Winter - Celina Weithaas - E-Book

Winter E-Book

Celina Weithaas

0,0

Beschreibung

Wohin gehst du, wenn es kein Zurück mehr gibt? Der Winter ist eingebrochen und hat vernichtet, was den Herbst überlebt hat. Niemals frei von der Klinik kämpft Caressa um ihr Überleben, während mit jedem neuen Tag ein weiterer Albtraum erwacht. Bald wird Caressa bewusst, dass sie schon lange keine Wahl mehr hat.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 602

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Winter

© 2021 Celina Weithaas

Umschlaggestaltung und Design: Franziska Wirth

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN Taschenbuch: 978-3-347-42324-4

ISBN e-Book: 978-3-347-42325-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Chroniken des Grauen Mannes

Phase I:

Die Poison-Trilogie:

Dark Poison (Oktober 2018)

Cold Poison (Januar 2019)

Dead Poison (September 2019)

Die Jahreszeitentrilogie:

Spring (31. Dezember 2019)

Fall (31. Dezember 2020)

Winter (31. Dezember 2021)

Phase II:

Die Märchendilogie:

Erzähl mir Märchen (05. November 2019)

Märchen für Dich (01. Mai 2020)

Die Mitternachtstrilogie:

Fünf Minuten vor Mitternacht (02. September 2020)

Zehn Sekunden vor Mitternacht (21. April. 2021)

Vor Mitternacht (13. Oktober 2021)

Die Dämonentrilogie:

Fürchte mich nicht (21. April 2022)

Vergiss mich nicht (02. September 2022)

Verlass mich nicht (01. Mai 2023)

Die Götterdämmerungstrilogie:

Götterdämmerung - Verschwörung (05. November 2023)

Götterdämmerung - Verlockung (01. Mai 2024)

Götterdämmerung - Verdammung (02. September 2024)

Die Ich-Bin-Trilogie:

Ich bin Du (21. April 2025)

Du bist Ich (13. Oktober 2025)

Wer ich bin (21. April 2026)

Phase III:

Die Geschichte des Grauen Mannes:

Die Geschichte des Grauen Mannes oder Komm mit mir nach Gestern (02. September 2026)

Chronicles of Kings and Queens:

Blutzoll (01. Mai 2027)

Blutangst (05. November 2027)

Blutrache (01. Mai 2028)

Blutdurst (02. September 2028)

Blutmond (21. April 2029)

Blut-Matt (13. Oktober 2029)

Phase IV:

Die Foscor-Trilogie:

Laufe (31. Dezember 2027)

Bleibe (31. Dezember 2028)

Vergesse (31. Dezember 2029)

Erinnere (31. Dezember 2030)

Verdamme (31. Dezember 2031)

Erwache (31. Dezember 2032)

Phase V:

Die Trilogie von Gottes Tod:

Von verblühender Unschuld (21. April 2030)

Von leidendem Verrat (02. September 2030)

Von verzweifelter Liebe (01. Mai. 2031)

Die Ewigkeitsdilogie:

Endlicher Triumph (13. Oktober 2031)

Triumphale Ewigkeit (01. Januar 2032)

Das Ende:

Nun, da es das Ende ist (31. Dezember 2032)

Für Emma. Ohne dich wäre diese Reihe nie das geworden, was sie heute ist.

Für Annika, die dieses Buch nicht einmal vergessen könnte, wenn sie wollte.

Was bisher geschah

Nach der Explosion eines Supervulkans zieht die Wolke auf. Sie absorbiert einen Großteil der Wärme und des Lichts. Unter ihr gedeihen Krankheiten und Kreaturen, die aus den Klauen einer ominösen Klinik entflohen sind.

In diesem apokalyptischen Chaos erwacht Caressa ohne Erinnerungen. Bald schon trifft sie auf Jason, der mehr über sie zu wissen scheint als sie selbst, und Ronan, an den sie ihr Herz verliert.

Unglückliche Umstände treiben Caressa, Ronan und Jason zurück in die Klinik, in der sie einst aufgewachsen sind. Hinter den gut geschützten Mauern kommt Caressa den Geheimnissen der Klinik und der Apokalypse mehr und mehr auf die Spur. Mit jedem neuen Schrecken kehren neue Erinnerungen zurück. Auf dieser Reise durch die Wirren der Klinik muss Caressa herausfinden, wem sie vertrauen kann.

Ehe sie Sicherheit hat, kollabiert die Klinik und spuckt Caressa erneut aus in den Gefilden der Apokalypse.

Es ist Winter geworden. Erneut zählt nur eines: überleben.

1

Lucindas Albtraum weckt mich. Resigniert lege ich den Unterarm über meine Augen und atme tief durch, warte darauf, dass ihre Schreie abbrechen und endlich die verdiente Stille zurückkommt.

Sieben Sekunden vergehen. Momente, in denen sie um Corells Leben schreit. In denen sie seinen Vater verflucht. Dass mit dem Verschwinden ihrer Kette der Herbst eingeläutet wurde? Dann verwandelt der gellende Schrei sich in ein Schluchzen und schließlich in ein gedämpftes Wimmern. Blinzelnd öffne ich die Augen. Cathrin plustert das Gefieder auf und wirft mir einen Blick zu, als wollte sie sagen: „Na, schon wieder die Ohrstöpsel vergessen?“ Ich verabscheue diesen Vogel.

Stöhnend wälze ich mich auf die andere Seite und sehe in die schwelenden Überreste des Lagerfeuers. Schwarze Reste von Holz strecken sich flehend in meine Richtung, verkohlte Finger, die verzweifelt versuchten, ihrem Schicksal zu entfliehen.

Der Qualm lässt mich die Nase rümpfen, ist zu beißend und zu rau in meinem Hals, ließ mich schon viel zu oft würgen. Manche Äste, die wir über Nacht verbrannten, stanken genug, dass ich mich fragte, wie viele Menschen mit ihnen bereits gepfählt wurden. Oder welcher andere unangenehme Nebeneffekt den bitteren Gestank verursachte.

Cathrin fiept laut und lässt mich die Lippen zusammenpressen. Sechs Stunden am Stück schlafen zu dürfen, ist zu viel verlangt. Entweder die Albträume quälen mich – schemenhafte Erinnerungen, Spencers Tod – oder Lucinda wacht schreiend auf. Wenn die Träume ruhen, taucht irgendwo in der Ferne ein menschenähnliches Wesen auf oder der Vogel hat Hunger. Je zäher sich die Kälte zieht, desto häufiger ertappe ich mich bei dem Wunsch, dass er doch einfach mit seinen Geschwistern gestorben wäre. Durch den Rauch spähe ich zu Lucinda hinüber. Sie hat sich aufgesetzt und starrt an den Horizont, wartet darauf, dass die Sonne aufgeht. Ihr Atem pufft deutlich in der Luft, schützend hat sie die Arme um sich geschlungen.

„Geht es wieder?“, wispere ich. Bei dem Klang meiner Stimme fährt sie zusammen. Hektisch sieht sie sich um. Lucina braucht ein paar Augenblicke, um zu erkennen, dass ich sie durch den brennenden Qualm hindurch mustere. Sie entspannt sich leicht.

„Klar. Ich bin jetzt ja wach.“ Man muss sie nicht gut kennen, um zu wissen, dass sie lügt. Wir leiden alle unter dem Schlafentzug, der Kälte, der Sorge, den nächsten Morgen nicht zu erleben, aber niemand von uns macht Dracula eine ähnliche Konkurrenz wie sie. Die Augen sind dauerhaft gerötet, ebenso die Nase, die dunklen Augenringe sind zu Blutergüssen geworden. Am Unheimlichsten ist, dass keiner dieser Makel sie nur eine Nuance von ihrer umwerfenden Schönheit einbüßen lässt.

„Wieder Corell?“

Ihre Antwort ist ein abgehacktes Schulterzucken. Kurz zögert sie, ehe sie sich auf die Seite legt und ebenso wie ich blinzelnd in die Überreste des nächtlichen Feuers starrt.

Der eisige Wind hat sich gelegt. Seitdem wir die Klinik verlassen haben, ist er erstorben. Stattdessen ist die Kälte noch intensiver geworden. Ohne den Mantel hätte ich die erste Nacht nicht überlebt und selbst mit ihm, zittern und zucken meine Muskeln in nahezu jeder Minute. Käme auch nur die sanfteste Brise auf, vermutlich würden wir auf der Stelle erfrieren.

Vor ein paar Tagen sind wir an dem einst tobenden Meer vorbeigewandert. Die Wellen peitschen nicht mehr gegen die Felsen. Sie sind in der Bewegung erstarrt, bilden eine einzige, glänzende, undurchdringliche Ebene, verwirrt und zerschlagen, die jede Bewegung, die das Meer je gemacht hat, einfängt, bis die Tage wieder wärmer werden und es Organismen möglich gemacht wird, weiter zu leben.

„Ihm geht es gut“, versuche ich Lucinda halbherzig zu beruhigen. Der Vogel hüpft aus Jasons halb geschlossener Hand heraus und verschwindet in meiner Jackentasche. Ich spüre ein sanftes Schütteln an meiner Hüfte, ehe er sich gegen meinen Körper drückt.

