Fall - Projekt  II - Celina Weithaas - E-Book

Fall - Projekt II E-Book

Celina Weithaas

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Beschreibung

Es ist an der Zeit, sich zu erinnern. Caressa ist dorthin zurückgekehrt, wo die Apokalypse ihren Ursprung nahm. Zurück in den Fängen der Klinik, treiben Caressas Geheimnisse sie in Jasons Arme - während der Graue Mann selbst seine ganz eigene Rechnung mit Caressa zu begleichen hat.

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Fall

© 2020 Celina Weithaas

2., vollständig überarbeitete Auflage 2021

Umschlaggestaltung und Design: Franziska Wirth

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Taschenbuch: 978-3-347-40011-5

ISBN e-Book: 978-3-347-40012-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Chroniken des Grauen Mannes

Phase I:

Die Poison-Trilogie:

Dark Poison (Oktober 2018)

Cold Poison (Januar 2019)

Dead Poison (September 2019)

Die Jahreszeitentrilogie:

Spring (31. Dezember 2019)

Fall (31. Dezember 2020)

Winter (31. Dezember 2021)

Phase II:

Die Märchendilogie:

Erzähl mir Märchen (05. November 2019)

Märchen für Dich (01. Mai 2020)

Die Mitternachtstrilogie:

Fünf Minuten vor Mitternacht (02. September 2020)

Zehn Sekunden vor Mitternacht (21. April. 2021)

Vor Mitternacht (13. Oktober 2021)

Die Dämonentrilogie:

Fürchte mich nicht (21. April 2022)

Vergiss mich nicht (02. September 2022)

Verlass mich nicht (01. Mai 2023)

Die Götterdämmerungstrilogie:

Götterdämmerung – Verschwörung (05. November 2023)

Götterdämmerung - Verlockung (01. Mai 2024)

Götterdämmerung - Verdammung (02. September 2024)

Die Ich-Bin-Trilogie:

Ich bin Du (21. April 2025)

Du bist Ich (13. Oktober 2025)

Wer ich bin (21. April 2026)

Phase III:

Die Geschichte des Grauen Mannes:

Die Geschichte des Grauen Mannes oder Komm mit mir nach Gestern (02. September 2026)

Chronicles of Kings and Queens:

Blutzoll (01. Mai 2027)

Blutangst (05. November 2027)

Blutrache (01. Mai 2028)

Blutdurst (02. September 2028)

Blutmond (21. April 2029)

Blut-Matt (13. Oktober 2029)

Phase IV:

Die Foscor-Trilogie:

Laufe (31. Dezember 2027)

Bleibe (31. Dezember 2028)

Vergesse (31. Dezember 2029)

Erinnere (31. Dezember 2030)

Verdamme (31. Dezember 2031)

Erwache (31. Dezember 2032)

Phase V:

Die Trilogie von Gottes Tod:

Von verblühender Unschuld (21. April 2030)

Von leidendem Verrat (02. September 2030)

Von verzweifelter Liebe (01. Mai. 2031)

Die Ewigkeitsdilogie:

Endlicher Triumph (13. Oktober 2031)

Triumphale Ewigkeit (01. Januar 2032)

Das Ende:

Nun, da es das Ende ist (31. Dezember 2032)

Für Emma.

Niemand hat dieses Buch ähnlich intensiv begleitet wie du – und ich Danke Dir dafür.

1

Ich kann mich nicht rühren. Das Herz donnert mir in den Ohren, während ich Jason endlich als das erkenne, was er ist: Mein persönlicher Albtraum. Feuerholz holen? Ich wusste nicht, dass das letzte unter einer Glaskuppel liegt.

Ronan stellt sich halb vor mich. Seine Muskeln sind gespannt. Tiefe Falten haben sich in seine Stirn gegraben. „Du solltest nicht hier sein.“

Jasons widerwärtiges Grinsen wird breiter, ehe er einen Schlüssel aus seiner Hosentasche zieht. Für einen Wimpernschlag wird mir schwarz vor Augen. Ich kenne ihn. Diesen Schlüssel hat Doktor Warren mir in meiner Erinnerung übergeben – bevor ich ihn Jason anvertraut habe. Das Mädchen, das ich gewesen sein muss, war so vertrauensselig, so dumm, dass es diesen Schlüssel augenscheinlich nie zurückverlangt hat.

„Gib den her.“ Meine Stimme bebt kaum merklich. Den Grund dafür? Verstehe ich nicht. Ich rechne mit Widerstand, Wut. Dass ich ihn aus Jasons erkalteten Fingern winden muss. Stattdessen wirft Jason mir den Schlüssel zu. Als könne er das Stück kaltes Metall nicht schnell genug loswerden.

Ronan fängt ihn für mich, nur um ihn mir in die Hand zu legen und meine Finger darum zu schließen. Ich spüre noch immer die sanfte Hitze von Jasons Haut, als ich genau das Gleiche bei ihm getan habe. Vor langer Zeit. Bevor die Apokalypse ihre Zähne bleckte und sich auf uns stürzte.

Jasons geballte Aufmerksamkeit liegt auf dieser einen, zarten Geste. Langsam rutscht ihm das gestellte, wütende Feixen aus dem Gesicht.

Ein leises Glucksen erinnert mich daran, dass wir nicht allein sind. Corell hat beide Hände vor den Mund geschlagen und versucht sein Lachen zu dämpfen – erfolglos.

Meine Mundwinkel zittern. Dieses Ungeheuer. Er ist um ein Vielfaches furchtbarer als das Monster, das ich getötet habe. Das Spencer umgebracht hat. Corell ist der Kopf hinter allem, was mir zugestoßen ist. Er hat Spencers Tod geplant. Meinen auch? Corell verdient es zu leiden und um Gnade zu betteln, um Hilfe zu schreien. Sich jeden Fingernagel einzeln auszureißen, während er sich unter dem Feixen der Apokalypse an sein wertloses Leben klammert. Um den nächsten Atemzug fleht.

Ebenso wie Spencer es getan hat.

Ich ziehe meine Hand aus Ronans und lasse den Schlüssel in meiner Tasche verschwinden. Man führt mich an Fäden. Hölzern gehe ich auf Corell zu. Auf die einzige Person, die hätte sterben sollen. Sein Grinsen, als wir in diesen Waggon stiegen – Corell wusste von Beginn an, was uns erwartet.

Corell lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Nicht einmal dann, als ich mich vor ihm aufbaue und bereue, dass ich kein Messer mit mir führe. Eine Klinge zwischen seinen Rippen hätte die Situation vereinfacht.

Ich bringe kein Wort heraus, während ich Corell anstarre. Es kostet mich einige Sekunden, um zu begreifen, warum: Er ist keinen Atemzug wert. Keinen Kraftaufwand.

Ronan scheint es derweil anders zu gehen. Mein Glück, Corells Pech. Er reißt den Jungen am Kragen in die Höhe und schlägt ihm mit der flachen Hand ins Gesicht.

„Bist du verrückt geworden?“, ruft Jason aus. Ronan ignoriert ihn, schlägt Corell stattdessen mit der Faust in die Magengrube. Der Junge zuckt nicht mit der Wimper. Er lacht. Wie ein Wahnsinniger. Mein eigener Puls betäubt mich. Wenn das hier zur Hinrichtung wird, dann werde ich danebenstehen und nichts tun. Nichts als dabei zuzusehen, wie das Leben aus Corell weicht.

„Lass ihn los, Ronan.“ Jason macht einen Satz. „Lass ihn verdammt noch mal los.“ Ronan denkt nicht daran und ich zolle ihm im Stillen Beifall. Jason sollte aufpassen, dass er nicht in die Schussbahn gerät, und verschwinden, ehe ich mich fasse und ihm eine runterhaue. Für Vieles. Für Dinge, an die ich mich nicht mehr erinnere, aber die ich spüre, sobald ich einatme. Sobald ich die Augen schließe. Sobald ich auch nur versuche einzuschlafen!

Corell vergeht das Lachen nicht. Der Junge kichert vor sich hin wie ein Wahnsinniger, fast, als würde er den Schmerz nicht spüren. Schaukelt wie eine Puppe unter Ronans Kraft und seinen brutalen, unnachgiebigen Schlägen, die seinen Kiefer zum Knacken bringen.

Corell müsste weinen und betteln. Stattdessen lacht er glücklich wie ein kleines Geburtstagskind.

„Verdammt, Ronan, hör auf!“ Jason holt aus. Ich bin nicht schnell genug. Mit einer Kraft, die ich ihm nicht zugetraut hätte, lässt er seinen Unterarm gegen Ronans Schulterblätter donnern. Ein dumpfer Aufschlag.

Ronans Rückenmuskulatur verspannt sich. Seine Augen werden schmal und er lässt Corell fallen wie ein vergessenes Spielzeug. Der Junge rollt sich kichernd auf dem Boden, schützt das Gesicht mit den Händen. Blut tropft von seinen aufgeplatzten, anschwellenden Lippen. Ein Anblick des Jammers.

Ich bin wie erstarrt, während Ronan rasselnd einatmet und die Schultern rollt. Jason taumelt rückwärts, die Augen weit aufgerissen und die Hände erhoben. Er kapituliert in einem Kampf, den er kaum begonnen hat. Der Schlag mit dem Unterarm, er kann nicht mehr gewesen sein als ein unangenehmer Druck.

