Spring - Projekt I - Celina Weithaas - E-Book

Spring - Projekt I E-Book

Celina Weithaas

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Beschreibung

Am Anfang war das Nichts. Das Ende wurde von einem ausbrechenden Supervulkan eingeleitet. Staub, Kälte. Monstrositäten. Caressa erwacht ohne Erinnerungen unter einer orangenen Sonne in ihrer persönlichen Hölle. Zwischen Chaos und Wahnsinn treibt eine düstere Ahnung sie voran, immer in Richtung Süden. Ihr Weg wird gekreuzt von apokalyptischen Ungeheuern - und Jason, der mehr über Caressa zu wissen scheint als sie selbst.

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© 2019 Celina Weithaas

2., vollständig überarbeitete Auflage 2021

Umschlaggestaltung und Design: Franziska Wirth

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Taschenbuch: 978-3-347-38961-8

ISBN e-Book: 978-3-347-38963-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Chroniken des Grauen Mannes

Phase I:

Die Poison-Trilogie:

Dark Poison (Oktober 2018)

Cold Poison (Januar 2019)

Dead Poison (September 2019)

Die Jahreszeitentrilogie:

Spring (31. Dezember 2019)

Fall (31. Dezember 2020)

Winter (31. Dezember 2021)

Phase II:

Die Märchendilogie:

Erzähl mir Märchen (05. November 2019)

Märchen für Dich (01. Mai 2020)

Die Mitternachtstrilogie:

Fünf Minuten vor Mitternacht (02. September 2020)

Zehn Sekunden vor Mitternacht (21. April. 2021)

Vor Mitternacht (13. Oktober 2021)

Die Dämonentrilogie:

Fürchte mich nicht (21. April 2022)

Vergiss mich nicht (02. September 2022)

Verlass mich nicht (01. Mai 2023)

Die Götterdämmerungstrilogie:

Götterdämmerung - Verschwörung (05. November 2023)

Götterdämmerung - Verlockung (01. Mai 2024)

Götterdämmerung - Verdammung (02. September 2024)

Die Ich-Bin-Trilogie:

Ich bin Du (21. April 2025)

Du bist Ich (13. Oktober 2025)

Wer ich bin (21. April 2026)

Phase III:

Die Geschichte des Grauen Mannes:

Die Geschichte des Grauen Mannes oder Komm mit mir nach Gestern (02. September 2026)

Chronicles of Kings and Queens:

Blutzoll (01. Mai 2027)

Blutangst (05. November 2027)

Blutrache (01. Mai 2028)

Blutdurst (02. September 2028)

Blutmond (21. April 2029)

Blut-Matt (13. Oktober 2029)

Phase IV:

Die Foscor-Trilogie:

Laufe (31. Dezember 2027)

Bleibe (31. Dezember 2028)

Vergesse (31. Dezember 2029)

Erinnere (31. Dezember 2030)

Verdamme (31. Dezember 2031)

Erwache (31. Dezember 2032)

Phase V:

Die Trilogie von Gottes Tod:

Von verblühender Unschuld (21. April 2030)

Von leidendem Verrat (02. September 2030)

Von verzweifelter Liebe (01. Mai. 2031)

Die Ewigkeitsdilogie:

Endlicher Triumph (13. Oktober 2031)

Triumphale Ewigkeit (01. Januar 2032)

Das Ende:

Nun, da es das Ende ist (31. Dezember 2032)

Für Luci, die für dieses Buch alles gegeben hat.

1

Der Ruf einer Krähe, weit entfernt, lässt mich aufblicken. Macht sich ein Tier bemerkbar, ist Gefahr in Anmarsch. Kühlt das stetige Rauschen auf eine eisige Stille herab, ist die Waffe bereits auf einen gerichtet. Sofort spannen sich meine Muskeln an und ich lausche in die erdrückende Finsternis hinein. Nichts. Nur das Knacken des Feuers. Eine weiche Brise des Windes, der durch die nackten Äste streicht und an ihnen zerrt, bis sie krachend zu Boden gehen. Das lautlose Funkeln der Sterne. Trügerischer Frieden.

Der nächste Warnruf. Dieses Mal bin ich auf den Füßen, sichtbare Gefahr hin oder her, und trete mein kleines, erbärmliches Feuer aus. Hektisch setze ich mir den Rucksack auf und ducke mich hinter den großen Felsen, der aus dem Boden gegraben wurde, vermutlich bevor die Wolke aufzog. Er ist die einzige Möglichkeit sich auf dieser platten Ebene zu verstecken. Strategisch betrachtet ist die Erhebung eine Katastrophe. Zur Sonne hin fällt der Boden in eine tiefe Schlucht, zwei Seiten sind von einem Wald behütet, in dem sich das Grauen sammelt. Der einzige Vorteil? Niemand sollte den Weg hierher finden, ohne dass ich ihn bemerke. Angespannt lausche ich in die Nacht hinaus. Nichts. Rein gar nichts. Selbst der Wind scheint den Atem anzuhalten. Es ist gefährlich ruhig. Gefrorene Stille. Das nächste Knacken, dieses Mal mit Sicherheit nicht von meinem wärmenden Feuer verursacht.

Menschen, die sich mir näheren? Ich taste nach dem spitzen Stein, den ich vor einigen Tagen auf meinem Weg gefunden habe. Er erscheint mir praktischer als ein Messer. Während jeder die blitzende Klinge einer Stichwaffe bereits auf einen Kilometer Entfernung zu riechen scheint, werden Steine gern übersehen, ihre Wirkung maßlos unterschätzt. Ich ziehe es vor, mich mit ihnen gegen die Menschen zu verteidigen, die mich am liebsten auf ihrem Abendbrottisch sähen. Oder gegen alles, das mich sonst noch angreifen wollen könnte. Der blasse Mond schielt über die wippenden Wipfel. Schatten tummeln sich am Fuße der Bäume. Das graue Stroh hat sich aufmerksam aufgerichtet.

Horcht mit mir in die Nacht hinein.

Ein Ratschen, als reiße jemand die Äste von den toten Bäumen, lässt mich zusammenfahren und hinter dem Felsen versinken.

Die Krähe hatte Recht. Da ist jemand. Im Gegensatz zu ihm, kann ich aber nicht wegfliegen. Nicht die gesamte Ebene überblicken. Ich hocke hinter einem Felsen und bange um mein Leben.

„Riechst du das?“ Der Wind trägt die Stimme eines jungen Mannes zu mir hinüber. Das überrascht mich nicht. Sie sind es, die die Folgen der Katastrophe am ehesten überlebt haben. Junge, kräftige, gesunde Männer, denen mit jedem neuen Tag ein bisschen mehr von ihrem Verstand verloren geht. Aus welchem Grund auch immer scheinen Frauen deutlich anfälliger zu sein für Krankheiten jeglicher Art. Egal ob psychisch oder physisch.

Die Erwiderung des Begleiters kann ich nicht hören, während ich mich enger gegen die kühle, raue Oberfläche meines Beschützers drücke. Der Wind beginnt wieder zu pfeifen. Ihre Schritte kommen näher, verstärkt durch das leise Rascheln der getrockneten Gräser. Wenn ich erst auf diese Warnung gehört hätte, würde die Apokalypse in der heutigen Nacht einen weiteren Toten verzeichnen.

„Er ist noch nicht lange fort“, murmelt die Stimme. Vorsichtig linse ich um den Felsen herum. Sie hocken neben meinem zugescharrten Feuer, das dünne Rauchschwaden in den Himmel schickt. Man muss nicht von der Apokalypse geformt worden sein, um zu erkennen, dass ich noch in der Nähe bin. Menschen mit Flügeln hat die Katastrophe noch nicht hervorgebracht und genau die bräuchte es, um rechtzeitig weit genug wegzukommen.

„Wollen wir ihn jagen?“, fragt der zweite, beinahe zu leise, als dass ich es verstehen könnte. Ich sehe, wie der erste den Kopf leicht wiegt.

„Scheint ein cleveres Kerlchen zu sein. Hat uns gehört, bevor wir in Sicht kamen.“

„Aber er muss allein sein. Das Gras liegt nur hier flach.“ Der Zweite deutet auf die kleine Stelle, auf der ich gesessen habe. Von der aus sich Fußabdrücke dorthin ziehen, wo ich jetzt hocke. Es wird eine Frage von Sekunden sein, bis die beiden auf die flachen Abdrücke aufmerksam werden, die zu mir führen. Von da an bleiben mir nur noch Augenblicke. Zwei Männer gegen ein siebzehnjähriges Mädchen?

Es gibt fairere Kämpfe.

Angespannt linse ich zur anderen Seite an meinem Felsen vorbei. Von dort aus stürzt sich das Plateau, auf dem ich mein Nachtlager aufgeschlagen habe, in die Tiefe. Fünf Meter freier Fall, dann eine Landung im seichten Gewässer. Ich würde diesen Weg sofort nehmen, könnte ich schwimmen.

So bleibt mir nichts als zu hoffen, dass sie die Spuren nicht entdecken.

„Und ein Kind“, murmelt der erste. Er richtet sich auf und lässt die Hände in den Taschen verschwinden. Selbst von hier aus kann ich erkennen, was er denkt. Leichte Beute. Winzige elektrische Stöße scheinen durch meine Muskeln zu jagen. Seine Beute, das bin ich.