„Woher willst du das wissen? Du hast ihn dort zurückgelassen. Vermutlich ist er einfach verbrannt oder erstickt.“ Es würde mich wundern, wenn die Katastrophe der Klinik den Ort erreicht hat, wo sie programmiert wurde. In den Gängen ist Corell vermutlich am sichersten. Der Komplex wird tot sein, alles was über der Erde liegt, aber das Labyrinth aus Korridoren war zu groß und verzweigt, als dass ein Knopfdruck genügen würde, um sie gänzlich zu vernichten.

Wenn Corell in diesem Raum geblieben ist, stirbt er am ehesten an seinem Irrsinn oder Langeweile.

„Er hat mir gefühlt hundert Mal gesagt, dass er zurückkommt. Das hätte er nicht getan, wenn er sich seines Todes so sicher gewesen wäre“, murmle ich.

Lucinda schnaubt abfällig und zieht sich den Schlafsack unter das Kinn. Ihre Lippen sind aufgesprungen, leicht blutig. Ich kann nicht behaupten, dass mein Zustand besser wäre als ihrer.

„Könnt ihr versuchen, etwas leiser zu sein?“, murmelt Jason neben mir. „Der Tag wird so oder so lang.“ Noch im Halbschlaf streckt er die Hand nach mir aus. „Du solltest schlafen.“ Vermutlich.

Er gähnt und rollt sich zu einer Kugel zusammen, schützt Arme und Beine so gut es geht vor den unbarmherzigen Temperaturen. Für eine heiße Dusche würde ich einen Mord begehen.

Nachdenklich betrachte ich Jason. Die Falten haben sich tief in seine Stirn gegraben. Er scheint sich jeden Atemzug über seine eigenen Rätsel den Kopf zu zerbrechen, sagt aber nie, welche Ideen er hin und herwendet. Manchmal frage ich mich, ob seine Persönlichkeit zeitweise durch Jonathans ausgetauscht wird und ich es bloß nicht bemerke.

Hier draußen, ehe wir die Klinik betraten, lernte ich ihn als einen sehr redseligen Menschen kennen. Nun ist er es, der am häufigsten schweigt. Oft betrachtet er still den Vogel, versucht ihn irgendwie mit Nichts und wieder Nichts über Wasser und am Leben zu halten. Es bringt mich um zu sehen, dass er Teile seines dringend benötigten Essens an ein Tier abtritt, das den Winter ohnehin nicht überstehen wird.

Manchmal glaube ich, dass Cathrin ein Symbol der Hoffnung für ihn ist, eine Chance diese eisige Zeit zu überstehen. Wenn dem so ist, sollte er sich eine hoffnungsvolle Alternative suchen, bevor der Vogel stirbt.

Lucinda bleibt wach, genau wie ich, beobachtet die Sonne, wie sie versucht, aus der Welt von Nebel und Schatten emporzusteigen und sich als Königin über sie zu erheben. Wir schweigen beide, geben den beiden Jungen den Schlaf, den sie dringend benötigen. Ronan ist erschöpft genug, damit weder Lucindas Schreie noch unser leises Gespräch ihn geweckt haben. Manche Nächte schläft er so fest und tief, ich war mehr als einmal davon überzeugt, dass er gestorben ist. Als einziger verzichtet er auf einen Schlafsack in der Nacht, trägt nur den Mantel, der im Moment keiner Menschenseele genügen sollte.

Lucinda und Jason machen sich wenig Sorgen um ihn. Seine Fähigkeit hält ihn selbst unter diesen lebensfeindlichen Bedingungen am Leben.

Und ich? Selbst wenn ich Bedenken hätte, gäbe Ronan mir keine Gelegenheit, sie zu äußern. Wir haben kaum ein Wort gewechselt seit der Nacht, in der wir uns so ziemlich alles an den Kopf geworfen haben, über das wir hätten schweigen sollen. Nur im absoluten Notfall spricht er mit mir. Ich kann nicht behaupten, dass mich das in einem übermäßigen Maß stört.

Wir sind zurück in den Fängen der Wolke. Es ist besser, wenn man sein Herz an so wenig wie möglich hängt.

Selbst wenn Jason mir nicht anvertraut hätte, dass er einen Großteil der Zeit nach der Apokalypse in der Klinik verbracht hat, hätte ich es spätestens an seiner Liebe zu dem Vogel bemerkt. Niemand, der bereits zwei Jahre unter der Wolke überlebt hat, würde sein Herz an so etwas Sterbliches, Fragiles wie einen Vogel hängen. Mit etwas Glück ist er Nahrung. In diesem Fall würde der Vogel zumindest einen letzten Nutzen erfüllen.

Würde einer von uns Cathrin anrühren, wäre er tot. Vermutlich mit Recht.

Ein Gutes hat es, dass ich wieder unter freiem Himmel bin: Die Erinnerungen sind in wachen Momenten versiegt. Als hätte ich mit der Tür zu dem Gebäudekomplex auch die zu meiner Vergangenheit geschlossen. Ich kehre zu meiner geliebten Ruhe zurück, kann verarbeiten, was ich gesehen habe in dieser Zeit und mich auf all das konzentrieren, was mir bevorsteht. Was es auch sein mag. Dieser Fokus auf das Heute schärft den Blick fürs Wesentliche. Glaube ich zumindest.

Ein verspätetes Knacken des bereits toten Holzes und Lucinda zuckt zusammen. Sie kaut auf ihrer Lippe, wie so oft. Ihr Zeichen von nagender Nervosität. Für sie ist das alles neu. Man hat ihre Zeit vor dem Kollaps pausiert. Jetzt habe ich wieder auf Play gedrückt und sie wird auf ein Feld gestellt, an dessen heruntergekommenen Zäunen man noch immer die verblichenen Überreste von ganzen Kuhherden erahnen kann.

Als sie die Auswirkungen der Wolke das erste Mal gesehen hat, brach Lucinda in Tränen aus. Inzwischen nimmt sie die Streifzüge der Apokalypse stoisch hin.

Hin und wieder, wenn ich mitten in der Nacht aufwache, kann ich sie beim Beten beobachten. Ihre Lippen formen stille Worte, während ihre Finger fest aneinandergepresst sind.

Jeder hat in diesen Zeiten etwas, an dem er sich festhalten muss. Bei Jason ist es der Vogel, bei mir ist es mein Starrsinn. In Lucindas Fall ihr Glaube. Zu gerne wüsste ich, was es für Ronan ist. Der Wunsch nach Rache?

Keine unmögliche Erwägung. Manchmal dreht er sich zu mir um und die Blicke, die er mir zuwirft, sind so voller Hass, dass ich es für unmöglich hielte, dass er mich jemals geküsst hat, wenn die Erinnerungen daran nicht noch frisch wären.

Cathrin plustert in meiner Tasche wieder das Gefieder auf, drängt sich noch enger an mich. Selbst in meinem Mantel wird sie nicht die Wärme finden, die sie braucht.

Seufzend ziehe ich sie aus der Tasche. Viel zu laut fiept sie in den anbrechenden Tag hinein, breitet Beinchen und Flügel aus, um sich festzukrallen. Ich lasse das nicht zu, ignoriere ihre verzweifelten Versuche, ziehe meinen Schlafsack bis zu meinem Hals und lasse sie hineinspazieren. Den Mantel öffne ich.

Gedämpfte Proteste folgen, das tastende Pieken in alle Richtungen, ehe sie eine Innentasche findet und sich dort niederlässt.

Wieder ein Aufplustern, dann gibt sie endlich Ruhe und ich atme auf.

„Du hast den Vogel lieber, als du zugeben würdest“, stellt Lucinda fest. Ihre Blicke haften auf mir.

Ich zucke die Schultern. „Corell meinte, wenn die Vögel aufhören zu singen, sind wir alle tot. Es ist wohl am besten, wenn man die Lebensversicherung am Körper trägt.“

Sie verzieht abfällig die Lippen. Ein dünnes Blutrinnsal tropft ihr auf das rissige Kinn. „Es ist schrecklich, wie pragmatisch du geworden bist.“ Ihr leises Seufzen gefriert in der Luft. „Nachdem ich das hier aber gesehen habe, kann ich es dir kaum verübeln. Zwei Jahre geht das jetzt schon?“

„Nahezu.“ Ein bisschen weniger, wenn ich mich nicht verzählt habe. Aber diese zwei, drei Monate machen auch keinen Unterschied zum Endresultat. Man findet noch weniger Leben als zu dem Zeitpunkt, als wir die Klinik betraten. Ich bin davon überzeugt, dass diejenigen, die sich hier noch verkriechen, böser sind als alles, was ich bereits habe in den Tod laufen sehen.

„Das Schlimmste ist, dass es kein Grün mehr gibt“, flüstert Lucinda. „Es sieht alles so unglaublich tot aus.“ Das ist es. Die Wesen, die die größte Population bilden, sind hirnlose Monster, die die Ähnlichkeit zu den Menschen, die sie einmal waren, mit jedem Tag ein Stück mehr verlieren. Hat das Virus sie lange genug in seinen Fängen, frisst es ihre Haut und lässt die Überreste in Flocken zu Boden regnen. Die Knochen werden angegriffen, das Gehirn restlos zerstört. Nach und nach tötet das Virus seinen Wirt mit menschlicher Raffinesse.

Es wird erst verschwinden, wenn es kein Leben auf Erden mehr gibt. Wie lange also noch? Ein Jahr? Weniger?