Jasons erschütterte Fassungslosigkeit ist greifbar, ebenso wie Ronans Resignation. Vielleicht ist es das, was mich dazu zwingt, stehen zu bleiben und nicht auf Jason loszugehen. „Lass ihn in Ruhe“, bittet Jason Ronan mit rauer Stimme. Seine Worte werden beinahe von Corells irrem Lachen übertönt.

Ronan wischt sich mit der aufgeschlagenen Faust über den Mund. Nur eine Blutspur mehr auf einem ohnehin besudelten Gesicht, in dem Tränen sich nach Spencers Tod den Weg zu der Haut gegraben haben. „Er hat Spencer umgebracht“, knurrt Ronan und deutet anklagend auf Corell. „Er hat sie einfach sterben lassen.“

Für einen Moment verstummt der Junge und nimmt die Hände von seinem Gesicht. Die Lippen formen ein erstauntes Oh, ehe sie sich zu einem berechnenden Grinsen verziehen und Corell auf mich deutet. Das folgende Lachen scheint unmenschlicher als das vorherige. Höhnend. Als hätte die Apokalypse sich in seinen schmalen Körper gestohlen. Tränen brennen mir in den Augen, während ich die andere Hälfte der Wahrheit verschlucke. Niemand muss es erfahren. Niemand muss je davon wissen. Dass ich eine Sekunde zu lang gezögert habe. Dass ich ihre Hand erst zu fassen bekam, als es einen Atemzug zu spät war. Dass ich Spencer hätte retten können. Irgendwie.

Jason entgleiten die Gesichtszüge. Die Abwehrhaltung verschwindet und mit ihr die Wut, die von ihm abstrahlte wie Hitze von der Sonne und diese Enttäuschung, die ich nicht ganz begreife, die aber Jasons Augen dunkler und weiter entfernt wirken lässt.

Langsam dreht er sich zu Corell um. „Du hast mich angelogen?“, presst er hervor. Die Muskeln an Jasons Hals treten stark hervor.

Corell legt sich kichernd die Finger der linken Hand auf die Lippen. Seine Augen schwellen langsam zu. Welche Schmerzen Corell auch immer erleidet, sie sind nicht genug. Bei weitem nicht. Ich schlucke den Kloß herunter. Niemals, wenn ich es mir recht überlege.

„Warum?“ Corell legt den Kopf leicht schief, ehe er auf mich blickt, Jasons Frage ignorierend. „Alles passiert und passiert und passiert.“ Er deutet auf mich. „Riechst du das?“ Er reckt die Nase in die Luft. Was meint er? Das Blut?

„Warum hast du mich belogen? Warum zur Hölle“, rasselnd atmet Jason ein, „hast du Spencer sterben lassen?“ Jason hockt sich neben Corell. Eine vertrauensvolle Geste, die nicht in diese Situation passt. Wenn es ihn kümmert, sollte Jason die Fäuste gegen Corell heben. Jason tut nie, was richtig ist. Er zieht ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und beginnt damit, Corells Gesicht sauber zu tupfen.

„Verbrannte Vanille“, seufzt Corell. „Mein Blut. Blut verbindet Geschichten.“ Er berührt seine Pulsadern. Ich wünschte, er würde sie sich zerreißen und diesem ganzen Spuk ein Ende setzen. „Er wacht über sie. Ihre Zeit ist noch nicht gekommen. Echnaton forderte heute Nacht ein Opfer.“ Corell nickt bestärkend und hält Jason die Hände entgegen.

„Warum wolltest du Spencer sterben sehen?“ Jason spricht so ruhig, als ginge es hier nicht um einen Wahnsinnigen, der Ronan und mich in einen Waggon gelockt hat. In einen Waggon, in dessen eisigem Leib sich Leichen stapelten, ermordet von einem gigantischen, bepelzten Untoten, der statt Kleidung Edelsteine trug und anstatt von Schmuck leblose Körperhüllen um Hals und Hüfte band. Dessen Krallen lang waren und scharf wie Dolche, wenn sie sich, pechschwarz wie die Nacht, in das Metall gruben und es kreischen ließen. Fast als erleide es ähnliche Schmerzen wie jede dieser Leichen vor ihrem Tod.

Wie Spencer, als ich sie im Stich gelassen habe. Aus Feigheit und Arroganz. Ihre Fingernägel waren blutig und zu Teilen ausgerissen. Sie hat sich mit einer Mühe ans Leben geklammert, die mich seit Beginn der Apokalypse quält.

Ich versuche mir das Haar aus dem Gesicht zu streichen und scheitere. Blut hat es zu einem einzigen, verknoteten Klumpen verbunden. Ohne Wasser werde ich kaum eine Strähne von der anderen lösen können.

Corell seufzt und ergreift Jasons Hände. Warum lässt Jason das zu? Warum tut er niemals das Richtige? Warum versteht Jason Richtig und Falsch nicht? „Echnaton forderte ein Opfer“, raunt Corell. Der Irrsinn steht in seine verwirrten Augen geschrieben. „Ich gebe, was er will. Blut verbindet Geschichten.“

Jason schüttelt den Kopf, die Lippen weiß. „Dieses Mal hättest du eine gute Ausrede haben sollen. Denkst du wirklich, wir können dich hierlassen, allein und unbeaufsichtigt, wenn du zu jeder Zeit“, mit dem Daumen massiert Jason sich über die Stirn, „bereit bist, uns zu töten?“

„Nicht nur zu töten“, unterbricht Ronan Jason kalt. „Zu ermorden. Brutal und heuchlerisch zu ermorden. Wer sagt mir, dass du mir kein Messer in den Rücken rammst, während ich schlafe?“

Der Junge verzieht das Gesicht, als wäre er beleidigt. Ein jämmerlicher Ausdruck, wenn man die roten Schwellungen berücksichtigt.

„Nicht Caressa.“

Mein Mund klappt auf. „Wie bitte?“

Corell bemüht sich mit aller Kraft mich anzusehen – und scheitert erbärmlich. „Ich bin nicht Caressa“, sagt Corell langsam, als spräche er zu einem kleinen Kind. „Dein Fachgebiet. Nicht meines.“

„Das ist Unsinn“, widerspricht Ronan heftig. Jason schweigt. Er sieht mich nur an, nicht verurteilend. Nachdenklich. Das Bernsteingold in seinen Augen hat einen düsteren Farbton angenommen und schmiegt sich um seine Pupillen, sodass sie unnatürlich stark geweitet wirken. Ein Anblick, der mich erschaudern lässt, während ich zu verstehen versuche, welchen Vorwurf mir Corell macht. Und warum Jason nicht widerspricht.

Wegen Spencer? Warum schweigt Jason? Warum sollte er sprechen?

„Corell, lass mich dir erklären, was hier los ist.“ Eisig verschränkt Ronan die Arme vor der Brust. „Du bist ein durchgeknallter Mistkerl, den ich umbringen werde, weil er meine Schwester ins Grab gebracht hat.“

„Ich habe sie nicht geschickt.“

„Aber sie ist tot!“ Ronan hat diese vier Worte laut genug ausgesprochen, damit sie von den zum Kreis gebogenen Wänden zurückschallen, sich in der Kuppel fangen und ihren Lauf aufs Neue beginnen. Am Rand entlang, hoch in die Luft über uns. Das vier oder fünf Mal, bis gespenstische Stille uns einholt, unterbrochen von dem Zwitschern von Vögeln.

„Nicht meine Schuld“, wiederholt Corell mit Nachdruck. Er wendet mir das Gesicht zu. „Leben und leben lassen.“ Will er mir drohen?

Ich helfe ihm, er mir? Auge um Auge?

Dieses Angebot ruft einen ungeahnten Widerstand in mir hervor. Mein Geheimnis, ist es nur sicher, wenn Corell stirbt? Corells Tod bedeutet Schweigen. Und ich will nicht, niemals, niemals, dass Ronan erfährt, was ich getan habe. Die Apokalypse hat mich zur Heuchlerin gemacht. Hier stehe ich und hoffe auf die Hinrichtung einer Person … die nur den Ausschlag gegeben hat.

„Kann man die Räume abschließen?“ Aus irgendeinem Grund sehe ich Jason an.

Er zuckt die Achseln. „Wir hatten in unseren Zimmern immer genug Privatsphäre.“ Ich ziehe abwartend eine Augenbraue in die Höhe. Jason nickt. „Ja, man kann sie abschließen.“

Angespannt nicke ich. „Gut, dann schließen wir ihn ein. Vielleicht weiß Corell mehr über das Ding, das Spencer umgebracht hat.“

Corell rümpft die Nase. „Du stinkst nach verbrannter Vanille, nicht ich. Echnaton suchte dich, nicht mich.“

Wie auch immer. Ohne Corell hätte Ronan mich nie aufgefordert, in den Waggon zu steigen. Dann hätte ich nie nach Spencer gerufen und sie wäre niemals gestorben.

„Ich will ihn tot sehen“, sagt Ronan. Seine Muskeln zittern. „Ich muss ihn tot sehen! Er hat sie umgebracht. Hört ihr mir überhaupt zu, oder…“

„Hör auf“, unterbricht Jason Ronan. „Lass ihn in Ruhe.“

Ungelenk kämpft Corell sich zurück auf die Beine. Mir fällt auf, dass er sein linkes Bein schont. Ich erinnere mich an keine Verletzung, die der Rede wert gewesen wäre.

Ronan schnaubt abfällig. „Du hast keine Ahnung, was das bedeutet, wenn man jemanden verliert, der einem verdammt viel bedeutet.“

Ein humorloses Lachen ist Jasons einzige Antwort, ehe er Corell die Hand anbietet. Der Junge ergreift sie und lässt sich nach oben ziehen. Leise tropft Blut von seinem Kinn auf die Brust.

