Fünf Tage in Karlsbad - George Tenner - E-Book

Fünf Tage in Karlsbad E-Book

George Tenner

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Beschreibung

KHK Lasse Larsson trägt sich mit dem Gedanken, den Polizeidienst aus Gesundheitsgründen zu verlassen. Er erhält er ein Angebot vom Bundes- kriminalamt, einen in Tschechien spurlos verschwundenen Beamten des Bayrischen Landeskriminalamtes zu suchen. In einer Nachtbar in Ulm beginnt er seine Ermittlung. Zwei Tage später weiß er, dass der Kollege in eine Honigfalle geraten-, und der Frau in ihre Heimatstadt Karlovy Vary nachgereist ist. Es gelingt ihm, einen grausamen Mord in allen Einzel- heiten aufzuklären. Doch dann bittet ihn Schorn, bei der Lösung seines Falles behilflich zu sein, der aus dem Ruder gelaufen scheint. Fünf Tage, die ihn in Karlsbad bis an den Rand des Todes führen, beginnen für Larsson. Die Heimreise gestaltet sich ganz anders, als er sich das jemals hätte vorstellen können.

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George Tenner

Fünf Tage in Karlsbad

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

1. Kapitel

Mai 2009

Lasse Larsson erwachte, als seine Familie noch schlief. Das stellte die Regel im Haus Larsson dar, denn er galt als ein Morgenmensch, während man seine Frau, wie alle seine bisherigen weiblichen Verbindungen, eher als Nachteule bezeichnen konnte. Leise stieg er aus dem Bett. Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, stellte er die Kaffeemaschine in der Küche an und machte sich einen doppelten Espresso, dem er reichlich Zucker zufügte und ihn dann mit in sein Arbeitszimmer nahm. Er schaute kurz aus dem Fenster. Der Morgen kroch schon über die Insel, ließ einen freundlichen Tag ahnen. Er schaltete den Computer an. Während der Rechner hochfuhr, nahm er genussvoll einige Schlucke des Espressos, die ihm angenehm durch die Kehle liefen. Dieses Zeremoniell liebte er, so wie er die Stille um sich herum liebte. Nicht umsonst hatte ihm seine Frau einmal gesagt, dass er wie ein Single in einer Familie lebe. Als er sein Password eingegeben hatte, zeigte der Anbieter mehrere Eingänge in seinem Postfach an. Einer interessierte ihn besonders. Er öffnete ihn.

Hallo Herr Larsson, guten Tag. Ich bin für einige Tage auf Usedom. Würde Sie gern treffen. Ginge es heute im Laufe des Tages bei Ihnen? Gerne erwarte ich Ihre Antwort. Mit besten Grüßen, Niclas Schorn

Schorn, dachte Larsson, Niclas Schorn. Das ist der Kollege, der in der Abteilung 22 des Staatsschutzes, zuständig für Ermittlungen, Fahndung, Gefahrenabwehr beim BKA, in Berlin tätig ist. Er fiel ihm unangenehm auf, als er ihm bei einem sehr wichtigen Einsatz mit wenigen Sätzen bekannt gab, dass die gemeinsame Operation beendet sei. Ihn hatte die Art geärgert, nicht dass, sondern wie dieser Kontakt seinerzeit zu Ende ging. Was wollte Schorn von ihm? Zum Vergnügen würde er sich kaum mit ihm treffen. Er war sich im Klaren darüber, dass es etwas mit seinem Wunsch zu tun haben musste, aus dem Polizeidienst auszuscheiden, den der Polizeioberrat Mälzer in der Polizeiinspektion Anklam vorgetragen hatte. Der Chef hatte ihn aber aufgrund seines Gesundheitszustandes erst einmal unbefristet beurlaubt. Larsson lächelte. Ich bin gespannt, was dieser Schorn von mir will, dachte er. Dass er etwas will, stand für ihn fest, denn wenn er privat auf die Insel kommen würde, hätte er keine Veranlassung, ihn zu treffen. Er stellte die Nummer seines Handys vorweg und setzte einen Satz dazu: Rufen Sie einfach an, Larsson.

Monika war leise hinter ihn getreten. Er hatte sie nicht gehört, aber gespürt. Ohne sich umzudrehen fragte er: »Warum schläfst du nicht, Liebes? War ich zu laut beim Aufstehen?«

»Ich habe gemerkt, dass du nicht neben mir liegst, Lasse. Kann ich irgendetwas für dich tun?«

Er dreht sich um. »Du weißt, dass ich nicht mehr schlafen kann. Sorge dich nicht. Geh zu Elina zurück.«

»Sie schläft noch. Doch es wird nicht mehr lange dauern, da ist es mit der Ruhe vorbei.« Monika zog sich einen Stuhl heran. »Ich könnte uns ein kleines Frühstück machen. Was hältst du davon?«

»Rührei?«

»Schinken oder Lachs?«

»Beides.«

»Genießer.«

Monika Larsson stand auf. Sie lächelte ihrem Mann noch einmal zu, und ging zur Küche.

Gerade als er den Computer herunterfahren wollte, lief mit einem Ping-Ton eine neue Mail in seinen Postkasten.

Es war die Antwort von Niclas Schorn. 9:00 Uhr Hotel Zur Post Bansin. Wäre das möglich?

Larsson schaute zur Uhr. 05:12. Schorn … Der frühe Vogel fängt den Wurm, dachte er. Doch er konnte sich ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen.

*

Kurz vor neun stellte Larsson seinen Wagen auf dem geschlossenen Parkplatz des Hans-Werner-Richter-Hauses in Bansin ab. Er ging die wenigen Meter zum Kaiser-Spa-Hotel Zur Post, das an der Ecke zur Seestraße liegt. In der Eingangshalle schaute er sich um. Von Schorn war nichts zu sehen. Als er zur Empfangsdame am Tresen schaute, nickte diese ihm freundlich zu. Er empfand das als Aufforderung, ging zu ihr.

»Herr Larsson?«

»Ja.«

»Sie werden schon erwartet. Wollen Sie für eine Minute Platz nehmen?« Sie deutete zu der mittig aufgestellten Sitzgruppe hin. »Ich rufe eben hoch. Herr Schorn kommt sofort.«

Larsson ging zur Sitzgruppe und beobachtete aus dem Augenwinkel seine Umgebung. Die Frau am Tresen schaute sie lächelnd zu ihm herüber. Dann drehte sie sich einem ankommenden Gast zu, um ihn einzu-checken.

Die Tür des Fahrstuhls ging auf. Der hagere, relativ jung aussehende Mann kam direkt auf Larsson zu. Larsson taxierte ihn auf Mitte 40. Tatsächlich hatte er die 50 bereits überschritten.

»Guten Morgen, Herr Larsson. Schön, dass Sie kommen konnten. Gehen wir frühstücken?«

»Ich kann Ihnen gern Gesellschaft leisten«, sagte Larsson. »Doch ich komme gerade vom Frühstückstisch.«

»Umso besser. Verlieren wir keine Zeit. Gehen wir auf mein Zimmer, da sind wir ungestört.«

Larsson wusste, was Schorn damit meinte. Ungestört hieß nichts anderes als unsichtbar für irgendwelche, wie auch immer geartetes Aufeinandertreffen mit Personen zu sein, die ihn kannten. Derartige Zufälle können an einem Ferienort an der Ostsee, vor allem in einem der bekannten Kaiserbäder, immer passieren.

Das Zimmer lag mit dem Ausblick auf den großzügig gestalteten Garten und die umstehenden großen Villen, die alle zum Hotelkomplex gehörten. Es war größer als die normalen Zimmer, die Larsson aus einer Übernachtung schon kannte. Es verfügte über einen ovalen Tisch, an dem sechs Stühle standen. Auf dem Tisch standen zwei Thermoskannen, davor ein Tablett mit einer Schale Obst, einem Kännchen Sahne und einer Zuckerdose. Das angrenzende Zimmer war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Schlafzimmer.

»Bei mir hat sich einiges verändert«, begann Schorn, nachdem sie sich gesetzt hatten. »Ich bin von der Ihnen bekannten Abteilung ST 22 zur OE 43 gewechselt. Und in dieser Eigenschaft bin ich hier, um mit Ihnen abzuklären, was Sie in der nächsten Zeit zu arbeiten gedenken.«

Larsson lachte auf. »Hat sich denn nicht rumgesprochen, dass ich bei der Polizei aufhören will?«

»Hat es. Das sollen Sie auch.«

»Was interessiert es Sie dann, was ich im Anschluss an meinen Polizeidienst zu tun gedenke. Vielleicht privatisiere ich ja.«

»Dazu sind Sie nicht der Mann, Herr Larsson. Reden wir nicht um den heißen Brei. Ich bin hier, weil ich Ihnen ein Angebot unterbreiten möchte, das für Sie bestimmt von Interesse sein könnte.« Schorn deutete auf die Kannen. »Kaffee oder grünen Tee? Was darf ich Ihnen offerieren?«

»Nichts, danke. «

»Referat OE 43 Verdeckte Ermittlungen - Einsatz Verdeckter Ermittler. OE«, wiederholte Schorn langsam. »Das steht für Operativen Einsatz.«

»Dafür hat die Polizei doch SKs, und an verdeckten Ermittlern wird es Ihnen nicht fehlen.«

»Was das Inland betrifft. Doch wir stehen vor einer besonderen Aufgabe, die einen abstrakten Einsatz erfordert. «

»Abstrakt?« Larsson macht ein bedenkliches Gesicht.