„Warte nur, bis du dem ersten Untoten über den Weg läufst“, murmle ich. „Sie sind das Skurrilste, das du dir ausmalen kannst.“

Sie runzelt die Stirn und schnieft leise. „Dann möchte ich sie gar nicht sehen.“ Aber das wird sie. Es ist ein Wunder, dass wir in den frierenden Ewigkeiten, die wir bereits durch diese Ödnis wandern, während wir versuchen Abstand zu der Klinik zu gewinnen, auf keinen von ihnen gestoßen sind. Auf keines dieser lechzenden Geschenke der Klinik. Ja, wir meiden die Wälder wie die Pest. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem uns das nicht mehr möglich sein wird, und dann Gnade uns Gott. Die Untoten waren bereits ausgehungert, als ich sie das letzte Mal sah. Inzwischen gibt es noch weniger Leben, das sie vernichten können. Sie werden sich auf alles stürzen, das sich auch nur in ihre Nähe begibt.

Die Narbe an meinem Daumen, ein exaktes Abbild eines Gebisses, ist eine Mahnung an mich, es nicht auf ein weiteres Zusammentreffen ankommen zu lassen.

Zwanzig Meter hinab in ein tobendes Meer zu springen, mag verrückt sein. Zehn Meter nach unten auf eine Eisschicht zu stürzen, tödlich.

Ich habe nicht so viel durchgemacht, damit Untote mir die Kehle herausreißen.

„Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Du brauchst den Schlaf.“ Das tue ich tatsächlich.

Ich hebe die Schultern. „Man gewöhnt sich daran.“ Viel zu gern würde ich ihr die Situation zum Vorwurf machen. Dass sie Nacht um Nacht um Corell schreit, aber allein der Gedanke daran, dass ich einen von beiden, Ronan oder Jason, in der Klinik hätte zurücklassen müssen, bringt mich um den Verstand. Was, wenn Corell sich verkalkuliert hat? Ich traue der Klinik zu, dass sie alles dafür tut, damit er sie zu uns führt. Sie würden ihn dafür foltern. Sie würden in seinen Verstand kriechen. Sie würden ihn zerreißen. Die Klinik kennt keine Gnade.

Prüfend sehe ich Lucinda an. Träumt sie davon? Dass die Ärzte Elektroschocks durch ihn hindurch jagen, bis das Blut in seinem Körper kocht und er unter Tränen um Gnade fleht? Sieht sie seine Schmerzen?

„Es ist nur so schwer“, wispert Lucinda. „Ich war mir immer sicher, dass, wenn etwas Schreckliches geschieht, er an meiner Seite steht. Aber hier bin ich und er ist nicht da und ich habe keine Ahnung, was mit ihm gemacht wird.“ Bitter lächle ich. Die Ungewissheit ist ihre Folter. Diese Ungewissheit, die nicht die Klinik ihr aufgelegt hat. Sondern Corell. Aus freien Stücken.

„Du hast auf mich nicht den Eindruck gemacht, als würdest du an irgendwem hängen.“

Lucinda zuckt zusammen, schnieft wieder leise. „Corell ist ja auch nicht irgendwer. Das zwischen uns war so ähnlich wie bei Jason und dir.“ Kurz schweigt sie. „Das war kein Witz, als Jason mir erzählt hat, dass du dich nicht an das Leben in der Klinik erinnerst, bevor die Wolke aufgezogen ist, oder? Du hast wirklich keine Ahnung.“ Ich verlagere das Gewicht, immer darauf bedacht, den Vogel nicht zu verletzen. Er rührt sich nicht mehr. Entweder er ist tot oder schläft endlich.

„Das, was ich über Ronan und Jason gesagt habe, das war eigentlich ein halber Scherz“, flüstert Lucinda. „Vor allem das über Jason. Klar, er ist so, wie ich es dir beschrieben habe, aber es hat dich nie gestört. Du wärst für ihn durch die Hölle gegangen, ebenso wie er für dich.“

Da irrt sie sich. Bereits vor der Wolke habe ich mit seinem besten Freund rumgeknutscht. Das ist die einzige Aktion, an die ich gern mehr Erinnerungen hätte. Eine Art von Kontext. Aber die Momente werden mir verwehrt. Ronan und Jason sprechen nicht darüber. Sieht ganz so aus, als würde ich nie erfahren, warum ich diesen Keil zwischen die beiden getrieben habe.

„Es ist eh egal“, murmle ich. „Andere Dinge sind wichtiger.“ Lucinda widerspricht nicht.

„Wir müssen bald weiter. Die Sonne geht auf.“ Das Beunruhigende ist, dass mit dem Sonnenaufgang die Temperaturen nicht steigen. Es kommt mir vor, als befände sich eine dichte Glasschicht zwischen der Sonne und uns. Das Glas absorbiert die Hitze und über uns regiert die Eiseskälte.

„Ich will noch nicht gehen“, flüstert Lucinda. Die Sorge steht ihr in die großen, mattblauen Augen geschrieben. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, dass ich sie nicht verstehe, aber es ist vernünftiger, in Bewegung zu bleiben, als für immer eingekuschelt in dem Schlafsack zu liegen. An diesem Feuer werden die Vorräte nur immer knapper und der Kreislauf kommt auch nicht in Schwung.

Ich ignoriere Lucinda und drehe mich zu Jason um, tippe ihm gegen die Schulter. Seine Augen fliegen auf. Bewegungslos lässt Jason den Blick über sein nahes Umfeld wandern, dann dreht er den Kopf in meine Richtung. Seine Schultern sacken nach unten und er atmet erleichtert aus.

„Was ist los?“ Er blinzelt sich den Schlaf aus den Augen. Wortlos deute ich gen Horizont. Die Sonne ist inzwischen als Ganzes zu erkennen, in einem düsteren Orange gemalt, während sie schwerfällig das Himmelszelt hinaufsteigt.

Seufzend setzt Jason sich auf und erstarrt. „Wo ist Cathrin?“ Er ist schneller auf den Füßen, als ich ihm antworten kann. Panisch geht er ein paar Schritte. Der Schlafsack fällt raschelnd zu Boden. Die Hände fahren in seine Taschen. Ich höre das leise Rascheln von Papier.

„Caressa, hast du sie gesehen? Sie kann nicht weggelaufen sein, sie muss irgendwo hier sein. Kannst du in deinem Schlafsack nachsehen?“

„Sie schläft in meiner Tasche. Ihr ist kalt geworden.“ Jason öffnet den Mund und schließt ihn, ohne einen Ton hervorzubringen.

Lucinda seufzt leise. „Einigt euch doch einfach darauf, wer das Sorgerecht bekommt, dann gibt es diesen Stress nicht mehr.“

Ich werfe ihr einen mörderischen Blick zu. „Sie ist zu mir gekommen. Ich wollte das nicht.“

Lucinda hebt wegwerfend die Schultern und neigt sich zu Ronan. Bei ihm genügt es nicht, ihn einmal anzustupsen. Lucinda schüttelt ihn fünf Mal mit ganzer Kraft, damit er blinzelnd die Augen öffnet und einmal herzhaft gähnt. Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Ronans Sinne sind geschärft. Waren geschärft. Ist es möglich, die Fähigkeiten nach und nach einzubüßen?

„Ist es schon wieder hell?“, murmelt er.

„Gibst du mir Cathrin wieder?“, bittet Jason mich leise. „Ich muss sie füttern.“

Mir wird nie begreiflich werden, was Cathrin nun genau für ihn ist, dass Jasons erster und letzter Gedanke ihr gilt, aber ich widerspreche nicht, sondern ziehe den schlafenden Vogel wortlos aus meinem Mantel. Sie hat das Köpfchen unter dem Flügel mit dem orangen Tupfen vergraben und zieht ihn nicht einmal dann hervor, als Jason sie behutsam in seine eigene Innentasche bettet.

„Danke.“

„Keine Ursache.“ Die Spannung zwischen uns ist greifbar. Beim besten Willen, ich kann nicht bestimmen, ob es eine gute oder eine schlechte ist. Mit Jason habe ich einige Worte mehr gewechselt als mit Ronan. Was auch immer das zwischen mir und Jason ist, bleibt zu kompliziert, als dass wir es auf der Flucht vor dem Kältetod klären könnten.

„Komm, steh auf, wir müssen weiter“, wiederholt Lucinda. Ich höre ein leises Schnaufen, als Ronan sich auf seine Füße kämpft. Die Lippen, nein, seine gesamte Haut ist bläulich. Er müsste längst tot sein. Aber der Junge klopft sich sorglos den Staub von der Kleidung und verschränkt die Arme vor der Brust.

„Na dann, packt mal euer Zeug zusammen.“ Erwartungsvoll sieht er in die Runde, meidet meinen Blick. Ich kann es ihm nicht verübeln.

Die Schlafsäcke werden zusammengerollt und in den Rucksäcken verstaut. Mit einem leisen Zurren werden sie geschlossen. Ich werfe mir meinen über die Schultern und ziehe die Gurte etwas fester, ehe ich mich daran festhalte.

„Bereit für den Aufbruch?“, fragt ausgerechnet Lucinda. Ich sehe zu Jason. Er hat den Blick bereits zum Horizont gerichtet.

„Hoffen wir einfach, dass es heute etwas wärmer wird.“

Ronan quittiert Jasons Aussage mit einem abfälligen Lachen, ehe er sich in Bewegung setzt und vorangeht. Wir folgen ihm, nicht als wüsste er den Weg, sondern als wäre er der einzige, der die Kraft und Motivation hat, ins Ungewisse zu laufen. Nichts ist ermüdender als das Wissen, mit Sicherheit niemals irgendwo anzukommen.