„Du wirst ihn nirgends hinbringen“, wiederholt Ronan. Ich habe ihn noch nie außer Kontrolle erlebt. So unsagbar, unglaublich unkontrolliert wütend.

Jason schüttelt nur den Kopf und wendet sich an mich. Bemerkt er nicht, dass Ronan brodelt? Ein Funken mehr und er geht hoch. „Dein Zimmer ist das fünfte im linken Gang“, erklärt Jason mir sachlich. „Falls sie dir Handtücher dagelassen haben, liegen sie in dem Schrank neben der Dusche. Ansonsten guck unter deiner Matratze nach. Da müssten mindestens zwei liegen.“

Ich rümpfe die Nase. „Und woher weißt du, wo ich meine Handtücher versteckt habe?“

Dieses ironische, kalte Lächeln kehrt zurück. Jason lässt Corells Hand los, um die Arme vor der Brust verschränken zu können. „Ich weiß, dass du dich an irgendwas erinnerst. Von mir aus belüge mich und ihn.“ Jason deutet mit dem Kinn auf Ronan. „Aber tu uns doch allen den Gefallen und bleib wenigstens dir gegenüber ehrlich. Es wäre für alle Beteiligten eine unglaubliche Erleichterung.“ Seine Stimme trieft vor Spott.

Corell hakt sich bei Jason unter. Ein seltsames Bild, wenn man bedenkt, dass der Junge ein paar Zentimeter größer ist als Jason und auch breiter gebaut. Wie ein kleines Kind zupft Corell an Jasons Arm und sieht durch seine zuschwellenden Augen zu ihm auf.

Jason hält Ronans Blick. Als würden die beiden einen Kampf ausfechten, den ich nicht verstehe. „Und was das betrifft mit dem nicht wissen, wie es ist, wenn mir die Person genommen wird, die mir am wichtigsten ist, du solltest es besser wissen.“ Ronan verzieht abfällig den Mund und legt einen Arm um mich. Ich lasse es zu, selbst mit dem Wissen, dass diese Geste keinen Halt spenden soll. „Händchenhalten ist kein Antrag, Jason. Und vor allem kein Tod.“

Jason schüttelt den Kopf und sieht mir fest in die Augen. „Das meine ich nicht.“

Corell zappelt ungeduldig neben ihm. „Bett, Dusche, Essen, Trinken“, zählt Corell auf. Ein kleines Kind im Geist geblieben, wenn er nicht gerade zu einem Monster mutiert, das seine eigenen Freunde in den Tod schickt.

Jason seufzt leise. „Genau. Lass uns gehen.“

Er dreht sich nicht noch einmal um, während er die kreisrunde Empfangshalle verlässt. Das leise Zwitschern der Vögel entlässt ihn.

„Wir können verschwinden“, sagt Ronan und hält mich etwas fester. Perplex blinzle ich. Er wollte bleiben. „Draußen ist es weniger gefährlich als hier.“

Das weiß ich. Ich spüre es in jeder meiner Fasern. Unter der orangenen Sonne gibt es nichts, das ich so zu fürchten habe wie den Aufenthalt hier. Meine Angst, dass diese Umgebung meine Erinnerungen zurückbringt, ist unbeschreiblich. Sie lässt mich nicht mehr atmen, kaum noch klar denken. Ich will das nicht. Tränen brennen mir in den Augen. Um keinen Preis will ich mich erinnern. Die Verzweiflung, was die Vergangenheit bereithalten könnte, schnürt mir die Luft ab.

Wenn ich jetzt bleibe, gibt es kein Zurück mehr. Sobald ich zurück in diesem Zimmer bin, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis es zu meinem Zimmer wird. Ich darin leben und schlafen werde wie früher. Diese vier Wände werden mich erleben, wenn ich am verletzlichsten bin, und sie werden mir zurückgeben, was ich fürchte.

Jetzt zu verschwinden, wäre die einzig vernünftige Option. Wir könnten weiter gen Süden laufen. Das Ende ist noch lange nicht erreicht. Ich will zum Äquator und sehen, ob es dort ebenso trostlos ist wie hier. Ich will das Leben finden und keinen abgeschlossenen Bereich, in dem die Zeit angehalten wurde.

Hier war ich Spencers Freundin und hier habe ich Jason geliebt. Hier war ich ein Mädchen, das nicht ums nackte Überleben gekämpft hat, sondern Träume und Hoffnungen hatte.

Zu bleiben wäre Gift in meinen Adern. Zu bleiben wäre die schrecklichste Entscheidung, die ich jemals fällen könnte.

Aber ich brauche Antworten zu dieser Nacht. Was war dieses Wesen? Gibt es noch mehr davon?

Hätte ich eine reale Chance gehabt, Spencers Leben zu retten? Die passende Lösung zu jedem Rätsel wartet hier auf mich. Hier unter dieser Kuppel, in diesem Garten Eden, aus dem die Schlange kriechen wird, um mich mit der Feige zu verführen. Und ich würde sie jederzeit essen, allein um einen Grund zu haben, diesem Ort zu entfliehen.

Für den Moment aber sind mir die Hände gebunden.

„Wenn wir bleiben, können wir die beiden im Auge behalten“, sage ich leise und sehe Ronan fest in die Augen. „Vielleicht kann uns genau das unser Überleben sichern.“ Ronan verzieht den Mund und wischt sich mit der blutigen Hand über das Gesicht. Kleine Flocken lösen sich von der Haut und segeln zu Boden.

Rote Blüten im Wind.

„Das ist wahnsinnig.“

„Alles in dieser Welt ist wahnsinnig!“

Er widerspricht nicht. Stattdessen starrt Ronan der Kuppel entgegen, die Lippen zu einem sanften Lächeln verzogen. So offen und ehrlich habe ich ihn nie gesehen. Der flüchtige Zauber hält nur für einen Moment an, einen gestohlenen Augenblick. Lang genug, damit ich Ronans selige Ruhe in meinem Herzen verschließen will.

„Spencer und ich saßen hier stundenlang und haben die Sterne beobachtet“, murmelt er. Angespannt wischt Ronan sich über die Wangen. „Im Winter war der Himmel besonders klar und unter der Kuppel wurde es nicht kalt.“

Zögernd lege ich meinen Arm um Ronans Rücken und drücke ihn leicht an mich. „Wir werden herausfinden, was sie umgebracht hat. Das schwöre ich dir.“ Was für ein Heuchler bin ich, zu schweigen über meine Schuld, und einen Täter zu suchen, den es nicht gibt.

Ronan nickt, ehe er mir einen Kuss auf die blutigen Lippen drückt. Er tut so, als wäre die Welt heil und in Ordnung. Blind spiele ich mit. Für ein paar Sekunden zwitschern die Vögel und ich spüre nichts weiter als Ronans warme Nähe. Dann kommt das leichte Jucken auf meiner Haut zurück und die leere Erschöpfung.

„Wir sollten hoffen, dass die Duschen noch funktionieren“, murmle ich.

Ronan seufzt leise. „Denkst du, dass die Erinnerungen an die Nacht verschwinden, sobald das ab ist?“ Ronan klingt hilflos genug, damit ich die Wahrheit für mich behalte.

„Vielleicht“, flüstere ich, ohne daran zu glauben. Ich werde Spencers Flehen niemals vergessen. Und die Schuld, die ich mir aufgeladen habe.

Ronan vergräbt die Nase an meinem schmutzigen Hals, ehe er erneut seufzt und mich ein kleines Stück von sich schiebt. „Versprich mir etwas“, bittet Ronan mich unvermittelt. Der Teufel muss mich reiten, als ich ohne Umschweife nicke. „Erzähl mir alles. Verheimliche nichts vor mir. Wenn wir die Zeit in diesem Gebäude überleben wollen, müssen wir einander vertrauen können.“ Das klare Blau seiner Augen nimmt mich gefangen. Ob ich Ronans Verzweiflung mit Händen greifen könnte, wenn ich es nur genug versuche?

Schwer schluckend weiche ich seinem Blick aus. Ich habe deine Schwester auf dem Gewissen. Ich glaube zu wissen, dass hier die Untoten wenigstens im Ansatz erschaffen wurden. Lügen ist mein Modus Operandi.

„Natürlich“, wispere ich. „Wir müssen zueinander halten, wenn wir überleben wollen.“ Ich meine es so, wirklich. Ich versuche an meine eigenen Worte zu glauben, aber ich kann nur Ronan täuschen. Die Schuldgefühle haben mich längst meinem Richter vorgeführt.

Ronan lächelt mir schwach zu und küsst mich. Wie zur Belohnung für etwas, das ich nie getan habe. Ich fühle mich schrecklich, schmutzig, abscheulich und bin beinahe erleichtert, als Ronan mich loslässt.

„Wir sehen uns in zehn Minuten wieder genau hier“, sagt er. Ich schüttle den Kopf. „Ich muss das Blut abwaschen. In zwanzig Minuten. Und dann in meinem Zimmer.“ Wir müssen allein sein. Fernab von Jason und Corell. Fernab von all diesen Erinnerungen, die in jedem Winkel auf mich lauern. Ich spüre sie. Die Vergangenheit. Sie flüstert meinen Namen. Was täte ich nicht, um sie zum Schweigen zu bringen? Mein Puls rast. Mein Mund ist staubtrocken, die Finger zittern. Wie viel gäbe ich, um einfach verschwinden zu können?