Seine Begleitung deutet auf meine Fußspuren. „Er kann noch nicht weit gekommen sein.“

Mein Herz beginnt so laut zu schlagen, dass ich mich anstrengen muss, um überhaupt noch etwas verstehen zu können. Bumm, Bumm, Bumm. Mein Körper macht sich nicht bereit für einen Kampf. Alles, was mir bleibt, ist die Flucht. Dorthinein. In die Schatten. Zwischen ihnen befindet sich der einzige Ort zwischen engstehenden Bäumen und rollenden Stämmen, an dem ich einen Vorteil gegen die beiden verzeichnen kann.

Der erste Mann schüttelt den Kopf. „Falsch. Er ist noch hier.“ Er deutet auf die unberührte Wiese, die sich hinter meinem Felsen erstreckt. Jetzt wäre der Augenblick für eine Flucht gekommen. Ich habe nur ein Problem: Mir fehlt der Notausgang. Meine einzige Chance wartet im Rücken der Männer.

Angespannt versuche ich, leiser zu atmen. Jedes Luftholen gleicht einem Donnerschlag. Wie ist es möglich, dass sie mein Keuchen nicht hören?

Unkontrolliert zittern meine Finger, als ich den Stein fester umklammere. Zu fest. Er ritzt meine Haut. Ich ignoriere das Brennen und konzentriere mich auf die beiden Männer vor mir. Es juckt mich in den Füßen loszurennen.

Noch nicht. Gleich. Noch nicht jetzt.

„Und gar nicht so weit weg“, murmelt Nummer zwei. Das Pfeifen des Windes steigert sich in neue Höhen, kaschiert meinen keuchenden Atem. Ich nutze diesen Moment aus, um mich in Startposition zu bringen. Wenn es um eine Flucht geht, darf mir kein Fehler unterlaufen. Nicht bei dieser Chancenverteilung.

Der zweite Mann nickt zu meinem Felsen. Ohne sich weiter abzusprechen, teilen sie sich auf. Einer von links, einer von rechts. Zwei Schatten, die unaufhaltsam näherkommen. Selbst in dem fahlen Mondlicht kann ich das Metall in ihren Händen aufblitzen sehen. Adrenalin beginnt durch meine Adern zu pumpen und lässt mich schwindelig fühlen.

Vier Meter trennen uns noch voneinander, drei. Ich ziehe den Stein aus meiner Tasche und halte ihn schützend vor mich. Zwei Meter. Meine Muskeln beginnen zu zittern, so sehr wünsche ich es mir, bereits jetzt um mein Leben zu laufen. Noch ein winziges Stück höher ziehe ich den Rucksack, damit er meinen Nacken schützt. Dann biegt der erste um meinen Felsen.

„Na, was haben wir denn da.“

Ich stürze vorwärts, bevor er es tun kann. Mein Stein reißt eine tiefe Schramme in seine Wange, die ihn aus dem Konzept bringt. Mir bleiben fünf Sekunden. Höchstens. Seine Hand fährt reflexartig nach oben und berührt die aufgerissene, blutende Haut.

Ich renne.

Über das Donnern meines Herzens hinweg kann ich kaum meine eigenen hektischen Schritte hören, noch weniger die meiner Verfolger. Blind flüchte ich mich in die erdrückend finstere Sicherheit des Waldes. Zweige bohren sich in meine Schultern und warnen mich ein letztes Mal vor allem Übel, das sich hinter toten Zweigen und stöhnenden Ästen verbirgt. Die mir folgenden Männer lassen mir keine Wahl.

Wurzeln bilden Stolperfallen, fernes Stöhnen verrät die tollwütigen Bestien. Ich glaube die Apokalypse hysterisch lachen zu hören, gluckernd und gackernd als feierte sie mit meinem Leid ihr eigenes Fest. Ein speicheltriefendes Fauchen zu meiner linken und es treibt mich nach rechts. Leere Augen scheinen mich zu verfolgen, der Gestank von Fäulnis frisst sich in meine Erinnerungen und die Bäume bauen Käfige. Verzweifelt wehre ich mich gegen ihren erbarmungslosen Griff. Knacken und Poltern, Stolpern und Krachen. Die Männer keuchen schwer und kämpfen gegen dieselben Feinde. Ein Röcheln zu meiner Rechten und ich schwanke nach links. Meine Fußspitze verfängt sich unter einer gewölbten Wurzel. Atemlos schreie ich auf. Die Angst trägt mich in neue Höhen, die Welt verschwimmt und mein Herz überschlägt sich. Für eine Sekunde scheint der Wald die Luft anzuhalten. Dann gibt er mich frei und ich laufe ihm davon, meine Verfolger im Nacken, die sich mir unerbittlich nähren. Sie wollen meinen Tod. Falle ich jetzt, falle ich für immer.

Ich ducke mich unter einem tiefhängenden Ast hindurch. Er scheint mir einen neuen Weg zu weisen. Keuchend, die Lungen stechend, sehe ich mich um. Noch wenige Meter, dann müssen sie nur die Hand nach mir ausstrecken und gewinnen diesen ungleichen Wettkampf. Das tote Holz knarzt. Es wird ihr Gewicht nicht halten können. Aber meines? Ich greife nach dem Ast und schwinge mich hinauf. Das Knacken lässt mir das Blut in den Adern erstarren. Die Rufe meiner Verfolger treiben mich voran, kalter Schweiß tropft mir in den Nacken.

Ich klettere um mein Leben, höher und höher, bis die Äste zu Zweigen werden und unter meinem Gewicht besorgniserregend knarzen. Der blutgetränkte Mond wächst vor meinen Augen. Bebend verharre ich und der gestorbene Soldat, sicher und treu, ächzt unter meinem Gewicht. Ich klammere mich an ihn und vergrabe das Gesicht an seinem Stamm. Lass mich nicht fallen. Lass mich nicht los.

Der Baum wiegt sich besänftigend im Wind. Durch meine in dem Luftzug wehenden, schwarzen Haare blinzle ich in die klaffende Tiefe. Die dürren, skelettartigen Arme meines Beschützers werden die Männer nicht tragen. Ich bin in Sicherheit. Wimmernd atme ich aus. So nah am Himmel wird die irdische Hölle mir kein Leid mehr zuzufügen wissen.

Als zwei Schemen verschmelzen meine Jäger mit dem Wald und liefern sich seinen unliebsamen Geschöpfen aus. Männer, geblendet vom Jagdfieber.

Erleichtert lasse ich mich gegen den Stamm sinken. Müde stöhnt der Baum.

Eine Ewigkeit vergeht, bis mein Herz seinen Takt wiedergefunden hat. Unendliche Minuten verstreichen, bis unter mir Ruhe eingekehrt ist und ich mich an den Abstieg mache. Still verabschiede ich mich von Jägern und Mond. Totes Geäst bietet mir Schutz.

Viel zu oft biegen sich die Äste besorgniserregend unter meinem Gewicht. Ich bewege mich langsamer und vorsichtiger. Ein den letzten Atem aushauchendes Knarzen und meine Füße berühren den Boden. Sobald meine Jäger den Ungeheuern des Waldes in die Arme gelaufen sind, werden sie toter sein als die gefallenen Giganten um mich herum. Stumm werfe ich einen dankenden Blick gen Himmel. Eine weitere Stunde, in der die Apokalypse mich verschonte. Ungelenk vergrabe ich die Hände in den Jackentaschen. Ein dumpfes Brennen geht mir unter die Haut und dünne Schürfwunden ziehen sich über meine Finger. Ich suche meinen Weg aus dem Wald heraus, als der erste Schrei ertönt und mich vorantreibt. Wie Fingernägel auf der Tafel. Glasscherben über Asphalt. Die Stille liegt in Fetzen, während man um sein Leben bettelt. Ein zweiter Mann fällt mit ein. Der grausige Chor schwillt an und besingt das Grauen der Nacht. Die Bestien der Dunkelheit haben meine Jäger zu Gejagten gemacht.

Sie sind der Grund dafür, dass ich mich für gewöhnlich eher menschlichen Ungeheuern ausliefere, als mich in die sichere Umarmung der verästelten Zweige zu flüchten. Die Ungeheuer der nächtlichen Finsternis, das Meisterstück dieser untergegangenen Welt. Geschöpfe, von deren Gesichtern sich das Fleisch schält und die in Fäulnis baden. Sie verbergen sich zwischen Bäumen, kennen ihr Terrain und nutzen die natürlichen Stolperfallen, um ihre Opfer zu stürzen und in ihre Mitte zu zerren. Trifft diese Wesen eine Kugel, so lässt es sie kalt. Will man sie niederringen, braucht es übermenschliche Kraft, übermenschliches Glück – und übermenschliche Verzweiflung. Geifernd und mit leeren Augen verkörpern diese Ungeheuer Unsterblichkeit und Unbesiegbarkeit, während ihnen der Eiter aus den Beulen tropft. Ein bösartiger Virus, der seine eigene Spezies erschafft, vom Wahnsinn überrollt?

Solange ihre menschenähnlichen Finger sich in Fleisch bohren, bin ich sicher. Wurden die Knochen abgenagt, sucht man sich ein neues Ziel, das sich von trügerischer Sicherheit verführen ließ. Mir bleiben Minuten. Im Stillen danke ich meinen jagdblinden Verfolgern und verfalle in einen leichten Laufschritt, die Zweige unter meinen Füßen knacken und der Wind heult um meine Ohren.

Als die Schreie verstummen, zünde ich mein Feuer an. Die Flammen erleuchten die Nacht. Schweigend sehe ich in die tote Welt hinaus. In der Ferne krächzen die Krähen. Wer ist schon noch übriggeblieben? Zwei Angriffe in einer Nacht? Vor dem nächsten ernüchternden Sonnenaufgang habe ich nichts zu befürchten. Auf der trockenen Erde strecke ich die Glieder und lege mich nieder. Der Wind singt mich in den Schlaf und ich schmiege mich tiefer in die Jacke. Leise knistert das Feuer.