2

Keuchend beugt sich Lucinda über den Rand der Klippe. Fast befürchte ich, dass sie fällt, aber der Wind gibt Ruhe, während sie das Kunstwerk des Winters bewundert. „Das ist unglaublich.“ Es ist der gleiche Anblick, der die gesamte Welt überrollt zu haben scheint. Weiße Böen, die im Wind stehen, das Eishaar gen Himmel gekämmt und die Zähne gefletscht. „Kommt her, das müsst ihr euch ansehen. Ronan.“ Sie dreht sich zu ihm um und winkt. Ein aufgekratztes Funkeln liegt in ihrem Blick. Seufzend vergräbt Ronan die Hände in den Jackentaschen und gesellt sich zu ihr, späht über die Kante.

„Was zur Hölle ist das?“

„Keine Ahnung. Aber es ist unglaublich.“ Es ist das erste Mal seit vielen Tagen, dass Ronan sich zu mir umdreht und mich direkt ansieht.

„Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?“ Nein. Ich sehe es nicht und mein Wunsch, sich dieser Kante zu nähern, befindet sich im einstelligen Bereich. Sollte ich aus irgendeinem Grund abrutschen, der Stein unter mir nachgeben oder ein unerwartetes Beben durch den Boden gehen, würde ich stürzen und dieses Mal gäbe es kein Wasser, das mich auffangen könnte. Ich habe mir geschworen, einer solchen Felswand nie wieder zu nah zu kommen. Sie birgt den Tod.

Jason lässt mir keine Wahl. Während er sich zu den anderen beiden begibt, zieht er mich mit sich. Fluchend folge ich ihm, stolpere dabei über meine eigenen Füße.

Es sind nur vier Meter bis zum gellenden Abgrund. Als Jason und ich sie überbrückt haben, blickt Ronan auf das erstarrte Meer. Jason lässt meine Hand selbst dann nicht los, als wir den Rand erreicht haben und hinab in die eisigen, ewigen Fluten blicken.

Was sich dort auftut, direkt vor uns, entzieht sich meinem Verständnis. Luftblasen schlängeln sich den eisigen Wolken entgegen, zu Teilen gigantisch groß, als wären sie mitten in der Bewegung eingefangen worden. Verschwommen glaube ich darin Lebewesen zu erkennen. Untote? Die Haut wirkt unversehrt, das Rückgrat verbogen. Eine Art Fisch? Fische benötigen Wasser zum Atmen und Feuchtigkeit? Scheint aus diesen Blasen verpufft zu sein.

„Wie Käfige“, spricht Lucinda meine düstersten Gedanken aus. Ich presse die Lippen fest aufeinander.

„Ja, und was auch immer da drin ist, sollte es noch leben, will ich ihm auf gar keinen Fall begegnen“, sage ich. Ronan gibt ein zustimmendes Geräusch von sich. Begibt sich wie hypnotisiert noch näher an die Kante. Er zieht die Gurte seines Rucksacks fester und lehnt sich nach vorn.

„Wehe dir. Wehe du springst da runter.“ Die Worte sind schneller raus, als ich sie überdenken kann.

Stirnrunzelnd sieht er mich an. „Ich springe da doch nicht runter.“ Er schüttelt leicht den Kopf, als hätte ich den Verstand verloren. „Ich klettere.“ Dabei ist er es, der seine Sinne nicht mehr beisammen hat.

„Das tust du nicht.“

Ronan zieht eine Augenbraue nach oben und schwingt sich in sein eigenes Verderben. „Du musst ja nicht mitkommen.“

„Werde ich auch nicht.“ Ich bin doch nicht bescheuert. Das letzte, was ich von ihm sehe, ist ein gleichgültiges Achselzucken, ehe er an der Wand verschwindet. Ungläubig drehe ich mich zu Jason um.

„Was, wenn das Eis nicht dick genug ist?“

Er kratzt sich ratlos am Kopf. „Dann werden wir es vermutlich gleich wissen.“

Jason macht keine Anstalten, Ronan zu folgen und ich kämpfe mit mir, um jeden selbstmörderischen Impuls im Keim zu ersticken. Das gelingt mir mäßig. Ronan und ich waren nicht lange gemeinsam unterwegs, aber selbst als wir uns noch nicht kannten, bin ich hinter ihm hergesprungen. So ändern sich die Dinge. Manchmal heilt die Zeit keine Wunden. Sie reißt sie auf und verlangt Kompromisslosigkeit.

Schnaubend lasse ich mich in einen Schneidersitz sinken und sehe zum Horizont. Gebe vor, dass Ronan nicht jeden Moment das Meer betreten wird. Was, wenn die Eisdecke bricht? Er würde erfrieren und wenn nicht, dann ertrinkt er. Und ich könnte ihm nicht helfen. Ich wäre hier oben und bräuchte einige Minuten, um zu ihm zu kommen. Die könnten entscheidend sein. Selbst für ihn.

Mühsam schüttle ich die irrationale Sorge ab.

„Also, es ist mir egal, was ihr macht, aber ich gehe da runter“, setzt Lucinda uns in Kenntnis. Eine sanfte Brise zupft an ihrem langen, blonden Haar.

Ich rümpfe die Nase. „Denkst du wirklich, dass das so clever ist? Corell hat mich gebeten, dir zu sagen, dass du auf dich aufpassen sollst.“

Sie strafft die Schultern und funkelt mich an. „Corell ist nicht hier, oder? Vermutlich ist er nicht einmal mehr am Leben. Du kannst mich also ruhigen Gewissens nach unten steigen lassen.“ Nein, kann ich nicht. Wenn ihr etwas geschieht, dann habe ich Schuld daran. Ich habe Corell versprochen, dass ich auf sie achtgebe. Ein unmögliches Unterfangen, solange ich hier oben sitze.

Frustriert verschränke ich die Arme vor der Brust und sehe zu Jason auf.

„Ich gehe da nicht runter“, sage ich stoisch.

Seine Lippen verziehen sich zu einem kleinen Lächeln. „Auch nicht, wenn ich hinter dir bin?“

Ich schüttle den Kopf. Je faszinierender der Anblick, desto tödlicher ist das, was er verbirgt. „Ich klettere nie wieder so eine Felswand nach unten. Außerdem habe ich mit den Handschuhen überhaupt kein Gefühl in den Fingerspitzen. Was, wenn ich abrutsche? Das könnte mir alle Knochen brechen. Und wenn meine Wirbelsäule gesplittert ist? Was dann? Dann liege ich wie ein zappelnder Fisch auf dem Trockenen.“ Wütend komme ich auf die Füße und sehe nach unten. Ronan steht kurz davor, die Oberfläche zu erreichen, Lucinda trotz des verspäteten Starts dicht hinter ihm. Sie bewegt sich an der Wand, als wäre sie eins mit ihr. Geisterhaft elegant.

„Ich gehe da nicht runter“, wiederhole ich.

Jason seufzt und stellt sich neben mich. „Warum habe ich nur das ungute Gefühl, dass du dich selbst davon überzeugen musst.“ Ich beiße mir auf die aufgesprungenen Lippen. Sofort schmecke ich neues Blut, als alte Wunden aufreißen.

„Denkst du, das Eis hält sie?“

Ronans Fuß berührt es, kurz zögert er, dann lässt er sich mit seinem gesamten Gewicht darauf nieder. Ich erwarte ein lautes Knacken, das sich über den gesamten Ozean zieht und tausendfach von der kalten Luft verstärkt zu uns zurückhallt. Ein gigantischer, brechender Knall, der in den Ohren schmerzt wie der Frost auf der Nasenspitze.

Stille. Selbst von hier aus kann ich erkennen, wie Ronan die Schultern sinken lässt. Lucinda springt sorglos neben ihn und lehnt sich nah über die Luftblase direkt unter ihren Füßen.

„Was, wenn sie Hilfe von oben brauchen?“ Flehend sehe ich Jason an. „Verdammt, kannst du mir nicht einfach sagen, dass es am vernünftigsten ist, wenn ich da nicht runter gehe?“

Er seufzt schwer und nimmt mir die Entscheidung ab. Mit einer katzenartigen Eleganz, die ich bereits in den Gängen der Klinik gelernt habe an ihm zu bewundern, schwingt er sich an den Felsen und lässt sich mit sicheren, zügigen Bewegungen nach unten hinab.

Schaudernd schlinge ich die Arme um mich. Wenn ich allein oben bleibe, ist das gefährlicher, als wenn wir gemeinsam auf dem zugefrorenen Meer stehen, das jeden Moment aufbrechen könnte. Das sich jede Sekunde als neue Falle der Apokalypse entpuppen könnte. Ich meine sie hämisch kichern zu hören.

Fluchend gehe ich in die Hocke und schimpfe über mich selbst, als ich an den Händen baumelnd zehn Meter über der Oberfläche hänge. Mir jeden Pfund meines Körpers übermäßig bewusst, suche ich einen Punkt, der mir die Last von meinen Armen nehmen kann. Als mein Fuß eine Nische ertastet, atme ich erleichtert auf. Von da an befinde ich mich an einem rauen Duplikat einer Kletterwand. Nachgreifen, dehnen, Gewicht verlagern, strecken. Ein Ablauf, der sich unter der Wolke in jede meiner Fasern gebrannt hat.

Hinter mir höre ich einen dumpfen Aufprall, als Jason das Eis betritt.

