sie verschwinden. Für mich genügten drei, die geisterhaft durch die Nacht huschten und sich über den weiten Feldern verloren. „Fürchte mich nicht.“ Sie bewegte sich mit der tückischen Grazie einer weißen Königsnatter. Die Füße berührten den Boden nicht, die Hände tasteten im Nichts. Jeder Laut tilgte sich, ehe er entstehen konnte. Das Rascheln von Flügeln und das Zucken von Tatzen verstummte. Sie war alles und nichts. Um sie drehte sich meine Welt. Das Leben hielt den Atem an.

Als sie die Hände hob, schien es Blut zu regnen. Das Blut der von ihr geschundenen Seelen. Der Blutmond ertrank in seinen eigenen Opfern. „Fürchte mich nicht, mein Sohn.“ Die blutleeren Finger strichen über meine Wangen. Eine grausige Liebkosung, die mich an frostige Winternächte und wütendes Schneetreiben erinnerte. Auf ihre eigene Weise schüttete meine Dämonin mir ihr kaltes Herz aus.

Nur eine Berührung. Eine Berührung, durch die hindurch ich ihre unsägliche Macht spüren konnte. Dieses Beißen und Reiben von Gnadenlosigkeit und Zorn mit dem sie Seelen zerspringen ließ und Herzen raubte.

Es brauchte einen Kuss von ihr, ein Streifen ihrer eisigen Lippen über Haut, um jede Menschlichkeit in tausend Scherben zerspringen zu lassen.

Meine Dämonin holte in dieser schicksalshaften Novembernacht zu ihrem letzten Gegenschlag aus. In dieser Nacht wollte sie unseren Krieg gewinnen. Sie hatte gewartet, bis der Mut mich verließ und ich von fremden Emotionen getrieben fortlief.

In meinem Heim behielt Valerio die Oberhand. Hier draußen zwischen Feldern und Wäldern gehörte ich ganz ihr. War ihr ausgeliefert wie das Licht dem Schatten. Das schneeweiße Haar klebte ihr nass am Schädel, Regentropfen liefen über ihre Wangen wie falsche Tränen. Mein Herz schlug. Nicht um mein Leben. Um das jedes Menschen, jedes Engels, das ich nehmen würde, sobald sie nach meiner Seele greift und diesen letzten Funken unter der gnadenlosen Eiseskälte ihres Kusses zersplittern lässt.

Konnte sie die Furcht in meinen Augen sehen? Hörte sie mein stummes Flehen?

Sie strich mit den Fingerspitzen über meine Kehle. „Du solltest sie in die Schlacht führen, mein Sohn.“ Ich wich dem Blick aus den toten, schwarzen Augen aus. Ganz gleich, ob ich damals hineinsah oder heute, nichts spiegelte sich dort wider. Weder Wut noch Hass noch Zuneigung. Sah man sie an, verlor man sich in einer seelenzerschmetternden Leere. „Du solltest über sie regieren, dafür habe ich dich geboren.“

Dämonen werden nicht geboren. Sie werden geschaffen. Jedes Kind erwacht mit einem Funken Leben in seinem kleinen Herzen. Wird er ihm nicht ausgetrieben, wächst er und formt einen empathischen Charakter. Ich behütete mein winziges Feuer mit allem, was ich besaß. Ich liebkoste und schürte es, ich verbarg und vergaß es. Doch die ganze Zeit über hörte es niemals auf zu brennen.

„Raysiel.“ Aus dem Mund einer Mutter erwartete ich rügende Sanftheit zu hören. Ihre Lippen verließ nichts als ihr seelenloser Atem und leere Worte. „Werde der Heerführer, zu dem ich dich geboren habe.“

Sie bat mich in jener Nacht nicht, Ehre und Heer anzunehmen. Sie verlangte, dass ich das Schwert in die Hände nahm, es zum Himmel reckte und Blut vergoss. Bis die Welt unter der Last des Todes zersplitterte.

Als ich meinen Rucksack unter dem Bett hervorkramte und aus Valerios Haus floh, tat ich es, um der Grausamkeit zu entkommen, die ihre langen Finger nach mir ausstreckte, seelenlose Augen in dem feingeschnittenen Gesicht.

Als ich floh, lief ich ihr in die Arme.

Die Anwesenheit meiner Dämonin stahl mir die Stimme. Stumm stand ich dort. Der Regen prasselte auf uns hinab, durchnässte meine Kleidung und verbarg meinen dampfenden, keuchenden Atem. Bittere Angst durchflutete mich und trieb mir Tränen in die Augen, die meine Dämonin nicht sah.

Sie legte beide Hände an meine Wangen. Nie zuvor sickerte eine ähnlich unnachgiebige Kälte durch meinen Körper. Meine Dämonin suchte meinen Blick, die leeren Augen auf mich gerichtet. Versuchte sie, meine Seele zu finden? Nach ihr zu greifen und sie zu vernichten? Durchgrub sie mich auf der Suche nach dem Funken, der mir mit dem ersten Atemzug in das Herz gepflanzt wurde?

„Götter werden nicht geboren“, wisperte sie in die Nacht hinein. Fluten stürzten vom Himmel und färbten sich in dem gespenstischen Licht des Blutmonds, das sich durch die schweren Wolken stahl, rot. „Götter werden gemacht.“

Seit jeher behütete ich diesen Funken, schürte und verbarg ihn. Er war mein Heiligtum in einem Leben aus Blut und Verrat. Er sollte mich an die Person erinnern, zu der ich werden wollte.

Als die Lippen der Dämonin meine eigenen berührten, fuhr ein frostiger Winterwind durch mich. Er verschonte meinen Körper, er berührte nicht mein Blut. Er bündelte sich in meinem Herzen und zerschlug das, was der Mensch wohl Seele nennt.

Mein Funken flackerte wie eine schwache Kerzenflamme im Sturm. Dann erlosch er.

Menschen sterben tausend Tode, ehe ihre Seelen zerbrechen. Für mich genügte ein einziger Moment in einer regnerischen Novembernacht unter dem schweren Blutmond, der unheilvolle Schatten auf die nassen Gräser warf, um meine Seele zu verlieren.

Kapitel eins

Die grünen Gräser biegen sich in dem weichen Licht der Sonne. Ähren streicheln meine Arme. Ein frühlingshafter Duft steigt mir in die Nase, während die erste Wärme des Jahres auf diesem paradiesischen Fleckchen Erde ruht, begleitet von dem aufgeregten Flügelschlagen der Schmetterlinge.

Ich sitze im weichen Gras und höre ihr dabei zu, wie sie leise vor sich hin summt. Die weichen Melodien sind mir fremd. Eingängig und einfach wirken sie. Kinderlieder? Ihre weiche Stimme erinnert mich an meine geheimsten Träume, an meine kühnsten Wünsche. Wenn ich ihr lausche, flammt der winzige Funken in meinem Herzen auf und will zu einem Feuer wachsen, das die Emotionen aus ihrem eisigen Käfig befreit und die Vernunft ersticht.

Abwesend flechte ich ihren Zopf, nur um die Knoten wieder zu lösen. Jeannes Blick schweift gen Himmel. Die Wimpern schützen ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht, während ihr seliges Summen durch meine Knochen vibriert und mir ein ratloses Lächeln auf die Lippen zaubert. Ich berühre sie wie das Kostbarste, was ich besitze, und sie lehnt sich in jedes noch so beiläufige Streicheln meiner Finger.

Es ist der schönste Tag seit immer. Wir, an diesem Ort, gemeinsam, die Gefahr gebannt.

Wir trugen beide unsere Male davon. Sie erinnern uns an meine Siege.

Sie machen unsere Niederlagen unvergessen. Über mein Herz wurde eine tiefe Narbe getrieben, die bei jedem Aussetzen des Pulses schmerzt und mir das Atmen verbietet. Um Jeanne vor dem Tod zu bewahren, würde ich sie mir täglich zufügen lassen. Meine Qualen sind nichtig in dem Vergleich zu der Hölle, die meine Dämonin für Jeanne auf die Erde trug, um sie zu zeichnen. Die Narbe an ihrer Hüfte wölbt sich gegen meine Fingerspitzen. Ein Mal, das mich an die Person erinnert, zu der ich geboren wurde. Ein Mal, das mir vor Augen führt, dass ich vor mir selbst gescheitert bin.

Jeanne beschwört mich, dass mein Urteil Unsinn sei. Ich sei längst über den Mann hinausgewachsen, zu dem man mich geboren hatte. Sie versichert mir, dass sie jeden Grund habe, mich zu lieben und mit mir ihr Leben zu teilen.

Über die Jahre habe ich begonnen, ihren Worten Glauben schenken zu wollen. Von ihren weichen Lippen klang noch die bitterste Lüge wie die reinste Wahrheit. Betrachtet Jeanne mich aus den klaren, anthrazitgrauen Augen, werden Zweifel von einer Empfindung verzehrt, die sie Liebe nennt.