Ronan zögert für einen Moment, dann nickt er. „Von mir aus. In zwanzig Minuten in deinem Zimmer.“ Sich räuspernd ringt Ronan sich ein Lächeln ab. „Wir müssen uns überlegen, wie wir mit dieser Situation umgehen.“

Ich nicke. Eine weitere Lüge. Ich habe meine Antwort längst gefunden. Warum sollte dieser Schlüssel, den Doktor Warren mir in meiner Erinnerung gab, nur zu dem Schloss des Eingangs passen? Doktor Warren verlangte von mir, dass ich etwas finde. Etwas ganz Bestimmtes.

Hinter der Tür, zu der der Schlüssel passt, warten Antworten auf mich. Keine davon will ich hören oder sehen. Wenn sie die Apokalypse erdolchen könnten? Wer wäre ich, des Rätsels Lösung unter Verschluss zu halten.

2

Es ist das Flugzeugmobile über dem Bett, das mir als erstes ins Auge fällt. In dem leichten Luftzug, der mit dem Öffnen der Tür erwacht, tänzelt es an der Decke über dem Bett. Blaue und grüne Flugzeugträger klappern leise gegeneinander und werfen matte Schatten auf das gemachte Bett.

Ein paar wenige Bücher liegen auf dem Boden verteilt. Auf dem Nachttisch ruht ein dünnes Armband. Es funkelt in dem sanften Schein der Sonne. Schaudernd schlinge ich die Arme um mich und schließe die Tür. Das hat Jason mir geschenkt, mitten in der Nacht.

Happy Birthday.

Eine halbleere Flasche steht daneben, ein Glas liegt zersplittert auf dem Boden. Die kleinen Scherben gleichen Zähnen, die aus dem weichen, weißen Teppich wachsen.

Zögernd gehe ich auf einen Anblick zu, den ich nur aus Träumen kenne, die unwirklicher nicht sein könnten. Als ich das Flugzeugmobile berühre, klackert es leise und dreht sich hektisch um sich selbst. Ein Vogel, festgebunden an einer Schnur, der nicht fliehen kann.

Das leise, melodische Aneinanderschlagen von Holz wird von den Wänden widergeworfen und verschluckt von den Gardinen, die vor das Fenster gezerrt wurden. Das meiste Licht sperren sie aus. Alles bis auf einige fadenscheinige Strahlen, die sich in Armband und Glas fangen.

Ich öffne die Vorhänge, halb in der Hoffnung vertrauten, öden Boden zu sehen. Stattdessen blickt mir ein Vogel mit blauem Kopf entgegen, stößt einen Warnschrei aus und fächert schützend die Flügel über einem Nest auf. Leben direkt vor meinem Fenster. Wo ist die kalte Unnachgiebigkeit der Apokalypse geblieben?

Ein hohes Fiepen. Das winzige, kahle, mehr als hässliche Köpfchen streckt sich an dem Gefieder des Muttervogels vorbei. Der legt seinen Flügel über das zerbrechliche Wesen und erstickt seine Rufe im Keim, ohne mich aus den Augen zu lassen.

Unsicher verlagere ich das Gewicht und betrachte ihn ungeniert wie er mich. Der Vogel scheint mich nicht zu fürchten. Er fliegt nicht davon, sondern streckt mir den Schnabel entgegen. Neugierig. Für einen Moment zaudere ich, dann presse ich die flache Hand gegen das kühle Glas. Seine Reaktion überrascht mich. Er zieht sich nicht zurück, verschwindet nicht. Stattdessen drückt er seinen Kopf gegen die Fensterscheibe, nur für einen Moment. Das Gefieder plustert er auf, bis es zu Berge steht. Das nächste kleine Köpfchen taucht an seiner Seite auf. Dieses Mal verdeckt der Vogel es nicht.

Das kleine Wesen schreit mich an. Will es Nahrung? Immer hungrig. Niemals zu sättigen. Plärrend. Kreischend. Kratzend. Keifend.

Kopfschüttelnd trete ich einen Schritt zurück und durchquere den großen Raum. Jedes Geräusch wird von den dicken Teppichen geschluckt, mit denen der Fußboden ausgelegt ist. Ich öffne eine der zwei Türen, die in die Wände eingelassen wurden. Leise knisternd erwacht Licht zum Leben, ohne dass ich einen Schalter betätigt habe.

Strom fließt, als wären kein technisches Gerät einem unerklärlichen Impuls zum Opfer gefallen. Einem Fauchen, das von jetzt auf gleich alle Lichter ausschaltete, sobald der Vulkan Feuer spie.

Es erfordert mehr Mut als es sollte, das Badezimmer zu betreten. Fast erwarte ich, dass die Lampe knisternd erlischt, stattdessen scheint das Licht heller zu werden.

Das Blut in den Ohren rauschend, betrachte ich die Dusche. Saubere Kacheln, matt cremefarben. Mehr Knöpfe an der Wand, als ich mir vorstellen kann zu bedienen.

Nur für den Fall, dass das Wasser angeht, sobald ich sie betrete, setze ich den Rucksack ab und stelle ihn unter das Waschbecken, bevor ich mich daran mache, die blutgetränkte Kleidung von meiner Haut zu schälen. Es juckt und kratzt, als sich die Schichten von mir lösen, nach und nach. Als würde ich von einem Leben in das nächste kriechen.

Den Blick in den Spiegel vermeide ich bewusst. Ich weiß, dass ich einem Horrorfilm entsprungen bin und das Monster, das sich selbst nicht mehr erkennt. Blutig hängen mir Strähnen ins Gesicht. Waren sie einmal schwarz, haben sie nun eine bräunliche Färbung angenommen. Schuppenhandschuhe bedecken meine Finger.

Dunkle Flocken rieseln aus meinem Haar, als ich das Shirt über den Kopf ziehe und in das Waschbecken werfe. Jeans und Schuhe folgen. Die Unterwäsche. Selbst auf ihr erkennt man die verräterischen Flecken. Trotz des dunklen Violetts des Stoffs.

Bis auf die Haut durchnässt. Wie viel davon ist Ronans Blut, wie viel meines? Spencers? Das völlig fremder Menschen?

Das meiste davon war Wasser. Das weiß ich. Es macht nichts besser.

Die Dusche springt nicht an. Meine Schritte hallen gespenstisch auf den kalten Fliesen wider, während ich mich auf die zahlreichen Knöpfe zubewege. Entblößter denn je fühle ich mich. Tausend Augen ruhen auf mir, während ich die Hand ausstrecke. Der eine Meter über die cremefarbenen Fliesen fühlt sich an, als wate ich durch Wachs. Zögernd lege ich einen Finger auf den Knopf mit der Temperaturangabe von 37 Grad. Ein Prickeln geht durch meine Glieder. So war es immer. Oder? Die Apokalypse scheint mich aus der Ferne zu verhöhnen.

Der Wasserguss wird durch kein Rauschen angekündigt. Es stürzt einfach auf mich hinab, viel zu steif und hart, massiert meine Schultern und wäscht diese Nacht von mir ab. Hellrote Striemen ziehen sich über die cremefarbenen Fliesen, schwimmen durch mein verfilztes, schmutziges Haar und schwemmen den Schmutz heraus. Warmes Wasser auf der Haut zu spüren, ist seltsam. Vermutlich, weil ich es nicht kenne. Nicht soweit ich mich erinnern kann.

Nach und nach wäscht die Hitze die Anspannung von mir. Seufzend lehne ich den Kopf gegen die kühle Wand. Das Wasser umarmt mich, hält meinen Rücken und gleitet meinen Bauch hinab, tropft von dort zu Boden und hellrot in den Abfluss. Ich will ewig hier bleiben. Mich vergessen.

Alles vergessen.

Mich verleugnen. Von Neuem beginnen. Als stände ich erneut an einem fremden Ort, während sich erste Sonnenstrahlen durch einen rauschenden Regenguss kämpfen.

Ronan. Stöhnend schließe ich die Augen. Binnen der nächsten Minuten wird er hier auftauchen. Um zu reden.

Reden. Ich bin der Worte müde. Die Zeit verschwimmt unter der schummrigen Wärme und ich heiße es willkommen.

Viel zu früh betätige ich erneut diesen Knopf. In einem angenehmen Dampf verschwinden die letzten Tropfen. Schaudernd stehe ich in dem kleinen Raum und warte darauf, dass sich die Hitze verflüchtigt, ehe ich die Duschkabine verlasse, ein Handtuch aus dem Schrank daneben nehme und es mir um den Körper wickle. Jeder Handgriff ist Routine. Als hätte ich mein gesamtes Leben an diesem Ort verbracht. Gerädert angle ich meine Ersatzkleidung aus dem Rucksack und ziehe mich an. Die Haare hängen mir tropfnass und glänzend ins Gesicht, als ich mein Zimmer betrete.

Man wartet dort bereits auf mich. Man. Nicht Ronan.

Jason. Der Rucksack gleitet mir aus den plötzlich tauben Fingern. „Was tust du hier?“

Jason zuckt die Achseln. Das Fenster steht offen, das Nest leer. Während die Jungtiere verzweifelt die Köpfchen recken, gluckt die Mutter neben Jason. Seine Finger streicheln abwesend durch das blaue Gefieder. Der Vogel stört sich nicht daran.