2

Der beißende Gestank von Qualm weckt mich. Blinzelnd öffne ich die Augen und linse über den Kragen meiner Jacke hinweg. Das Feuerchen ist nahezu erloschen. Rote und orange Schatten läuten den neuen Tag ein. An den meilenweit entfernten Bergen stiehlt sich die Sonne vorbei und wirft erste blasse Strahlen auf eine tote, verschwommene Skyline. Als wäre die Sonne ein endloses Meer, schwappt ihr Licht die spindeldürren Gebäude hinab und brandet in der Dunkelheit. Gähnend strecke ich mich und taste verschlafen nach meinem Rucksack. Vereinzelte Zweige hängen daran und ich zupfe sie ab. Durch meine Erinnerungen geistern die letzten Schreie der Jäger. Ihr gurgelndes Flehen, während die Ungeheuer aus den Schatten strömten und sich wie ein Schwarm Heuschrecken auf sie stürzten. Für eine kurze Sekunde male ich mir die Szene aus. Diesen letzten Todeskampf, den ich aus der Ferne hörte, geführt mit Messern, Zähnen, Fingernägeln. Kein Schuss löste sich in dem gestrigen Ringen. Man muss meinen Verfolgern die Waffen entwunden haben, noch bevor sie um Gnade betteln konnten. Blut wird die Erde getränkt haben. So viel Blut. Der Riss in meiner Handfläche ist vergrindet. Ich balle die Hand zur Faust und verdränge die Gedanken mit einem Kopfschütteln. Die Sonne steht am Himmel. Ich sollte die Nacht hinter mir lassen. Verfolgt sie mich, verliere ich mein Liebstes: meinen Verstand. Wer nicht weitergeht, ist noch vor dem nächsten Abenddämmern tot.

Wer sich nicht einfach vom Tod lossagt, von den Menschen, die man im Trubel des Grauens verloren hat, ist der Apokalypse keine weitere Sekunde wert. Ich habe Wertvolleres verloren als zwei Mörder. Ich werde weit mehr einbüßen als nur ein paar Stunden Schlaf, wenn ich mich der aufkeimenden, nach Gesellschaft lechzenden Verzweiflung hingebe.

Strauchelnd komme ich auf die Beine und setze mir den Rucksack auf den Rücken. Der Platz neben mir bleibt leer. Für einen flüchtigen Moment gestatte ich mir, zu vermissen und in der Vergangenheit zu schwelgen. Ich war nicht immer allein. Die enge Freundin, die mir den Rücken freihielt, entwanden mir die gleichen Ungeheuer, die mich letzte Nacht retteten. Wenn sie nie gestolpert wäre in dem trügerisch sicheren Herzen des Waldes, wenn ich ihrem Wunsch nach Sicherheit nie nachgegeben hätte, wäre sie dann noch hier? Ihr letztes Flehen klingt nach. Es berührt mich noch heute mehr als das Betteln meiner Verfolger in der Nacht. Ihr letzter Blick. Wenn ich nicht geflohen wäre, könnten wir beide noch am Leben sein? Ich habe sie verloren wie jede meiner Erinnerungen an eine bessere Welt.

Ich setze mich in Bewegung. Die Antwort ist einfach: niemals. Die Untoten hätten uns beide überrannt und zurückgeblieben wären abgenagte Gebeine.

Ihr Tod war nutzlos. Wie ich es auch wende und drehe. Sie hat mich alleingelassen. Jetzt stehe ich hier, starre hinaus in eine leere Welt, in eine tote Welt, meinen Rucksack auf den Schultern und eine stete Angst in den Beinen, während eine orangerote Sonne, verborgen hinter einer unendlichen Wolke aus Staub, matt schimmernd ihren Platz einnimmt. Leise plätschert der Fluss unter dem Plateau dahin. Vereinzelte Tote trägt er mit sich und lädt sie an einem fernen Ort ab. An einem besseren Ort?

Hinter dem Wald schimmert die entfernte Stadt. Es wird Zeit. Wer überleben will, muss essen. Und ich habe kaum noch etwas in meinem Rucksack.

Ich verzichte auf das Vaterunser, trete die letzte Glut aus, und richte mich gen Osten, hin zur Sonne. Eine verirrte Krähe krächzt. Die möglichen Vorräte locken.

Ich weiß nicht zu jagen. Versuche ich es, verletze ich mich mehr als die Beute. Ich schlängle mich durch leere Gebäude, ausgestorbene Geisterstädte, und wühle dort, wo wenige vor mir waren. Dosenkartoffeln, eingelegtes Obst, selten Vitamin- oder Mineraltabletten sind mein Lohn. Jeder muss irgendwie weitermachen, oder? Irgendwie überleben. Die einstigen Metropolen werden zum Jagdgebiet Weniger. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Wer hungert, wird nicht zögern, sich vor fremde Visiere zu begeben.

Ich falle den Verstorbenen zur Last und stehle ihr letztes Hab und Gut. Der Hunger treibt mich den schmalen Pfad das Plateau hinab und an dem Wäldchen vorbei. Dumpfer Durst kommt hinzu. Nass, das nicht vom Himmel fällt wie der schwefelhaltige Regen? Ein Traum, den mir ein abgelegener Keller oder ein geheimes Fach hinter Schränken erfüllen soll. Das Ortseingangsschild ist nur so weit entfernt, wie die Sonne braucht, um die ersten Spitzen der dichtstehenden Wolkenkratzer zu küssen und ihr gespenstisches Licht über die triste Erhöhung wandern zu lassen. Dunkle Wolken lungern unweit. Sobald sie die Sonne verdecken, wird das Orange verschwinden und durch ein eisiges Rot ersetzt werden.

Zwischen den leeren und teilweise zerstörten Autos mache ich halt. Sie ziehen sich kreuz und quer bis zum Horizont. Der schwache Geruch letzter Verwesung liegt schwer in der Luft. Der Wind trägt die Rufe der Krähen zu mir. Ihre schwarzen Augen scheinen mich zu durchbohren, während die Vögel sich das glänzende Gefieder auf Autodächern putzen oder die Krallen an windschiefen Straßenschildern wetzen. Ein zerfleddertes Brautkleid wurde an die windschiefe Tür eines ausgeraubten Einfamilienhauses genagelt, das sich hinter vertrocknetem Efeu zu verstecken versucht. Bluttropfen haben sich in die zarten Ärmel gefressen. Einer der unheilversprechenden Vögel flattert aufgeregt aus dem eingeschlagenen Glasfenster, weicht geschickt den spitzen Scherbenzähnen aus, und überquert die Grenze, die das Ortseingangsschild zieht.

Dahinter erstrecken sich gespenstische Gehwege, gesäumt von knochigen Körpern, deren Kleidung ausgeblichen umherflattert. Fast, als hisste ein jeder von ihnen die Friedensflagge. Haarlose Schädel stieren mit leeren Augenhöhlen gen Himmel. Rechts von mir führt die einstmals vollbefahrene Hauptstraße in das Herz der gefallenen Stadt. Metall und Reifen ziehen sich bis zum Horizont. Ein ewiglanger Schrottplatz. Bei dem nächsten Windstoß kreischt die ausgefahrene Leiter eines Feuerwehrautos auf.

„Erbebt vor dem Allmächtigen!“, steht in roten Lettern über den Stadtnamen gesprüht. „Oder Was?“, lautet die gelbe, kaum leserliche Antwort. Der knappe Austausch ringt mir ein bitteres Lächeln ab. All diese Menschen, die ihr Leben damit verbracht haben, den Weltuntergang zu prophezeien: In diesen Tagen fühlen sie sich verdammt toll. Bis ihnen eine Kugel durch den Kopf gejagt wird oder man sie mit ihren eigenen, handlichen Kreuzen erschlägt. Im Tod umklammert eine Leiche ihren Rosenkranz. Dunkle Holzperlen stehlen sich zwischen den abgenagten Fingern hervor.

In dem Glauben an einen Himmel und eine Hölle leben? Das macht diese Existenz erst wahrhaft unerträglich. Wer darf heute noch gut sein? Sollte es die Hölle tatsächlich geben, erstickt sie an ihren Sündern. Jeder Tote zu meinen Füßen hat bei dem Teufel eingecheckt, gleichgültig, ob man den Rosenkranz betete oder das Opfer mit einer stumpfen Axt zu Tode hetzte.

Auf die heile Welt folgt das Chaos. Wer nicht bereit ist, zu tun, was nötig ist, wird bald an seinem eigenen Blut ersticken. Meine Sinne schärfen sich, als ich mich tiefer in das Chaos wage. Eine brennende Gänsehaut wächst mir.

Kleine Löcher prangen in den gesplitterten Glasfassaden. Der Himmel warf Steine und traf sein Ziel. Die Lava verschonte den Asphalt. Inzwischen habe ich mich weit genug von dem Zentrum der Katastrophe entfernt, um nur noch die Boten der Eruption entdecken zu können. Wie die abgekühlten Bröckchen, die der Vulkan in die Lüfte schleuderte und in einem mörderischen Hagel um die Erde sandte, damit sie Menschengemachtes in die gläsernen Knie zwingen.