Jeanne schenkte nicht nur dem Funken in meinem Innersten neues Leben. Sie hat mein dämonisches Wesen für eine Facette geöffnet, die mein Herz sirren und meine Gedanken sich vernebeln lässt. Dazu braucht es keinen Kuss. Ein Blick genügt. Ein Blick und ein sanftes Lächeln, das mir durch Mark und Bein geht.

Wie es ihr gelungen ist, das Böse in seine Schranken zu verweisen? Wann immer ich zurückblicke, finde ich keinen Punkt, an dem ich beschlossen habe, für sie gut sein zu wollen. Da existieren nur die Zeit und die Vergangenheit. All das, was sie mir zuliebe geopfert hat.

Was ich ihr angetan habe.

Gedankenverloren streichelt Jeanne mir über den Handrücken. Die warme Berührung ihrer Fingerspitzen jagt mir wohlige Schauer über den Rücken. Unwillkürlich lehne ich mich näher zu ihr und inhaliere ihren Duft. Unter den blonden Wimpern hervor sieht sie mich verträumt an. „Woran denkst du?“, fragt sie mich. Die leichten Bewegungen ihrer weichen Lippen hypnotisieren mich. Ihr Mund scheint jedes noch so kleine Wort, jede noch so bedeutungslose Silbe, zu liebkosen, bevor er sie in die Welt entlässt. Jeannes Wimpern heben sich ein Stück mehr. Ihr aufmerksames Warten bricht mir das Herz. Woran ich denke?

„An das, was war“, antworte ich vage. Für einen Atemzug kämpft sich der Geruch von Blut durch unsere Idylle. Schreie ersetzen ihr leises, gleichmäßiges Atmen und das Brechen von Knochen hallt in meinem Schädel wider. Vielleicht wurden die Schlachten gefochten und gewonnen. Enden werden sie nie. Nicht wirklich.

Jeanne betrachtet mich mit diesem nachdenklichen Blick, den ich zu verantworten habe. Mit dem Daumen malt sie winzige Kreise auf meine Haut. Ich bin gefangen von der nebensächlichen und doch so durchdachten Nähe. Jeannes Berührungen lassen mich trunken fühlen. In diesem Moment, gestohlen aus meinen kühnsten Wünschen, würde ich ihr die Welt zu Füßen legen für nur eine weitere Sekunde, einen weiteren Atemzug, in der unser Traum nicht zerbricht.

„Erzähl mir davon“, bittet sie mich leise. Die blonden Locken fallen ihr in das weiche Gesicht. Meine Mundwinkel heben sich zu einem freudlosen Lächeln, während ich nach ihren Haaren greife und sie neu flechte. Diese belanglose Tätigkeit lenkt mich ab. Sie lässt mich … glücklich fühlen. Auf eine seltsame Art und Weise.

„Du warst dabei“, rufe ich ihr in Erinnerung. Blätter rascheln, als ein Vogel sich in die Tiefe stürzt, die braunen Flügel ausgebreitet, und mit dem Wind davonsegelt. Ich inhaliere die frische Luft. Frei sein. Ein Leben ohne Fesseln schmecken zu können, ist die verschrobenste Illusion.

Lächelnd löst Jeanne den Blick von der Sonne. Niemand außer ihr würde es wagen, mich so anzusehen. Als wäre ich ein verschenktes Herz wert. „Aber nicht in deinem Kopf“, flüstert sie und haucht mir einen verstohlenen Kuss auf den Handrücken. Meine Finger krampfen sich unwillkürlich um ihre.

Mein Funken schrumpft sich grämend zusammen. Wie viele Jahre hat es gebraucht, bis sie mich davon überzeugen konnte, dass meine Gedanken kein Grund sind, mich zu verlassen? Dass sie zu mir gehören und mich liebenswert machen. Achtbar. Zu viele, um sie zu zählen.

Denn, wie könnte ein reines Wesen wie sie jemals einen Mann wie mich aufrichtig lieben? Einen Dämon, der Blut vergoss, um sich darin zu suhlen.

„Ich soll dir erzählen, wie ich unser Leben erlebt habe?“, necke ich Jeanne. Sie nickt und lehnt sich vor, um mich zu küssen. Ich verliere mich in der bittersüßen Berührung ihrer Lippen, ihrem warmen Atem, der über mein Kinn streift, und ihren Fingerspitzen, die gedankenversunken meinen Kiefer nachmalen. Ich halte Jeanne krampfhaft fest, mein Herz, meine Seele, während ich alle Grausamkeiten vergesse und mich in ihr verliere.

Der Kuss endet zu früh. Ich lehne meine Stirn gegen ihre, um den flimmernden Moment einige Sekunden länger genießen zu dürfen. Der Wind streicht durch die weichen Gräser und Jeannes halb geflochtenes Haar. Eine Locke löst sich aus dem nachlässigen Zopf und legt sich um ihr wundervolles Gesicht.

„Ja. Erzähl es mir“, reißt Jeanne mich aus meinem schönsten Traum. Dem, in dem ich nichts weiter bin als ein gewöhnlicher Mann, der eine gewöhnliche Frau bei sich hält und sie lieben und verehren darf wie ein gewöhnlicher Mensch. Jeanne in den Armen lege ich mich in das grünende Bett. Eine einsame Grille zirpt. Die Sonne scheint uns frühlingswarm in das Gesicht, während das fröhliche Zwitschern der Vögel mich fortträgt. Nichts scheint irrealer als meine eigene Vergangenheit. Als die von mir in Kauf genommenen Verbrechen. Kein Mord hat je geschmerzt. Solange man es sich verbietet, zurückzusehen.

„Die Schattenseiten liegen erst seit wenigen Monaten hinter uns“, flehe ich, wohlwissend, dass diese Jahre uns bis an das Ende unserer Tage verfolgen werden.

Ich spüre, wie sie die Schultern hebt. „Erzähl es mir“, bittet Jeanne leise. Der Klang ihrer Stimme vibriert durch meinen Körper und verzaubert mich. „Sag mir, wie du die Zeit erlebt hast.“

Ich schlinge die Arme fester um Jeanne. Wenn ich sie rieche, ihren Körper dicht an meinem spüre, womöglich genügt das, um dem schwarzen Strudel zu widerstehen, der vanilletabakstinkend durch meine Venen kriecht. Diesem Strudel, der mich in meine Hölle zerrt. „Am Anfang stand meine Verantwortung“, setze ich stockend an, „geboren aus dem, was ich bin …“

„War“, unterbricht sie mich unsagbar sanft.

Sein Wollte.

Ich sehe ihr in die Augen und suche nach Zweifeln. Alles, was ich finde, ist Jeannes unerschütterlicher Glaube in mich und meine geschundene, jämmerliche Seele.

„War“, verbessere ich mich. Meine Stimme klingt belegt. Jeanne verschränkt ihre Finger mit meinen und führt sie zu ihrem Mund. Auf jede Kuppe haucht sie mir einen winzigen, süßen Kuss, der sich prickelnd durch meinen gesamten Körper bahnt und mich daran erinnert, wie das Leben schmeckt. Ein Teil von mir, das wissen wir beide, wird das bleiben, was Tode akzeptiert und provoziert. Der andere Teil aber? Er gehört ganz ihr. Mit Leib und Seele. Ich bin ein Schiffer auf stürmischer See, Jeanne mein sicherer Hafen.

„Ich war bereit zu tun, was nötig ist“, fahre ich heiser fort. „Das Richtige zu tun.“ Das Richtige, das niemals richtig war. Schwer atmend presse ich meine freie Hand über ihr schlagendes Herz, damit mich irgendetwas im Jetzt hält, während die Vergangenheit schmeckt wie die einzig realistische Gegenwart.

Die Finsternis hängt in Schwaden über den Bergen. Das Heer tobt mit dem markerschütternden Donner, der sich über die Steilwände wälzt. Ich stehe auf dem Vorsprung, die eine Hand in der Tasche der dunklen Hose vergraben, die andere auf dem Griff meines Breitschwertes. Die mir allzu bekannten Runen graben sich in meine Haut und brennen ihr Mal in mich. Ein Schwur von Rache, Gerechtigkeit und Triumph. Endlichem Triumph. Triumphaler Ewigkeit. Ich starre hinab auf das lebendige Fleckchen Erde, das von dicken Regentropfen begraben wird. Trauerweiden neigen ihre Zweige, das frühlingshafte Grün der Blätter wird von Nacht und Sturm verschlungen. Wiesen ertrinken in Schlamm. Durch das Grölen des Heeres und des Ungewitters hindurch, erahne ich die leise Melodie eines Kinderliedes. Ich male mir aus, wie die Engel in ihren Häusern sitzen, die Flügel höhnend ausgebreitet, bereit für ihre Zwiesprache mit Gott. Nicht einer wirft einen Blick gen Himmel, sieht in die Berge hinein und entdeckt mich, als der nächste knackende Blitzschlag zu Boden saust. Funken werden von Wasser getilgt, das Zischen von dem nächsten Donner.

Ein Wort von mir und wir werden über die Engel dieses Dorfes kommen wie der tödlichste aller Stürme. Eine Geste und ihr Blut wird den Boden tränken.