»Ganz außerhalb der Norm.«

»Also ungesetzlich.«

»So würde ich das nicht sehen. Ich brauche dafür nur einen Mann Ihrer Qualität als Ermittler, einen Einzelgänger.«

»Sie wollen mir sagen, dass Sie nicht über einen solchen Mann verfügen, Herr Schorn?«

»Nein, das sage ich damit nicht.«

»Sondern?«

»Ich brauche einen Mann, der nicht polizeigebunden ist. Und wenn Sie den Dienst quittieren, sind Sie ein solcher Mann.«

Larsson stand auf. »Ich sollte besser gehen.«

»Warten Sie doch, bis ich meine Ausführungen beendet habe. Ich bin sicher, dass sich das Warten für Sie lohnen wird. Wir werden alle profitieren, Sie, das BKA und damit die ganze Republik.«

Schorn zeigte wieder auf die Kannen. »Kaffee oder Tee?«

»Kaffee«, beschied Larsson kurz und setzte sich wieder.

Schorn goss erst Kaffee in eine der Tassen, die er Larsson zuschob, dann bediente er sich selbst aus der zweiten Kanne, die den Grünen Tee beinhaltete. Er nahm die Mappe, die rechts neben ihm lag und entnahm ihr einen Personalbogen mit dem Bild eines Mannes im mittleren Alter.

»Uns ist dieser Mitarbeiter abhandengekommen.« Er reichte Larsson den Personalbogen.

»Abhandengekommen?« Larsson schaute auf das Bild. »Ein Mitarbeiter von Ihnen, nehme an.«

»Verdeckter Ermittler OK beim LKA Bayern.«

»Warum ermitteln die Kollegen nicht selbst?«

»Das Dossier ist vom LKA München, aber das BKA hat das Problem komplett übernommen.«

»Weil …?«

»… es länderübergreifend ist«, sagte Schorn.

Er sah Larssons fragendes Gesicht.

»Der Kriminaloberkommissar Ronald Bachmeier ist mit einem Mietwagen nach Tschechien gefahren. Dort ist er aus einem Karlsbader Hotel verschwunden.«

Larsson stieß hörbar die Luft aus.

»Die Frage ist doch, was hat er in Tschechien gewollt«, sagte Larsson.

»Seiner Familie gegenüber hat er vorgegeben, eine Fortbildung zu machen.«

»Seine Dienststelle, wusste man dort nicht Bescheid?«

»Er hatte sich krankgemeldet.«

»Ich nehme an, dass sich die Kollegen an seinem Einsatzort umgesehen haben.«

Schorn nickte.

»Was würden Sie denn vom mir erwarten, wenn ich mir das einmal anschaute«, sagte Larsson.

»Uns nützt das nur etwas, wenn Sie tatsächlich aus dem Polizeidienst ausscheiden.«

Larsson ging nicht darauf ein. »Spekulieren wir einmal ich würde mich tatsächlich an einer Ermittlung des jetzigen Aufenthaltsortes des verschwundenen LKA-Mitarbeiters beteiligen … «

»Nicht beteiligen, Sie müssten völlig autark operieren. Fliegen Sie auf, sind Sie allein auf sich gestellt. Wir müssten leugnen, Sie zu kennen.«

»Verstehe«, sagte Larsson. »Ich glaube, das reizt mich nicht sonderlich.«

Einen Augenblick wanderte sein Blick zum Fenster. Er würde jetzt lieber hinausgeschaut haben. Doch von seiner Sitzposition hatte er einen ungünstigen Blickwinkel.

»Ich bin überzeugt, Sie haben sich schon Gedanken über den Gesamtablauf gemacht«, sagte er.

»Natürlich. Sie würden aus Gesundheitsgründen rückwirkend zum letzten Monat in den vorgezogenen Ruhestand versetzt werden. Weil Sie aber nicht untätig sein wollen, melden Sie ein Gewerbe als Privatdetektiv an. Sozusagen im Nebenerwerb. Das brauchen Sie schon, um Ihrer Familie zu erklären, warum Sie über längere Zeit unterwegs sein müssen. Ihre Tagesgage würde sich aus drei Beträgen zusammensetzen. Tausend Euro pro Tag, Spesen nach Abrechnung und zum Schluss ein Erfolgshonorar, sofern Sie den Verbleib des Kollegen aufklären, von 30.000 Euro.«

»Und wenn ich ihn finde und er … «

»Lebendig oder tot«, unterbrach Schorn.

Larsson dachte an die Zeit, in der er sich unnütz vorkommen würde, müsste er sich ausschließlich mit Frau und Kind beschäftigen. Das wäre gerade in diesem Augenblick unvorstellbar für ihn.

»In solchen Fällen strickt man eine Legende. Haben Sie das bedacht?«

Larsson sah zum ersten Mal ein Lächeln über das Gesicht seines Gegenübers huschen.

»Ihr Deckname ist Dr. Hans-Jochen Kowalski. Sie wohnen in der Spohrstraße 34, in Frankfurt am Main. In diesem Haus befindet sich die Ergo-Praxis von Stefanie Ludwig. Über dieser Praxis liegt das Immobilienbüro Kowalski & Berger, deren Teilhaber Sie sind. Selbstverständlich bekommen Sie die nötigen gültigen Ausweispapiere, und einen auf den Namen des Büros angemeldeten Dienstwagen.«

Was für ein Aufwand für eine Ermittlung, die vielleicht drei oder vier Wochen dauert, dachte Larsson. Aber genau das machte ihn misstrauisch.

»Ist das nicht für einen so kurzen Einsatz ein wenig aufwendig«, fragte er.

»Wir wissen nicht genau, wie lange der Einsatz für Sie dauern wird. Bei genauer Betrachtung fallen hin und wieder Dinge an, die wir ungern selbst erledigen.«

»Werner Mauss«, sagte Larsson lapidar.

»Sie wissen so gut wie ich, dass Mauss verbrannt ist. Er bekommt schon seit dem Jahr 2000 keine Aufträge mehr von den Diensten.«

Larsson dachte kurz daran, was er über Mauss in den offiziellen Quellen gelesen hatte. Natürlich interessierten ihn immer erfolgreiche Ermittler. Mauss war etwas Besonderes in der Agentenszene, weil wenig über ihn bekannt wurde, und wenn, dann gab es einige Zeilen über Erfolge für die Bundesrepublik, die er ermöglicht hatte, wie im Falle des verschwundenen Seveso-Giftes Dioxin in Italien. Mauss hatte schließlich die Fässer im Mai 1983 in einem ehemaligen Schlachthof im nordfranzösischen Dorf Anguilcourt-le-Sart im Auftrag des deutschen Kanzleramtes aufgespürt.

Niclas Schorn bemerkte, dass Larsson still geworden war.

»Einen zweiten Mauss wird es nicht geben«, unterbrach er die Stille. »Die Zeiten sind einfach anders geworden. Doch die Erfolge, die der Mann hatte, sind legendär. Mehr als 1600 Festnahmen soll er durch seine Einsätze ermöglicht haben.«

»Wenn ich das übernehme, ich sage wenn, dann will ich zuvor das gesamte Material sichten, das dem BKA über diesen …«

»Kriminaloberkommissar Ronald Bachmeier.«

»Bachmeier vorliegt. Darüber hinaus möchte ich alle Ihre Vorbereitungen einsehen, die meine Absicherung betreffen würden.«

»Einverstanden. Doch solange Sie den Auftrag nicht angenommen haben, können Sie das nur in diesem Raum. Und dass die Zeit drängt, brauch ich Ihnen ja nicht zu sagen.«

Larsson rief zu Hause an. Er erklärte seiner Frau, dass sich das Treffen mit einem Kollegen hinziehen würde.

Monika Larsson erkannte in der Stimmlage, ob eine Sache für ihren Mann wichtig war oder ob er nur eine Ausrede brauchte, um wieder einmal einige Stunden fern von seinem Haus und seiner Familie zu sein.

Schorn gab Larsson die Mappe, aus der er den Personalbogen des verschollenen LKA-Mitarbeiters genommen hatte. Dann stand er auf und holte einen schwarzen Pilotenkoffer, den er an dem kleinen Schreibtisch stehen hatte, der zur Möblierung in diesem Raum gehörte.

»Ich brauche Bedenkzeit«, sagte Larsson.

»Das verstehe ich. Aber mir sitzt die Zeit im Nacken«, antwortete Schorn. »Ich werde Ihnen jetzt alle Unterlagen zur Verfügung stellen, Sie werden sie prüfen und sich dann entscheiden. Wenn Sie es nicht übernehmen, muss ich sofort Ersatz suchen.«

»Was macht Sie so sicher, dass ich das übernehmen werde?«

»Die Einschätzung Ihrer Person durch unseren Psychologen. Er glaubt, dass Sie ohne einen gewissen Nervenkitzel gar nicht existieren können. Und wissen Sie was, Larsson, ich glaube dem Mann.«

Larsson musste zugeben, dass die Einschätzung seiner Person durchaus seiner eigenen Bewertung entsprach.

Schorn entnahm dem Pilotenkoffer ein DIN A4 Kuvert, dessen Inhalt er vor sich ausbreitete.

»Da hätten wir einmal den Reisepass auf den Namen Dr. Hans-Jochen Kowalski, Spohrstraße 34, in Frankfurt. Dort sind Sie auch polizeilich gemeldet.« Er reichte Larsson den Pass, den dieser eingehend prüfte.