„Was zur Hölle?“, murmelt er. Ich lande neben ihm und drehe mich, dicht an der Wand, um mich jederzeit ans sichere Land retten zu können, zu den anderen um. Die Gestalten, die sich in Zeitlupe unter meinen Füßen bewegen, treiben mir den Atem aus den Lungen. Ich schnappe nach Luft.

„Ist das ein Mensch?“ Die Antwort auf meine schwachsinnige Frage ist offensichtlich. Nein, ist es nicht. Unter mir befindet sich eine kriechende Leiche. Und ich kenne das Gesicht, ebenso wie die unter ihm, die sich Stück für Stück aufreihen. Grausige Perlen an einer unsichtbaren Kette.

„Sie sind tot, kein Grund zur Panik.“ Ronan klingt abfällig. Als ich ihn ansehe, spiegelt sich in seinen Augen meine Angst. Diese Blasen erinnern an Kühlschränke. Sie bewahren auf, was verloren und verrottet gehört.

Ich sehe ihn ungläubig an. „Dann erkläre mir bitte, wie seine Hand gerade zucken konnte.“ Ronan schweigt. Er kniet sich auf das Eis und lässt die Finger Millimeter über der matten Schicht schweben. Ein Zauberer, der seinen größten Fluch beschwört.

„Fass das bloß nicht an“, sagt Lucinda. „Vielleicht wachen sie dann auf.“ Sollten sie sich aus ihrer Starre befreien können, hat sie das Betreten der Fläche bereits aus ihrem eisigen Schlaf gezogen.

Jeder von ihnen sollte tot sein. Das wäre die gerechte Strafe gewesen.

Aber sie sind alle hier, all die Kannibalen, deren Gesichter mir vage in Erinnerung geblieben sind, stehengeblieben in der Zeit. Von den Meeresfluten an einen Ort gespült, Kilometer von ihrer verrotteten Stadt entfernt. In ihrer Gegenwart schrie ich mir die Seele aus dem Leib, während Panik mich zerfraß. In ihrer Gegenwart verzweifelte ich, während ihre zuckenden Körper über mir um Leben kämpften. Ich schmecke das verdorbene Salz des Meeres.

Es ist, als lachte mir die Apokalypse ins Gesicht. Sie sollten tot sein. In ihre Einzelteile zerlegt. Ich fühle mich betrogen, so unglaublich betrogen, als ich auf die ausdruckslosen Gesichter der Kannibalen hinabsehe. Mit jeder verdorbenen, widerlichen Seele werden sie kleiner. Puppen in einem endlosen Spiegelkabinett.

Ronan schüttelt langsam den Kopf und betastet das Eis. „Es ist fest.“ Wir stehen darauf. Würde es jetzt einbrechen, wäre das ungünstig.

„Was haltet ihr davon, wenn wir wieder hochklettern?“ Flehend sehe ich sie an, einen nach den anderen. Keiner schenkt mir Aufmerksamkeit, sind viel zu fasziniert von den grausigen Kreaturen unter unseren Füßen. Gespenstische Erscheinungen. Man sollte doch meinen, dass die Haut begonnen hat zu faulen oder die Kleidung ihnen vom Leib gespült wurde, so zerrissen wie sie ist. Aber Wunden heilten und der Stoff blieb um ihre Körper, bewegt sich sanft in einem Windzug, den ich nicht spüren kann.

„Das sind die Männer, die euch verfolgt haben“, murmelt Jason. Ja, genau die. Er dreht sich zu mir um und sieht mir fest in die Augen. „Erinnerst du dich?“ An diesen Tag?

„Fällt schwer zu vergessen, oder?“ Meine Stimme klingt rau, voller Emotionen, die ich einfach nur verleugnen und begraben will.

Er schüttelt den Kopf. „Das meine ich nicht.“ Jason konkretisiert seine Frage nicht. Die Antwort ist offensichtlich genug.

„Hat irgendwer von euch eine Ahnung, wie das sein kann?“ Lucinda blickt Ronan erwartungsvoll an.

Er zuckt die Schultern. „Keine Ahnung. Ihr?“

Jason fährt sich mit dem Handrücken über die bläuliche Nase. „Lasst uns das oben klären. Mir sind das zu viele Ohren in unmittelbarer Nähe.“ Es fühlt sich an, als würden sie uns durch den Boden hindurch belauschen. Womöglich tun sie es? Womöglich ist dieser eine Eindruck nicht meiner Paranoia geschuldet? Die bräunlichen Augen des Mannes unter mir haben sich auf uns geheftet. Scheinen uns zu durchbohren. Keine bewusstlose Person könnte einen derart intensiv taxieren.

Ich warte nicht auf Lucindas oder Ronans Zustimmung, stattdessen ziehe ich mich den ersten Meter hinauf. Immer in Richtung Leben, fort von den zitternden und zuckenden Toten. Von den Schaufensterpuppen, die sich zu meinen Füßen bewegen. Das ist zu viel. Unter diesen Umständen beschütze ich niemanden, egal wie herzerweichend Corell mich angefleht hat.

Der Stein schneidet durch den Stoff meines Handschuhs und weckt unangenehme Erinnerungen. Die an Schmerz, der sich irgendwann in ein Nichts von Taubheit verflüchtigt hat und nichts zurückließ als Leere, die mich nicht einmal bemerken ließ, dass ich bei lebendigem Leibe aufgefressen werde.

Blut sickert mein Handgelenk hinab, während meine Muskeln sich auf nur zu bekannte Art und Weise bewegen.

Als ich mich über die Kante schwinge, sind die drei noch immer dort unten und starren auf die Kannibalen, deren Zeit längst abgelaufen sein sollte. Die bleiche, von den Wolken gedämpfte Sonne ist das höhnische Auge der Apokalypse.

„Kommt ihr?“, rufe ich hinunter. Lucinda macht eine wegwerfende Geste in meine Richtung. Angespannt ziehe ich die Riemen meines Rucksacks fester und warte. Lausche in mein nächstes Umfeld aus Sorge, ein überlebenswichtiges Detail zu übersehen. Um mich herum knistert der Winter und ich dichte ihm Jäger an, Monster, Ungeheuer, mit denen ich es noch nicht aufnehmen musste.

Die Stille macht mir mehr Angst, als es die Geräusche von schlurfenden Untoten täten. Einen Blick werfe ich über meine Schulter, vergewissere mich, dass dort wirklich rein gar nichts auf mich lauert. Dann sehe ich zurück zu meinen lebensmüden Weggefährten. Wenn die Apokalypse sie sich holt, wie hoch stehen meine Chancen, zu überleben? Allein. In dieser Eiswüste.

Jason redet leise auf Lucinda und Ronan ein. Um sie zum Umkehren zu bewegen?

Von hier oben habe ich eine hervorragende Sicht auf das Geschehen. Meine Rückenmuskulatur verkrampft sich. Ein zarter Riss zieht sich über die Meerdecke.

Wenn Menschen sich auf Eis begeben, gibt es direkt unter ihrem Gewicht nach. Eine schöne Theorie, die in den meisten Fällen zutrifft. Es sei denn, die Eisplatte birgt erst weit in der Ferne ihre Tücken und durch die Vibration wurden die falschen Teilchen in Schwingung versetzt. Zitternd scheint der Riss sich näher zu kämpfen, Stück für Stück.

„Ihr solltet euch umdrehen“, rufe ich. Meine Stimme bricht.

Jason zieht eine Augenbraue nach oben und deutet auf sein Ohr. Er hat mich nicht verstanden. Mein Herz beginnt zu rasen. Hilflos deute ich in die Ferne. Seine Blicke folgen meinem Finger. Jason sagt hastig einige Worte zu Ronan und Lucinda.

Sie setzen sich in Bewegung. Erleichtert atme ich auf. Der Riss frisst sich tiefer.

Ein lautes Klirren bringt mich aus dem Gleichgewicht. Eis verwandelt sich in Glas, klingt wie berstende Scherben. Durchdringend, splitternd. Mörderisch.

Lucinda kreischt auf und rudert mit den Armen. Ronan ist ihr am nächsten, wirbelt herum, umfasst unsanft ihr Handgelenk und reißt sie zu sich. Ich höre Lucindas Knochen brechen. Sie schreit und Jason weicht an die Felswand zurück.

Mir rauscht das Blut in den Ohren. Hilflos japse ich nach Luft. Lucinda baumelt halb in einer Luftblase. Das Gebilde ist geplatzt, saß ein Stück zu dicht unter der gefrorenen Oberfläche, besaß nichts, was diesem sich zu schnell nähernden Riss etwas entgegensetzen könnte. Blut läuft über ihre Wangen. Zarte Spuren werden hindurchgewaschen. Weint sie?

Ronan versucht einen besseren Halt an Lucindas Handgelenk zu gewinnen. Ihr Körpergewicht zieht ihn langsam aber sicher selbst in das Loch.

Jason ruft den beiden irgendetwas zu, drückt sich von der Wand ab und stürmt zurück zu ihnen.

Adrenalin pumpt durch meine Adern. Ich will verschwinden. Mich dieser ausweglosen Situation entziehen. Die Beine in die Hand nehmen und nie zurückkehren. Vergessen, was geschehen ist, vergessen, was ich sehe. In den Blasen zappeln die Kannibalen.

Atemlos drücke ich mich ab und mache mich an den Abstieg. Wenn sie auf mich gehört hätten, wäre das alles kein Problem gewesen. Wären sie nie nach unten gestiegen, wäre keine dieser Blasen geplatzt. Meine Hände würden sich nicht anfühlen, als hätte ich ein Feuer darin geschürt und kein Blut würde mir von den Ellbogen in den Mantel tropfen.