Noch ein gleißender Lichtstrahl, der zu Boden geschossen wird, begleitet von brüllendem Applaus. Die Blutmondnacht ist wolkenverhangen. Kein Stern wird den Engeln den Weg weisen. Der strömende Regen wird jeden unserer Atemzüge, jeden Schritt verschlingen, bis wir vor ihren Türen stehen, die Waffen gehoben, und bereit, ihre Kehlen durchzuschneiden.

„Mein Heerführer“, flüstert der erste Offizier, „es ist Zeit.“ Der nächste Blitz zerreißt die Nacht. Dieses Zucken wird uns verraten, ehe wir uns in Stellung gebracht haben. Unsere Schatten werden uns zerfetzt vorauseilen. Eine Warnung, die vielen meiner Männer das Leben kosten könnte. Den Angriff in dieser Sekunde zu starten, würde ein Blutvergießen provozieren, das wir verlieren könnten. Ein Gebet, das die Lippen eines Engels verlässt, ein erhobenes Kruzifix, und meine Männer werden gepeinigt zu Boden sinken. Ein dämonischer Heerführer übt sich in Geduld. Er akzeptiert nur den Sieg.

Desinteressiert löse ich den Blick von dem winzigen Dorf und sehe dem ersten Offizier direkt in die vor Ungeduld brennenden Augen. „Die Zeit kommt, wenn ich es sage.“ Ich sehe demonstrativ in Richtung des nächsten zischenden Blitzes.

Mein erster Offizier neigt den Kopf und tritt zwei Schritte zurück. Während ich auf die malerischen Häuschen hinabstarre, suche ich nach einem Funken Gnade in meinem Herzen. Er ist im tiefsten Winter erstarrt. Die Reue wird mich nicht einholen, sobald der letzte Kopf gerollt ist. Um zu bereuen, müsste ich empfinden.

Minuten verstreichen und dehnen sich zu Stunden. Die Blitze ersterben im Regen, der donnernde Applaus des Himmels kommt zum Ende. Mein Herz schlägt langsam und stet, während das Wasser mir bis auf die Knochen dringt. Wir sind fünftausend Krieger. Das Achthundertseelendorf wird einem Überraschungsangriff nichts entgegensetzen können. Die Kinderlieder sind verstummt, die Lichter erloschen. Keine Überlebenden. So wahr mir Mutter helfe.

„Fünfzehn Minuten“, weise ich mein Heer an. „Macht sie nieder.“

Eine gespenstische Stille umgibt mich, während meine Männer an mir vorbeiströmen, hinab in das Dorf, und es fluten. Ich folge ihnen, das Schwert in den Händen wiegend. Die Runen erzählen mir Geschichten von Rache, Gerechtigkeit und Triumph. Endlicher Triumph. Triumphale Ewigkeit. Der Tod kommt mit uns, ebenso hungrig wie wir selbst. Meine Füße versinken im Schlamm, das Herz schlägt ruhig gegen den durchweichten Pullover. Mit einer Seelenruhe, die mir nur die finsterste Nacht schenken kann, überquere ich das blumengeschmückte Herz des Dorfes und verharre vor dem Gebäude in seinem Zentrum. Blut wird fließen. Mein Heer durchdringt den Ort bis in seinen hintersten Winkel. Erst, als auch der letzte seine Position eingenommen hat, lege ich meine Hand auf den Knauf. Die Kälte meiner Dämonin schießt durch meine Adern, gefriert in meinen Fingerspitzen und sprengt das Metall. Der Knall heult durch das Dorf. Die letzte Warnung. Ich höre erste Bewegungen, spüre Hektik. Der Geschmack von fremder Angst legt sich auf meine Zunge, als ich das hochherrschaftliche Gebäude betrete.

Goldene Brokattapete ziert die hohe Decke. Eine gigantische Wanduhr schlägt eins. Der Gong hallt durch den Empfangssaal. Lautlos husche ich dem flatternden Herzschlag des Engels entgegen. Ich spüre seine beißende Aura, seine triefende Boshaftigkeit. Es gibt nichts Ehrenvolleres, als einen Engel in die Knie zu zwingen. Ihre Flügel sind die kostbarste Trophäe. Wer sie besitzt, erhebt sich zu einem achtbaren Dämon. Wer ein Paar Engelsflügel über dem Kamin hängen hat, wird mit einer tiefen Verneigung begrüßt und verabschiedet. Ein Heerführer wie ich kann es sich nicht leisten, keine zu besitzen.

Über meinem Kopf bewegen sich hastig Füße. Die Schritte hallen gedämpft zu mir. Die Runen brennen sich in meine behandschuhten Finger, als ich das Schwert hebe und neben der Schlafzimmertür in Stellung gehe. Eine Wolke schiebt sich beiseite. Durch die tiefen Fenster fällt blutrotes Licht. Hastiger Atem ertönt hinter der geschlossenen Tür. Quietschend fliegt sie auf, ein gespenstischer Schatten fällt auf den cremefarbenen Teppich, begleitet von der allesvernichtenden Aura. Blut scheint von den Wänden zu fließen, noch bevor ich das Schwert gehoben habe. Zwei weitere Herzschläge verfliegen, dann rollt sein Kopf. Blut spritzt, besprenkelt den Boden. Der Körper fällt schlaff zu Boden. Der Teppich saugt das Leben des Engels in sich auf, während sich eine tödliche Stille über sein Haus legt. Vor den geschlossenen Fenstern erfüllt grölender Jubel die Luft. Ein letzter Blitz beleuchtet das sterbende Dorf. Sekunden später wird die Begeisterung meiner Männer von dem Kreischen der sterbenden Engel abgelöst.

Von dem schattigen Korridor aus beobachte ich, wie das gerechte Chaos Einzug hält. Köpfe rollen, Federn fliegen, Flügel werden von den leblosen Körpern gerissen. Kreuze fallen und Blumen ertrinken in Blut. Unser Sturm legt sich, als ich dem Engel meine Trophäen abschneide, sie mir über die Schulter werfe und den Rückweg antrete. Die schweren Teppiche schlucken meine Schritte. Ich passiere die Wanduhr – zehn Minuten nach eins – und es ertönt kein Mucks mehr. Meine Männer verteilen sich in der sternlosen Nacht, die Durchsicht übernehme ich allein. Das Heer hat schlampige Arbeit geleistet. Schleimige Gedärme liegen auf Stufen, dunkles Blut fließt von den Wänden, abgeschlagene Hände greifen verzweifelt nach Gnade. Augen starren leer ins Nichts. Ich suche nach dem Funken in mir, nach der Scherbe Leben. Das Eis hält ihn sicher, das Eis hält ihn kalt. Das gesamte Gebiet abzulaufen, kostet mich eineinhalb Stunden. Die Flügel des Engels deponiere ich auf der Eingangsschwelle seines alten Heims. Wer soll sie mir dort noch stehlen?

Als ich das letzte Gebäude betrete, hochherrschaftlich wie das im Herzen des gestorbenen Dorfes, haftet der Geruch von Blut in jeder Faser meiner Kleidung. Kein Mittel scheint stark genug, um ihn aus den Fasern zu spülen. Über jedem Haus hing eine tödliche Stille, verschleiert von trauernden Schatten, die den Gevatter mit einer tiefen Verneigung begrüßten und verabschiedeten.

Sobald ich die Tür öffne, schlägt mir der weiche Klang perlender Klaviermusik entgegen. Er beißt sich in meine Haut und scheint mich von innen heraus zu verätzen. Verfluchte Engel. Nicht einmal im Tod kennen sie Gerechtigkeit. Während ich das Gebäude nach der Quelle der quälenden Melodie absuche, stoße ich auf keinen Toten. Kein Chaos, kein Blut. Ich habe das zweite Stockwerk kaum betreten, als ich den flatternden Puls des Engels vernehme. Leben. Meine Finger krampfen sich um das Versprechen nach Rache, Gerechtigkeit und Triumph. Endlicher Triumph. Triumphale Ewigkeit. Die Musik durchdringt meine Poren und droht mich zu zerfressen. Meine Sicht verschwimmt, als ich nach der ersten Sprosse der Leiter greife und mich nach oben ziehe, die Waffe in der freien Hand. Jede Harmonie, jeder Ton frisst sich unter meine Haut. Der beißende Gestank von Weihrauch tränkt die Luft. Ich scheine mich durch einen Giftnebel zu kämpfen, obwohl ich lediglich in dem Heim eines Engels die Leiter zum Dachgeschoss erklimme. Die Luke quietscht protestierend, als ich sie aufstoße. Die letzte Barriere wurde durchbrochen. Die Melodie greift überlaut in meinen Körper, streckt die dürren Finger nach meinem Gehirn aus und will es in seiner Faust zerquetschen. Wankend kämpfe ich mich auf die Quelle der Qual zu und schleudere die Platte vom Spieler. Sirrend bohrt sie sich in das weiche Parkett. Ein einzelner Schweißtropfen perlt mir über die Nase. Mein eigner, rasender Puls übertönt jedes andere Geräusch.