Die schlichte Leere und Verlassenheit der Stadt lässt mich die Lippen fest aufeinanderpressen. Rechts von mir liegt eine zerschmetterte Leiche auf dem offenporigen Asphalt, den Schädel zertrümmert und längst geplündert. Niemand verging sich an dem Schmuck der Person. Niemand bereicherte sich an dem Toten, um einen möglichen Tauschhandel eingehen zu können. Dieser Ort muss vor langer, langer Zeit aufgegeben worden sein. Vor neun Monaten? Einem Jahr? Einer Ewigkeit! Die letzten Lebenden sehnen sich nach den Verstorbenen und wählen den kürzesten Weg zu ihnen. Ich steige über den schlaffen Körper hinweg. Knochenstümpfe ragen bei wenigen Körpern aus dem Fleisch, das in Brocken vom Skelett gezupft wurde. Auch die wenigen Spätgestorbenen entgehen diesem Schicksal nicht.

Aus schwarzen Knopfaugen beobachtet mich ein Rabe. Vor ihm neige ich den Kopf und eile weiter. Das schwache Licht der Sonne scheint von den Schatten aufgesogen zu werden. Der Gestank nach Tod und Krankheit nimmt mit jedem Schritt zu. Dieser süßliche Geruch, der sich in die Nase frisst und von dort aus wie der schlimmste Virus in das Gehirn vordringt, um den Verstand zu finden und zu eliminieren. Fahre wohl.

Als ich um die nächste Ecke biege, empfängt mich ein Friedhof. Leiber liegen kreuz und quer, aufgereiht, gestapelt und schlussendlich doch nur zerrissen. Menschen, die niemand in ein tiefes Loch gestoßen hat. In dem Rücken der meisten Opfer prangen winzige Löcher. Gemeuchelt. Auf den frischeren Leichen hinterließ die Seuche ihren Fingerabdruck. Rötliche und schwarze Pusteln ziehen sich über die spannungslosen Körper. Wie ewige Brandmale. Narben. Unblutige Schrammen, verursacht von gierigen Schnäbeln und hungrigen Krallen. Nach dem ersten Schrecken, den ersten schweren Auswüchsen der Aschewolke, folgten die Hygieneprobleme, die kollabierenden Versorgungssysteme, all die Krankheiten, die der Mensch glaubte, ausgerottet zu haben. Das dunkelste Zeitalter wiederholt sich. Wie die gierigen Monster, die sie sind, greifen die Pestilenzen auf jeden über, der noch atmet, um ihn effektiver und schmerzhafter zu töten, als jeder Mensch es könnte. Pest, Tuberkulose, Typhus. In den Überresten der Städte trifft man auf sie alle. Spätestens in Form niedergewalzter, aufgedunsener Körper, die die Straßen gemeinsam mit den hastig abgestellten Fahrzeugen unbefahrbar machen.

Körper, an denen Kostbarkeiten verloren gingen. Als ich vor einigen Wochen das letzte Mal in den toten Straßen einer großen Stadt wanderte, fand ich in einer kleinen, rastlos herumflatternden Jacke Kaugummis. Die Packung war noch zur Hälfte voll. Neben einem jungen Mann lag eine volle, ungeöffnete Flasche Limonade, die er selbst im Tod noch krampfhaft umklammerte.

Vielen Toten oder Schwachen wurden die Finger abgeschnitten, damals, als man sich mit Schmuck noch das nächste Mittagessen kaufen konnte. Inzwischen ist es egal, ob jemand Silber oder Gold an sich trägt. Niemand nimmt es mehr mit sich. Nichts davon sättigt.

Angewidert rümpfe ich die Nase und presse die Lippen fest aufeinander, während ich mich durch die Straßen kämpfe, immer an den Mauern entlang. Die tiefen Schatten legen sich wie ein schützender Mantel über mich, nur hier und dort durchbrochen von einem unerwarteten Sonnenstrahl. Adrenalin pumpt. Ich bewege mich auf dem Präsentierteller und jede Faser meines Körpers weiß darum.

An den einst wohl pompösen Gebäuden huschen einsame Gestalten vorbei. Keine Menschlichen. Überlebenskünstler. Ratten, die mit den Schatten verschmelzen, Katzen, die schneller klettern und leiser schleichen können als jeder sonst. Krähen, die ihr Paradies betreten. Die schwarzen Vögel plagen das übrige Leben. Wie oft schwammen sie wohl auf einem Toten wie auf einem Floß?

Die Krähen und ich taxieren einander mit angemessenem Misstrauen, als ich durch einen Schwarm wate, der sich auf aufgequollenen Körpern niedergelassen hat. Aus viel zu intelligenten, schwarzen Knopfaugen starren mich die schwarzen Unglücksvögel an. Federn berühren meine Beine und der eine oder andere Schnabel hackt probehalber in meine Richtung.

Drohend hebe ich einen Stein auf und versuche stärker zu wirken, als ich es tatsächlich bin. Sollten sie jemals gesammelt auf mich niederstürzen, bin ich chancenlos.

Der Schwarm lässt mich passieren, wenig beeindruckt. Griffen Sie mich an, hätte ich ihnen nichts entgegenzusetzen. Wir alle wissen es. Keine der Krähen flattert zur Seite. Sie bilden eine einzige, zähe Wand. Behutsam schiebe ich die befiederten Körper mit dem Fuß zur Seite. Schützend werden Flügel um die Beute gelegt, Schnäbel vergraben. Eine kleine Ewigkeit vergeht, bis der Schwarm hinter mir liegt und der Friedhof sich in der Ferne verliert.

Aufgebrochene Türen und eingeschlagene Fenster gaffen mir entgegen. Eingänge zu menschlichen Rattenlöchern? Die Überlebenden sind es, auf die sich meine gesamte Aufmerksamkeit richtet. Diejenigen, die ein Interesse daran hegen, mir Leid zuzufügen, und deren Waffen schärfer geschliffen wurden, als ein wütender Krähenschnabel.

Ich zerre meinen Rucksack über meinen ungeschützten Nacken und lasse den Blick über die nahestehenden Gebäude schweifen. Aus den Angeln gehobene Drehtüren, durch die der Wind pfeift. Eingeschlagene Schaufenster und geplünderte Puppen. Einsame Plakate von Dingen, die niemand jemals wieder kaufen wird. Eine eisige Geisterstadt unter einer gespenstisch orangenen Sonne.

Die Werbung für eine Reise ans Mittelmeer fällt mir ins Auge. Von Feuchtigkeit ausgeblichene Palmen wehen neben einer zerfledderten Frau im Liegestuhl im Wind, die lasziv ihre Sonnenbrille absetzt, um den Fotografen verführerisch anzulächeln. Ich gestatte es mir vor diesem Abriss einer Utopie zu verharren. Vor einer Welt, die ich mir nicht ausmalen kann. Die ich nie kannte? Zögernd strecke ich die Hand nach dem zerrissenen Papier aus und streiche es glatt. Ein einst bunter Vogel belohnt mich, die Flügel ausgebreitet und so unglaublich frei. Er badet in der hellen Sonne. In dem gelblichweißen Schimmer. Verblichen.

Glücklich.

Ich werfe einen kurzen Blick gen Himmel und betrachte die ersten Sonnenstrahlen, die sich bis zu dem Asphalt vorgekämpft haben. Kalt. Ohne Wärme. Das Plakat nimmt mich erneut gefangen. Es behütet den schönsten aller Träume. Wie gern möchte ich mich einer wärmenden, freien Welt verlieren, die das Leben wünscht.

Eine Krähe kreischt. Das feuchte Plakat entflieht meiner Berührung. Ich sehe mich um. Ein mörderisches Nichts. Gefrorene Stille. Eine neu eröffnete Hetzjagd? Ich glaube ihn zu spüren, den frischen Blutdurst. Er treibt mich in das erste Gebäude. Je schneller ich verschwinden kann, umso besser. Ein ausgebeutetes Gerüst von Stahl und Glas stellt sich mir entgegen. Durch jeden Winkel saust der Wind und spielt mit der Tapete. Geisterhaft hat sie sich von den Wänden gelöst und flattert ziellos umher. Dieser Gigant muss einst ehrfurchterregend gewesen sein. Wirft er in der Ferne vielversprechende Schatten voraus, verzehrt er sich bei näherem Betrachten selbst. Die Apokalypse drückte ihren Stempel noch jedem Gebäude auf, das ich sah.

Feine Scherben und Splitter knirschen unter meinen ausgetretenen Turnschuhen, als ich mich unter einer herabhängenden Scheibe hindurchzwänge. Sofort umfängt mich das tödliche Dämmerlicht. Es verfälscht die Realität, trügerisch wie Nebel. Die neuen Lichtverhältnisse machen mir Glauben, eine Gefahr sei weit entfernt. Dabei spüre ich sie längst in meinem Nacken sitzen.

Das flimmernde Schweigen beunruhigt mich. Jeder neue Schritt verrät mich ein Stück mehr, während ich durch umgestoßene Regale schleiche, die sich schwach aneinander lehnen, und nichts finde, außer leere Plastikflaschen und zertretene Tüten, die sich gespenstisch bei jedem noch so kleinen Luftzug aufblähen. Sie täuschen gemeinsam mit umherfliegenden Plastikbeuteln die rasselnde Atmung eines Ungeheuers vor.

Angespannt ziehe ich den Riemen meines Rucksacks fester. Hier und da liegt ein zertretener Karton.

Ich wusste von vorneherein, dass auf offener Fläche nichts mehr zu holen ist. Nicht rund zwei Jahre nach dem Aufziehen der Aschewolke. Mit einem letzten, raschen Blick über die Schulter dringe ich weiter in den Raum vor, der mich schutzlos ausliefert. Aus jedem Winkel scheinen die Angreifer zu huschen. Der Rucksack bedeckt meinen Nacken und die Schulterblätter. Meine Beine bleiben ungeschützt.