„Bleib oben“, schreit Jason mich an. Auf halber Höhe verharre ich und drehe mich um. Ronan klammert sich mit aller Macht an dem scharfen Rand der Blase fest und drückt sich selbst fort von ihrem gierigen Maul, während er alles daran setzt, Lucinda nicht fallen zu lassen. Mit beiden Händen umfasst sie seinen Arm, strampelt mit den Beinen. Sie brauchen mich. Wenn ich fortlaufe und sie sterben, bin ich tot. Jeden einsamen Wanderer wird die Apokalypse zerreißen. Ich ignoriere Jasons Anweisung.

„Geh nach oben!“

„Und dann? Sehe ich euch beim Sterben zu?“

Seine Augen werden schmal.

Lucinda schreit und tritt nach irgendetwas.

„Wir brauchen dich oben“, zischt er mich an. „Du musst sie aufhalten. Das kannst du nicht, wenn du in der Schussbahn stehst.“

Wen aufhalten? Die Kannibalen? Der Riss zieht sich inzwischen klaffend durch das Eismeer, trifft auf die Blasen und sprengt sie. Das Resultat eines Erdbebens, das ich nicht verursacht habe. Unter der Oberfläche zappelt es.

An Lucinda vorbei greift eine Hand ins Freie. Eine menschliche, bleiche, leicht bläuliche Hand, die sich an Ronan festhält, als wolle sie ihn mit sich in den Tod ziehen. Man begegnet sich immer zweimal. Meine Muskulatur beginnt unkontrolliert zu zucken. Im Angesicht der Apokalypse selbst dann, wenn der Tod längst seine Finger im Spiel hat.

Ronan verspannt sich. „Jason, verdammt, wo bist du?“ Seine Stimme hallt tausendfach von der Felswand wider. Noch ein warnender Blick wird mir zugeworfen, dann hastet Jason in Richtung der Blase.

Fluchend greife ich über mich, spüre Haut reißen und das dumpfe Reiben von Stein über ungeschütztem Fleisch. Die Kälte nagt an meinem Körper, während die Panik übernimmt.

Unter mir erklingen Kampfgeräusche, Rufe, Flüche, Schreie. Ich sollte bei ihnen stehen, mit ihnen bluten. Stattdessen bin ich der skrupelloseste Feigling, der sich auf das ausgedorrte Gras hievt und es nicht wagt, sich umzudrehen.

Angstvolle Herzschläge vergehen, während das Murmeln aus Wut und Siegeswillen zu mir dringt. Dann spähe ich hinab.

Sie kriechen aus den Blasen wie Ameisen aus ihrem Bau. Der Riss öffnet die Türen für sie und aus mir unerfindlichen Gründen hat keiner der Kannibalen ein Problem damit, sich zu bewegen. Sie erwachen aus ihrem Schlaf und sind bei vollen Kräften.

Der erste schlägt nach Jason, zielt auf seinen Bauch. Dorthin, wo Cathrin sich versteckt. Jason dreht ihm den Rücken zu, nimmt einen Schlag auf die Wirbelsäule hin, der ihm die Beine unter dem Körper wegzieht.

Zittrig sehe ich auf die Männer. Was soll ich tun? Das Eis unter ihnen in die Luft sprengen? Es würde nicht nur die Kannibalen in den Tod reißen.

Mit einem Ruck schafft Ronan es, Lucinda zurück auf die Eisschicht zu befördern. Schliddernd rutscht sie von dem klaffenden Loch fort, ihr Atem pufft unregelmäßig in die Höhe.

Ein Schauer läuft mir über den Rücken, beißt in meine Haut. Mindestens zehn todgeküsste Gestalten sind es, die auf die drei zulaufen. Sie wären chancenlos unterlegen, sollten die Kannibalen sie erreichen.

Das Eis vibriert leicht in meinen Sinnen. Ich spüre jedes Detail, jede noch so kleine Struktur. Die Teilchen drücken sich in mein Bewusstsein und scheinen darum zu flehen, dass ich sie von ihren Fesseln befreie.

Damit würde ich ihrer aller Leben aufs Spiel setzen. Corells Bitte klingt nach. Pass auf sie auf.

Ich versuche abzuwägen, welchen Tod Corell für seine Freundin gewählt hätte. Soll sie erfrieren oder gefressen werden? Die Antwort ist ernüchternd einfach.

Meine Hände zittern, als ich die Finger auf den Stein presse und das Brüllen ausblende. Eine verräterische Ruhe schärft meine Sinne. Die Schwingungen der Teilchen passen sich meinem Willen an, werden stärker und brechen frei aus den kristallartigen Strukturen, die das Eis zusammenschweißen.

Nebel steigt auf. Mörderisch gefroren. Er nimmt die Sicht.

Angespannt warte ich, hoffe darauf, dass sie die Felswand erklimmen und sich jeden Moment zu mir schwingen. Das Einzige, das ich höre, ist mein rasendes Herz. Die Hände werden mir taub vor Schmerz und Kälte. Der Nacken beginnt überwältigend zu kribbeln.

Erste Sonnenstrahlen drängen sich durch den Nebel, scheinen ihn anzuheben. Dampf, der an Fäden ins Licht geht.

Die Molekülbewegung verstärkt sich, geht tiefer, schlägt sich frei von jedem Zwang und jeder Angst.

Das Krachen des brechenden Eises ist unüberhörbar. Zischendes Werfen von Wellen folgt, die ihren kalten Mantel abstreifen und mit alter Macht gegen die Felsen trommeln wollen.

Sie sind alles, was ich hören kann. Jedes Kampfgeräusch wurde vom Nebel im Keim erstickt. Sollte jemand um meine Hilfe schreien, das Wasser würde es unmöglich machen, denjenigen zu hören.

Hilflosigkeit frisst mich auf. Meine Muskulatur zuckt. Ich hocke in Sicherheit, starre in ein weißes Treiben aus Nebel, unter dem ich das Meer erwachen höre. Bin geblendet von der Sonne und dem betäubenden Krachen.

Steige ich noch einmal hinab, rette ich niemanden. Mein Leben wäre ein Tribut, den niemand mehr zu würdigen wüsste.

Der Fels unter mir erzittert, als die erste Welle gegen ihn donnert.

3

Man sagt, wenn man erfriert, verschwindet die Kälte. Man sagt, einem würde mollig warm und die Illusion entstände, der Kampf wäre gewonnen worden – während man in der Schlacht längst geschlagen wurde. Heißes Blut pumpt durch den Körper, während es eigentlich gefriert.

Eine Lüge, bittersüß wie diese, dass einem während des Ertrinkens der Kopf leichter wird, man sich vom Körper zu lösen scheint und jedes schreckliche Flehen der Lungen vergisst.

Beide Schilderungen schaffen Ideen, die niemand fürchten muss.

Die Wolke hat mich eines Besseren belehrt. Wenn man erfriert, dann gibt es keine Hitze, nirgendswo. Man spürt, wie sie aus einem herausgesogen wird. Eine Leere, ja, überall, eine erschreckende, mich verzehrende Leere. Aber kein warmes Bett, das einem die Angst nehmen könnte. Der Körper kämpft bis über sein Ende hinaus in der verzweifelten Hoffnung, den Kampf für sich entscheiden zu können. Wie ein Soldat, dem man in den Kopf schoss und dessen Arme und Beine aus der Panik heraus noch funktionieren. Jeder, der ihn sieht, weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat, aber er bewegt sich wie jemand, der all seine Kraft wiedergefunden hat, bis sie auf den letzten Tropfen ausgeschöpft ist.

Wenn man ertrinkt, gibt es keine Gnade. Ich kann die Hölle dieses Todes nicht in Worte fassen. Der Kopf wird nicht leichter. Der Verstand verabschiedet sich lediglich, während man reflexartig Wasser inhaliert, um an ihm zu ersticken. Tausend Tode stirbt in der Hoffnung, in einem Schwall ein Quäntchen Atemluft zu finden.

Ich weiß nicht, welcher Schrecken sie heimsucht. Ertrinken sie oder erfrieren sie? Zuckend ziehe ich die Knie an die Brust. Das Gackern der Apokalypse liegt in jedem Wehen des Windes. Wären wir nur weitergelaufen, hätten sie nur gehört.

Die Sonne malt Muster in den Nebel, so traumhaft schön, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass unter seinen Fittichen ein Massengrab ausgehoben wird. Ich habe es geöffnet.

Warum ich es nicht schließe? Keine Ahnung. Die Kannibalen werden von den Fluten verschlungen sein. Meine Weggefährten auch. Es wäre an der Zeit, das Meer wieder zum Schweigen zu bringen. Ich kann es nicht. Ich bin wie gelähmt.

Meine Gedanken rasen, drehen sich, verschwinden in Panik und sinnloser Sorge. Gerade jetzt bräuchte ich jemanden, der einen Arm um mich legt und mir verspricht, dass alles gut wird. Mir versichert, dass ich das kann. Dass die Apokalypse mir nicht die letzten Illusionen genommen hat. Aber ich bin allein und meine Fähigkeiten gehorchen meinem aufgewühlten Verstand nicht.

Ein hilfloses Schluchzen entflieht meinen Lippen, als ich ratlos versuche, die wild strampelnden Moleküle zu umfassen und zur Ruhe zu zwingen. Sie schütteln mich ab, distanzieren sich, gleiten mir durch die Finger wie feinkörniger Sand.