„He, du hast Brahms unterbrochen!“ Ich fahre herum und reiße mein bluttriefendes Schwert in die Luft. Der Regen hat einzelne, saubere Schlieren in den Schmutz gegraben. Auf dem dunklen Metall fängt sich das warme Licht der Stehlampe und explodiert zu tausend blendenden Sonnen. Ich schlucke gegen meine eigene Furcht an, als ich mich langsam umdrehe. Die Dielen knarzen unter meinen Stiefeln. Keine Engelsseele. Vor dem geschlossenen Fenster hängen schlaff die perlmuttfarbenen Vorhänge, ein hoher Ohrensessel steht mit dem Rücken zu mir. Direkt daneben hat sich die Platte in das helle Holz gebohrt, der Spieler wird von der bunten Stehlampe beleuchtet. Mein Blick huscht durch den Raum. Ich kann den flatternden Puls hören, den entspannten Atem. Wo auch immer der Engel sich verbirgt, hier ist er nicht.

Meine Muskeln beginnen zu zucken. Langsam lasse ich das Schwert sinken. Ein Raum in einem Engelshaus ohne Kruzifix? Der einzige Schmerz geht von dem wärmenden Licht und der kaum greifbaren Präsenz des Engels aus.

Ich möchte die Leiter rückwärts hinabsteigen und Lynn einen lückenhaften Erfolgsbericht abliefern, als der hohe Sessel sich dreht. Ein feixender Junge mit leuchtend blauen Haaren kommt zum Vorschein. Der letzte Engel. Ich mache mich bereit zum Angriff, bevor er ein Gebet sprechen und mich damit vernichten kann.

„Du bist also der berühmte Raysiel, der Heerführer der Dämonen“, sagt der Junge unbeschwert. Ich umfasse den Schwertknauf fester. Hänge ich an meiner Existenz, sollte ich ihm den Kopf in dieser Sekunde abschlagen. Mir scheinen die Hände gebunden.

„Genau“, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich bin Raysiel. Und ich werde dich töten.“

Der Junge nickt. „Klar. Casper Gabriels.“ Er streckt mir die Hand entgegen. Ich sollte sie ihm vom Arm trennen. Ein Detail, das ich nicht benennen kann, hält mich zurück. Während meiner Tatenlosigkeit verwandelt sich sein Feixen in ein Lächeln, das mir die Haut von den Knochen zu schälen scheint. Schmerz. Aus diesem Grund bekämpfen nur die tapfersten Dämonen einen Engel. Sie existieren, um zu töten.

„Ich bin der Großneffe von dem Deppen da oben, der die Hände in die Luft hält und uns Engel heiligspricht“, erzählt er fröhlich und wirft einen rotwangigen Apfel in die Luft. Unbewaffnet. Die Inschrift von Rache, Gerechtigkeit und Triumph verliert in meinen Händen ihre ursprüngliche Bedeutung. In dieser Sekunde gleiche ich keinem gerechten Rächer. Ich bin ein Kind, das mit einem hastig gepackten Rucksack über dem Rücken durch Wald und Flur flieht, dem Unheil in die ausgebreiteten Arme.

„Du willst mich jetzt umbringen?“, durchbricht Casper meine atemlose Stille. „Nachdem alle anderen eh schon weg sind, stimmt’s? Aber ich sag dir was, Kumpel, daraus wird heute nichts.“ Sein offenes Lachen lähmt mich. Tatenlos beobachte ich, wie er sich aus seinem Sessel erhebt und mir erneut seine Hand anbietet. Ein Friedensangebot oder eine Morddrohung? Ich weiche zurück. Meine Dämonin lehrte mich, dass die Berührung eines Engels zu jeder Zeit tödlich endet. Sie zerfetzt unser Wesen, sie durchbohrt unser Herz, bis wir wimmernd und bettelnd am Boden liegen. Engel kennen keine Gnade. Listig treiben sie uns dem Aussterben entgegen. Diese Gewissheit ist alles, was es braucht, um mich aus meiner Starre zu befreien. Ich schlage ihm den Kopf ab.

Die Klinge saust durch Caspers Hals hindurch. Nicht ein Tropfen Blut fällt zu Boden. Die Kälte treibt frostige Splitter durch meine Adern.

Entschuldigend hebt Casper die Hände. „Sorry, so läuft das bei mir nicht, Dämonenjunge. Ich bin so eine Art, nennen wir es Sonderedition. Mich kann man nicht töten.“ Er zuckt die Achseln und wirft sich rückwärts zurück in seinen Sessel. Wie die Natter vor der Maus lehnt er sich zurück. Zufrieden schlägt Erzengel Gabriels Neffe die Beine übereinander. „Hat mein Scheißgroßonkel für gesorgt“, fährt er fort. „War wohl als kosmischer Witz gedacht.“ Verschone ich einen Engel, wird Lynn es erfahren und mich eliminieren. Lieber sterbe ich im Kampf, als kniend vor einem Heer, das nur dem Stärksten folgt.

„Sag mir, wie ich dich zurück in den Himmel senden kann“, fordere ich.

Der Engel schüttelt bedauernd den blauen Lockenkopf. „Kein Bitte. Kommst wohl aus einem schlechten Elternhaus.“

„Sagte der Engel zu dem Dämon.“

„Hört sich irgendwie bedauernd an.“

Verschone ich ihn, kostet es mein eigenes Leben. Die blendende Wut, verursacht von Schmerz und Hilflosigkeit, raubt mir den letzten Anstand. Ich spucke ihm vor die Füße. Der Engel feixt. „Gut, Dämonenjunge, ich mache dir einen Vorschlag“, sagt er. Unbesorgt wirft er den Apfel in die Höhe. „Du kommst mit mir, wir unterhalten uns bei einem Tässchen Tee und dann gehst du nach Hause und nimmst eine schön heiße Dusche. Weil, jetzt nicht böse gemeint oder so, aber du siehst aus, als wärst du aus einem Horrorfilm entsprungen.“ Sein Lachen kriecht durch meinen Körper und sucht meinen erloschenen Funken. Um ihn zu verschlingen? Schützend lege ich neues Eis, neue Kälte um ihn, bis kein Engel der Welt mein Heiligtum finden kann.

„Es mag dir nicht bewusst sein“, sage ich ruhig, „aber ich bin der Hauptprotagonist in diesem Film.“ Ich knete den Schwertgriff. Mir bleibt keine Wahl. Sobald Lynn in meine Erinnerungen greift und erkennt, dass ich einen Engel gesehen und verschont habe, wird sie nichts von mir übriglassen. Meine Dämonin kennt keine Gnade. Genau wie ich. Wie schwer kann es sein, dieses Geschöpf zurück in den Himmel zu senden? Eine höhere Form von Magie mischt die Karten. Magie kostet Kraft. Nicht einmal der blauhaarige Großneffe vor mir kann seinen Schleier ewig aufrechterhalten. Er fordert mich zu einem Wettstreit heraus, den ich zu gewinnen gedenke. Mein nächster Schlag zielt auf sein Herz ab, dann auf den Hals, die Beine, den Schädel, den Bauch. Bei jedem Hieb gleitet die Klinge durch ihn hindurch, als bestände er aus Luft. Casper sitzt in seinem Sessel und beobachtet mich. Gemächlich wechselt sein Gesichtsausdruck von amüsiert zu bodenlos gelangweilt. Meine hilflose Wut wächst ins Unermessliche, während meine Muskelkraft nachlässt. Mal um Mal fliegt die Klinge durch seinen Körper hindurch und hinterlässt doch nicht einen Kratzer. Abscheu mischt sich unter meinen Zorn. Er sollte meiner Kraft erliegen. Er sollte vor Furcht in die Knie gehen!

Ich stoße einen markerschütternden Schrei aus und beschleunige meine Angriffe. Die Niederlage ist keine Option. Caspers unruhig umherhuschenden Augen verfolgen das alte Blut, das sich von der Klinge löst. Es tropft auf die Dielen, klebt sich in die Vorhänge, verunreinigt den Sessel, sprüht auf meine Haut.

Casper räuspert sich. Geschlagen ramme ich mein Schwert in den Boden. Mit einem lauten Krachen schiebt es sich durch das dicke Holz und bleibt bebend darin stecken. „Sobald du fertig bist, Dämonenjunge, würde ich gerne meinen Tee trinken gehen. Der vorne in der Bäckerei ist klasse.“

Ich stoße ein kaltes Lachen aus. Und wer soll ihm den Tee zubereiten? „Der Kopf des Bäckers liegt in der Glut und schmort vor sich hin.“

Der Engel zieht angewidert einen Mundwinkel nach oben. „Das klingt ja so, als würdest du Engel essen. Ist dir das nicht zu eklig?“, fragt er skeptisch. Ich ziehe das Schwert ruckartig aus dem Holz. Das Verspeisen unserer Feinde überlasse ich denen, die sich keine Trophäe erbeuten konnten.

Bei meinem Schweigen rollt der Engel die Augen und steht auf. „Dann eben nicht. Schnapp dir dein Schwert und wir gehen zum Bäcker. Ich koche mir meinen Tee selbst“, sagt er und wendet mir den Rücken zu. Unachtsam. Ich ramme das Schwert zwischen seine Schulterblätter. Es gleitet durch seinen Körper hindurch wie durch Wasser, hinterlässt nicht eine Schramme. Ich versuche eine Ahnung von Beherrschung aufzubringen, um nicht verzweifelt aufzuschreien.