»Es ist nicht das Bild aus meiner Personalakte«, stellte Larsson fest. »Und eine Brille trage ich auch nicht.«

»Natürlich ist das nicht das Bild aus der Personalakte. Da wären Sie nicht nur zu jung, sondern man könnte durch einen unglücklichen Umstand sofort auf Sie schließen. Das Bild wurde gemacht, als Sie sich den Bart wachsen ließen. Und zusammen mit der Alterung verändert das Ihr Aussehen angemessen. Die Fahrzeugpapiere ihres Dienstwagens. Wir denken, dass ein A6 in dieser Ausführung angemessen ist, nicht so aufdringlich, wie es eine S-Klasse von Mercedes wäre, aber Hinweis genug auf Ihr dickes Portemonnaie, dass Sie bei dieser Operation dezent einsetzen müssen. Dazu haben wir einen Stapel Visitenkarten und selbstverständlich die Präsentation des Immobilienbüros Kowalski & Berger, die auf der ersten Innenseite das Konterfei von Ihnen und Herrn Berger zeigt.«

Larsson ließ seinen Blick über die Visitenkarte schweifen und sah sich die Broschüre über das Immobilienbüro an. Sehr professionell gemacht, dachte er anerkennend. Dann schaute er die Fahrzeugpapiere an. Der Wagen war vor acht Monaten auf die Firma Kowalski & Berger zugelassen.

»Ferner haben Sie eine private Krankenversicherung für Selbstständige bei der R + V, mit einer Zahnzusatz- und einer Pflegeversicherung.« Schorn reichte Larsson die Versicherungskarte. »Sie sollten diese Karte immer in Ihrem Portemonnaie stecken haben. Man kann ja nie wissen, unter welchen Umständen fremde Leute da hineinschauen. «

»Bleibt der Führerschein.«

»Richtig. Den haben Sie vor über 20 Jahren in Aschaffenburg gemacht, denn dort haben Sie in der Schweinheimer Straße bis Oktober 1981 gelebt. Das gehört zu Ihrer Legende. Im Erdgeschoss des Hauses gab es zu der Zeit eine Boutique namens Puck-Moden. Die gibt es inzwischen nicht mehr. Sie wohnten im zweiten Stockwerk, drei Zimmer, Küche.«

»Chapeau, Sie haben an alles gedacht.«

»In der ersten Zeit Ihrer Tätigkeit in Frankfurt am Main haben Sie in Mollys Pinte in der Spohrstraße einen gewissen RR kennengelernt. RR steht nicht für Rolls Royce, sondern für Reinhard Ritter, der Sie mal mit in die Rote Katze nahm, weil er Sie mochte. Die Rote Katze war eine Schwulenbar, die man in den 1970er Jahren wegen des sprunghaften Anstiegs von Aids geschlossen hat.« Schorn sah das fragende Gesicht Larssons.

»Das korrespondiert nicht mit dem Wohnort bis 1981 in Aschaffenburg«, sagte Larsson.

»Sie hatten die Wohnung in der ersten Zeit Ihrer Arbeit bei Berger aus Sicherheitsgründen beibehalten. Erst nachdem Ihnen der Berger Senior eine Partnerschaft angeboten hatte, weil er seinem Sohn nicht über den Weg traute, den Laden ordentlich zu führen, sind Sie ganz nach Frankfurt in die Wohnung umgezogen, die Berger Ihnen anbot.«

»Ja, das würde gehen. «

»Sie wohnten damals gegenüber von Mollys Pinte im Parterre eines Mietshauses. Mollys Pinte war damals schon ein Szenentreff. Niemand würde Ihnen abnehmen, dass Sie das Lokal nicht besucht haben, obwohl Sie nur aus Ihrer Haustür beim leisesten Durst genau in diesen Laden gefallen wären. Merken Sie sich auch den Namen Willy Röhling. Er arbeitete damals in der Einsatzzentrale beim ADAC. Röhlings prägender Satz war: Sind wir nicht alles Frauen? Sowohl er als auch Reinhard Ritter sind inzwischen verstorben. Aber in der Szene kennt man die Beiden noch.« Schorn schaute noch einmal in seine Notizen. »Ach ja, da haben wir noch eine prägnante Person aus dieser Zeit. Ein schwuler Kunstmaler mit Namen Hajo Brudloff. Er ärgerte sich immer über seinen russischen Nachnamen. Sollte man Sie also überprüfen, haben Sie wasserdichte Empfehlungen.«

»Existiert die Wohnung in Neu-Ulm noch?“«, fragte Larsson, ohne auf Schorns letzte Sätze einzugehen.

»Sie wollen in Deutschland mit Ihren Ermittlungen anfangen?«

Larsson nickte.

»Negativ. Die Wohnung ist verbrannt.«

»Kein Problem. Mich interessiert ohnehin nur die Bar in Ulm, in der Bachmeier gearbeitet hat.«

»Nachtclub Goldener Engel«, sagte Schorn. » Der Club präsentiert House, Dance und Indie Musik vom DJ und Livemusik von Rockgruppen. Er ist bekannt für ein originelles Veranstaltungsprogramm. Die Menschen mögen den Club, obwohl es Vermutungen gibt, der Laden sei nicht nur ein Musiktempel. Bachmeier war ganz dicht dran.«

»Und hat sich die Flügel versengt«, stellte Larsson fest.

Schorn sagte nichts.

Larsson schloss daraus, dass man beim BKA anderweitige Befürchtungen hegte. Dafür hielt er Larsson eine Brille hin.

»Was, wenn ich damit nicht sehen kann?«

»Es ist eine Brille für die Ferne. Sie hat ganz minimale Dioptrien, muss aber auch sein, falls man die Echtheit überprüft.«

»Halten Sie das für möglich?«

»Seien Sie nicht so naiv. Im Untergrund ist alles möglich. Die Brille ist getönt. Nun fehlt noch was?«

»Keine Ahnung.«

Schorn lachte. »Die Gewerbegenehmigung.«

Larsson bluffte. »Wenn Sie die jetzt auch hervorzaubern könnten, würde ich der Transaktion tatsächlich zustimmen«.

»Sie werden leichtsinnig, Larsson.« Schorn nahm eine durchsichtige Mappe aus dem Pilotenkoffer. Gleichzeitig öffnete er seinen Laptop. »Schauen Sie sich erst einmal ihre Internetpräsenz an.«

Während Larsson sich völlig perplex die Internetseite des Privatdetektivs Lasse Larsson anschaute, rief Schorn übers Handy einen anderen BKA-Mitarbeiter herbei.

»Jetzt bin ich gespannt, was das Wort eines Lasse Larsson gilt.«

Es klopfte. Der ältere Herr, der jetzt eintrat, musste die ganze Zeit irgendwo gewartet haben, dachte Larsson.

»Es hat alles funktioniert. Sie können die Quittung jetzt vorbereiten«, sagte Schorn.

»Die Sache mit der Internetpräsenz finde ich gar nicht witzig«, sagte Larsson. »Ist sie schon ans Netz gegangen?«

»Natürlich nicht. Das wäre auch zu dick aufgetragen. Ich wollte einfach sehen, wie sie reagieren.« Schorn klappte den Deckel des Laptops zu.

»Habe ich dann Ihrer Erwartung entsprochen?« Larsson klang amüsiert.

»Es wird keine schriftliche Vereinbarung zwischen uns geben. Einzige Ausnahme ist der Justitiar, für die Übergabe des Geldes. Ordnung muss sein.« Schorn nickte dem Mann zu, der jetzt einen DIN A5 Umschlag aus seiner Tasche zog.

»Abschlag 15.000 €. Werden Sie den Auftrag übernehmen, Herr Larsson?«

»Sie haben mich überzeugt.« Larsson öffnete den Umschlag und sah flüchtig hinein.

»Zählen Sie ruhig nach«, sagte Schorn.

»Ich denke das wird nicht nötig sein. Wann wird der Einsatz beginnen?«

»Morgen früh um acht. Werden Sie das schaffen?«

»Selbstverständlich.«

»Da ist noch etwas Anderes in dem Umschlag«.

»Ihre Anmeldung des Gewerbes als Privatdetektiv. Wir fahren morgen bis Berlin, wo Sie ihren Dienstwagen übernehmen werden. Die Unterlagen zur Anmeldung Ihrer Selbstständigkeit lassen Sie am besten in Ihrem Büro. Sie werden das nur gebrauchen, wenn irgendetwas schief geht, und eine SIM-Karte, die Sie nur nutzen, um mit mir in Verbindung zu treten«.

»Wo treffen wir uns?«

»Hier in der Halle des Hotels.«

2. Kapitel

Lasse Larsson fuhr einmal an dem Haus in der Karlstraße vorbei. Das wie ein aus zwei Rechtecken konstruiertes Haus erinnerte ihn an zwei unterschiedlich große, sandfarbig gestrichene Schuhkartons. Aus dem Parkhafen vor dem Etablissement rangierte gerade ein roter Ferrari rückwärts auf die Straße. Bei der nächsten Möglichkeit wendete Larsson den dunkelblauen A6, fuhr zurück und beeilte sich, genau diesen freien Platz zu nutzen. Als er ausstieg, sah er auf ein großes Bild, das einen mit üppigen Brüsten ausgestatteten, nahezu nackten jungen Engel zeigte. Darüber prangte in roter Schrift Nachtclub Goldener Engel. Auf der Bühne riss ein Endzwanziger gerade Witze aus seinem Programm über verschiedene Politiker etablierter Parteien, in Verbindung mit Partys im Rotlichtmilieu. Kleine Gruppen hatten sich gebildet, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Den Altersdurchschnitt schätzte Larsson auf Mitte bis Ende 20. Zwei jüngere Männer mit Migrationshintergrund, offensichtlich angeheitert, ließen sich gerade gemeinsam ablichten.

Der Conférencier schien mit seiner Darbietung fertig zu sein, denn ein Beifall honorierte seine Leistung.