„Geh.“ Wie oft habe ich ihn bereits darum gebeten? Stumm schüttelt Jason den Kopf. Mit einer unbeschreiblichen Sanftheit schiebt er die Hände unter das Tier und hebt es zurück ins Nest. Es protestiert leise, wehrt sich aber nicht. Es scheint reine Routine. Jason schließt das Fenster und der Vogel breitet die Flügel über seinem Nachwuchs aus. Das hysterische Fiepen verstummt.

„Ich sagte, du sollst gehen“, wiederhole ich. Meine Stimme bebt.

Seufzend dreht Jason sich zu mir um. „Warum?“ Er hebt die Schultern. „Kannst du mir wenigstens sagen, warum du so wütend auf mich bist?“ Nein. Das kann ich nicht. Mich treibt ein vages Gefühl in den Wahnsinn. Dieses, das von irgendwoher kommt und mich von innenheraus auffrisst. Dazu gesellt sich das irrationale Misstrauen, das mir den Schlaf raubt. Ich bücke mich nach meinem Rucksack und presse ihn mir an die Brust. „Geh bitte einfach.“

Stirnrunzelnd lässt Jason sich auf das Bett unter dem Flugzeugmobile sinken. Abwesend streckt er die Hand nach oben und bringt es zum Klimpern. Flugzeuge wiegen sich im Sturm, neigen sich zur Seite, nach oben, unten, kämpfen gegen die Schwerkraft an. Keines von ihnen scheint zu wissen, dass es gehalten wird und niemals um sein Leben fürchten muss. Vor meinen Augen scheint Jason jünger zu werden. Unschuldiger. Sanftmütiger. Sacht schüttle ich den Kopf.

„Das mit Spencer tut mir leid“, sagt Jason unvermittelt.

Abfällig schnaube ich. „Sag das Ronan“, murmle ich. „Sie war seine Schwester.“

Jason nickt gedankenverloren und starrt auf die Flugzeuge. Beruhigen sie ihn? „Es ist seltsam, zurück zu sein.“

Seltsam, zurück zu sein? „Wie ist es dir gelungen, vor Ronan und mir hier zu sein?“ Der Zug fuhr wie ein Berserker durch das Land.

Ein schwaches Lächeln huscht über Jasons Gesicht.

„Das wirst du verstehen, sobald du dich erinnerst.“ Ich will mich nicht erinnern.

„Es überrascht mich, dass du noch hier bist“, fährt Jason fort.

„Ich hätte erwartet, dass ihr verschwindet. Jetzt, da wir alle wieder hier sind. Inklusive Corell.“

Verschwinden. Das war der Plan gewesen. Warum ich bleibe? Vielleicht wünscht sich ein Teil von mir, dass alles Sinn ergibt. Dass hier irgendwo eine Antwort ruht, die nichts vernichtet, sondern nur … heilt. Alles wieder gut macht. Als gäbe es eine Idee von Frieden.

„Ich will nicht, dass du hier bist.“ Jason ignoriert meinen kühlen Tonfall und tippt das Mobile erneut an.

„Corell hat sich wieder etwas beruhigt“, informiert Jason mich, ohne dass ich danach gefragt habe. Mein Puls beschleunigt sich. Ich sollte Corell töten. Er erinnert mich an eine tickende Zeitbombe. Sein Verstand ist verworren genug, um sich selbst zu verzehren. Menschen töten. Schwer schluckend starre ich auf die am Boden liegende Flasche. Irgendwann wird es schon zur Routine werden. Leben zu beenden. Das muss es.

Das wird es.

„Wie kommst du darauf, dass er sich beruhigen konnte?“ Ich klinge erstaunlich gefasst. „Der Junge ist durchgeknallt. Komplett.“

Jason schüttelt den Kopf und streckt sich auf meinem Bett aus. Gelassen schlägt Jason ein Bein über das andere. Das Mobile tanzt über ihm und wirft flatternde Schatten auf sein angespanntes Gesicht. Der Anblick ist mir vertraut wie mein Spiegelbild. Diese Gewissheit macht mir mehr Angst als das Ungeheuer in dem ratternden Waggon.

„Corell ist nicht halb so verrückt, wie wir es uns wünschen“, sagt Jason. Das bezweifle ich. Jason verschränkt die Arme hinter seinem Kopf. Ein Bild huscht vor meinem inneren Auge vorbei. Eine kleine Szene, die mich aus dem Konzept bringt. Und sei es auch nur für einen flüchtigen Moment.

„Mach mal Platz.“ Das kleine Mädchen schiebt den jungen Jason bei Seite und schenkt ihm ein zahnlückengespicktes Grinsen. „Ich habe was für dich.“

Sie hält ihm aufgeregt die Hand hin. Ein kleines Ei ruht zwischen ihren halbgeschlossenen Fingern. Jason setzt sich auf und nimmt es mit strahlenden Augen entgegen.

„Wo hast du das gefunden?“ Jason lispelt leicht.

Das Mädchen legt einen Finger an die Lippen. „Wenn du darauf aufpasst, schlüpft vielleicht ein Vogel. Aber ich will ihn auch zur Hälfte haben, weil ich das Ei gefunden habe!“ Sie hüpft aufgeregt auf der Matratze auf und ab. „Das wäre so toll! Stell dir mal vor, wir beide hätten ein Haustier. Das wäre so toll.“

Der junge Jason lacht und schließt beschützend die Hand um das kleine Ei.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Corell Spencer mit Absicht in den Tod getrieben hat.“ Jasons Stimme holt mich zurück ins Jetzt. Nachdenklich starrt er an die Decke. „Spencer war auch seine Freundin.“

Meine Mundwinkel beben. Corell hat das alles ins Rollen gebracht. Spencer und ich? Wurden unter dem krachenden Geröll begraben. „Vielleicht weil irgendein durchgeknallter Teil von ihm unbedingt seinem dämlichen Echnaton etwas opfern wollte?“, platzt es aus mir heraus.

Jason rümpft die Nase und sieht mich skeptisch an. „Das ist sein Vater. Echnaton.“ Sich räuspernd stützt Jason sich auf einem Ellbogen auf und sieht mich matt lächelnd an. „Zumindest hat Corell ihn so genannt. Ein alter, grauer Mann mit Vanillezigarre. Er ist vor Jahren abgehauen. Inzwischen ist er bestimmt tot. Keine Ahnung.“ Wegwerfend zuckt Jason die Achseln. Die Flugzeuge beruhigen sich langsam. Ich versuche zu ignorieren, wie die Sonne sich in dem silbernen Armband auf dem Tischlein fängt.

„Was ist passiert, nachdem ich gegangen bin?“, fragt Jason mich nach einigen ratlosen Sekunden des Schweigens.

Zögernd lasse ich mich neben ihm auf das Bett sinken. Für einen Moment halte ich inne, dann lege ich mich hin. Penibel genau achte ich darauf, ihn nicht zu berühren, und starre auf das Mobile. Die Flugzeuge ruhen. Als ich sie antippe, beginnt der Sturm von Neuem.

„Wir sind Corell über den Weg gelaufen“, sage ich angespannt. „Spencer wollte ihm folgen. Sie hat ihm vertraut. Sie war davon überzeugt, dass er uns helfen wird.“ Jason seufzt und verzieht den Mund. „Corell zu vertrauen, ist eine schreckliche Idee. Er hat es jedes Mal bestraft.“

Das habe ich gemerkt. Als ich so weit war, ihm nicht mehr gänzlich zu misstrauen, hat er Ronan in diesen Waggon gelockt. Und ich bin Ronan auf den Fuß gefolgt. Es grenzt an ein Wunder, dass Ronan und Spencer in dieser Nacht nicht beide gestorben sind.

„Und was dann? Woher kam das ganze Blut?“ Jason betrachtet mich, als wolle er sich vergewissern, dass ich es restlos abgewaschen habe. Die Nacht aus jeder Facette gelöscht habe, aus der man sie löschen konnte.

Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Wir sind in einen Waggon gestiegen, Ronan und ich. Darin war ein… Wesen. Es wollte uns töten.“

Nachdenklich betrachtet Jason mich. Er stellt keine Fragen. Weil er weiß, dass ich sie ihm nicht beantworten würde? Ich presse mir den Rucksack fester auf den Bauch. Jason weiß ohnehin schon zu viel.

„Ich bin froh, dass du diese Nacht heil überlebt hast“, sagt Jason. Wenn er meint. Überleben. Das schaffen wir alle, oder? Irgendwie. Die Zeichen der letzten Nacht aber, die ich nicht löschen konnte? Der Schnitt an meinem Unterarm pocht und den Bruch in meiner Hand sehe ich nur. Wie viel würde ich für Schmerzen geben, die mir beweisen, dass ich irgendwann wieder etwas mit diesen Händen werde fühlen können. Was, wenn sie momentan absterben und ich sie verliere? Ohne Hände wäre ich eine tote Frau. Ich kann mir kein Leben vorstellen, in dem sie mir genommen sind.

Zögernd berührt Jason mich. Ich zucke zurück, als er meine Finger nimmt, er ignoriert meine Anspannung. „Nun ja, fast heil“, verbessert Jason sich mit Blick auf meine schräg stehenden Finger. „Wie hast du das hinbekommen?“

„Ich habe zugeschlagen.“

Jason rollt die Augen. „Und warum stirbst du nicht halb vor Schmerzen?“ Stur starre ich vor mich hin. „Jetzt sind wir also wieder an diesem Punkt angekommen.“ Seufzend legt Jason sich einen Arm über das Gesicht und atmet angespannt gegen seine Haut. „Denkst du, dass du wieder mit mir sprechen wirst?“

Ich schiebe die Unterlippe nach vorn. „Ich warte hier auf Ronan“, erkläre ich Jason.