„Stimmt es eigentlich, dass ihr Engelsflügel in eure Wohnzimmer hängt?“, ruft mir Casper beiläufig zu, den ersten Fuß bereits auf der Leiter. Ich rümpfe die Nase und folge ihm. Dieses Wesen mit seiner unverdienten Sorglosigkeit widert mich an. Sein warmes, amüsiertes Lächeln, seine schmerzhafte Aura.

„Ja. Manchmal reißen wir sie euch auch einfach aus und sehen zu, wie ihr verblutet. Wie ihr schreit“, sage ich und schließe zu ihm auf. Diesem Engel, dieser Ursache meiner ersten Niederlage, werde ich nicht auf dem Fuß folgen. „Oft genug habe ich Engeln das Herz aus der Brust gerissen. Man sagt, Engelsherzen verleihen unermessliche Stärke. Das kann ich bestätigen“, fahre ich fort und beobachte, wie für einen Moment das übermütige Grinsen aus Caspers Gesicht kippt.

„Du isst Herzen? Wirklich?“ Der Engel zieht einen Schlüssel aus seiner Hosentasche.

Ich hebe ungerührt die Schultern. „Nur wenn ich das Vergnügen hatte, dem Engel beim Sterben ins Gesicht sehen zu dürfen. Es ist interessant, wie jeder von euch den Mund öffnet, als wolle er ein letztes Gebet sprechen“, höhne ich und schwinge mein Schwert von links nach rechts. Das laute Zischen beruhigt mich. Casper greift nach einem Regenschirm. „Der Himmel soll warten“ steht in kursiven Buchstaben darauf geschrieben und ich verziehe angewidert den Mund. Ein ausgewachsener Engel geht wie ein kleines Kind mit einem himmelblauen Regenschirm auf die Straße. Lachhaft. Und doch kann ich ihn nicht besiegen.

„Viele von uns beten tatsächlich, wenn ihnen die Chance dazu gegeben wird. Gabriel überlegt sich dann noch mal, ob er den alten Seelen nicht doch noch eine Chance gibt. Wenn nicht, dann zerfällt man halt zu einem Häufchen Staub und lässt sich nach China verwehen“, erzählt der Engel munter, öffnet die Tür und hopst die Stufen hinab in den Regen, als würde zu seinen Füßen kein abgetrenntes Bein liegen. Als er es entdeckt, tatsächlich steht er zu dem Zeitpunkt beinahe auf dem Körperteil, stößt der Engel einen erstickten Schrei aus. „Himmel, Maggie!“, keucht er, ehe er das Bein vorsichtig mit dem Fuß zur Seite rollt. „Ich glaube, jetzt weiß ich, warum Luzifer unter die Erde zu den Toten verdammt wurde. Er war ihnen einfach immer so viel näher“, jammert Casper und beginnt einen befremdlichen Tanz durch die Hinterlassenschaften seines Dorfes.

„Oder besaß offenere Augen“, murre ich und trete achtlos auf den Brustkorb eines toten Kindes, das sich aus dem Elternhaus retten konnte, nur um in die Klinge der Gerechtigkeit zu eilen. Das harsche Knacken der Knochen beruhigt mich.

„Kannst du bitte aufhören, auf meinen Leuten herumzutrampeln?“, jammert der Engel. Ich sehe ihm fest in die Augen und trete auf den Arm eines jungen Engels, dem die Flügel ausgerissen wurden. Ein paar wenige Federn liegen um ihn verteilt. Sein letzter Heiligenschein. Kopfschüttelnd tänzelt Casper weiter, den hellblauen Regenschirm erhoben. Würde sein Überleben nicht meine Existenz kosten, wäre der Anblick wohl amüsant. So stößt er mich in Richtung des Todes.

Auf meinem Weg zu der Bäckerei lasse ich unseren Sieg auf mich wirken. Der schwere Duft von Blut liegt in der Luft, hier und dort trieft es von den Dächern und läuft in dunklen Tränen über den blauen Regenschirm. Enthauptete Engel lehnen an Hauswänden. In dem einen oder anderen Oberkörper prangt ein faustgroßes Loch. Engelsherzen verleihen unermessliche Stärke. Kurz huscht mein Blick zu dem hochherrschaftlichen Gebäude im Zentrum des Dorfes. Die Blumenkübel liegen zerschmettert am Boden, das Kruzifix wurde zerschlagen und in Brand gesteckt. Auf der Schwelle ruhen meine Trophäen. Regen gräbt graue Schlieren in das dichte Gefieder. Sobald der letzte Engelskopf über den Boden rollt, werde ich sie mir erneut über die Schulter werfen und den Heimweg antreten.

Casper hämmert gegen die geöffnete Tür der Bäckerei und ignoriert gekonnt die tote Frau, deren Hand mit einem Messer gegen das dicke Holz genagelt wurde. „Du kannst eintreten. Es wird niemand mit dem Nudelholz auf dich warten“, sage ich und lege mir das Schwert in einer kraftvollen Geste über die Schulter. Der Engel soll mich fürchten.

Stattdessen streckt er mir die Zunge raus. „Anstand sollte man auch in den dunkelsten Stunden nicht vergessen“, sagt er und betritt den Raum. Tische wurden umgeworfen, Stühle zerschlagen. Ihre abgebrochenen Beine strecken sich hilflos zur Decke. Der tote Bäckerssohn liegt mit dem zertrümmerten Kopf auf der Theke, in seiner Hand ein dünnes, matt glänzendes Schwert. Vom Kopf des Bäckers selbst ist kaum noch etwas zu erkennen. Durch die leeren Augenhöhlen züngeln die Flammen. Hitze und Ruß haben den Knochen schwarz gefärbt. Sein Körper liegt unbewegt auf dem Tisch neben der Theke. Die Frau baumelt verrenkt von dem großen Kronleuchter. Ihr Blut tropft nicht länger gleichmäßig aus dem sauberen Schnitt an der Kehle zu Boden.

„Habt ja ganze Arbeit geleistet“, merkt Casper nach einigen stillen Sekunde an. Er räuspert sich und geht um die Theke herum, den Regenschirm geöffnet in der Hand. Das kaum merkliche Beben verschafft mir eine gewisse Genugtuung.

„Ich“, verbessere ich den letzten überlebenden Engel und beobachte, wie sich sein Gesichtsausdruck zunehmend verdüstert. Die Stille zwischen uns wird nur von dem Knistern der letzten Flammen unterbrochen. Hin und wieder quält sich der regennasse Wind pfeifend durch die angelehnte Tür. Caspers Fingerspitzen streichen zögerlich durch das trocknende Blut neben dem gebrochenen Armstumpf des Sohnes.

„Jetzt mal im Ernst, was haben wir euch je getan?“, fragt Casper schließlich.

Ich stoße ein humorloses Lachen aus. „Was ihr getan habt? Ihr steigt vom Himmel herab und bringt das gerechte Gleichgewicht ins Wanken. Ihr müsst vernichtet werden“, sage ich und betrachte die zertrümmerte Einrichtung. Die Stühle, deren Beine zu nichts anderem mehr dienen als zum Anfachen des Feuers. Ich werfe einige davon in die flackernden, sterbenden Flammen, die sich schützend um den Schädel schließen. „Wir sind die Bösen?“, entfährt es Casper. „Hast du uns jemals so etwas tun sehen?“ Ich meine, etwas wie Fassungslosigkeit zu hören, während er einen zertrümmerten Wasserkocher neben den toten Engel stellt.

Ich hebe die Schultern. „Ihr seid zu feige, Gerechtigkeit walten zu lassen“, beende ich die Diskussion. Neue Stuhlbeine folgen, bis das Feuer unkontrolliert flackert.

Aus Caspers Richtung ertönt ein humorloses Lachen. „Genau. Das muss es sein“, spottet er, die Stimme vor Zynismus triefend.

Mit vor unterdrückter Wut bebenden Händen umfasse ich den Griff meines Schwertes fester und richte es gegen ihn. „Hüte deine Zunge, Engel, oder sie gesellt sich zu dem, was von deiner Heimat übrig ist.“ Was auch immer der Engel vor sich hin murmelt, verstehe ich nicht, aber schließlich klopft Casper sich die Hände ab und bedeutet mir, ihm zu folgen. Ich lehne mich demonstrativ neben den erdolchten Engel und ziehe seinen Kopf in den Nacken. Ein tiefer Schnitt malt Rot über die Kehle.

„Willst du mich wirklich entkommen lassen?“, fragt Casper, als ich keine Anstalten mache, mich zu regen. Wenn ich ihn gehen lasse, wird es mich den Kopf kosten. Mir bleibt keine Wahl. Zähneknirschend verlasse ich meinen Posten und geselle mich zu ihm. Der Engel reißt eine schmale Tür hinter der Theke auf und der gebündelte Geruch von Tee weht mir entgegen. Der Raum dahinter liegt in solch einer tiefen Finsternis, dass ich sie nicht mit meinen Augen durchdringen kann. Angestrengt lausche ich in die Stille hinein. Nur ein Herzschlag außer meinem ist zu hören. Nur eine schmerzhafte Aura wabert durch die kleine Bäckerei.