Auf der Bühne hatten sich nun drei Männer und eine Frau der Instrumente bemächtigt. Kaum war der Beifall zu Ende, begannen sie, The House of the Rising Sun zu spielen. Larsson musste lächeln. Er hätte nicht erwartet, hier ein Lied zu hören, das in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts sein Lebenslicht in New Orleans erblickt, und in den sechziger Jahren von einer Reihe verschiedener Interpreten von Joan Baez und Miriam Makeba, aber auch von Dave van Ronk, Bob Dylan und Chuck Berry in verschiedenen Variationen erfolgreich dargebracht wurde. Dieser amerikanische FolkSong wurde Anfang der sechziger Jahre in der Fassung der britischen Band The Animals mit einem eigenen Text abermals zum Hit. Und genau den begann der Mann mit der rauchigen Stimme zu singen.

There is a house in New Orleans

They call the Rising Sun

And it's been the ruin of many a poor boy

And God I know I'm one

Larsson hatte sich bis an die Bar vorgekämpft. Er ließ sich einen Bourbon geben und tauchte damit ins Gewühl unter, um nach und nach den Inhalt aus dem Glas unbemerkt auf dem Boden zu gießen. Nach einiger Zeit ging er zurück zur Bar. Er deutete auf das Glas und sagte: »Lass bitte noch einmal die Luft raus.«

Der Barmann kam der Aufforderung nach. Er musterte Larsson, der altersmäßig über dem Durchschnitt lag. »Suchst du was Besonderes?«

»Nur ein wenig Spaß.«

»Hell oder dunkel?«

Als Larsson nicht sofort antwortete, legte er nach: »Blond oder Schwarz?«

»Hast du etwas mit dunkelbraunen Augen im Angebot?«

Der Mann dirigierte Larsson zum anderen Ende der Bar. Das Kopfteil war so gestaltet, dass die umstehenden Personen nicht sehen konnten, was hinter der Ecke des Tresens stand.

»Schau hier rein«, sagte er. »Was du hier siehst, kann in kurzer Zeit zur Verfügung stehen.«

Larsson schaute sich die Frauen an, die in eindeutiger Pose abgebildet waren. Amel, Theresa, Cathy, Yvonne, Laura, Judith, Helena und Ofelia.

»Und?«

Larsson schüttelte langsam den Kopf. »Sicher ganz hübsch. Aber mir hat ein Freund gesagt, wenn ich schon etwas in der Kiste bewegen wolle, dann möge ich mich um Nicole kümmern. Das wäre ein einmaliges Erlebnis. Aber den Namen sehe ich hier nicht.«

Der Barkeeper nahm die Mappe wieder weg. »Da kann ich dir nicht helfen. Eine Nicole gibt‘s bei uns nicht. Wo kommst du denn her?«

»Aus Frankfurt.«

»So so, aus Frankfurt am Main?«

»Ich habe noch eine Empfehlung für Myer‘s«, sagte Larsson. »Vielleicht ist Nicole ja dort.«

Der Barmann zuckte mit den Schultern. »Hast du denn bei Myer’s reserviert?«

»Nein.«

»Da wirst du wohl Probleme haben, einen Platz zu finden.«

»Das ist wohl alles eine Frage des Preises«. Larsson lächelte doppeldeutig.

Der Barmann ging auf die andere Seite des Tresens, um einige Bestellungen abzuarbeiten und sprach dann mit einem jungen Mann, der auffällig nach Larsson schaute. Larsson beobachtete das aus dem Augenwinkel. Als er merkte, dass seine Person die Aufmerksamkeit des Mannes erregte, nahm er genüsslich einen Schluck des Bourbons. Er tauchte wieder in die Masse der begeisterten Musikjünger unter, und begann das Spiel mit dem Leeren des Glases von neuem.

Nach dem übernächsten Song ging er zum Tresen zurück.

»Noch einen?«, fragte der Mann hinter der Bar.

Larsson schüttelte den Kopf. »Ich will erst mal weiterziehen, vielleicht gibt‘s woanders mehr Spaß«, sagte er und strich mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand über seine Nase. »Ich komme morgen noch einmal vorbei. Was bekommst du von mir?“

Der Mann nannte eine Summe. Larsson nahm eine Rolle 50 Euro-Scheine aus der Tasche, die mit einem Schnipsgummi zusammengehalten wurden. Da zog er einen der Scheine heraus und reichte ihn dem Barmann. »Stimmt so.« Er stellte das Glas ab, winkte dem Mann noch einmal lässig zu, und verließ das Etablissement.

Draußen bestieg er sein Fahrzeug. Er gab Lautenberg 1, Ulm in sein Navigationssystem ein. Keine zehn Minuten später kam er vor dem Nachtklub Myer’s an. Er erwischte einen Parkplatz in der Nähe des dem Nachtklub gegenüberliegenden Polizeipräsidiums der Stadt Ulm. Dort stellte er seinen Wagen ab und ging die wenigen Meter zu Fuß. Vor dem Nachtklub wand sich eine Riesenschlange meist junger Menschen, die alle noch an den beiden Türstehern vorbei ins Innere des Clubs gelangen wollten, um dem Spaß der Nacht zu frönen.

Unmittelbar vor dem Club stand eine überlange rotfarbige, amerikanische Limousine mit weißem Lederdach; es war jener Blickfang, der in den USA selbstverständlich für die reiche, ausgeflippte Oberschicht stand, für die relativ engen Straßen Ulms aber sicher nicht ohne Probleme war, und bei der Parkplatzfindung ein schier unüberwindbares Hindernis darstellen würde. Doch die Werbung war sowohl für Myer‘s wie auch für den Limousinen-Service, dessen Werbung auf der hinteren Stoßstange mit www-Adresse und einer Handynummer stand, gewaltig. Genau das beabsichtigten die beiden Unternehmer. Die lange Schlange vor dem Club, gab ihnen absolut recht.

Larsson ging zielstrebig auf den größeren der beiden Türsteher zu. Der Mann war nicht nur ein Riese mit einer Glatze. Er brachte sicher seine zwei Zentner auf die Waage. Uma n ihm vorbeizukommen, musste man entweder anständig in der Reihe stehen und sehr geduldig warten, oder ein überzeugendes Argument haben.

»Kowalski«, sagte er. »Ich hatte reserviert.« Dabei reichte er dem Mann einen zusammengeknüpften 50-Euroschein.

Das Publikum bei Myer’s schien ihm im Durchschnitt höherwertiger zu liegen als im Nachtclub Goldener Engel. Er konstatierte, dass es sicher in Ulm noch eine andere Liga von Nachtklubs geben müsse, die seinem Naturell näherstand. Doch das konnte er sich nicht aussuchen. Sein Fokus musste auf dem Nachtclub Goldener Engel liegen.

Tags darauf hatte Larsson beschlossen, eine kleine Donaufahrt mit dem ‚Ulmer Spatz‘ vom Metzgerturm zur Friedrichsau und zurückzumachen. Als er losging, achtete er genau darauf, ob ihm irgendjemand vom B&B-Hotel folgte. Umsonst. Kurz vor 13 Uhr kam er an der Donau, an der Anlegestelle Metzgerturm an. Er genoss es, die Donau entlangzufahren.

Die frische Brise auf dem offenen Achterdeck holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Neben ihm versuchte eine junge Mutter, die nach der Wende des Schiffes in Friedrichsau zugestiegen war, vergeblich, ihres etwa achtjährigen Sprösslings Herr zu werden. Der Junge hatte seine Mutter fest im Griff. Sein Gekreische ärgerte Larsson, doch Larsson hielt sich zurück, in das Elend vergeblicher Erziehungsmühe einzugreifen. Nach gut anderthalb Stunden legte der ‚Ulmer Spatz‘ wieder an der Abfahrtstelle an. Doch nun plagte ihn erst einmal der Hunger. Er ging durch die Stadt auf der Suche nach einem außergewöhnlichen Lokal mit regionaler Küche. Im Restaurant Gerberhaus, einem mit antiken Bauernmöbeln dekorierten Lokal im wundervoll restaurierten Fachwerkbau, genoss er die gehobene schwäbische Küche.

Larsson bestellte eine Spitzkohlsuppe mit Kresse als Vorspeise. Als Hauptgang entschied er sich für schwäbischen Kartoffelsalat an Pfifferlingen. Dazu bestellte er eine dicke Scheibe Schweinebraten. Er trank ein Hefeweizen Dunkel aus der 1852 gegründeten Ulmer Familienbrauerei Bauhöfer. Anschließend schlenderte er durch die Stadt zu seinem Hotel zurück. In der Halle nahm er einen doppelten Espresso ein. Alsdann ging er auf sein Zimmer und versuchte, über seinen kleinen Computer, den er immer mit auf Reisen nahm, weitere Details über den Club Goldener Engel zu erfahren. So sehr er sich auch mühte, es waren ausschließlich Eigenwerbungen, die vom Besitzer lanciert wurden, zu finden. Am Abend würde er wieder seiner Arbeit nachgehen. Larsson telefonierte mehr als 20 Minuten mit seiner Frau. Schließlich legte er sich noch ein wenig hin.

Kurz nach 23 Uhr betrat Larsson den Goldenen Engel. Er grüßte mit lässiger Handbewegung zu dem Barkeeper hinüber, der seinen Gruß erwiderte.

»Na, bei Myer’s Erfolg gehabt?«, fragte er. Dabei fuhr er sich mit dem Zeigefinger so über einen Nasenflügel, wie es am Vortag Larsson getan hatte.

Larsson schüttelte den Kopf. »Es hat sich nicht ergeben. Wir heißen Sie eigentlich?«

»Marcel.«

»Man kann halt nicht immer gewinnen, Marcel«, sagte Larsson. »Aber es war eine interessante Studie, die ich dort machen konnte.«

»Inwiefern?«

»Es gab einen Haufen hübscher junger Mädchen dort«, sagte Larsson und grinste den Barmann unverschämt an.