Ob der Vogel irgendwie entkommen ist? Hat er sich vielleicht in eine Felsspalte geflüchtet? Ich kann nicht mit einem einzigen Fehler, mit meiner verfluchten Feigheit, jedes Versprechen an mich selbst, das ich mir seit der Wolke gemacht habe, gebrochen haben. Das ist nicht möglich.

Wieder bebt der Fels unter mir, als die nächste Welle brandet. Tränen laufen kalt über meine Wangen und gefrieren an Ort und Stelle.

Ich fühle mich, als hätte ich sie dorthin gelockt, dabei war ich es doch, die sie zur Umkehr bewegen wollte. Das hier ist nicht meine Schuld. Ich muss die Kontrolle über das wogende Chaos zurückerlangen. Es leckt die Felswände hinauf.

„Das ist die mieseste Überraschung, die man mir je gemacht hat.“

Meine Schultern verspannen sich. Adrenalin wird aufgepeitscht. Automatisch greife ich nach den Molekülen hinter mir und versuche, sie zerspringen zu lassen. Der Grund beginnt zu beben.

„Caressa, ich schwöre dir, beweg diese gottverdammte Küste und ich schreie.“

Der Wahnsinn kommt langsam. Unter der Wolke hat er noch jeden ereilt. Wenn ich neben dem Tod stehe, ist das doch der perfekte Zeitpunkt dafür, die Geister der Ermordeten sprechen zu hören.

„Kommst du, um mich dafür zu bestrafen, dass ich nicht nur dich auf dem Gewissen habe, sondern jetzt auch noch deinen Bruder?“ Ich sinke auf die Fersen. Die Teilchenbewegung kämpft gegen mich. Nicht stark genug. Meine plötzliche Resignation überwältigt sie.

Ein einziges lautes, ohrenbetäubendes Krachen, das die Steine vor meinen Augen in die Tiefe fallen lässt, beweist, dass es lediglich einen Geist braucht, um einen Teil meiner Beherrschung zurück zu mir zu spielen.

Eine Erinnerung, die zu sehr mit Schuldgefühlen belegt ist, als dass ich sie begreifen könnte. Wochen der Verdrängung und der Wut, damit dieser Moment endlich verschwimmt und in meiner angreifbarsten Sekunde steht sie hinter mir und lacht mir ins Gesicht.

„Wer ist tot?“

Ich drehe mich zu ihr um. Spencer ist nicht grau, wie Corells Vater, sie sieht aus wie eh und je. Ihre Haare sind wirrer, die Lippen nicht mehr so weich und die Augen haben etwas von ihrer willensstarken Leuchtkraft verloren. Wüsste ich es nicht besser, würde ich behaupten, dass dieses Mädchen ebenso lebendig ist wie ich. Hätte ich sie nicht begraben. Ronan hat Tonnen von Tränen um sie vergossen.

„Dein Bruder. Ich habe ihn genauso umgebracht wie dich. Eigentlich müssten die Ärzte der Klinik mich doch lieben.“

Sie setzt sich ein Stück hinter mich. Ihr Blick huscht über die bröckelnde Kante der Klippe.

„Ist er da unten?“ Spencer lehnt sich nach vorn, als könnte sie Schemen durch den dichten Nebel erkennen. Meine Antwort ist ein beinahe apathisches Schulterzucken. Was soll ich auch sonst tun? Mich bei dem Mädchen ausheulen, das meinetwegen viel zu früh gestorben ist? Ich bereue, was mit ihr geschehen ist. Mehr als alles andere. Sie war ein Symbol meiner Feigheit. Sie ist es noch immer.

„Caressa, ist Ronan unter dieser Nebeldecke?“

„Vermutlich nicht nur unter der“, antworte ich monoton.

Sie sieht mich aus großen Augen an. „Das ist nicht dein Ernst.“

Ich atme rasselnd ein. Die Luft gefriert mir in den Lungen.

„Sie meinten, ich soll meine Fähigkeiten verwenden. Entweder sie wären den Kannibalen zum Opfer gefallen oder erfroren.“ Mit einem Erfrierungstod gehen nicht so viele Entbehrungen einher. Immerhin bleibt man in einem Stück. Am liebsten würde ich den Kopf irgendwo gegenschlagen. So unsagbar dumm. Es muss einen anderen Weg gegeben haben.

Warum habe ich auf Jason gehört? Unten bei ihnen hätte ich tatsächlich etwas bewegen können. Am Ort des Geschehens hätte ich meine Gabe ganz bewusst gegen die einzelnen Kannibalen einsetzen können. Sie wären in der Luft zersprungen, hätten sich aufgelöst, wären in ihre Bestandteile zerplatzt. Ihr blutiger Tod hätte niemanden gekümmert.

Nachdem ich den Nebel habe entstehen lassen, wusste ich nicht einmal mehr, wer dort unten Freund und Feind ist. Wem hätte ich helfen sollen? Wen zersprengen?

„Wow.“ Spencers Geist schnappt ungläubig nach Luft. „Das glaube ich einfach nicht.“

Ich wische mir mit der Hand über das Gesicht. Der stechende Gestank von Blut steigt mir in die Nase. „Denkst du, ich wollte das? Ich habe ihnen gesagt, dass es gefährlich ist. Ich sagte ihnen, sie sollen zurückkommen, aber keiner von ihnen wollte hören!“

„Und jetzt? Warum bist du dir sicher, dass sie alle tot sind?“ Der Wind spielt mit Spencers Locken.

Ich lache humorlos auf. „Müsstest du das nicht spüren? So als Geist, müsstest du nicht wissen, wann andere tot sind?“

Einige Sekunden lang sieht sie mich nur an, dann rollt Spencer die Augen. „Oh, jetzt verstehe ich endlich, warum ich unter der Erde aufgewacht bin und mich irgendwie aus dem Loch graben musste. Ihr dachtet, ihr hättet mich erledigt!“ Ja. Natürlich! Ihr Herz hat nicht mehr geschlagen. Spencer war still. Gestorben still.

„Sagt mal, habt ihr beiden den Verstand verloren? Ich dachte, ich verrecke da unten.“

Ich beginne zu glauben, dass ich heute Früh nicht aufgewacht bin, noch immer neben dem Lagerfeuer liege und mich in diesem Moment unruhig auf die andere Seite wälze. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was für ein Schreck es war, die Augen öffnen zu wollen, und da ist nichts als Tonnen von Erde über dir?“ Meine Gedanken stocken. Mich würde interessieren, wie sie da rausgekommen ist. Hat sie die Sandkörner angeschrien, bis sie zur Seite gewichen sind? Unwahrscheinlich in Anbetracht dessen, dass sie schon fast erstickt gewesen sein dürfte. Das Gewicht der Erde hätte ihren Oberkörper zerquetschen müssen.

„Aber, nein, man muss sich ja nicht vergewissern, dass jemand noch lebt. Ihr hättet mir auch einfach in den Arm schneiden können. Wenn das Blut geflossen wäre, hätte das sehr dafür gesprochen, dass ich noch am Leben bin.“ Ungläubig sehe ich Spencer an. Der Wind hebt eine weitere von Spencers Locken an und spielt mit ihr. Ich war fertig mit den Nerven und der Welt, Ronan hatte seine nicht atmende und stille Schwester an sich gepresst. Das ist keine Situation, in der man ein Messer zückt. Um jemanden die Haut aufzureißen. Spencer reibt die Finger aneinander.

„Kannst du auch mal was sagen oder hat deine gnadenlose Blödheit jetzt auch auf die Stimmbänder übergegriffen? Was meintest du damit, dass er nicht nur unter dem Nebel begraben liegt?“

Dieses Gespräch ist surreal. Es kann nicht wirklich sein. Spencer ist tot. Ihr Körper bewegungslos, kein Atemzug verließ ihre Lippen. Ronan hat sie stundenlang in den Armen gehalten und ich sie in gut zwei Metern Tiefe vergraben.

Kannibalen, die ich habe sterben sehen, deren Haut aufgerissen wurde von den Fingernägeln der Verbündeten, können nicht unversehrt in gigantischen Blasen treiben, die ohne Sinn und Verstand zerplatzen wie überdimensionale Furunkel.

„Kneifst du mich, damit ich aufwache?“, bitte ich Spencer leise.

Sie schnaubt abfällig und zieht einmal heftig an meinem Ohr. Ich schreie auf. Ein stechender Schmerz schießt durch meinen Kopf, krallt sich in meinen Schädel, nur um mit gebündelter Kraft zurück zu meiner Ohrmuschel zu rasen. Fluchend presse ich die Hand auf das Pochen. Stammt das Blut von einer frischen Wunde oder meinen Fingern?

„So, guten Morgen, Schätzchen!“ Übertrieben blinkert sie mit den Wimpern. „Was hast du mit Ronan angestellt?“

Ich schließe die Augen und öffne sie wieder. Kein erloschenes Lagerfeuer. Ich stecke nicht in meinem Schlafsack und vor mir löst sich noch immer quälend langsam der Nebel auf, während ich kein Lebenszeichen unter meinen Füßen spüre. Spencer hockt wenige Zentimeter hinter mir, den Kopf schief gelegt und die Hände zwischen den Knien baumelnd.