Ich fasse Casper unsanft am Schlafittchen und ziehe ihn zu mir heran. „Wenn du mich in eine Falle lockst, Engel, dann finde ich einen Weg, dich zu töten. Schmerzhaft“, drohe ich ihm. Mit Zufriedenheit spüre ich, wie Casper sich verspannt, während die Macht, die ihn umgibt, tausend Dornen in meine Haut zu treiben scheint.

„Verstanden. Und jetzt lass mich los.“

Ich schüttle den Kopf, hebe stattdessen mein Schwert und lege die Klinge an seinen Hals. Ich spüre das flatternde Pulsieren seines Herzens an meiner Brust. Es lässt mein eigenes schmerzen. Seines schlägt so viel schneller, scheint wie ein falschgepolter Magnet, der mir mein eigenes entreißen will. Probehalber drücke ich die Klinge gegen seine Kehle. Meiner Berührung mag er nicht ausweichen können, die Waffe verfehlt ihn noch immer. Fluchend stoße ich den Engel in die Kammer. Hinter uns schließt sich krachend die Tür. Finsternis und schimmernde Schmerzen, die mit jedem Herzschlag von ihm ausgehen.

„Der Lichtschalter, Geschöpf. Wo ist er?“, frage ich und presse meine Klinge gegen seinen Hals. Wieder schwimmt sie durch seine Gestalt und ich kämpfe um Beherrschung.

„Um meinen Hals.“ Ein kleines Lachen, das durch meinen Körper vibriert. Meine Finger krampfen sich zusammen. So fühlt es sich an, wenn ein Engel zum gnadenlosen Gegenstoß ausholt. „Um genau zu sein, liegt um meinen Hals der Schlüssel, mit dem man die Tür öffnet. Der Lichtschalter ist draußen“, fährt Casper fröhlich fort. Ein Trick? Man munkelt, dass ein Engel die Hand nur über das reine Herz eines Dämons legen muss, um es zu zerstören. Mein mögliches Versagen im Hinterkopf schiebe ich meine Beine zwischen seine und taste an seinem Schlüsselbein entlang, bis ich einen Schlüssel zu fassen bekomme. Ich reiße das Band von seinem Hals. Er zuckt zusammen.

Blind suche ich das Schloss. Klackend schlägt der Schlüssel gegen Holz, gegen Plastik, gegen Pappe und endlich gegen Metall. Meine Muskeln zucken. Einem Engel so nah zu sein, grenzt an die purste Form der Folter. Ungeduldig drehe ich den Schlüssel.

Ein Fehler.

Gleißendes Tageslicht blendet mich. Das Herz springt mir in die Knie und ich reiße mein Schwert in die Höhe, um ihn endlich zu enthaupten. Kein Widerstand. Das Vibrieren von Caspers Lachen jagt durch meinen Körper, treibt Eissplitter in mein Blut und zerreißt mich von innen nach außen. Es braucht gefühlte Ewigkeiten, bis meine Augen sich an das grelle Licht gewöhnt haben. Der Anblick, der sich mir bietet, lässt mich wünschen, Lynns Gnade ausgeliefert zu sein. Vor mir tun sich saftige Wälder auf, ein glitzernder See, eine blumenübersäte Wiese. Auf dem Anwesen prangt ein großes, helles Haus. Die Sonne gibt ihr bestes, jeden Zentimeter in ein grausam warmes Licht zu tauchen. Vögel ziehen zwitschernd an Wolken vorbei und stehlen sich durch hohes Geäst. Einer löst sich aus der Gruppe und steuert auf mich zu. Das blaue Gefieder schimmert im Sonnenlicht. Die Helligkeit brennt sich in meine Netzhäute, das hohe Zwitschern kreischt durch meinen Schädel. Ich hebe mein Schwert und schlage ihn nieder. Mit einem letzten Aufschrei fällt der Vogel zu Boden, einen Flügel vom Körper abgetrennt. Blut schießt aus der Wunde. Ich trete auf den Vogel, um sein Leid zu beenden. Ein weiterer Aufschrei lässt die übrigen Tiere verstummen.

Ein Zeichen menschlicher Qual. Er stammt nicht von dem Engel neben mir, der in der Sonne badet, sondern von dem Geschöpf, das mit großen Augen auf uns zu gerannt kommt, die langen, blonden Locken wie ein Heiligenschein im Sonnenlicht glänzend.

„Wie kannst du es wagen? Du hast ihn einfach umgebracht!“, kreischt die junge Frau. Ich hebe entspannt mein Schwert, bereit erst sie zu töten und dann auch Casper zu eliminieren, um meinen Triumph endgültig in Stein zu meißeln. Das Mädchen stapft mit blitzenden Augen auf mich zu. Ihre Wut blendet sie. Der Geruch ihres Blutes scheint mich längst zu umgeben, als ich das Schwert auf sie niedersausen lasse.

Im nächsten Moment liege ich auf dem Rücken, sie sitzt rittlings auf mir und rammt meine Waffe in den Boden. Angespannt ringe ich um Luft. Der unvorhergesehene Aufprall hat mir den Atem aus den Lungen getrieben.

„Hast du gerade versucht mich umzubringen?“, faucht sie. Die langen Locken kitzeln mir im Gesicht. „Genau wie du es mit ihm getan hast?“ Sie deutet anklagend auf das tote Lebewesen.

„Nein“, presse ich hervor. Ihre so zart wirkenden Hände liegen auf meiner Brust. Die Finger graben sich schmerzhaft in mein Fleisch. „Genau wie ich es mit deinem ganzen Dorf getan habe. Meine Armee wird auf euch niederkommen und euch vernichten.“ Ihre blauen Augen glühen vor Hass. Sie hebt eine Hand, als wolle sie mich schlagen. Der blauhaarige Engel fängt sie in der Luft auf.

„Lass gut sein, Adriana. Ich glaube nicht, dass es hilft, ihn zu verprügeln.“

Die junge Frau starrt ihn lange an. Wutentbrannt, in dem Versuch sich selbst unter Kontrolle zu bringen, zitternd. Ihre Aura raubt mir den Atem, dieser Zorn, diese flimmernde Macht. Maden scheinen sich durch meinen Körper zu fressen, sich durch meine Adern zu winden, bis nichts von mir übrig ist. „Er hat einen meiner Vögel ermordet!“, bringt sie schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Es tut ihm nicht leid. Er ist ein Monster!“ Ihre gesamte Aufmerksamkeit gilt Casper. So unauffällig wie irgend möglich taste ich nach meinem Schwert. Erinnerungen an Rache, Gerechtigkeit und Triumph schmiegen sich gegen meine Fingerspitzen. Endlicher Triumph. Triumphale Ewigkeit. Die Brust der jungen Frau hebt sich schwer. Meine Muskeln spannen sich an. Eine Niederlage wird mit dem Tod bestraft.

Ich reiße die Waffe in die Höhe und fahre mit der Klinge über ihren Bauch. Ein leiser Schrei entweicht ihren Lippen. Blut läuft durch die Finger des Engels, als sie beide Hände auf die Wunde presst. Jede Farbe weicht aus ihrem Gesicht. Die Hitze ihres verkommenen Blutes zieht sich über meinen Körper, während sie ausdruckslos auf ihre besudelten Finger starrt. Der helle Kaschmirpullover saugt sich voll mit der Flüssigkeit. Ihr flatternder Puls bleibt stetig. Angespannt warte ich darauf, dass sie das Bewusstsein verliert. Stattdessen schlägt sie mir in das Gesicht. Das kurze Ziehen unter der Haut spüre ich kaum. Ich bleibe stocksteif liegen. Sie sollte verbluten. Sie schlägt mich. Wie kann sie es wagen, Hand an mich zu legen? Mich in dieser Form zu erniedrigen, während ich am Boden liege?

„Du kleines Miststück“, entfährt es mir. Ich reiße die Klinge in die Luft.

Casper wagt es, meine Hand festzuhalten. „Lass gut sein. Gegen sie hast du keine Chance. Sie heilt schneller, als du sie verletzen kannst, und allein ihre Berührung kann tödlich enden, also entspann dich und genieß die Sonne. Du bist wirklich entsetzlich blass.“ Der Schrecken in Person.

„Ich habe dich gewarnt, Engel“, bringe ich hervor. Ich ersticke an meinem eigenen, panischen Herzschlag. „Solltest du mich in einen Hinterhalt locken, dann werde ich dich töten.“ In einer letzten, verzweifelten Gegenwehr ramme ich ihm die Schwertspitze in die Brust. Ich treffe auf Widerstand. Mir stockt der Atem. Das Leben scheint die Luft anzuhalten, während wir einander ansehen. Caspers Augen quellen hervor, als ich das Schwert reflexartig aus seinem Körper ziehe. Sein Blut tropft auf die Wiese. Eine Träne. Zwei. Wieder schreit das Mädchen. Alle Farbe weicht aus Caspers Gesicht. Trügerische Sicherheit.