»Dann hast du sicher eins abgeschleppt.«

Larsson schüttelte den Kopf.

»Aber eines der Mädchen hat dich abgeschleppt?«

»Nein.«

»Dann warst du nur dort, um deine Nase zu putzen?« Marcel fuhr sich wieder mit dem Zeigefinger über die Nase.

»Es hat sich nicht so ergeben, sagte ich schon. Und ich bin auch bald nach Hause gegangen, weil ich heute unbedingt ein Stück auf der Donau unterwegs sein wollte.«

»Bist du ein Romantiker? Wie heißt du eigentlich?«

»Jochen.«

»Und? Bist du ein Romantiker?«, fragte Marcel.

»In gewisser Weise schon. Ich stehe nicht auf die ganz jungen Dinger. Wenn ich mit einer Frau nicht reden kann, sie mich nicht mit einer Unterhaltung außerhalb des Vaginalbereichs in Spannung halten kann, interessiert mich das Ganze nicht.«

»Und eine solche hast du gestern nicht gefunden?«

»Nein.«

»Ich könnte dir sicher die eine oder andere junge Frau zeigen, die diese Wünsche erfüllt. Was muss sie denn leisten?«

»Eine gute Ausbildung vorweisen, denn eine gute Ausbildung beinhaltet, dass sie sich für gewisse kulturelle Dinge interessiert.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel muss sie Literatur interessieren oder klassische Musik.«

»Klassische Musik …« Marcel fing an zu lachen. »Oper und so einen Scheiß.«

»Genau«, sagte Larsson lapidar. »Oper und so einen Scheiß. Ich stehe darauf.«

»Ich werde mich mal hier im Laden umhören.«

»Aber zuerst machst du mir bitte einen Bourbon.«

»Ohne Eis, ich habe mir das gemerkt«, stellte Marcel fest. Im Nu hatte er die Bestellung realisiert, und schob das Glas Larsson zu. Der nahm einen kleinen Schluck. Dann suchte er sich einen Platz in der Ecke an der Bühne.

Die Augen Larssons suchten nach dem jungen Mann, mit dem Marcel am Vortag gesprochen und der ihn so interessiert angeschaut hatte. Doch er konnte ihn nirgends finden. Als die Musik zu spielen anfing, stellte er sich an den Rand der Tanzfläche und im Gedränge sorgte er dann dafür, dass sein Bourbon das Glas verließ, ohne durch seinen Gaumen zu fließen.

»Hallo Jochen.«

Die Stimme holte Larsson aus seiner Betrachtung der tanzenden Paare. Er drehte sich um. Vor ihm stand der junge Mann, an den er vor Minuten noch gedacht hatte.

»Meinen Sie mich?«

»Marcel hat mir gesagt, du würdest etwas suchen.«

»Ich würde etwas suchen. Hatte er auch gesagt, was ich suchen würde?«

»Etwas zum Sniefen.«

»Ivo«, sagte der junge Mann. »Ivo Lärche.«

»Wie die Lerche, die im Hain singt?«

Ivo schüttelte den Kopf. »Wie das Lärchenholz. Komm mit mir, wenn du etwas zum Sniefen brauchst.«

»Wohin?«, fragte Larsson. »Ich weiß immer gerne, wohin die Reise geht.«

»Wir bleiben hier im Haus.«

Ivo ging vor ihm her. Nur wenige Meter neben ihnen ging eine Tür ab, die zu den Toiletten führte. Auf dem Gang knutschte ein Pärchen. Doch bevor die beiden Männer die Toilette erreichen konnten, ging abermals eine Tür von dem Flur ab. Diese öffnete Larssons Begleiter.

»Nach dir, Ivo«, sagte Larsson, als der Mann ihm den Vortritt lassen wollte. Er stellte fest, dass sie allein waren. Doch er wusste, dass das keine absolute Sicherheit bedeutete. Irgendwo könnte eine Kamera aufzeichnen, was sie hier besprechen. Dann wäre er ein Kandidat für Erpressungen jeder Art.

»Auf dem Weg von Afghanistan über die Türkei oder Russland nach Deutschland mischen die Händler unter, was gerade verfügbar ist: Milchpulver, Mehl, Ascorbinsäure, zerkleinerten Paracetamol-Tabletten, Valium oder Rohypnol. Es soll schon Rattenscheiße dabei gewesen sein. Meistens liegt der Reinheitsgrad des Heroins, das man auf der Straße kauft bei fünf Prozent«, sagte Ivo. »Bei mir ist das anders. Ich beziehe meinen Stoff direkt vom Hersteller, der an der legendären Seidenstraße beheimatet ist. Weil du von Frankfurt kommst, sage ich dir, dass in den achtziger und neunziger Jahren sich noch Hunderte, manchmal auch Tausende Junkies in Frankfurt an der Taunusanlage, im Bahnhofsviertel und an dem Dealertreff am ehemaligen Stadtbad Mitte aufhielten. 147 Junkies starben im Jahr 1991 allein in Frankfurt an den Folgen ihres Konsums. Inzwischen ist die Todesrate sehr zurückgegangen. Im Schnitt sind es etwa 20 Menschen, die ihr Leben verlieren. Das heißt nicht, dass es die Drogenszene nicht mehr gäbe. Sie kaufen nur bewusster. Wie ist es mit dir, Jochen?«

»Ich gönne mir hin und wieder einen kleinen Spaß. Doch ich achte sehr genau darauf, nicht in Abhängigkeit zu verfallen.«

»Und das soll ich dir glauben?«

Larsson zog die Schulter hoch. »Du kannst glauben, was du willst, oder auch nicht.« Dabei kniff er das rechte Auge zu.

»Ich habe zwei Sorten im Angebot. Das gestreckte Heroin für 50 Euro das Gramm oder das ganz reine für 250 Euro. Du weißt ja, die Dosierung ist stark von der individuellen Toleranz und dem Reinheitsgrad des Heroins abhängig. Wozu tendierest du?«

»Je reiner desto besser«, sagte Larsson.

»Aber du weißt schon, dass die tödliche Dosis bei ca. 60 mg liegt!«

»Keine Sorge, Ivo. Ich pass schon auf.«

Lärche machte sich an einem Regal zu schaffen, und zauberte drei kleine Päckchen hervor, jedes mit einem Gramm Heroin gefüllt.

»Ich nehme eins. Wenn ich das heute Nacht probiert habe, entscheide ich mich für ein zweites, vielleicht auch mehr.«

»Okay. Besseren Stoff wirst du in ganz Deutschland nicht finden.«

»Dein Wort in Gottes Gehörgang, Ivo. Wenn das nicht der Fall ist, war das mein erster und letzter Kauf.« Larsson nahm drei 50 Euroscheine von der Rolle und reichte sie dem Mann.

Wie beiläufig fragte Ivo: »Was machst du eigentlich in Ulm?« Als er Larssons Gesicht sah, legte er nach: »Ich meine, arbeitsmäßig.«

»Ich bin Makler. Für einen solventen Kunden suche ich eine Villa, möglichst mit Blick auf die Donau. Aber es soll schon etwas Besonderes sein. Weißt du so etwas?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Das ist einfach nicht mein Shauri«, sagte er.

Larsson steckte seinen Kauf in die Jackentasche, während Ivo Lärche die restlichen Päckchen wieder an ihren Ursprungsplatz legte. Die beiden Männer gingen wieder hinaus. Larsson verschwand im Gewühl der tanzenden Masse, Ivo ging an die Bar zurück, wo er sich mit Marcel unterhielt.

Zwischen den Köpfen der tanzenden Menschen machte Larsson aus der Hüfte eine Reihe von HandyFotos vom Tresen der Bar. Kurz nach eins verließ Larsson die Bar und fuhr zum Hotel zurück. Er benutzte einen Bogen Papier des Hotels, schrieb darauf: Bitte auf Reinheitsgrad prüfen und ein Kuvert, tütete den Briefbogen zusammen mit der gekauften Heroinprobe ein und verschloss ordentlich. Er benutzte eine Anschrift, die nicht dem BKA zuzuordnen war, aber unmittelbar Niclas Schorn erreichen würde. Danach rief er auf seinem Smartphone die Bilder auf, die er in der Bar gemacht hatte. Nachdem er geprüft hatte, ob die Bilder gelungen waren, schaltete er das Gerät ab. Er öffnete es und nahm die SIM-Karte heraus. Stattdessen schob er eine andere, nicht registrierte ein, so dass, würde man sein Gerät überwachen, die nun folgende Operation nicht verfolgen könnte. Zuerst schickte er die Bilder zu seinem Mailbriefkasten, danach an eine Handynummer, die ebenfalls nirgendwo registriert-, aber als Zugang zu Schorn ausschließlich für Larsson angelegt war. Er schrieb dazu: Links ist Marcel X, Barkeeper im Goldenen Engel. Rechts Ivo Lärche, H-Händler, N+P überprüfen.

Und schließlich löschte er als letztes aus Sicherheitsgründen die Bilder von seinem Handy. Sodann nahm er die gerade benutzte Sim-Karte wieder heraus und schob die alte wieder ein.

Er fuhr seinen kleinen Computer hoch, rief bei Topkur in Karlsbad die Hotelangebote der Stadt auf und bat darum, ihm ein Angebot für vier Tage inklusive Vollpension und einer Möglichkeit zur Verlängerung vor Ort im Hotel Čajkovskij zu unterbreiten. Anreise möglichst sofort. Natürlich wäre es gar kein Problem gewesen, direkt vor das Hotel zu fahren. Denn einen Platz hätte er in jedem Fall bekommen. Dennoch zog er es vor, über den Veranstalter von Kurreisen zu buchen. So konnte er bei jeder Überprüfung als normaler Kurgast durchgehen, der seiner Gesundheit etwas Gutes zukommen lassen will.