Er seufzt tief. „Etwas anderes habe ich nicht erwartet. Wirst du mir eines Tages erklären, warum du wütend auf mich bist?“

„Sag du es mir. Ich habe keine Erinnerungen.“

Aus diesen unmenschlich intensiven bernsteinfarbenen Augen betrachtet Jason mich. Seine Brauen rücken zusammen und ich kann nicht anders, als seinen Blick zu erwidern. Mich in dieser Nähe verlieren zu wollen, während über uns die Flugzeuge klappern. Langsam schüttelt Jason den Kopf. „Das glaube ich nicht“, murmelt er. „Dass du gar keine Erinnerungen hast.“

Ich rümpfe die Nase und setze mich auf. Neben Jason zu liegen, ist seltsam. Es ist vertraut. Es ist mir fremd. Und ganz tief in mir, macht mir diese geheuchelte Vertrautheit eine höllische Angst. „Warum nicht?“ Stoisch stütze ich mein Kinn auf dem Rucksack ab. „Ich kann dir nicht sagen, wer ich vor der Wolke war. Keine Ahnung, ob ich Spencer vorher kannte und Ronan, aber…“

„Du weißt, dass du mich kanntest?“, unterbricht Jason mich. Etwas funkelt in seinen Augen. Ich kann es nicht identifizieren.

„Was?“ Ich kann mich nicht erinnern, etwas in der Art behauptet zu haben.

„Du meintest, dass du nicht weißt, ob du Ronan und Spencer kanntest, aber du hast nichts dergleichen über mich gesagt.“ Ist das Hoffnung in Jasons Stimme? Ein bitteres Grinsen zupft an meinen Mundwinkeln. Worauf?

„Ja“, gestehe ich. „Hin und wieder glaube ich, Momente zu sehen und mich bruchstückhaft zu erinnern, nichts davon ist von Bedeutung.“

Jason schüttelt den Kopf, ein überwältigtes Lächeln im Gesicht. Mit allen zehn Fingern fährt er sich durch die braunen Haare. Jason wirkt… befreit und das erste Mal glaube ich ihm seine Empfindungen, ohne sie zu hinterfragen. Es wirkt so natürlich und selbstverständlich, wie er das Gesicht in den Händen vergräbt, sich aufrecht hinsetzt und mich aus diesen ungewöhnlichen Augen ansieht, als wäre ich sein Dreh- und Angelpunkt.

„Das… das ist gut, das ist…“ Er unterbricht sich selbst und starrt auf das Mobile. „Woran erinnerst du dich?“

„Daran, dass ich dir diesen Schlüssel gegeben habe, den du mir vorhin zugeworfen hast.“ Ein Teil von Jasons Lächeln verschwindet.

„Das ist unglaublich. Hast du irgendeine Ahnung woher die Erinnerungen plötzlich kommen?“ Es gibt Trigger, verschiedene. Gerade deswegen habe ich so eine Angst vor diesem Ort. Das hier ist ein einziger Trigger. Das ganze Gebäude, der gesamte Komplex. Die Bettwäsche, der Vogel vor dem Fenster.

Das Mobile.

„Nein“, lüge ich. „Keine Ahnung. Sie kommen und ergeben keinen Sinn.“

Jason schnaubt abfällig. „Wenn du bereit bist, mir die Wahrheit zu sagen, gib Bescheid.“

„Ich lüge nicht.“

Jason rollt die Augen und schwingt die Beine über die Bettkante. „Wenn du meinst.“

Die Tapete ist eine andere, von jetzt auf gleich. Grau, nicht bläulich. Der Jason vor mir um zwei, drei Jahre jünger. Er hat resigniert die Lippen zusammengepresst. Das linke Auge ist blau geschwollen und die Lippe aufgeplatzt.

„Du kannst nicht einfach jemanden schlagen, nur weil dir danach ist!“ Das Mädchen springt auf und beginnt im Raum auf und ab zu tigern.

„Worüber regst du dich eigentlich auf? Darüber, dass ich angefangen habe, oder darüber, dass ich verloren habe?“ Das Mädchen reißt die Hände in die Luft. „Was weiß ich? Es ist eigentlich egal. Du kommst blutend in mein Zimmer, redest wirres Zeug. Verdammt, Jason, mit wem hast du dich geschlagen? Und warum? Hast du überhaupt eine Ahnung, was die Ärzte deswegen tun könnten? Was, wenn sie es mit Theseus in Verbindung bringen und nicht mit dir? Sie wären vollkommen außer sich und…“

„Es war aber nicht Theseus, okay?“, unterbricht Jason das Mädchen harsch. „Theseus hätte ihn umgebracht. Ich habe ihm nur ein blaues Auge verpasst.“

„Wem? Und warum, um Himmels Willen? Was ist passiert?“ Jason zuckt die Schultern, die Augenbrauen zusammengezogen. Energisch wischt er sich über die blutigen Lippen. „Ist doch egal.“

„Es wäre egal, wenn dir nichts passiert wäre und wenn du kein Problem damit hättest, mit mir darüber zu reden.“

„Ich habe doch gar kein Problem!“

„Wer war es dann? Warum sagst du es mir nicht?“ Sie wirkt ernsthaft verzweifelt.

Der jüngere Jason schnaubt abfällig. „Du kannst deinem neuen Freund sagen, dass er Recht hat. Letzten Endes teilen sich beste Freunde wohl doch alles.“

Ein Schauder geht durch meinen Körper.

„Hörst du mir überhaupt noch zu? Caressa?“ Jason schnippt mit den Fingern vor meinem Gesicht.

Perplex blinzle ich. „Was?“

Jason presst die Lippen fest aufeinander. Sie sind nicht länger blutig und die Haut um sein Auge herum nicht angeschwollen.

„Hast du zugehört?“

Er … warum habe ich nicht mitbekommen, was Jason gesagt hat? Ich sitze einen guten Meter von ihm entfernt. Selbst wenn er flüstern würde, ich müsste jedes Wort verstehen.

„Ja“, lüge ich. „Aber es ist mir schlichtweg egal. Ich will mich nicht erinnern und genau deswegen wird das auch nicht passieren.“

Seine Augenbrauen rücken zusammen. „Das habe ich gar nicht gesagt. Du warst gerade weggetreten und …“

Die blaue Tapete wechselt ins Graue. Nicht schon wieder. Nicht dreimal in fünf Minuten.

„Es interessiert mich einfach nicht, was du zu sagen hast!“, fauche ich. Die Realität entgleitet mir. Der Teil meines Hirns, der mir Erinnerungen einimpfen will, die ich nicht brauche, kämpft gegen mich an. Es kostet genug Kraft, diese Bilder zurückzuhalten, dass mir der kalte Schweiß ausbricht.

„Das war schon immer unser Problem“, sagt Jason erstaunlich ruhig, die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt. „Wir haben einander nicht zugehört.“

„Es gibt kein Wir“, rufe ich aus. „Es ist völlig egal, ob ich dir zuhöre oder nicht. Am Ende dieser Zeit hier werden wir vermutlich tot sein. Ich will nur wissen, was es mit dieser Klinik auf sich hat um“, die Welt hebt sich aus den Angeln und ich glaube, die Apokalypse hämisch kichern zu hören, „… um die letzte Nacht zu verstehen. Und dabei kann ich dich nicht gebrauchen.“

„Warum?“, erwidert Jason erstaunlich heftig. „Ich bin die einzige Person, auf die du dich immer verlassen kannst. Ich…“

Das Flackern wird stärker.

Eine verzerrte Stimme dringt an mein Ohr. „Kommst du bitte mit mir, Caressa?“ Das kleine Mädchen steht auf.

„Was ist denn passiert?“

„Es interessiert mich nicht!“, rufe ich schrill. „Raus aus meinem Zimmer. Raus hier. Raus!“ Jason darf mich nicht ungeschützt erleben, während die Erinnerungen nach mir greifen. Ich kann mich ihm nicht ausliefern.

Jason versteift sich und steht auf. „Ich weiß, dass du etwas vor mir verbirgst.“

„Und du bist eine einzige Lüge“, sage ich fuchsteufelswild. „Eine Chimäre. Und jetzt verschwinde!“ Ich klinge unkontrolliert. Meine Stimme überschlägt sich. Ich klinge hysterisch.

Die Tapete wird nicht wieder blau! Sie muss blau werden. Das Flugzeugmobile hat ein Flugzeug mehr. Es baumelt etwas tiefer über dem Bett. Jason sitzt darunter und pustet dagegen.

Hektisch schüttle ich den Kopf, um das Bild zu vertreiben.

Der Jason, der mir real gegenübersteht, verengt die Augen.

„Ich weiß, dass du etwas vor mir verbirgst“, wiederholt er.

„Und ich werde herausfinden, was es ist.“

Er soll endlich verschwinden!

Schritte erklingen. Verzweifelt sehe ich auf. Ronan verharrt in meinem Türrahmen.

„Was ist hier los?“, fragt er. Ich kann mich nicht rühren. Sobald ich auf das Bett blicke, pustet eine kleinere Version von Jason gegen das Mobile.

Ronan und ich müssen von hier verschwinden und zwar schnell. Hier werde ich keine Antworten bekommen. Am ehesten überrollen mich diese… diese Bilder und die Geräusche. Sie sind irrelevant. Ich brauche sie nicht. Ich muss nur wissen, was diese Klinik mit dem Monster im Waggon zu tun hat und was Corell darüber weiß.