Er hat nicht mir eine Falle gestellt, sondern sich selbst. Kein Engel sollte sich während eines Kampfes an einen Ort zurückziehen, an dem er glaubt, behütet zu sein. Dämonen geben Schlachten nicht leichtfertig verloren. Ich sauge die Energie in mich auf, die sein Tod mir schenkt. Das Prickeln in meinen Adern … Wie Feuer, das mein Blut verbrennt.

Ich fahre herum. Eine schmale Hand liegt auf meinem Unterarm, die andere auf Caspers Brust. Bevor ich den letzten Gegner beseitigen kann, wird mir schwarz vor Augen.

Kapitel zwei

„Adriana schwört darauf, dass ich viel zu gnädig zu dir bin“, weckt mich eine widerwärtig gut gelaunte Stimme, vibrierend vor Euphorie. Ich fahre senkrecht in einem Bett auf, dessen Matratze sich zu weich anfühlt, und starre in die stechenden Augen des blauhaarigen Engels. Eine sanfte Panik prickelt durch meine Venen. Am heutigen Morgen stehen die Engel von den Toten auf, um Rache zu üben. Meine Klinge zerfetzte sein verfluchtes Herz.

„Gnädig?“ Meine Sicht verzerrt sich in dem gleißenden Licht. Wankend stehe ich auf und klammre mich an den letzten Funken meines Stolzes, den ich nicht unter dem wütenden Blutmond zurücklassen musste. Die strahlende Sonne drückt mich nieder, das fröhliche Glitzern des Sees direkt vor meinem Zimmer schneidet kreischend in mein Hirn. Das lavendelblau der verdammten Bettwäsche droht, das Säurefass zum Überlaufen zu bringen.

Der Engel fährt sich grinsend mit allen zehn Fingern gleichzeitig durch die wirren Haare. Valerio schnitte sie ihm ab. Achselzuckend verlagert der Engel das Gewicht von einem Bein auf das andere. Er bewegt sich mit der flattrigen Grazie eines Kolibris, die mir Kopfschmerzen bereitet.

„Ja, zu gnädig.“ Er nickt gewichtig und kratzt sich am Hals. „Sie meinte, es wäre nur gerecht, würdest du an deinem eigenen Schwert ersticken oder so.“ Eine tödliche Ruhe schleicht durch meinen Körper und pirscht sich leise an, bereit meine Hände zu führen, um den Engel in die Hölle zu senden. „Aber ich habe dich doch nicht angeschafft, um dich wegen meiner Liebsten gleich wieder loszuwerden!“, ruft der Engel fröhlich und spaziert in Richtung der bodentiefen Fenster. Ich versuche zu ignorieren, wie das Licht in dichten Schlieren auf ihn zufließt und ihn wie einen Götzen erstrahlen lässt.

Er gleicht meiner Vorstellung von Erzengel Gabriels Großneffen nicht im Geringsten. Casper ist kein blühender Kämpfer, kein stolzer Recke, kein gottähnliches Wesen, das den Mut besitzt, in aussichtslosen Situationen den Sternenhimmel der Erde zu Füßen zu legen. Nur ein gefühlskalter Junge ist der Engel vor mir, der nicht fähig scheint, um seine verstorbenen Kameraden zu weinen.

„Dein Liebchen muss naiv sein, wenn sie glaubt, mein eigenes Schwert könnte mich niederstrecken.“ Mit leeren Händen akzeptiere ich meine Niederlage und Lynns brennende Wut und wende mich zum Gehen. Ein wahrer Heerführer tritt mit erhobenem Haupt seinem Henker entgegen. Casper hat alle Finger in seinen blauen Haaren vergraben und betrachtet kritisch sein Spiegelbild. Ich streiche mit den Fingerspitzen über die Klinke. Kein Edelmetall, das mir die Haut verätzen soll. Eisen. Ein womöglich tödlicher Fehler des Neffen von Gabriel.

Der Engel lacht glockenhell auf und scheint mit diesem einen Geräusch den Himmel zu sich zu locken. „Du warst so gut wie tot, Kumpel. Sie hat deine Energie auf mich übertragen, nachdem du der Meinung warst, mich loswerden zu müssen.“

Er sollte auf den Vorwurf verzichten. Ich bin lediglich ein Überbringer seines Übels. Sein Urteil wurde lange vor der letzten Nacht gefällt – durch eine fremde Hand.

„Wo ist mein Schwert?“ Ein entwaffneter Heerführer ist ein geschlagener, ewig vergessener Mann, der enthauptet in dem eigenen Kellergewölbe endet.

Casper hebt lässig die Schultern und reißt sich von seinem Spiegelbild los. Für ihn bedeutet dieser Moment nichts mehr als ein amüsantes Zwischenspiel. Für mich kann er die Tore meiner persönlichen Hölle öffnen. Ein Heerführer ist so beliebt wie erfolgreich und so nutzlos wie geschlagen. „Adriana hat dafür plädiert, es vorerst einzubehalten“, sagt Casper. Gelassen schlendert er auf mich zu, die Hände in den Taschen seiner hellen Leinenhose vergraben. Ich versuche zu ignorieren, wie das Licht, das auf dem hellen Eichenparkett wie von klarem Wasser reflektiert wird, auf ihn zu flieht, weg von mir. Der Engel wird erstrahlt, der Dämon geblendet.

„Ich hätte es dennoch gern zurück“, antworte ich kühl. Ich drücke die Klinke nach unten. Leise schnappt das Schloss auf. Der Engel bleibt unachtsam, sieht mich nicht an, sondern lässt sich auf das Bett fallen, auf dem ich Minuten zuvor noch um meine Kräfte rang.

„Ich habe ihr gesagt, dass du das sagen würdest“, lautet die gedehnte Antwort, während zarte Finger über blütenweißen Stoff wandern. „Aber ihr war das dann doch ziemlich egal. Mir irgendwie auch. Du weißt schon, du hättest mich um ein Haar abgemurkst. Deswegen …“

Er lässt den Satz in der Luft hängen. Weitere Erläuterungen wären Atemverschwendung. Hänge ich an Schwert und Leben, muss ich erneut zur Gewalt greifen.

Die mörderische Ruhe in mir reckt sich wie eine blutrünstige Katze und wartet darauf, entfesselt zu werden. Gelassen öffne ich die Tür, bereit im Frieden zu gehen – wenn sie es mir gestatten. Die Engel betteln um ihren baldigen Tod.

„Ach, ja, das habe ich vergessen zu erwähnen“, sagt Casper bedächtig. Hinter mir tickt unbarmherzig die Uhr. „Adriana wollte gern draußen warten, falls du dich dazu entscheiden solltest, etwas Dummes zu tun. Was dir selbstverständlich nie in den Sinn kommen würde.“

Ein schmales Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Natürlich.

Der ungezügelte Zorn blitzt in den blauen Augen seiner angeblich tief geliebten und verehrten Partnerin auf. Sie hält mein Schwert in den zarten, schmalen Händen. Ein unpassender Anblick. Der bedeutungsschwere Griff meines Schwertes drückt gegen die Haut Zentimeter unter ihrer Brust. Meine Klinge ist mächtiger als ihr Oberarm. Das Gewicht meiner Waffe ängstigt sie nicht. Unverhohlen stolz richtet sie die schimmernde Spitze gegen mich, die mehr Kehlen riss, als ihr stumpfsinniger Kopf begreifen kann.

„Amüsant, dass ausgerechnet dieses Detail dir entgangen ist“, erwidere ich glatt. Ich sehe Casper nicht an. Meine Aufmerksamkeit wird von seiner Gefährtin beansprucht, die meine eigene Waffe ruhiger hält als mein erster Offizier. Die Gefahr, nur zehn Zentimeter von meiner Brust entfernt, besitzt oberste Priorität.

„Casper schwor mir, du würdest nicht verschwinden“, sagt sie zuckersüß, das lange, dichte Haar in Wellen über den schmalen Rücken fließend. „Aber im Gegensatz zu ihm weiß ich, wie Dämonen ticken.“

Kennt sie Dämonen gut genug, um den Zugzwang, unter dem ich stehe, nur im Ansatz zu begreifen? Ich bezweifle es. „Adriana, meine Geschätzte, wirst du meine Waffe senken und mich gehen lassen?“ Der Speichel tropft von den Lefzen des Raubtiers in meinem Inneren, das den Schweif um seine Pfoten legt. Niemand übt sich geschickter in Geduld als eine Katze. Adriana neigt den Kopf wie die Bestie in meinem Leib und ahmt ihr zähnefletschendes Lächeln nach.

Bedauernd schiebt Caspers Gefährtin die rosa Unterlippe vor. „Nein, Süßer, werde ich nicht“, säuselt sie. Ich greife an.

Ohne zu zögern, tauche ich unter meinem Schwert hindurch. Einen Wimpernschlag später schwebt es vor meinem Hals. Meiner Kehle entweicht ein tiefes Knurren. Mein Leben gehört Lynn. Beendet der Engel es, wird er heimgesucht werden bis das Jüngste Gericht sein Urteil über diese verlorene Seele fällt.