Schießt man gezielt, zerfetzt es mir den Oberschenkel. Binnen von Minuten wäre ich verblutet. Den dunklen Flecken am Boden nach zu urteilen, wäre ich nicht die erste, die dieses Schicksal zwischen diesen Mauern ereilt. Jede getrocknete, verschmierte, inzwischen verblichene Lache warnt mich. Ich befinde mich im Zentrum des Jagdgebietes der Unbarmherzigen.

Kein Zutritt, steht in verblichenen, schwarzen Lettern auf der unscheinbaren Metalltür, die in die Hinterwand eingelassen wurde, nur getarnt von leergefegten Kassen. Die zerrissene Tapete peitscht. Tüten blähen ihre Segel auf und rasen auf mich zu. Vorsichtig bahne ich mir meinen Weg durch das Chaos, hin zu der kühlen Metalltür. Tödlich ruhig presse ich meine Hand dagegen. Sie schwingt leise quietschend auf. Das Geräusch kreischt förmlich in meinen Ohren. Einschusslöcher dellen die Oberfläche ein. Den Arm gehoben, bereit mich zu verteidigen, lausche ich in die kleine Abstellkammer hinein. Angespannt warte ich auf das verräterische Rasseln eines Atemzugs oder das leichte Schlurfen einer winzigen Bewegung. Das Herz donnert mir in den Ohren. Die Sekunden verstreichen zäh wie Sirup. Nichts geschieht. Mein Magen krampft sich panisch zusammen, als ich mir den Rucksack vom Rücken ziehe, um nach meiner Taschenlampe zu kramen. Es fühlt sich an, als hätte ich hinter mir eine riesige, leuchtende Reklametafel aufgestellt. Meine Finger schließen sich um das kühle Metall des Griffes. Jede noch lebende Seele auf diesem Planeten scheint sich an mich heranzupirschen. Sie kennen nur ein Ziel: meinen Tod.

Dumpfe Erleichterung überrollt mich, als ich den Rucksack wieder aufsetze und meinen Nacken schütze. Leise klickend schalte ich die Taschenlampe ein und sehe mich in ihrem gespenstisch weißen Licht um. Vorsichtig tastet es die winzige Kammer ab. Drei weiße Metallregale bauen sich vor mir auf. Der nackte, graue Beton der Wände bildet einen krassen Kontrast zu der abblätternden, weißen Farbe. Eine einzelne Neonröhre hängt schief von der Decke.

Mein Mut wird belohnt. In dem nunmehr partiell lichtgefluteten Raum liegen einige wenige eingedellte Dosen. Bleibt nur zu hoffen, dass niemand sie bereits öffnete. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass ich die Tür von innen öffnen kann, ziehe ich sie ins Schloss. Unsicher hocke ich mich nieder und inspiziere die übrigen Vorräte. Ravioli, dicke Bohnen, Krautsalat. Sogar Pfirsiche.

Mir fehlt die Sicherheit für Freude. Noch kann man mir alles abnehmen. Noch stehe ich im Zentrum der Katastrophe und warte darauf, von ihrer Gier verzehrt zu werden. Ich stopfe in den Rucksack, was mir in die Finger kommt, krieche unter Regale und ziehe einzelne Flaschen hervor, eine kleine Tüte Cracker. Einen Streifen Kaugummi, den jemand verloren haben muss.

Es genügt nicht, um meinen Vorrat zu füllen. Über die nächsten zwei, vielleicht drei Tage sollten die Konserven mich bringen. Das muss reichen. Ich schalte die Taschenlampe aus und lege die Hand auf den Türknauf. Der Puls donnert mir in den Ohren. Ist heute der Tag gekommen, an dem ich sterben muss?

Ich drehe den Knauf und spähe in die leere Halle. Umgestürzte Regale, verwaiste Kassen, ein Teppich aus Glassplittern. Ein Stuhl lehnt an der hinteren Wand. Ein altes Werbeprospekt hat sich über seine Lehne gelegt. So vorsichtig wie möglich zwänge ich mich durch den Spalt unter der tiefhängenden Glasscheibe hindurch und husche zurück auf die Straße. Das verblichene Plakat empfängt mich. Der Papagei ist unter dem klammen Papier verschwunden. Seine Farbenpracht hat er mitgenommen.

Ich lasse den Wolkenkratzer hinter mir und betrete die hoffnungslosen Straßen. Der bestialische Gestank des Todes frisst sich in meine Poren und treibt schwarze Punkte in mein Sichtfeld. Die Krähen vergraben die Schnäbel in fauligem Fleisch. Einen schwarzen Teppich bilden sie aus rissigem Asphalt, ölig schimmernd unter den seelenlos orangen Strahlen der Sonne.

Es kommt aus dem Nichts. Ein peitschendes Geräusch, gefolgt von einem dumpfen Knall lässt mich herumfahren, eine Hand krampfhaft um den Träger meines Rucksacks geklammert. Panik kriecht zurück zu mir und bleckt die Zähne. Alles oder nichts. Automatisch suche ich nach dem Ursprung des Geräusches. Das Blut pumpt mir durch die Adern. Die blanke Angst.

Vor mir fällt ein Vogel zu Boden. Seine ausgebreiteten Flügel greifen haltlos nach Rettung, während er in seinem Ende ertrinkt. Frisches Blut sickert aus dem dichten Gefieder. Neben meinem Fuß erkenne ich ein matt schimmerndes Projektil in einem Riss des Asphalts.

Mein gesamter Körper verspannt sich. Hitzewellen fluten meine Venen.

Langsam hebe ich den Kopf und blinzle gegen die tieforangen Strahlen der Sonne an. Ich glaube zu erkennen, wie sich über mir eine schemenhafte Gestalt bewegt und ein Gewehr anlegt.

Der Mensch, nur ein schwarzer Schatten, neigt sich nach vorn. Hält er eine Schrotflinte fest umklammert? Paranoia? Realität?

Ich will nicht fühlen, wie sich der Schrot in mein Fleisch frisst. Die Panik übernimmt. Ich beginne zu rennen. Warte auf den Schuss, der mich zweifelsohne treffen wird.

Aber der Knall bleibt aus. Freiheit. Könnte ich doch nur die Flügel ausbreiten und in einen fernen Himmel fliehen.

Neben mir schlägt die Kugel auf rissigen Asphalt, der Knall folgt. In dem einzigen Reflex, den ich noch kenne, ziehe ich den Rucksack so, dass er meinen Kopf und Schultergürtel schützt und laufe. Renne um mein Leben. Die Straße fliegt unter mir dahin, rutschige Kleidungsstücke lassen mich das Gleichgewicht verlieren. Keuchend kämpfe ich darum, weiterzulaufen. Wenn ich jetzt falle, bin ich tot. Wenn ich jetzt strauchle, endet es noch heute. Laufen.

Noch ein Knall, der mich verfolgt. Wenn möglich renne ich noch schneller. Komme ich weit genug, wird mir niemand folgen. Lauern, das ist die Spezialität dieses Mörders. Er geht nicht auf die Jagd. Er wartet. Und ich renne, als wäre der Teufel hinter mir her.

Ganz gleich wie sehr ich das Leben unter der Wolke verabscheue, bleibt es in den Situationen, in denen mir das Adrenalin durch die Adern rauscht und das Herz bis zum Hals schlägt, das Kostbarste, was ich kenne und besitze.

Der Asphalt fliegt unter mir dahin, die Fußgelenke beginnen langsam durch den Schleier von Panik zu schmerzen und lösen den Nebel von Angst auf. Meine Lungen pfeifen und die Muskeln brennen.

Bei dem nächsten Schritt stolpere ich über meine eigenen Füße. Mit den Armen rudernd komme ich zum Stehen und ziehe zischend die Luft durch die Zähne ein. Ein Sturz und es endet. Ein ungeschriebenes Naturgesetz. Meine Ohren klingeln und die Welt verschwimmt, während ich mich umsehe. Die kletternde Sonne, abgerissene Plakatwände, wirbelnder Staub. Eine Krähe grüßt mich im Vorbeifliegen. Das Zittern vergeht und mein Puls beruhigt sich. Ich verfalle zurück in einen lockeren Laufschritt.

Das vage Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, bleibt. Der Rucksack schützt meinen Kopf.

Die Welt hat den Atem angehalten und jedes noch so kleine Geräusch sticht penetrant hervor, bis der nächste Windzug kommt. Keuchend passiere ich das Stadtschild. Bereut!, geleitet mich fort von den blitzenden Gebäuden und jedem Jäger, der sich hinter verspiegeltem Glas verbirgt.

3

Vor sieben Wochen habe ich einen kleinen, schwarzen, funktionstüchtigen Mp3–Player mit zerkratztem Bildschirm gefunden.

In den Minuten, die ich mich in Sicherheit wiege, leistet mir Musik Gesellschaft. Hauptsächlich rauschende Geigen und perlende Klaviere, hin und wieder überdramatisierende Sänger, selten Lieder, deren Melodien einfach und eingängig sind. Um die Stille zu tilgen, genügen diese Stücke. Selbstverständlich birgt das vollständige Abkapseln von der Welt ein kaum kalkulierbares Risiko. Mit den rauschenden Geigen in den Ohren bin ich quasi taub. Ein verräterisches Rascheln? Der Warnruf einer Krähe? Beides geht an mir vorbei. Meine Überlebenschancen sinken gen Null. Fangen meine Augen die Gefahr ein, wird die Kugel längst auf mich zu sirren. Vermutlich ist Musikhören das Fahrlässigste, was man dieser Tage tun kann, dicht gefolgt von dem Versuch, in eine Stadt hinein zu marschieren, in der das Unglück lauert und die Seuche nur darauf wartet, aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen zu werden.