3. Kapitel

Larsson stellte den A6 vor der Kunstgalerie Villa Becherova, dem Eingang zum Parkplatz des Hotels Smetana in Karlsbad ab. Gegenüber auf der Hauptstraße Krále Jiřího lag das Spa-Hotel Čajkovskij-Palace, in dem er über Topkur eingebucht war. Er nahm seinen Aluminiumkoffer, in dem der kleine Reisecomputer und die Papiere für den Aufenthalt in diesem Hotel untergebracht waren, und strebte dem Eingang des vier Sterne-Hotels Čajkovskij zu. Er ging durch die große Drehtür. Ein Blick nach links zeigte die Tagesbar des Hotels. Sie war unbeleuchtet und leer. Geradezu, hinter dem Tresen, saß eine sehr hübsche junge Frau, die ihren Kopf hob und ihm entgegenschaute. Larsson schätzte sie auf Ende Zwanzig, Anfang Dreißig. Die Frau war schwarz gekleidet und dezent geschminkt. Sie war ausgesprochen schön.

»Hallo«, sagte Larsson. Er stellte seinen Koffer auf den Tresen, öffnete ihn und nahm die Anmeldung heraus, die ihm Topkur zugeschickt hatte, und die er sich im Hotel in Ulm hatte ausdrucken lassen. Die junge Frau verglich die Bestätigung mit ihren Unterlagen.

»Herr Doktor Kowalski ... Herzlich willkommen im Čajkovskij-Palace. Würden Sie so freundlich sein, mir Ihren Pass zu geben?«

Larsson schob ihr seinen Personalausweis zu, den sie kopierte und zurückreichte.

Sie füllte eine Kurkarte mit seinem Namen und seiner Zimmernummer P105 aus und ließ den Drucker eine Auflistung seiner Kuren in den nächsten vier Tagen ausdrucken. Die Anwendungen setzten sich aus einer Teilmassage, einem Mineralbad, einer Paraffinanwendung für die Hände und einer Moorpackung zusammen. Sie klammerte diese Anordnung, die mit der Information endete: Bei Verspätung von 5 Minuten entfällt die Behandlung. Zur Behandlung bitte im Bademantel erscheinen. Danke! - im Inneren der Kurkarte fest.

Larsson deutete mit der Hand zum Fenster »Mein Wagen steht noch vor der Galerie Becherova, was machen wir damit?«

Sie lächelte ihn an. »Das könnte Ärger geben, denn in unmittelbarer Nähe zu den Hotels ist Kurzone. Doch dafür haben wir eine Lösung.« Sie druckte eine DIN A4 Seite aus, die das Fahrzeug berechtigte, innerhalb der Bannmeile der Kuren zu stehen; auf dieser Seite war sein Name, das Kennzeichen des Fahrzeuges und der Name des Hotels zu lesen. Sie reichte ihm das Papier und fragte: »Sie haben sicher im Auto noch einige Gegenstände, die Sie mit hoch aufs Zimmer nehmen wollen? Möchten Sie sie erst holen oder wollen Sie zuerst Ihr Zimmer sehen und den Rest etwas später nachholen.«

»Ich werde mir zuerst das Zimmer ansehen und dann in Ruhe meine Sachen holen.«

Die Frau stand auf. »Ich werde Sie jetzt nach oben begleiten.« Sie kam hinter dem Tresen vor, und sie gingen gemeinsam bis zu den Fahrstühlen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis einer der beiden Fahrstühle auf ihrer Etage hielt.

»Unser Restaurant befindet sich im Untergeschoss auf der anderen Ebene, auf der das ursprüngliche Čajkovskij steht. Wenn Sie dorthin wollen, müssen Sie auf -6 drücken.« Die Frau zeigte auf die Tafel mit den Knöpfen, die man drücken musste, wenn man in ein bestimmtes Stockwerk wollte. »In den Stockwerken, die mit einem Minus angezeigt werden, befinden Sie sich teilweise in diesem alten Haus, zum Beispiel bei verschiedenen Anwendungen. Bei Ihnen trifft das für die Teilmassage zu«, sagte sie, zog ihre Karte zum Öffnen der Zimmer über den Abnehmer im Fahrstuhl und drückte dann auf die Taste zum ersten Stockwerk. »Sie haben es jetzt gesehen. Bevor Sie die Zahl des Stockwerkes drücken, müssen Sie Ihre Schlüsselkarte über diesen elektronischen Abnehmer ziehen. Sonst bewegt sich gar nichts.«

Sicher ist das eine Überwachung, die aufgezeichnet wird, dachte Larsson. So kann man durchaus feststellen, welcher Gast sich wohin bewegt hat. Es sei denn, er nimmt die Treppe.

Sie fuhren exakt eine Etage. Larsson dachte, sie wären schneller oben gewesen, hätten sie den Weg zu Fuß über die Treppe genommen. Sie passierten die ersten drei Zimmer auf der linken Seite des Korridors, öffneten eine Glastür. Das zweite Zimmer nach dieser Sicherheitstüre war das Zimmer 105. Larsson hielt die elektronische Karte an die Türklinke. Mit einem Klick ließ sich das Zimmer öffnen. Sie gingen hinein. Es war ein geräumiges Doppelzimmer mit Ausblick auf das gegenüberliegende Hotel Smetana und die Galerie Becherova, vor der der A6 parkte, mit dem Larsson gekommen war.

Die Frau machte einen der Schränke auf. »Hier haben Sie einen Tresor. Sie müssen Wertsachen hier einschließen, können die aber ebenso gut an der Rezeption für den Haupttresor abgeben. Doch bitte nie Geld oder Papiere rumliegen lassen, wenn Sie das Zimmer verlassen.« Sie zeigte ihm, wie sich der Tresor verschließen, und mit der zuvor eingegebenen vierstelligen Zahl wieder öffnen ließ.

»Übrigens, die Mini-Bar ist kostenpflichtig. Die Preise stehen daneben in einem kleinen Flyer. Was Sie am kommenden Tag an der Rezeption bezahlen, wird vom Personal nachgelegt«, sagte sie lächelnd. Dann verließ sie das Zimmer.

Larsson packte erst mal seinen kleinen Metallkoffer aus. Er setzte den Computer auf den kleinen Schreibtisch, der auch das TV-Gerät trug. Dann ging er ins Bad. Der Raum war relativ groß bemessen. Neben dem Toilettenbecken stand ein Bidet. Auf der Ablage vor dem Waschbecken standen verschiedene kleine Tuben mit Seifen und Haarshampoo. Auch die Sauberkeit ließ keine Wünsche offen. Es zahlt sich eben aus, in Viesternehotels zu buchen, dachte er.

Larsson ging die Treppe hinunter. Vor dem Tresen diskutierten zwei Frauen mit der Angestellten des Hotels. Die Frauen unterhielten sich sehr angeregt in russischer Sprache. So musste er warten, bis das Gespräch beendet war.

»Ich habe vorhin die Parkerklärung für die Polizei vergessen«, sagte er.

»Es war meine Schuld.« Die Frau reichte ihm den DIN A4 Bogen mit der Erklärung für sein Auto für die Polizei, damit er keine Strafe kassieren müsste.

»Sie haben Russisch gesprochen und das ganz perfekt“, sagte Larsson.

»Wir lernen das in der Schule und vervollständigen das, denn mehr als neunzig Prozent unserer Gäste kommen aus Russland, Kasachstan oder der Ukraine. Sie werden das auch in Ihrem Zimmer sehen, dass Sie bestimmt mindestens vier russischsprachige Programme in ihrem TV-Gerät empfangen können. Aber wir haben auch deutsche Sender. Die ARD mit weiteren drei Regionalsendern. Das Zweite Deutsche Fernsehen können Sie bei uns leider nicht empfangen«, erklärte die junge Frau mit ihrem umwerfenden Lächeln. Aber das war ihm in diesem Augenblick egal.

Larsson ging hinaus, überquerte die Straße und schloss sein Fahrzeug auf. Als erstes legte er den DIN A4 Bogen deutlich sichtbar auf die Ablage hinter der Scheibe. Er nahm die auf Bügeln hängende Bekleidung, warf sie sich lässig über die Schulter, schloss die vorderen Türen und machte den Kofferraum auf. Dort nahm er seinen Rollkoffer heraus, schloss das Fahrzeug ab, und strebte so beladen die wenigen Meter zum Hotel zurück.

Er ging an der Rezeption vorbei. Obwohl die Rezeptionistin dabei war, irgendeine Auskunft zu erteilen, schaute sie zu Lasse rüber und lächelte. Er stellte fest, dass sie anders lächelte als geschäftsmäßig zu den anderen Gästen. Für eine Seelenverwandtschaft scheint man nie zu alt zu sein, dachte er. Als er seine Sachen in den Schrank gehängt hatte, beschloss er, sich den Schweiß von der langen Fahrt durch eine Dusche abzuspülen. Dann würde die Zeit bis zum Abendessen, das ab 18:00 Uhr im hauseigenen Restaurant einzunehmen war, schnell vorbeigehen. Etwas später, unter der Dusche, dachte er daran, dass Schorn seine Anfrage bezüglich der beiden Männer aus Ulm noch nicht beantwortet hatte. Er beschloss, Niclas Schorn noch einmal daran zu erinnern. Als er unter der Dusche hervorkam, glänzten die Wassertropfen auf seiner Haut. Seine Gedanken verschwanden am Horizont. Seine Frau Monika lächelte ihn mit der Strophe aus dem Gedicht entgegen, dass er ihr unlängst zitiert hatte.