„Das gleiche wie immer, wenn du in der Nähe bist.“ Jason klingt müde. Er wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn.

Ich glaube einen leichten Blauschimmer auf der Tapete ausmachen zu können.

Ronan verspannt sich. „Du solltest gehen“, sagt er zu Jason.

Der zuckt die Achseln. „Das hatte ich ohnehin vor. Caressa.“

Jason nickt mir zu. „Wir sehen uns später.“

In meinen Ohren ist das eine Drohung. Jason verlässt den Raum und das Grau an den Wänden ist Geschichte. Zögerlich blinzle ich zu meinem Bett. Der kleine Jason ist verschwunden, ein Flugzeug weniger baumelt am Mobile.

Ronan kommt auf mich zu. Seine Schritte hallen durch den großen Raum. Trotz der Teppiche. „Alles in Ordnung?“

Ich nicke hastig. „Wir sollten darüber reden, was du vorhast. Ich will hier so schnell wie möglich weg.“ Ich sage das, als wäre Ronan es gewesen, der mich dazu gedrängt hat, zu bleiben. Wir wissen beide, dass es anders war.

Mein Herz rast so laut wie in dem Moment, als ich vor den Kannibalen floh. Das Dröhnen hallt in meinen Ohren wider und erfüllt meinen gesamten Kopf mit einem unerträglichen Donnern.

„Du wolltest bleiben“, erinnert mich Ronan.

Benebelt nicke ich. „Ja. Ja. Aber sobald ich weiß, was ich wissen muss, will ich von hier verschwinden.“

„Hat Jason irgendetwas…“

„Nein!“ Ich schreie. Panisch behalte ich die Wände im Blick. Sie ändern ihre Farbe nicht. Gut so. „Ich bin nur etwas durcheinander und erschöpft und…“ Ich unterbreche mich selbst und sehe Ronan fest in die Augen. Irgendwem muss ich das anvertrauen. Es braucht jemanden, der mich im Notfall decken kann. Und Ronan vertraue ich genug, um ihn zu meinem Beschützer zu machen.

Er wird auf mich aufpassen, komme was wolle. Das muss er. „Ich erinnere mich“, bringe ich hervor.

Ronans Augen werden groß und er öffnet den Mund. Bevor er nur einen Ton sagen kann, fahre ich hastig fort. „Es ist nicht viel, nur Bruchstücke. Aber ich habe Angst, dass es mehr werden.“ Verzweifelt sehe ich Ronan an. Er ist mein Fels in der Brandung. Wenn er nicht zu mir hält, wer weiß, was dann geschieht.

„Hilfst du mir?“, flüstere ich. „Passt du auf mich auf?“

Ronan sagt nichts. Stattdessen zieht er mich in seine Arme und ich lasse es zu. Sein langsamer Herzschlag beruhigt mich, während ich das Gesicht an seiner Schulter vergrabe.

Meine Wangen sind tränennass. Ich habe die Tränen nicht kommen sehen. Eigentlich sollte Ronan weinen. Um Spencer. Aber er wäre nicht Ronan, wenn die Selbstbeherrschung nicht an erster Stelle stände. Alles, was einen Menschen ausmacht, kann er hintenanstellen. Ronan hält mich im Arm, wortlos, und wartet darauf, dass meine Tränen trocknen.

Ich war ihm nie so dankbar wie in diesem Moment.

3

„Was für Erinnerungen sind es?“, fragt Ronan, als ich mich ein wenig beruhigt habe. Nervös beiße ich mir auf die Innenseite meiner Wange. Vermutlich gehört es dazu, reinen Tisch zu machen. Was nicht bedeutet, dass ich bereit dazu bin. Vertrauen. Wie viel kann ich für Vertrauen geben?

„Ich weiß nicht, wie ich diese Erinnerungen beschreiben soll“, versuche ich Ronan schniefend auszuweichen. „Es ist einfach seltsam.“ Fetzen aus meiner Vergangenheit, die mir ohne Erklärung zugeworfen werden. Komm, erinnere dich.

Nur bloß nicht an Dinge, die wichtig sein könnten.

„Hast du dich mal in meiner Gegenwart erinnert?“

Achselzuckend atme ich tief ein. Das erste Mal kommt mir in den Sinn. Der geöffnete Kühlschrank, die Hand, die mich noch immer jagt.

„Ja“, gestehe ich. „Bei den Kannibalen und danach noch einmal kurz, bevor wir in den Waggon eingestiegen sind.“ Ronan nickt nachdenklich. „Also wann immer du abwesend gewirkt hast.“ Ronan runzelt die Stirn. „Ich dachte, du döst.“ Schweigend starre ich vor mich hin. Ich hätte Ronan in diesem Glauben lassen sollen.

„Woran hast du dich erinnert?“ Ronan wirkt angespannt. Stirnrunzelnd sehe ich zu ihm auf. Was hat er zu verbergen? Nichts. Stände Ronan auf Corells Seite, hätte Corell nicht so viel darangesetzt, dass Ronan stirbt. Oder Spencer.

„An Fetzen“, sage ich. „Sie ergeben keinen Sinn.“

„Was hast du darin gesehen?“

Das ist die Frage. Mich konnte ich erkennen. Manchmal distanziert genug, dass diese kurze Frequenz mehr als unwirklich war. Hin und wieder derart intensiv, dass ich nicht fassen kann, diese Szene jemals vergessen zu haben.

Dabei bereitet mir eines am meisten Sorgen: All die Momente, all diese Erinnerungen standen im Zusammenhang mit Jason. Abgesehen von der im Keller. Die Untoten, die gegen das Glas getrommelt haben und um ihr Leben flehten. Diese milchige Kiste. Schaudernd reibe ich mit dem Daumen über den Gurt meines Rucksacks.

Ich muss nur diesen Raum wiederfinden. In ihm wird es Antworten auf Fragen geben, die ich nicht zu stellen wage. Es muss einfach so sein.

„Mich. Hauptsächlich“, gestehe ich. „Die Szenen waren bedeutungslos. Ich saß in meinem Zimmer. Ich habe gelesen. Ich war im Garten schaukeln.“ Achselzuckend schließe ich die Augen und atme tief durch. „Keine Ahnung, warum diese Banalitäten zurück in meinen Kopf kommen.“

Für einen Moment befürchte ich, dass Ronan mich von sich schiebt und mir tief in die Augen sieht. Bereit meine Seele zu ergründen, wie Jason es tut.

Jeder von uns hat seine ganz eigene, besondere Fähigkeit. Jason dank vieler Persönlichkeiten mehr als wir anderen. Ist es Jason möglich, Gedanken zu lesen?

Unwahrscheinlich. Ich bin mir sicher, dass Ronan und Spencer ihm das Blaue vom Himmel lügen könnten und Jason würde es nicht bemerken. Sie kennt er nicht in und auswendig. Sie kennt er nicht wie mich.

„Okay, also nichts Wichtiges.“ Aufmunternd lächelt Ronan mir zu. Sollte mich seine Erleichterung beunruhigen? Mir stellen sich die Nackenhaare auf und ich schlucke das Misstrauen hinunter. Oder versuche es zumindest. „Es geht dir eher darum, dass du verletzlich bist, wenn du dich an etwas erinnerst, oder?“, rät Ronan. „Du nimmst deine Umwelt nicht mehr richtig wahr.“

Das ist eine Möglichkeit. Meine vage Antwort ist ein Schulterzucken und er gibt sich damit zufrieden. Die zweite Lüge, die zwischen uns steht. Ob ich jemals den Mut finden werde, Ronan die Wahrheit zu erzählen?

Ronan zieht mich fester an sich. „Wir bekommen das hin. Ich stehe hinter dir. Du musst keine Angst haben. Vor nichts und niemandem.“ Schöne Versprechungen. Schöne, neue Welt. Tränen steigen mir in die Augen, während das Flugzeugmobile klimpert. „Wenn jemand zu gefährlich wird, werde ich keine Sekunde zögern, ihn zu töten.“

Jemand? Corell oder Jason? Ronan konkretisiert das nicht. Stattdessen drückt er mir einen Kuss auf den Scheitel. „Ohne das ganze Blut bist du noch schöner“, murmelt er. Ich rümpfe die Nase. Hat er das wirklich gesagt? Alles an dieser Situation fühlt sich falsch an. Als hätte man sie zwanghaft an den Haaren herbeigezogenen.

„Danke?“

Ronan lacht leise. „Du konntest mit Komplimenten noch nie umgehen.“

Meine Brauen rücken verständnislos zusammen. Unwahrscheinlich. In meinen Erinnerungen nahm ich jedes liebe Wort von Jason an, ohne den Wahrheitsgehalt zu hinterfragen. Jeder Ton aus seinem Mund wirkte wie die einzige Wahrheit. So als käme es von Herzen und würde niemals dem dienen, mich um den Finger zu wickeln.

„Vielleicht hast du Recht“, sage ich trotzdem. In meiner Hosentasche suche ich nach dem Schlüssel. Und werde nicht fündig. Er muss mit der schmutzigen Wäsche in meinem Rucksack liegen. So ein Mist.

„Weißt du, was das für ein Schlüssel war, den Jason mir gegeben hat?“

Ronan lässt die Nase meinen Hals hinabwandern. Ein seltsames Gefühl. Angenehm. Deplatziert. Ich lasse die sanfte Geste zu. „Vermutlich für die Eingangstür?“ Achtlos zuckt er die Schultern. „Ich weiß es nicht.“

Seufzend lehne ich mich gegen ihn und versuche, die Berührungen zu genießen. Ich bin zu angespannt, als dass ich es wirklich könnte. Ein zäher Knoten hat sich in meinem Bauch verschlungen und zieht sich zusammen, bis mich das Gefühl beschleicht, keine Luft mehr zu bekommen.