Kein Traum. Bittere Realität. Ich spähe hinab in der Hoffnung irgendwo blaues Gefieder ausmachen zu können. Soweit ich weiß, konnte sie kaum fliegen. Etwas Flattern, ja, und Jason hat sich mit seinen begrenzten Möglichkeiten ins Zeug gelegt, ihr alles Lebensnotwendige für einen Vogel beizubringen, aber mehr als zwei Meter ist sie doch nicht vorangekommen.

Zwei Meter reichen nicht, um mörderischen Wellen zu entkommen.

„Ich habe das Eis aufgerissen“, murmle ich. „Ich hatte gehofft, dass sie bereits an der Klippe sind und nach oben klettern. Aber offensichtlich war das nicht der Fall.“ Ich wage es nicht, mich erneut zu Spencer umzudrehen. Die kalte Luft lässt mich schaudern und dieser elende Blick in die ungewisse Tiefe.

„Okay.“ Stirnrunzelnd sehe ich in die Ferne. Das ist alles, was sie zu sagen hat? „Ich bin dafür, dass wir so schnell wie möglich von hier verschwinden. Du wirst mir das mit den Kannibalen erklären und was mit Ronan passiert ist. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es bis in mein Haus.“ Schief sehe ich sie an. Das ist Tage von hier entfernt. Sollte sie nicht wütend auf mich sein, weniger pragmatisch?

Spencer ignoriert meinen verlorenen Blick und steht auf. Sie ist noch immer da, hat die Fassung nicht verloren. Kein Gespenst. Fast wünschte ich, sie wäre eines. Damit irgendetwas einen Sinn ergibt.

„Hör auf, mich so anzusehen, und komm. Wenn Ronan dich nach oben geschickt hat, wird das einen Grund gehabt haben.“ Ich rühre mich nicht, suche noch immer dieses malerische Wintergrab nach einem Lebenszeichen ab. Wenn ich unten geblieben wäre, wäre alles anders gekommen.

Wusste Jason, dass wir ohnehin keine Chance gegen diese Menschen hatten? Er fragte mich, ob ich mich an sie erinnere. An welche wie sie. Was wurde aus ihnen gemacht? Mehr als Kannibalen, mehr als Killer? Wann, wie? Wenn Jason klar war, was passiert, warum verdammt noch mal ist er mir nicht gefolgt?

Corell wird mich hassen. Weiß er bereits, dass meine Unzulänglichkeit Lucindas Leben gekostet hat? Das nächste Versprechen gebrochen. Ich sollte aufhören, welche zu machen. Unter der Wolke ist kein Platz für Loyalität.

„Solltest du mich nicht umbringen wollen?“, frage ich rau.

Spencer zuckt abwertend die Schultern. „Vermutlich. Aber ich vertraue meinem Bruder. Nebenbei, lieber habe ich meine verkorkste, alte beste Freundin bei mir, als hin und wieder einen Untoten. Sieh es als Chance an, deinen Fehler wieder gut zu machen.“ Das wird mir kaum gelingen.

Als ich mich noch immer nicht rühre, greift sie nach meiner Hand und versucht, mich auf die Füße zu ziehen. Widerwillig gehorche ich Spencer. Meine Beine funktionieren nicht richtig. Sie sind betäubt, hohl. Irgendwie tragen sie mein Gewicht, aber allein bei dem Gedanken, einen Schritt machen zu müssen, sehe ich mich fallen. Spencer zieht mich mit sich, ich stolpere, versuche rudernd das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Es ist eine automatisierte Bewegung, ganz natürlich. In meinem Kopf ist es nicht einmal richtig angekommen, dass ich drauf und dran war zu fallen.

Stöhnend lässt Spencer mich los. Wankend komme ich zum Stehen und drehe mich um. Wenn der Nebel sich lichtet, werde ich sie dann eingeschlossen im Eis vorfinden, für immer erstarrt in dem verzweifelten Versuch, sich frei zu machen? Sind sie ertrunken oder hat die Kälte genügt, um ihre Herzen zum Stillstand zu bringen?

Ronan hatte mit Sicherheit den längeren, schmerzhafteren Weg vor sich. Seine Fähigkeiten werden in einem aussichtslosen Kampf gegen die Apokalypse arbeiten und ihr schlussendlich unterliegen. Das hat er nicht verdient.

„Himmel, Mädchen, du stehst ja unter Schock.“ Spencer nimmt meine Hände in ihre. Dass sie unkontrolliert zittern, bemerke ich erst, als Spencer sie zur Ruhe zwingt.

„Ich habe sie umgebracht“, wispere ich. „Ich habe sie genauso getötet wie dich. Oder wie dieses Mädchen in den ersten Monaten nach der Wolke. Sie sind alle meinetwegen tot.“

Sie seufzt schwer. „Ich lebe, oder? Mich hast du nicht umbringen können. Versuch runterzukommen und dann sehen wir weiter.“

Der Vogel hat so viel durchgemacht und Jason hat ihn so geliebt. Nicht einmal er ist hier.

Jason hat mir zugerufen umzukehren. Er hätte mir einfach folgen sollen. Dann hätte ich nur zwei Leben auf dem Gewissen gehabt, nicht vier.

Ob er versucht hat, sich zu befreien, als die Wellen kamen? Ist er noch gegen sie angeschwommen? Hat sich einer der Kannibalen an ihm festgeklammert?

Meine Sicht verschwimmt. Sauerstoffmangel, Tränen? Der stechende Schmerz sitzt tiefer, als ich ihn begreifen kann.

„Caressa, mach mir keine Angst und steh jetzt auf. Alles wird wieder gut.“ Mir ist so schlecht. Und es ist eisig kalt. Mit spitzen Fingern stehlen sich die Temperaturen durch meinen Mantel und stechen zu, peinigen mich. Nicht, dass ich es anders verdient hätte. Es wäre nur gerecht, bliebe ich hier liegen, bis das Eis mich holt.

Spencer flucht lautstark. „Mein verdammter Bruder hat dir nicht den Hals gerettet, damit du jetzt ins Gras beißt. Komm mit, verdammt noch mal. Wo ist dein Überlebenswille hin?“

Ich sollte mit ihnen begraben sein, dort unten. Bei Jason. Das ist wohl der größte Verrat: Wenn man feige flieht. Einfach so.

Einfach so.

„Gut, das reicht jetzt. Entweder du läufst oder ich zerre dich hinter mir her.“

Weiß Corell, dass Lucinda tot ist? Wenn ja, dann wird er mit Tränen in den Augen bei seinem Vater sitzen, schreien, brüllen, und den letzten Rest seines Verstandes verlieren.

Ich habe kaum mit ihm gesprochen, nachdem er sie zurückbekommen hat, aber er wirkte stabiler. Manche seiner Sätze haben fast Sinn ergeben. Meilen lagen zwischen ihm und dem Jungen, der grinsend in dem Führerhäuschen der Lokomotive stand und die Mütze gelüftet hat.

„Okay, du hast es nicht anders gewollt.“ Spencer schlingt einen Arm um meine Hüfte, zieht mich an sich und beginnt ohne Umschweife, vorwärts zu gehen. Ich versuche, meine Beine im richtigen Rhythmus zu bewegen, aber die Abfolge ist mir entfallen. Was tue ich zuerst? Hebe ich das Bein, trete ich auf, schiebe ich es nach vorn oder strecke es nach hinten?

Taumelnd und strauchelnd hänge ich an ihrer Seite. Hin und wieder tragen sie für einen kurzen Moment mein Gewicht, dann ist Spencer bereits einen Schritt weiter und mein mühsam wiedererlangtes Gleichgewicht verschwindet im Nichts.

Ich sehe hinter mich, die ganze Zeit, beobachte, wie der Abgrund vor meinen Augen kleiner wird. Die Sonne bescheint den Nebel. Ein schönes Grab, ein gigantisches. In welcher Bewegung sind die Wellen dieses Mal eingefroren? Kann man in ihnen den Tod schwimmen sehen?

Was wenn einer von ihnen noch lebt? Wenn sie alle noch leben und ich blind fliehe? An Spencers Seite.

„Schau wenigstens nach vorn“, schnauft Spencer. „Er klettert nicht wie durch ein Wunder hier hoch, dann hätte er es schon längst getan.“ Sie. Alle drei.

„Vielleicht kommt der Vogel noch“, krächze ich. Ein unerklärlicher Druck auf meinen Stimmbändern macht es mir kaum möglich zu sprechen.

„Welcher? Deiner? Keine Angst, der ist schon ganz fest in deinem Kopf drin.“

„Nein“, bringe ich hervor. „Cathrin. Sie war Jasons Vogel.“

Stirnrunzelnd sieht sie mich an. „Wie kommst du auf Jason?“ Mein Fuß schlägt gegen einen Stein. Sie zerrt mich rücksichtslos darüber. Das Mädchen hat deutlich mehr Kraft, als ich ihr zugetraut hätte.

„Hallo, Erde an Caressa!“ Sie bleibt stehen und wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum. „Hörst du mich oder muss ich mir erst einen Termin besorgen?“

Krampfhaft versuche ich, die Gedanken zu sammeln. „Wir waren zu viert unterwegs. Zu fünft.“ Ich darf Jasons Vogel nicht vergessen. Er hat ihn so gern gehabt. Lieber hungerte er, als seinen neuen, besten Freund leiden zu sehen. Niemand durfte ihm so nah kommen wie das kleine Tier. Niemandem hat er ähnlich vertraut. „Lucinda, Ronan, Jason, Cathrin und ich.“