Will dich schmecken, lieben und fühlen

Zärtlich in deinen Lenden wühlen

Lustvolles Seufzen und Stöhnen hören

Doch will ich deinen Schlaf nicht stören.

Er wünschte sich, sie wäre jetzt bei ihm und sie könnten gemeinsam einige Tage zusammen Urlaub hier verbringen. Stattdessen würde er machen, was er immer machte, ermitteln. Es hatte sich nichts geändert, nicht einmal der Dienstherr, obwohl der, bei rechtlicher Betrachtung gar nicht mehr sein Dienstherr war, sondern sein Auftraggeber. Aber das ist das reale Leben, konstatierte Larsson. Das Leben ist kein Wunschkonzert, sondern harte Arbeit, wollte man erfolgreich sein. Dann dachte er flüchtig an Mauss. Werner Mauss genoss alle Vorzüge, die man sich als gutverdienender Bürger nur wünschen konnte. Doch seit der Mann seine Schutzherren innerhalb der Regierung verloren hatte, versuchte man, ihm das Leben so schwer wie nur möglich zu machen. Lass dir das eine Warnung sein, Larsson, dachte er. So lange du einem der Dienste nützlich sein kannst, werden sie dich hofieren. Er dachte an Schorns Feststellung: Fliegen Sie auf, Larsson, sind Sie allein auf sich gestellt. Wir müssten leugnen, Sie zu kennen. Ich werde diesen einen Auftrag ausführen und dann aufhören, dachte er. Und dann dachte er darüber nach, was denn wäre, würde er tatsächlich eine kleine Detektei betreiben. Schließlich gab es nun die Anmeldung schon. Es gab immer jemanden, der sein Auto suchte, das man gestohlen hatte, oder einfach eine Personenfeststellung benötigte. Irgendetwas geht immer. Jeder noch so kleine Tod ist der Geburtshelfer eines neuen Lebens. Am Ende seines Polizeidienstes stand das BKA mit diesem Auftrag bereit. Und so wird es sein, dass nach diesem Auftrag irgendein neues Zeitfenster aufging, das ihn ernähren würde. Misstrauisch machte ihn allein die gute Bezahlung. Was, so frage er sich jetzt ernstlich, ist diesem Kriminaloberkommissar Ronald Bachmeier zugestoßen? Er war in Ulm. Larsson konnte sich vorstellen, in welche Gefahr man kommen konnte, würde man auch nur den leisesten Verdacht aufkommen lassen, der Organisierten Kriminalität nachzuspüren. Dieser Marcel war kein einfacher Barkeeper, der so tat, als könne er nur einen Spaß vermitteln. Er war raffiniert genug, sich aus dem unmittelbaren Kontakt mit dem Heroin herauszuhalten. Und der Kokshändler Ivo Lärche machte ihm den Eindruck, notfalls über Leichen zu gehen. Er fühlte sich in dem Raum, in dem er das Briefchen mit dem Heroin von dem Mann bekommen hatte, sichtlich unwohl. Deshalb war er auch bestrebt gewesen, schnell wieder in der Masse der Clubbesucher unterzutauchen.

Doch was, so fragte sich Larsson, hatte Bachmeier falsch gemacht? An welcher Sache war der Zivilfahnder fündig geworden. Wahrscheinlich hatte er den er gleichen Weg genommen, an Drogen zu kommen, wie er. Trotzdem hatte sich der Kriminaloberkommissar irgendwo auf der Strecke leichtsinnig verhalten. Instinktiv fühlte Larsson, dass seine Abreise aus Ulm gerade zum richtigen Zeitpunkt stattgefunden hatte.

Er schaute zur Uhr. Noch hatte er gut eine Stunde Zeit, bevor er zum Abendbrot in das hoteleigene Restaurant gehen konnte. Er tauschte wieder die SIM-Karte seines Smartphones durch die, die er von Schorn erhalten hatte. Dann verließ er das Hotel. Er wandte sich nach links. Er zählte es mit seinen Schritten ab, es waren rund 100 Meter bis zur russisch-orthodoxen Kirche. Er überquerte die Straße und ging einige Meter in den kleinen Park, der sich hinter der Villa Ritter anschloss. Gegenüber, vor der russisch-orthodoxen Kirche Sankt Peter und Paul, war ein ganzer Pulk von Menschen zu sehen.

Als es sicher war, dass sich in seiner unmittelbaren Nähe keine Menschen aufhielten, stellte er die Verbindung her. Nach mehreren Klingeltönen schien er Erfolg zu haben.

»Ja.«

»Ich bin jetzt am Zielort eingetroffen.«

»Das ist gut so.«

»Ich hatte zwei Bilder geschickt und einen Brief.«

»Sie werden beide Dinge zeitnah beantwortet bekommen.«

Es klickte in der Leitung. Offensichtlich hatte Niklas Schorn das Gespräch unterbrochen.

Larsson schaltete das Smartphone aus, und ging zum Hotel zurück. Als er in der Halle den Tresen passieren wollte, rief ihn die Rezeptionistin: »Herr Doktor Kowalski, kommen Sie bitte einen Augenblick.« Sie reichte ihm einen Umschlag. »Das ist vor wenigen Minuten für Sie abgegeben worden.«

»Wer hat es abgegeben?«

»Ein Mann.«

»Ein Gast aus dem Čajkovskij?«, fragte Larsson

»Nein. Er gab es ab, und ging wieder.«

»Wie alt war etwa?«

»Jünger als Sie. Vielleicht um die Vierzig.«

»Danke«, sagte Larsson.

Er wollte gerade gehen, als die Frau nachlegte: »Ich konnte sehen, wohin er ging.«

Wie elektrisiert, blieb Larsson stehen. Er schaute die Frau erwartungsvoll an.

»Er ging über die Straße, ging wenige Meter am Hofeingang vom Hotel Smetana und an Ihrem Auto vorbei.«

»Aha.«

»Nur wenige Augenblicke später kam er zurück, ging er über den Parkplatz des Hotels und verschwand schließlich im Smetana-Vyšehrad.«

Larsson bedankte sich und fuhr hoch zu seinem Zimmer. Im Bad wechselte er die SIM-Karte wieder aus. Dann öffnete er den Umschlag. Er enthielt zwei Mitteilungen. Die erste Nachricht betraf die Bilder von den beiden Männern, mit denen sich Larsson im Nachtclub Goldener Engel in Ulm befasst hatte.

Er las:

Marcel Stegner 28, *01. August 1981, mehrere Jugendstrafen wg. Körperverletzung. Im Jahr 2000 3 Jahre Haftstrafe wg. Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Danach unauffällig.

Ivo Lärche, *05. Januar 1977, laufende Ermittlung wg. Beteiligung an Geldwäsche, Handel mit Substanzen, die gegen das Betäubungsmittlegesetz verstoßen. Verbindungen zu OK erwiesen.

Achtung: Lebensgefahr. Äußerste Vorsicht!

Die zweite Nachricht betraf das Briefchen mit dem Heroin.

Die H-Probe ist von erstklassiger Qualität.

Aha, so sieht der Auftrag also aus, dachte Larsson. Ihr tappt noch im Dunklen, habt einen Ermittler verloren und wollt kein Risiko eingehen, einen weiteren Mann aus euren Reihen zu verlieren. Im Stillen verfluchte er sich, den Auftrag angenommen zu haben. Auf der anderen Seite sitzt ihr wahrscheinlich im Hotel gegenüber und beobachtet alles, was sich im Čajkovskij bewegt. Und wahrscheinlich könnt ihr jede meiner Bewegungen verfolgen. Er stand auf und ging zu den Fenstern. Sorgfältig zog er die Gardine so vor die beiden Fenster, dass er sich einigermaßen abgeschirmt glaubte.

Sein Smartphone klingelte. Es lag unmittelbar neben seinem kleinen Computer, den er aufgebaut hatte, um zu jeder Zeit ins Netz gehen zu können und um seine Mails aufzurufen. Er ging vom Fenster zurück zu dem Schreibtisch und nahm das Gespräch an. »Ja bitte.« Er wusste, dass seine Stimme wegen des Mannes, der bestimmt jetzt im Hotel gegenüber mithören konnte, sehr hart klang.

»Hallo Lasse. Wie geht es dir, Liebling?« Es war Monika, und ihre Stimme klang etwas zwischen besorgter Liebe und leichten Vorwurf.

»Gut, Monika. Wie sieht‘s bei dir aus?«

»Ich wünschte, du wärst hier. Hatte ich doch gehofft, dass du mit dem Wechsel der Arbeit mehr bei dem Kind und mir sein kannst.«

»Es wird nicht lange dauern, dann bin ich mehr zu Hause als dir lieb sein wird«, sagte Larsson. Sein Ton klang schon versöhnlicher.

»Wer‘s glaubt, der wird selig. Ich denke an deine Worte, niemand ist es anderen Eigentum. Ich weiß jetzt, was du damit meinst.«

»Du hättest von deinem Vater gewarnt sein sollen. Er war auch kaum zu Hause. Das bringt der Beruf eben so mit sich.«

»Da hast du wohl recht. Sei nicht böse, ich will dich nicht kontrollieren. Es ist nur so, dass ich ab und zu deine Stimme hören möchte. Denn wenn ich sie höre, weiß ich, dass es dich überhaupt noch gibt. Wo bist du eigentlich, in Ulm?«

»Ich umarme dich, mein Liebes« sagte Larsson versöhnlich, ging aber nicht auf ihre Frage ein.

»Ich umarme dich auch, Lasse. Bis hoffentlich ganz bald.«

»Ja, bis ganz, ganz bald, mein Liebes.«

Wann immer er sie sehen würde, er könnte ihr sicher nicht erzählen, in was für einen Strudel der Gefahren er sich begeben hatte. Einen Augenblick dachte er daran, was sein würde, bräche er den Auftrag ab. Doch diese Gedanken verscheuchte er augenblicklich.