„Adri, warte, ganz kurz“, höre ich Casper hektisch rufen. „Stopp, stopp. Das meinte er nicht so.“ Ich betrachte Adriana mit neuem Respekt. Winzig, aber geschickt. Mein eigenes Heer könnte von ihr lernen. Von einem Engel, der sich außerhalb des eigenen Volkes verbirgt.

„Ich bin mir sicher, dass hier an dieser Stelle überhaupt kein Missverständnis vorliegt“, faucht sie wie eine Katze und starrt mich aus zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen an. Ihr Zorn prallt wirkungslos von meinem kalten Wesen ab.

„Ja. Also nein.“ Casper legt die Stirn in Falten und schüttelt vehement den Kopf. „Er meint das nicht so. Ganz sicher. Eigentlich ist das aber auch echt egal.“ Beschwichtigend hebt er die Hände. „Leg das Ding da einfach weg.“ Er nickt auf mein Schwert. „Ich brauche ihn noch.“ Wie ein Wahnsinniger schiebt er sich zwischen die Fronten und wendet der bewaffneten Gefahr den Rücken zu, um das wahre Übel im Auge behalten zu können. Seine Intuition gefällt mir.

Fragend ahme ich menschlich verwunderte Mimik nach, indem ich eine Braue hebe. „Du benötigst meine Anwesenheit?“

Casper nickt heftig und streckt zögernd die Arme in meine Richtung, die Handflächen kapitulierend zu mir gerichtet. „Sowas von. Ich habe noch nie einen heranwachsenden Dämon im Einsatz gesehen. Das ist unglaublich faszinierend. Ich meine, die großen, zehntausend Jahre alten, klar, aber so was wie dich? Schon eine krasse Sache, oder?“

Heranwachsend?

„Seit kurzem volljährig“, setze ich ihn in Kenntnis.

„Oh, doch schon!“, erwidert er fröhlich und legt seine Hand über Adrianas, um sie nach unten zu drücken. Das Schwert gleitet ihr aus den Fingern. Ein dumpfes Klirren erklingt, sobald es zu Boden taumelt. Die Karten wurden soeben neu gemischt. Ich verschränke die Hände hinter meinem Rücken. „Du erinnerst mich an eine Enttäuschung“, sage ich genüsslich, gerichtet an Adriana. „An eine Enttäuschung für Familie, Freunde und Bekannte. Die schattenhaft Geschlagene.“

„Sicher, dass du uns beide da nicht verwechselst?“ Sie spitzt die Lippen. Ihr stechender Blick gleitet über mich, ehe sie die Abwehrhaltung fallen lässt und Casper meiner Gnade überlässt. Still verhallen ihre Schritte im engen Korridor. Zwei Schritte zur Seite bräuchte es, um nach meiner Waffe zu greifen und den Feind niederzustrecken. Ich empfinde nicht das Bedürfnis, ihn in dieser Sekunde zu eliminieren. Eine skurrile Ruhe umgibt den Gesandten des Himmels, die mich fesselt.

„Tja, so ist sie manchmal.“ Caspers Lachen wirkt unbehaglich. Er kratzt sich am Nacken.

„Man sollte meinen, Engel kennen Benehmen“, erwidere ich glatt und entscheide mich gegen die eskalierende Auseinandersetzung. Der Himmel, noch kann er auf den blauhaarigen Engel warten. Halte ich mich in diesen Gemäuern auf, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Lynn mich bezahlen lässt. Bliebe ich zu lang und sie fände es heraus, würde mich Grausigeres erwarten als ein verlorener Kopf.

Die Hände weiterhin hinter dem Rücken verschränkt, wende ich mich den bodentiefen Fenstern zu und betrachte meine nähere Umgebung für den Fall, dass eine Flucht erforderlich wird. Der blendende See funkelt im beißenden Sonnenlicht und erstreckt sich bis an die Wurzeln eines gigantischen Waldes, der Kühle und Dunkelheit verspricht.

Könnte ich ihn erreichen, ohne dass die Engel mich niederstrecken, könnte ich das Schlachtfeld von hinten aufrollen. Ich würde siegen ohne zu kämpfen. Sobald die Schatten mich umgeben, gehört der Sieg mir und Lynns Strafe wird erträglich sein.

Die Holzdielen knarzen leise, während ich das Zimmer durchschreite und die lavendelblaue Farbe der Tapete auf mich wirken lasse. Caspers Gefährtin raubte mir mit nur einer Berührung jede Energie. Ähnlich einem Ungeziefer. Fähigkeiten dieser Art werden in den meisten Fällen nicht an Engel vergeben, sondern an Dämonen, um der Gerechtigkeit einen Namen geben zu dürfen – etwas, wozu Engeln der Mut fehlt. Jede Facette meines Wesens sollte mich aus meinem Gefängnis zerren.

Ich ruhe in mir. Mein Instinkt sieht keinen tieferen Sinn darin, die Flucht zu ergreifen, solange die Herzen der Engel noch schlagen.

Ich setze mich vor die Fenster. Sollte Lynn von diesem Anflug der Schwäche erfahren … Sie wird wissen, welche Gedanken durch meinen Geist schlichen, während ich mich im himmlischen Einflussgebiet befand. Es mag mir widerstreben, aber man lässt mir keine Wahl. Der Tod wird mich auf jede Weise ereilen. Möchte ich als Heerführer untergehen oder als Verräter? Nur weil der Sieg mir entronnen ist, muss ich meine Ehre nicht mit ihm fliehen lassen. Die Ehre ist mein, sobald ich der faszinierenden Verlockung den Rücken zuwende und mich an meine Berufung erinnere.

Ich balle die Hand zur Faust und schlage mich frei. Die Glasscheibe vor mir splittert. Langsam komme ich auf die Füße und betrete das lebendige Grün, das dem Himmel nah genug ist, um mir auf lange Hand den Großteil meiner Energie zu rauben. Wie spitze Zähne geifern die scharfkantigen Scherben nach meinem Körper und zerreißen meine Haut. Blut fließt und besudelt das glänzende Parkett.

„Ich glaube nicht, dass das so clever ist, Dämonenjunge.“ Casper steht in der Tür, die Hände in den Taschen vergraben und ein mattes Lächeln auf den Lippen. Seine Augen huschen über die Blutschlieren und das zerborstene Fensterglas. Er stellt sich zwischen mich und meine Ehre. Der Engel scheint bereit, mir die letzte Gelegenheit zu nehmen, erhobenen Hauptes zu sterben.

„Die Zeit ist gekommen, zu verschwinden“, sage ich. „Für uns beide.“

„Ich schätze nicht. Nein, ich bleibe.“ Casper rollt die Augen und breitet die Arme aus. Ein wahnsinniger Messias. „Das hier ist mein Zuhause. Und dich will ich im Moment nicht verschwinden lassen, also sitzen wir hier wohl beide fest.“ Ich betrete die kräftezehrende Wiese. Für einen Dämon ist dieses Habitat erschlagend. Ein Heerführer muss bereit sein, sich dem auszusetzen.

„Lass mich gehen oder beuge dich mir.“ Ich breche eine Scherbe aus dem Rahmen, vergieße mehr Blut und warte auf seine Entscheidung.

„Also, Dämon.“ Casper hebt die Hände und lächelt mich warm aus blauen Augen an. „Raysiel, nicht wahr?“ Gemächlich lasse ich den Daumen über die glänzende Oberfläche wandern. Meine innere Bestie lechzt nach Opfern und ich will sie ihr geben.

„Du kannst an sich gerne vor die Tür gehen. Ich halte dich hier echt nicht fest oder so.“ Achselzuckend betritt er erneut das Zimmer und kommt auf mich zu. Eine gute Intuition, eine bessere als meine eigene, oder eine entrückte? „Adriana macht sich nur Sorgen, dass du mich umbringen könntest. Irgendwie kam es ihr so vor, als würde dir das Spaß machen. Leben zu beenden, weißt du?“ Sein zögerliches Lachen stimmt mich ratlos. „Mir auch, um ehrlich zu sein. Das fand sie ziemlich uncool, weißt du? Sie mag es nicht, wenn Menschen gewalttätig werden. Oder Dämonen.“

Es fällt mir schwer, die Worte zu glauben, die aus seinem Mund kommen. Eine verdrehte Macht umgibt ihn. Sie entwaffnet mich.

„Ich bin wie ein Steuereintreiber“, sage ich sachlich. „Wenn ich nicht mit Leben zahle, wird mein eigenes genutzt, um das Gleichgewicht herzustellen.“

Casper nickt. Er wirkt nicht überrascht.

„Genau das irritiert mich, Raysiel, genau das ist so seltsam. Ich meine, du bist achtzehn. Ein achtzehnjähriger Junge …“

„Dämon“, verbessere ich ihn. Die gemächliche Macht breitet sich bis in meine Fingerspitzen aus. Eine Energie, die Luzifer persönlich mir verlieh. Beschwichtigend weicht der Engel einen Schritt zurück.