Aber wie ich etwas Essbares benötige, brauche ich eine Möglichkeit, den Kopf freizubekommen. Man sagt, während des Schlafes ordnet der Verstand die Geschehnisse der vergangenen Stunden. Was aber, wenn der Schlaf nur bruchstückhaft zu einem kommt? Unter der Wolke gibt es keine Orte, an denen man mit dem Wissen, am nächsten Morgen wieder aufzuwachen, beruhigt die Augen schließen kann.

Die stechenden Kopfschmerzen lassen mich die Konsequenzen meines ständigen Schlafmangels erahnen. Ich rede mir ein, wenn ich etwas Musik höre, dann entwirrt sich mein Gehirn und es ergeht mir nicht so wie tausenden anderen. Tausenden, die in die fiebrig orange Sonne starren, den Kopf schmerzend und überfüllt wie mein eigener. Schlafmangel ist Karies für den Verstand. Irgendwann hat er sich durch alle Schichten gefressen und dann bleibt nichts, außer einer leeren, gackernden Hülle, die keuchend und sabbernd mit einer Brechstange in den dürren Händen hinter einer düsteren Mauer hockt.

Die dritthäufigste Todesursache dieser Apokalypse, direkt nach der Seuche und dem Mord? Der Wahnsinn, der langsam den präfrontalen Cortex in Matsch verwandelt. Ich würde behaupten, dass sich noch mehr Menschen mit verwirrtem Geist aus dem nächstbesten Gebäude stürzen, als verhungern, verdursten oder in den immer eisiger werdenden Nächten erfrieren.

Ich büße lieber für wenige Stunden mein Gehör ein, anstatt meinen Verstand. Ich brauche ihn, um überleben zu können. Ohne einen klaren Gedanken finde ich keinen Unterschlupf für die Nacht, erkenne eine Gefahr nicht, wenn sie sich vor mir aufbaut, schaffe es nicht einmal mich zu versorgen. Der Tod würde seine Sense schwingen, wenn mich die Kälte der Nächte nicht zuvor auf die andere Seite lockt.

Die Geigen werden von der Sängerin abgelöst. „L'amour est un oiseau rebelle que nul ne peut apprivoiser“, beginnt sie. Ich verstehe nicht ein Wort und sorge mich nicht weiter darum. So bleibt es mir erspart, sinnlos über einen Text nachzugrübeln. Zu meiner linken knacken die abgestorbenen Äste eines verdorrten Waldes. Die blasse Sonne stiehlt sich durch die ersten Reihen und offenbart eine drückende Leere. Dort lauert niemand. Nicht einmal der Tod. Ich verschiebe den Rucksack in der Hoffnung, dass mir die Dose so weniger in den Rücken drückt. Erfolglos. Leise fluchend nehme ich ihn ab und verschiebe den Inhalt. Eine Verspannung, die mich in meiner Bewegungsfreiheit einschränkt, könnte meine Sense werden.

Meine Finger ordnen rasch die Dosen neu, als ein dumpfes Geräusch mich innehalten lässt. Die laute Stimme der Sängerin betäubt mich. Ein Räuspern? Kurz verharre ich. Meine Muskeln beben. Wie wahrscheinlich ist es, dass man sich vor einem Angriff bemerkbar macht? Ich sortiere weiter. Einen Rucksack voll Nahrung und Kleidung nähme man einer Leiche ab. Niemand würde das Risiko eines unnötigen Kampfes hinnehmen. Binnen der letzten vierzehn Stunden begegnete ich drei Männern. Der mörderische Herrscher der Ewigkeit raffte Zahlreiche dahin. Was für ein grausiger Zufall wäre es, wenn ich ausgerechnet in den Teil des Landes stolperte, der nicht längst ausgestorben ist und unter der Last der Krähen ächzt?

Ich lege die Raviolidosen über die Ersatzhose und staple die Cracker darauf.

Ein weiteres Räuspern. Keine Einbildung, niemals. Leises Summen aus meinen Kopfhörern. Meine Muskeln verspannen sich.

Mit einem Ruck schließe ich den Reißverschluss, greife nach dem nächstbesten Stein und wirble herum. Die Angst will mich zur Flucht zwingen. Der Angreifer wird nicht länger zögern. Gleich zieht er die eigene Waffe und dann vergeht jede Hoffnung. Meine Finger zucken, die Füße verharren, als wären sie tief in der Erde verwurzelt. Jede meiner Fasern will meine Vorräte schützen. Kein Essen, kein Leben. Doch anstatt loszustürzen, verharren meine Beine. Ich stehe still und starr da wie ein Kitz, das Gefahr wittert. Eine trügerische Lüge wispern meine Gedanken mir zu: Ich muss meinen Gegenüber nicht fürchten.

Der junge Mann vor mir, höchstens zwanzig Jahre alt, macht keine Anstalten, sich auf mich zu stürzen. Ganz im Gegenteil, er wirkt vollkommen entspannt, die Hände in den Taschen seiner verdreckten Jeans verstaut und die braunen Haare wirr zerzaust. Ein verklärtes Lächeln liegt auf seinen Lippen. Seine Taschen scheinen leer. Er ist kaum älter als ich. Keine unmittelbare Bedrohung.

Während ich herumgewirbelt bin, muss mir ein ängstliches Geräusch entflohen sein. Er legt einen Finger an seine Lippen und deutet in Richtung des Wäldchens. Warnt er mich vor den blutdurstigen Bewohnern?

Sein Mund bewegt sich, als er etwas sagt, das ich über den Gesang hinweg nicht verstehe. Hektisch ziehe ich mir die Kopfhörer aus den Ohren und sehe ihn an.

„Was hast du gesagt?“ Das Herz dröhnt mir in den Ohren. Ich sollte laufen, solange ich noch kann. Meine Beine weigern sich. Sie gehören nicht länger mir, sind fremdbestimmt. Die Leere in meinem Kopf dehnt sich und ich versuche in ein Nichts zu greifen, an dem einst Erinnerungen ruhten. Verschollen. Auf ewig?

„Hörst du die Vögel singen?“, flüstert der junge Mann leise. Irritiert ziehe ich die Augenbrauen zusammen und lasse den Stein vorsichtig sinken. Die Frage ergibt keinen Sinn.

„Nein“, antworte ich ihm langsam, „Die Vögel singen nicht mehr.“

Der Fremde runzelt die Stirn und zieht eine Hand aus der Tasche. Sofort hebe ich meinen Stein, bereit, mich zu verteidigen, bis mir das Fleisch in Fetzen vom Körper hängt. Der Junge vor mir ist circa einen Meter neunzig groß. Mindestens. Und dazu muskulöser und scheinbar gesünder als all jene, die mir bisher unter der Wolke begegneten. Greift er mich an, bin ich verloren. In seiner geöffneten Hand liegt ein Kaugummistreifen. Einer von der gleichen Sorte, die ich heute in dem abgelegenen Lagerraum gefunden habe. Mein Puls beschleunigt sich. Der Jäger aus dem Wolkenkratzer, der auf mich gefeuert hat, während ich um mein Leben rannte? Hat er seine Deckung aufgegeben, um mich zu verfolgen? Unwahrscheinlich. Dieser Junge kann keine Waffe anlegen. Ich weiß nicht, warum ich mir dessen sicher bin, aber kaum bildet der Gedanke sich, bleibt er. Es fühlt sich richtig an. Er könnte nicht auf mich schießen. Er würde nicht auf mich schießen. Und trotzdem fürchte ich den Fremden mehr als jeden Jäger, der seine Hände in einem letzten Ringen um meinen Hals schloss.

Warum greift er mich nicht an?

„Aber sie singen. Hörst du?“ Aufgeregt deutet er gen Himmel. Das verlorene Orange der Sonne strahlt schweigend. Mein Herz rast, der Wind rauscht. Aus den Kopfhörern klingt ein leises Summen.

„Oh, nein, das ist mein Mp3-Player“, sage ich hastig, als ich begreife, was er meint, und halte ihm das kleine Gerät entgegen. Meine Finger zittern erbärmlich. Alles an mir scheint zu schreien: Komm, mach mich kalt. Ich überlebeohnehin keinen weiteren Tag. Ich versuche mich zu beruhigen. Mein Puls schlägt inzwischen so laut, ich verstehe meine eigenen Worte nicht mehr. Hört er meine Panik, als ich spreche, um über meine Angst hinwegzutäuschen? „Siehst du? Kein Vogel.“

Die Falten in seiner Stirn vertiefen sich. Ich umfasse den Stein fester. Die Kanten graben sich in meine geschundene Haut. Ein einsamer Tropfen rinnt mir vom Handgelenk. Der Blutzoll für einen neuen Tag wird gezahlt.

„Sie sollten aber singen“, sagt der junge Mann und klingt trotzig. „Sie dürfen nicht schweigen. Ist der Kanarienvogel still, sterben die Arbeiter im Berg.“

Ich schüttle den Kopf. Durch den Schleier aus atemloser Furcht, kämpft sich Verwirrung. Wovon spricht er? Was er sagt, wirkt wirr. Psychotisch. Spielt er auf Zeit? Die habe ich nicht.

„Was willst du von mir?“ Mit bebenden Beinen bringe ich mich in Laufposition. Noch immer macht der junge Mann keine Anstalten, mich anzugreifen. Er kratzt sich am Kopf. Die braunen Haare stehen ab, als hätte ein Sturm sie ihm getrocknet.

„Kannst du die Vögel wieder zum Singen bringen?“ Er wirkt fast schüchtern. Wie ein unschuldiges Kind.