Aus seinem Aluminiumkoffer nahm er seine Raptor-641.pro, die bei Geräuschen über 65 Dezibel automatisch startete; die Kamera, die nur halb so groß war wie ein schmales Taschenfeuerzeug, dokumentierte während seiner Abwesenheit das Geschehen in seinem Zimmer. Sobald es zwei Minuten still ist, stoppte die Kamera automatisch. Darüber hinaus war sie völlig geräuschlos. Er ging zum Fenster, zog den Stuhl vor das Mauerwerk, das die beiden Fenster unterbrach, so dass man ihn vom Hotel Smetana nicht beobachten konnte, stieg auf den Stuhl und befestigte die Kamera so an der Kante der in Horizontalfalten aufgebauten Übergardine, dass sie, wusste man nicht von ihr, überhaupt nicht zu erfassen war. Sodann machte er sich auf, um in dem hauseigenen Restaurant sein Abendbrot einzunehmen.

Der Eingang zum Restaurant war wie eine schmale Schleuse vor einem großen Raum. Schon beim Eintreten hatte man links einige Tische aufgebaut, auf denen ein Automat für verschiedene Säfte stand, eine große Kaffeemaschine, die in der Lage war, fünf verschiedene Sorten, vom schwarzen Kaffee über den Milchkaffee, bis zum Latte macchiato herzustellen. Dann folgte ein großer Kessel mit kochendem Wasser, für die Möglichkeit, verschiedene Tees zuzubereiten, zwei verschiedene Brotkörbe für diverse, sehr unterschiedliche Brotsorten und diverse Brötchen, ein großes Tablett mit verschiedenen Kuchen, Hörnchen ohne Füllung oder mit Marmelade gefüllt. Und Krapfen. Vor diesen Tischen, von denen sich die Gäste alle bedienen mussten, standen die ersten Vierertische, die durch kunstvolle, hölzerne Sichtblenden vom Rest des Raumes abgetrennt waren. Rechtsseitig ging der Eingang zur Küche ab. Darüber hinaus waren in L-Form die Hauptgerichte angeordnet. Vorn waren 6-8 verschiedene rohe Gemüsesorten zubereitet, die sich wunderbar als Vorspeise, aber auch als Gemüse zu den Hauptspeisen eigneten. Am Kopf des Tisches stand immer ein Warmhaltekübel mit zwei verschiedenen Suppen. An der kurzen Seite der L-Tischanordnung waren die warmen Speisen aufgereiht. Diese bestanden mittags und abends jeweils aus zwei verschiedenen Fischgerichten, verschiedenen Beilagen wie Kartoffeln, Reis, Nudeln und Couscous. Den Abschluss bildeten jeweils zwei verschiedene Fleischgerichte, entweder Schweinefleisch und Rindfleisch oder Rindfleisch und Huhn. Larsson hasste Huhn in jeder Form, war aber beeindruckt von der Vielfalt des Angebotes, wenngleich der Geschmack der Speisen dem der russischen Gäste näher kam als seinem eigenen. Hungern würde er hier nicht müssen.

Larsson begann, sich mit einem kleineren Teller an den Vorspeisen zu schaffen zu machen. Ein wenig von dem in kleinere Stücke gerissenen Blatt- und Endiviensalat, einen Löffel geraspelter Rote Bete, ein Löffel geraspelter Möhren, grüne Oliven und schwarze, Gurke und Tomate. Nun schickte er sich an, einen Platz zu suchen, denn inzwischen waren die anderen Hausgäste ebenfalls eingetroffen. Im Nu waren die Tische mit den angebotenen Speisen umschwärmt. Er ging zurück zu der ersten Tischreihe. Der erste Tisch trug ein Schild mit dem Aufdruck RESERVIERT. Der zweite Tisch war noch frei. Bevor irgendjemand diesen Tisch blockieren würde, stellte er seinen Teller demonstrativ ab. Sodann begab er sich zur Essensdarbietung zurück. Er nahm sich einen vorgewärmten Teller, legte sich zwei Stücke von dem Lachs vor und eine kleinere Scheibe Heilbutt, nahm etwas von der weißen Sauce mit Kapern und gab einen halben Löffel Reis und eine ebenso kleine Portion Couscous dazu.

Er hatte sich kaum an den Tisch gesetzt, als sein Blick auf eine seltsame Gestalt fiel, die jetzt dem Tisch mit dem Reserviert-Schild zustrebte. Es war ein kleiner Mann mittleren Alters, ebenso breit wie lang, unzweifelhaft asiatisch-mongolischer Herkunft, dessen linkes Ohr ein riesiger goldener Ring schmückte. Er trug eine sehr bunte, sehr auffällige, an einen Schlafanzug erinnernde Hose aus Seide, unter einem Hemd, das über diese Hose fiel. Als Ausgleich steckten seine nackten Füße in braunen, nach hinten offenen Lederlatschen. Larsson musste an sich halten, nicht zu oft zu dem Mann, der nur einen Tisch weiter Platz genommen hatte, hinzuschauen. Zu faszinierend war dieser Anblick. In Fallschirmseide gekleidet beim Frühstück, sehen diese Typen eher aus wie Herr und Frau Altkader aus Tomsk auf Belohnungsurlaub. Doch jetzt war Abendessenszeit und der Mann hatte wahrscheinlich noch immer seine Kledasche vom Morgen an. Auch der Goldring im Ohr wäre zu Zeiten der Sowjetunion nicht denkbar gewesen. Kurz hinter ihm war eine ältere Frau gekommen, die dem Sonderling nun gegenübersaß und Larsson den Rücken zudrehte. Wie, so fragte er sich, ist man bereit, einen Mann in einem solchen Aufzug in einem Viersternehotel zu dulden? Und was hat die ältere Frau mit ihm zu tun? Er nahm sich vor, die Empfangsdame nach der Herkunft des Mannes zu fragen.

4. Kapitel

Wie am Vortag, stand Larsson auf dem Weg nahe dem kleinen Wäldchen, der als Abkürzung zum Hotel & Restaurant Mále Versailles führte, gegenüber der russisch-orthodoxen Kirche gelegen, und beobachtete die Vorgänge an der Kirche. Einzelne Menschen kamen, verschwanden in der Kirche und gingen nach einiger Zeit wieder. Manchmal kamen auch ganze Familien.

Um nicht aufzufallen, ging er bis zum Hotel Mále Versailles. Er trank im Restaurant des Hotels einen doppelten Espresso. Dann schlug er einen Bogen und lief über die Křižíkova und Krále Jiřího zurück zur russisch-orthodoxen Kirche. Er kam nun aus der entgegengesetzten Richtung. Vor der Kirche angekommen, betrachtete er eingehend die Bilder des heiligen Peter und des heiligen Paul, die beidseitig am Eingang der Kathedrale angebracht waren. Die Kirchenwände zierten reiche ornamentale bildhauerische und figurale Ausschmückung. Ohne Zweifel war die Kirche ein Kleinod, das in fünfjähriger Bauzeit zwischen 1893 und 1898 nach den Plänen des Franzensbader Architekten Gustav Widemann im damals erblühenden mondänen Viertel Westend erbaut wurde. Als Vorbild für diese Kirche gilt ein byzantinisch-altrussischer Kirchenbau in Ostankino unweit von Moskau, so hatte er am Abend im Internet nachlesen können. Die üppig verzierte byzantinisierte russisch-orthodoxe Kirche basierte auf dem Grundriss eines griechischen Kreuzes. Sie krönen fünf vergoldete Kuppeln. Larsson, der das Gotteshaus schon aus dem Fahrstuhl des Hotels Čajkovskij bewundert hatte, war sichtlich beeindruckt von der Schönheit des Baues. Er hatte sich auch gut auf diesen Besuch vorbereitet. Mit ihrer goldenen Präsenz war die Kirche wohl der sogenannte Punkt aufs „i“ in einem Lot von außergewöhnlichen Bauwerken der Gründerzeit Anfang des 19. Jahrhunderts im vornehmen Karlsbader Stadtteil Westend.

Larsson schloss sich einer Familie an, die in die Kirche strebte. Obwohl er am Abend die Eintragungen im Netz über die Kirche mit Interesse gelesen hatte, überraschte ihn die Inneneinrichtung der reich verzierten hölzernen Majolika-Ikonostase mit in Öl gemalten Heiligenikonen vom Maler Tjurin, die ursprünglich in Kusnezowo für die Pariser Weltausstellung von 1900 hergestellt wurde, über die Maßen. Die vielen, teils unter Glas gezeigten Heiligenbilder faszinierten ihn ebenfalls.

Um nicht aufzufallen, kaufte Larsson einige Kerzen, die er, gleich anderen Besuchern, in der Nähe des hölzernen Altar-Reliefs auf einem eigens dafür aufgestellten hölzernen Block mit kleinem Heiligenbild anzündete. Dann setzte er sich linksseitig hinter den Mauervorsprung, der beidseitig des Raumes nur je einen Sitzplatz anbot, der den Altarraum zum Hauptraum abschirmte. So konnte er eventuell unbeachtet vom Rest der Besucher die Gläubigen beobachten, die sich an den Heiligenbildern besonders benahmen. Er kannte die Zeremonien der Heiligenverehrung innerhalb der katholischen Kirche. Doch was er hier sah, stellte alles, was er bisher kennengelernt hatte, weit in den Schatten. Selbst die allerhärtesten Männer waren zu beobachten, wie sie vor den Bildern die Rahmen küssten und voller Inbrunst mehrere Kreuze schlugen, bevor sie zum nächsten Bild zogen, um Gleiches zu wiederholen.