„Wenn wir dein Rätsel gelöst haben, verschwinden wir dann?“, bittet Ronan mich.

Die Antwort ist offensichtlich. „Ja.“ Diese Klinik ist mir unheimlicher als das geifernde Ungeheuer in dem klapprigen Waggon. Irgendwo unter uns wartet die Hölle auf Erden. Vielleicht sind die Teufel verschwunden, aber ihr Vermächtnis pilgert durch die Wälder.

Ronan nickt. „Das ist gut.“ Mehr sagt er nicht.

Zögernd lege ich eine Hand auf seinen Hals. „Wie geht es dir?“, flüstere ich. Die Worte auszusprechen, scheint ungeheuerlich. Wir wissen beide, worauf meine Frage abzielt.

Sofort sind die Muskeln an Ronans Rücken hart und er rückt ein Stück von mir ab. „Gut“, antwortet er schlicht. „Wir haben ein Dach über dem Kopf. Warum fragst du?“ Weil du den ganzen Vormittag über geweint hast, um ein Mädchen, das ich umgebracht habe. Weil es als seine… Vertraute meine Pflicht ist, mich über seine Befindlichkeiten zu informieren und Interesse zu heucheln.

„Du siehst erschöpft aus“, sage ich sanft und streiche Ronan über die Wange. Er hat sich rasiert. Selbst wenn er es nicht getan hätte, würde ich die Stoppeln nicht spüren. Sanft nimmt Ronan meine Hand in seine und begutachtet die Finger. Genau wie Jason es nur Minuten zuvor getan hat.

„Sie sind gebrochen“, murmelt er. Ich zucke die Schultern. „Tut das nicht weh?“ Wortlos schüttle ich den Kopf.

Ronan presst die Lippen aufeinander und drückt gegen meinen Zeigefinger. Ein Knacken hallt durch den Raum und ich sehe wie die Knochen sich unter der Haut verschieben. Fühlen tue ich nichts.

Ronans Mund wird weiß, während er meinen Finger so zusammensetzt, wie er sein sollte. Probehalber rolle ich das Handgelenk. Gut. Sehr gut. Zumindest das funktioniert noch. Schweigend steht Ronan auf und geht in das Badezimmer. Das Licht entzündet sich klickend selbst, sobald er die Tür öffnet, knackend erlischt es, als Ronan den Raum verlässt, einen Verbandskasten in der Hand.

„Ich glaube nicht, dass da Gips drin ist“, gebe ich zu bedenken.

Ronen rollt die Augen und schenkt mir ein warmes Lächeln. „Mullbinden reichen mir schon.“ Finger um Finger bringt Ronan in die alte Form, ehe er meine Hand notdürftig mit Verbandsmull umwickelt. Für einen Hauch von Stabilität?

Vor dem alten Verband über meiner Handfläche zögert er. Ich habe ihn unter der Dusche nicht abgenommen. Bin noch immer zu feige dazu. Ich weiß, dass es schrecklich sein muss, was darunter liegt. Vielleicht ist meine Handfläche längst verschwunden. Spüren tue ich sie seit Tagen nicht mehr.

Ich kann praktisch sehen, wie Ronan sich dagegen wappnet, den Saum des Pullovers abzuwickeln. Seine Schultern verspannen sich, der letzte Rest Blut weicht aus seinen Lippen. Dann löst Ronan den kleinen Knoten und legt die Haut frei. Oder das, was davon übrig ist.

Betäubender Gestank schlägt uns entgegen und treibt mir die Tränen in die Augen. Wie schafft Ronan es, die Miene starr zu halten?

„Wir brauchen Medizin“, murmelt er. Ich hebe die Schultern und sehe angestrengt aus dem Fenster. Der Vogel ist verschwunden und hat die Jungtiere ungeschützt zurückgelassen. Sein Anblick hätte mich beruhigen können. Jetzt, da ich ihn brauche, ist der blaue Vogel fort.

„Ist es so schlimm?“, stelle ich die wohl schwachsinnigste Frage von allen.

Ronans Versuch mir aufmunternd zuzulächeln, scheitert kläglich. „Ich glaube, es ist keine Blutvergiftung.“

„Das ist gut, oder?“, frage ich.

Ronan wiegt den Kopf und kramt in dem Verbandskasten nach etwas, womit er meine Wunde abtupfen kann. „Einerseits ja“, sagt Ronan gedehnt. „Andererseits habe ich keine Ahnung, was das hier ist. Und ob es lokal bleibt. Wenn es ein aggressiver Erreger ist, kann er sich rasend schnell durch den gesamten Körper verbreiten.“ Genau das wollte ich unbedingt hören. Dass meine Hände mich noch umbringen werden. Ich versuche, die Bitternis aus meinen Gedanken zu vertreiben. Ein jämmerlicher Tod. Solang ich mich erinnern kann, stemme ich mich mit allem, was ich in mir habe, gegen die Apokalypse. Und dann rafft mich meine eigene Hand dahin. „Kannst du mir irgendwie helfen?“, frage ich heiser. Den ersten Tupfer legt Ronan beiseite. Ich bin beunruhigt genug, ihn anzusehen. Rotbräunliches Sekret verklebt den weichen, weißen Stoff. Irgendetwas zwischen Blut und Eiter, versetzt mit einem Schimmer, der mich an Verwesung erinnert. Erste Tränen laufen mir über die Wangen. Dieser Gestank ist nicht in Worte zu fassen. Und er geht von mir aus.

„Ich weiß es nicht“, wispert Ronan und tupft weiter. Mit jeder Berührung werden die Falten auf seiner Stirn tiefer und seine Sorge scheint sich über die Minuten zu verzehnfachen.

„Aber du hast eine Ahnung was es ist, oder?“, frage ich ihn. Ronan bestreitet das nicht. „Lass uns einfach hoffen, dass ich Unrecht habe.“

„Und wenn nicht?“

„Dann bin ich der erste, der dir eine Kugel durch den Kopf jagt“, verspricht er mir. Ich öffne den Mund, um zu protestieren. Dann geht mir die ganze Bedeutung seiner Worte auf. Mein Unterkiefer klappt herunter.

„Wann soll ich mich damit infiziert haben?“ Meine Stimme klingt zu schrill. Ronan schweigt, wickelt sauberen Verbandmull um meine Hand und wendet sich der nächsten zu.

Fünf schmierige Tupfer liegen neben uns auf der Bettwäsche. Schwarze Partikel scheinen unter dem Schleim gefangen zu sein. Schmutz? Ich hoffe es so sehr.

„Ronan? Ich kann mich nicht damit infiziert haben. Dieses Virus hängt doch nicht einfach an Felswänden!“ Außer es wird von dem Wind übertragen. Außer es ist mächtiger als ich. Als ich. Was bilde ich mir ein? Was Ronan befallen konnte, kann mich auch töten.

„Ich weiß es nicht, okay?“ Ronan wirft den provisorischen Verband zu energisch fort. Fluchend greift er nach Desinfektionsspray. Warum hat er es auf der anderen Seite nicht genutzt. Seine Brust hebt sich hektisch. Seine Angst versetzt mich in Panik.

„Ist diese Hand noch schlimmer?“

„Mach die Augen zu“, bittet Ronan mich. „Und öffne sie erst wieder, wenn ich es dir sage. Wir finden etwas, womit wir dir helfen können.“ Ich öffne den Mund, um zu protestieren. Mein Blick huscht fast automatisch zu meiner Hand. Bevor ich sie ansehen kann, schließt Ronan unsanft meine Augen. „Vertraue mir einfach, wenn ich dir sage, dass es das nur schlimmer machen würde.“

Ich schweige. Was ist dort? Haben die schwarzen Venen sich ausgebreitet? Zeigen sich die ersten unleugbaren Symptome? Wenn meine Hände dem Virus gehören, dann kann sich mein Körper vielleicht noch eine Woche dagegen wehren – wenn ich Glück habe. Danach greift es auf das Gehirn über und schaltet es restlos aus.

Eine Woche um meine Rätsel zu lösen? Das ist nicht genug! Niemand könnte binnen einer Woche hinter das kommen, was ich finden muss. Was ich unbedingt, um jeden Preis wiederfinden muss. Was irgendwo hier liegt.

Mir bleibt nichts als Hoffnung. Ein schwacher Begleiter.

Ich höre Ronan leise arbeiten, hin und wieder unterdrückt fluchen. Die Neugierde zerfrisst mich. Hätte Ronan mir erlaubt, meine Hand zu betrachten, wäre es um einiges leichter. Noch ein Fluch, dann höre ich, wie er aufsteht.

„Lass die Augen zu, Caressa, ja? Ich muss nur kurz etwas holen.“ Ich runzle die Stirn. Was zum Beispiel? Der Verbandskasten ist hier, ebenso wie Desinfektionsmittel und alles andere, was man für meine Hände braucht.

Bevor ich fragen kann, entfernen sich Ronans Schritte aus dem Zimmer. Ich bleibe still zurück und lausche dem gedämpften Zwitschern der Vögel.

Corell hatte Unrecht. Die Vögel singen. Wir leben, wir hoffen. Was hat ihn dazu bewegt, etwas anderes zu erwarten?