Atemlos lache ich auf. Der Stein gleitet mir aus den tauben Fingern. Der sanfte Wind küsst meine Wunden. Keine Gefahr. Er ist nicht fähig, mich zu töten. Dieser Junge war es nie, er wird es nie sein. Sonst hätte er sich längst auf mich gestürzt.

„Nein“, sage ich leise und weiche langsam zurück. „Nein, das kann ich nicht. Ich bin auch nur ein Mensch, der versucht, nicht umgebracht zu werden. Ich kann keine Vögel wieder zum Singen bringen.“ Tastend weiche ich zurück. „Und wo wir schon dabei sind: Ich werde jetzt gehen.“ Ich schultere den Rucksack und ziehe die Träger fest. Langsam bringe ich Abstand zwischen uns. Der Junge rührt sich keinen Millimeter, während ich mich von ihm entferne wie von einer lauernden Natter.

„Kannst du mich mitnehmen?“, ruft er und erinnert mich vielmehr an ein Kleinkind, als an einen Jungen in meinem Alter.

Ungläubig lache ich auf. Sind die letzten Jahre spurlos an ihm vorbeigegangen? „Ich muss wirklich weiter und jeder von uns ist am besten dran, wenn er alleine geht“, sage ich. „Du weißt schon, man kann niemandem trauen.“

Der Junge zieht die Augenbrauen zusammen und wickelt den Kaugummi aus dem silbrig schimmernden Papier. Gedankenversunken schiebt er sich den Streifen in den Mund, während der Wind mir meine schwarzen Haare ins Gesicht weht. Normalerweise würde ich die Hände heben, um sie mir wieder hinter die Ohren zu streichen. Doch ich rühre mich kaum, will mich dieser fremden Aufmerksamkeit entziehen. Ich muss nur weg von hier.

„Singst du?“, fragt der Junge mich plötzlich ohne aufzusehen. Für einen flüchtigen Moment verharre ich mitten in der Bewegung, bevor ich einen Fuß hinter den anderen zwinge. „Was? Nein. Warum sollte ich denn singen?“

„Es ist schön.“ Verständnislos sieht der Junge mich an. „Warum singst du denn nicht?“

„Ich bin kein Vogel. Und ich habe keinen Vogel. Also konzentriere ich mich darauf, zu überleben und du dich auf deinen Kaugummi. Es war schön, mal wieder mit einem Menschen zu sprechen. Ich bin dann mal …“

Der Fremde bewegt sich schneller, als ich mich wehren könnte. Stürzt sich auf mich, versucht mich zu töten, zu erwürgen, zu erstechen. Er greift nach meinem Mp3-Player? Hilflos taumle ich rückwärts und verliere das Gleichgewicht. Ein dumpfer Schmerz schießt durch meine Hüfte. Der Gestank von Fäulnis und Erde steigt mir in die Nase. Meine Finger graben sich in den Boden.

„Der singt.“ Seufzend hält der Junge sich die Kopfhörer an die Ohren. Genießerisch schließt er die Augen und summt leise mit der Melodie mit. Mein Knie pocht schmerzhaft, als ich mich zurück auf die Beine kämpfe und rückwärts gehe. Der Junge macht mir Angst. Er macht mir Angst, weil ich ihn kennen sollte. Weil er sich niemals damit zufriedengeben würde, mich zu hetzen und zu erschlagen.

Soll er den Mp3-Player doch behalten, solange es mich rettet. Soll er doch diesen schiefen Geigen beim Fideln zuhören und den Opernsängerinnen beim Kreischen. Lieber ein verdorbener Verstand, als eine durchgeschnittene Kehle.

Der Fremde sieht auf, als ich zu rennen beginne. „Hey!“, ruft er. „Wo willst du hin?“

Meine Ohren rauschen. Ich laufe so schnell und weit ich kann. Konzentriert er sich auf den Mp3-Player, habe ich eine kleine Chance. Wenn nicht, erwartet mich ein Date mit der Apokalypse.

Wenn er will, wird dieser Mann mich überholen können. Wenn er es darauf ankommen lässt, ist er stärker.

„Hey! Warum läufst du weg? Der Vogel singt schon lange nicht mehr. Du bist seit Wochen tot. Warum läufst du noch um dein Leben?“ Für den Fremden kommt die beruhigende Wirkung der Musik zu spät. Seinen Verstand hat er längst in fremde Hände gegeben.

Eisige Panik jagt mich vorwärts, bis mir die Luft aus den Lungen weicht und der Wald unerreichbar bleibt. Ein schier aussichtsloses Unterfangen. Es fühlt sich an, als liefe ich auf staubfeinem Sand. Sobald der Junge sich in Bewegung setzt, kann er mir den Todesstoß versetzen. Vermutlich würde er diese Bluttat nicht als Mord verurteilen. Wie sagte er? Die Vögel haben aufgehört zu singen, ich bin schon längst tot. Er ist geisteskrank.

Die Angst um mein kleines, so verhasstes und sinnloses Leben unter der Wolke treibt mich weiter, schneller und schneller, bis die kleinen Unebenheiten mich zum Straucheln bringen und es sich anfühlt, als würde ich Säure atmen. Der Wind reißt an meinen verfilzten Haaren und versucht mich in die Knie zu zwingen, während der Boden sich wellt und kriecht und gegen mich ankämpft.

Es braucht Ewigkeiten und erschöpfende Energiereserven, um zu registrieren, dass der Junge mir nicht folgt. Ich stolpere über meine Füße, als ich mich um meine eigene Achse drehe. Der unerwartete Anblick sickert wie Gift in meinen Geist. Der Junge ist spurlos verschwunden. Weg. Auf offener Fläche verpufft. Die Gefahr ist gebannt?

Nach Luft japsend lasse ich mich auf den staubigen Boden fallen, nur wenige Meter entfernt von den ersten Bäumen, die drohend ihre Zweige ausbreiten. Eine Warnung an jeden, der wahnsinnig genug sein könnte, den Wald zu betreten. Panisch suche ich die flache Ebene nach irgendeiner Menschenseele ab. Nichts. Er muss hier sein! Irgendwo. Irgendwo! Ich habe mir diese Anwesenheit nicht eingebildet. Ich bin stabil. Ich bin gottverdammt noch einmal nicht wahnsinnig genug, um mir diesen Jungen einzubilden.

Die Sonne verwandelt meine Welt in ein blutiges Meer. Der junge Mann ist verschwunden. War nie hier?

Zittrig schlinge ich beide Arme um meine Knie und schnappe hektisch nach Luft. Ich konzentriere mich auf das bloße Atmen. Alles ist gut. Mich wird niemand töten. Ich verliere nicht den Verstand. Dieser Mann war hier und ist ins Nichts verschwunden. Hatte kein Interesse daran, mir Leid anzutun, wollte nur nett mit mir plaudern. Oh Gott. Es geht los. Ich verliere meinen Verstand. Ich drehe durch!

Kalte Böen schenken mir neuen Atem und umarmen mich fest. Sie hindern die Schwerkraft daran, mich vollends an sich zu reißen, und helfen mir dabei, die Tränen zurückzudrängen. Dieser Mann war hier. Es wird eine logische Erklärung für all das geben, in der der Begriff Wahnsinn nicht fällt.

Noch einmal sehe ich mich um, suche mit den Augen die triste Umgebung ab. Keine Menschenseele. Kein Lebender, nicht einmal ein Toter. Es ist gespenstisch. Fast schon verzweifelt taste ich in meiner Hosentasche nach dem Mp3– Player. Fort. Und der einzige Beweis dafür, dass ich diese Begegnung nicht nur geträumt habe. Ein erleichtertes, wahnsinniges Lachen entflieht meinen Lippen. Das kleine Gerät ist verschwunden. Gott sei Dank. Die Apokalypse hat mir mein Liebstes noch nicht geraubt. Was wäre ein Mensch ohne Erinnerung und Verstand? Hätte er es überhaupt noch verdient, als Mensch bezeichnet zu werden?

Kurz vergrabe ich das Gesicht in den Händen und atme gegen meine Haut. Genieße den bekannten Geruch. Er klärt meinen Kopf. Irgendwie.

Wenn ich den Verstand verliere, dann ist das doch ein schleichender Prozess? Ist da kein Knopf, den man betätigen kann, als wäre man Gott, der die Jahreszeiten ein und aus schaltet? Es kann unmöglich sein, dass ich ohne Vorwarnung beginne, Fremde zu sehen. Denen mein Unterbewusstsein vertraut. Ich habe ihn gespürt, ihn gehört und war ihm nah genug, um das pulsierende grün-braun in seinen Augen zu erkennen. So etwas bildet man sich nicht ein. Nicht einmal unter der Wolke. Niemals. Dieses unruhige Zucken der Brauen, das versonnene Lächeln, beides habe ich nie zuvor gesehen. Zumindest nicht in dem unbarmherzigen Reich der Apokalypse. Dieser Mann, er war real. Ich weigere mich, eine andere Möglichkeit hinzunehmen.

Und er ist spurlos verschwunden.

Mit wackligen Beinen stehe ich auf und wanke vom Wald fort, zurück zu der trockenen Wiese, auf der ich auf den Wahnsinnigen getroffen bin. Ich bilde mir ein, aus den Tiefen der dicht an dicht stehenden Baumleichen ein gieriges Grummeln zu hören und das träge Schleifen von Körpern über ausgedorrtem Grund. Die Untoten haben mich gewittert. Neigen sich die Bäume zu mir und strecken die Äste aus? Zum Schutz? Als Hindernis?

Angespannt schüttle ich den Kopf und rücke den Rucksack zurecht. Jede Faser meines Körpers vibriert vor Anspannung. Die Apokalypse hat mich viele Menschen sehen lassen. Eine Person wie er ist mir nie untergekommen. Es ergibt keinen Sinn. Warum sollte man mich aufsuchen und nicht töten? Hier sind alle Handlungsabfolgen gleich. Sie beginnen im Chaos und enden mit dem Tod. Warum nicht heute? Warum lebe ich?

Ungefähr zwei Kilometer von dem Wald entfernt, finde ich den Ort, an dem meine Finger unruhig verharrten. Hier hätte der Fremde mich töten können. Nicht plattgedrücktes, trockenes Gras macht mich darauf aufmerksam. Sondern der Mp3-Player, der still am Boden liegt. Aus den Kopfhörern tönt eine leise Melodie.

Auf dem Display läuft in weißer Schrift „Allegro non troppo e molto maestoso“. Es wirkt, als hätte ich das Gerät in der Hast fallen lassen. Als wäre nie jemand außer mir über diese Ebene gewandert, als hätten sich nie fremde Lippen zu einem sonnigen Lächeln verzogen.

Einbildung? Wahnsinn? Probehalber stoße ich das Gerät mit der Fußspitze an. Widerstand. Es ist real.

Ich zucke zurück, als hätte ich mich verbrannt. Wenn er hier war, warum bin ich nicht fort?

Menschen brauchen Nahrung, um zu überleben. Und in Zeiten, wo das Vieh verendet ist, Supermärkte geplündert sind, die Erde keine Früchte trägt, wird auch gejagt, wen man früher seinen Freund nannte.

Das Gesetz des Stärkeren. Oder das des Wahnsinnigeren? Wer auch immer, was auch immer der Fremde war, ich weigere mich zu glauben, dass er allein meiner Fantasie entsprungen ist. Mit mir ist alles in Ordnung.

Und trotzdem stehe ich hier offensichtlich allein, mutterseelenallein, bücke mich nach dem Gerät und schalte es aus, ehe die Schrift ein weiteres Mal vollständig an dem Bildschirm vorbeiflackern kann. Ich wünschte, der Fremde hätte versucht, mir Leid anzutun. Eine Schramme würde genügen, um die Zweifel zu tilgen. Aber da ist nichts. Nur der Mp3–Player, den ich in meiner Tasche verschwinden lasse. Ein letztes Mal sehe ich mich flehend um. Was ein ganz eigener Irrsinn ist. Wer bin ich, zu hoffen, dass man mir auflauert?

Entschlossen ziehe ich die Trageriemen des Rucksacks fester und straffe den Rücken. Das von gerade eben, das ist nie geschehen. Es ist nicht so, als könnte mir jemand das Gegenteil beweisen. Meine einzigen Zeugen sind Wald und Wind und beide werden schweigen, bis die Apokalypse sie holt. Ein Stechen in meinem Knie beruhigt sich, als ich meinen ziellosen Weg fortsetze. Wo will ich hin? Ich stelle mir eine altbekannte Frage. Die Antwort darauf folgt intuitiv, rational und bekannt.

In den Süden. Hin zum Äquator. Wenn hier von Nacht zu Nacht die Luft mehr gefriert, vielleicht verbirgt sich dort die Wärme? Vielleicht ist die Wolke noch nicht bis in tiefere Regionen vorgedrungen. Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen.

Angestrengt spähe ich über meine Schulter in Richtung der am Horizont schrumpfenden Stadt. Links von dem jetzigen Standpunkt aus betrachtet, kletterte der sich windende Feuerball über die Wolkenkratzer.

Gedanklich teile ich den orangenen Himmel in vier gleichgroße Segmente, ziehe dünne Linien hindurch und lasse mir von diesem Kompass den Weg leiten. Der nächste Baum, an dessen Stamm Moos wächst, wird mir verraten, ob ich den richtigen Weg eingeschlagen habe.

Und wenn nicht, werde ich so lange weiterlaufen, bis es wieder Mittag wird. Abgesehen von den in der Nacht stetig fallenden Temperaturen, den zur Neige gehenden Nahrungsquellen, dem knappen Wasser treibt mich nichts. Seufzend beschleunige ich meine Schritte. Mit dem Rucksack verdecke ich Nacken und Schulterblätter. Vielleicht habe ich Glück und finde des Nachts ein leerstehendes Gehöft. Totes, skelettiertes Vieh hin oder her, für ein flüchtiges Dach über dem Kopf würde ich alles erdulden. Selbst das schattige Grauen der zahlreichen Überreste.

Das leise Rascheln einer nahestehenden Tanne schnürt mir die Kehle zu. Ihre Zweige wiegen sich verräterisch und werfen Nadeln ab. Hat der Wind sie bewegt? Vermutlich. Dennoch beschleicht mich das dumpfe Gefühl, verfolgt zu werden. Von wem oder was auch immer.

4

Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

Niemand.

Und wenn er kommt?

Dann laufen wir.

Ein Blitz zuckt über den Himmel und ich halte meine Kapuze fester. Der Regen peitscht mir eisig ins Gesicht, jeder Tropfen ein eigener Schlag. Ein unangenehmes Frösteln geht mir durch den Leib, während ich an meinen Knien vorbeispähe. Angestrengt blinzle ich und versuche in der Finsternis Schemen auszumachen.

Ein wankender Schatten lehnt sich gegen die kalten Böen, unförmig und mit jedem Blitzstrahl stereoskopisch flackernd. Kämpft sich ein Mensch durch die Nacht? Warum hat er sich keinen Unterschlupf gesucht? Hinter jeder Mauer fände man mehr Schutz als im Auge des Sturms. Sich auf freier Fläche zu bewegen, während die Sintflut tobt, erinnert an einen Todeswunsch.

Es ist, als hätten meine Bedenken dem Schatten die übrige Kraft entzogen. Er geht zu Boden und verharrt dort. Bewegungslos. Verschwimmt mit den schwammigen Konturen der überfluteten Straße. Durch regennasse Wimpern beobachte ich ihn durch das zerschlagene Fenster des Autos. Er rührt sich nicht mehr.

Bebend ziehe ich mich weiter zurück in das quietschende Wrack. Sofort durchnässt mein Rücken. Wie durch einen hungrigen Schlund hindurch sprüht das Wasser über die Rücksitze. Eine unwillkommene Dusche. Resigniert ziehe ich die Knie an die Brust und schlinge beide Arme um meine Beine. Jeder Millimeter meiner Haut scheint aufgeweicht. Die Nacht wurde erst vor wenigen Stunden eingeläutet.

Ich habe mein Lager aus jetziger Sicht unklug gewählt. Wer hätte ahnen können, dass es zu schütten beginnt, kaum, dass die Finsternis über den Horizont kriecht?

Die leerstehenden Autos, aufgebrochen und versifft, haben mir ein besseres Versteck geboten, als jeder Strauch und jeder Felsen. Der einzige Nachteil? Als die Erde Feuer spuckte, flogen ihre Überreste über die Welt und zertrümmerte in einem steinigen Hagel alles, was sich ihr bot. Hinzukommt, dass der nahefließende Kanal unter den unverhofften Regenmassen anschwoll und schon jetzt die Straße flutet. Die braune Flüssigkeit verteilte sich über dem einst staubigen Asphalt und spülte alle Anzeichen eines kalten, trockenen Monats fort.

Das Wasser schwappt gegen die Sitze. Ich kauere mich frierend zusammen.

Sollte der Schatten menschlich sein und dort, auf überschwemmter Straße, liegen bleiben, wird er ertrinken. Ich ziehe den Kopf weiter ein, als die nächste starre Böe über mich hinwegsaust und mit dürren Fingern an der Kapuze zerrt. Gottverdammte Kälte. Ich schüttle mich wie ein nasser Hund, ohne den Blick von dem bewegungslosen Schatten zu lösen.

Wenn er ertrinkt, ist das gut. Ein potenzieller Feind weniger. Ich ertappe mich dabei, wie ich mich erneut nach vorn beuge. Sofort sprüht der Regen in meine Kapuze und läuft kribbelnd über meinen Körper. Eisige Schauer, als greife der Tod selbst um sich. Wie gebannt starre ich auf den verschwommenen Schatten und warte darauf, dass er sich rührt. Nichts. Schreit er nach Hilfe? Sollte dem so sein, ersticken Gewitter und Regen jedes Flehen unbarmherzig im Keim. Ein Blitz erleuchtet die überflutete Straße und gibt für den Bruchteil einer Sekunde den Blick auf einen zerrissenen Mantel frei. Der grollende Donner lässt nicht lange auf sich warten.

Noch einen Moment verharre ich in meinem tropfenden Versteck. Bei immer heftiger tobendem Regen bleibt kein Flecken meines Körpers verschont. Die Füße schwimmen in den Schuhen, das Wasser läuft mir aus dem BH über den Bauch und von dort über den Hosenbund. Eine kribbelnd brennende Spur zieht es nach sich, als würde die Kälte mit Feuerzungen über meine schutzlose Haut lecken.

Ich hänge wie an Fäden, während ich den bewegungslosen Körper beobachte. Vor meinem inneren Auge spielen sich die letzten, ungelenken Schritte des Gefallenen ab. Die Welt tobt, erbebt im Gewitter. Der Regen ertränkt jedes Leben. Das Herz rast mir ohrenbetäubend laut in der Brust. Eine dumpfe, mir fremde Verzweiflung treibt mich auf die Straße. Wie Stroboskope flackern die Blitze um mich herum nieder, krachen ins Nichts und spenden mir spärliches Licht. Der Wind treibt mir die eisigen Tropfen wie hysterische Tränen über das Gesicht.