Der Tod ist keine schwarze Gestalt - George Tenner - E-Book

Der Tod ist keine schwarze Gestalt E-Book

George Tenner

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Beschreibung

Julia war eine überaus hübsche Frau, groß gewachsen, schlank, mit einer Ausstrahlung, die Männerherzen in Wallung brachte; doch eigentlich war sie ein wandelndes Ersatzteillager, das seit ihrer frühen Jugend dafür sorgte, dass sie überhaupt überleben konnte. Der Tod spielte ständig mit ihr, gab ihr ein Stück des Lebens als Darlehen wieder zurück, um sie abermals aufzurufen. Jedes Mal, wenn sie ein Stück von diesem Darlehen erhalten hatte, versuchte sie, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Doch welcher der Frauen in Jacques Offenbachs "Phantastischer Oper Hoffmanns Erzählungen", kommt Julia am nächsten: Olympia, der Puppe, Antonia, der Künstlerin oder Giulietta, der Hure?

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Der Tod ist keine schwarze Gestalt

Julia war eine überaus hübsche Frau, groß gewachsen, schlank, mit einer Ausstrahlung, die Männerherzen in Wallung brachte; doch eigentlich war sie ein wandelndes Ersatzteillager, das seit ihrer frühen Jugend dafür sorgte, dass sie überhaupt überleben konnte. Der Tod spielte ständig mit ihr, gab ihr ein Stück des Lebens als Darlehen wieder zurück, um sie abermals aufzurufen. Jedes Mal, wenn sie ein Stück von diesem Darlehen erhalten hatte, versuchte sie, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Doch welcher der Frauen in Jacques Offenbachs »Phantastischer Oper Hoffmanns Erzählungen«, kommt Julia am nächsten: Olympia, der Puppe, Antonia, der Künstlerin oder Giulietta, der Hure?

Der Tod ist keine

schwarze Gestalt

Novelle

George Tenner

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© by George Tenner

[email protected]

Bilder: © by Bettina Stöß

Lektorat: Sabine Dreyer Tat-Worte.de

Grafik: VercoDesign, Unna

ISBN: 978-3-7450-6853-5

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Verlange nie zu wissen, wem die Stunde schlägt;

sie schlägt dir selbst.«

John Donne *1572 †1631

Danksagung

Requiem.

Es war eine wundervolle Aufführung, die ich vor einigen Jahren in der Deutschen Oper in Berlin gesehen habe. Auf dem Nachhauseweg und hin zum Stadtrand von Berlin habe ich mir alle zwei, drei Kilometer laut gesagt: »Junge, was hast du für ein Glück, in diesem Leben noch eine solch beeindruckende Inszenierung sehen zu dürfen.«

All die Jahre haben mich die Bilder, die durch die Musik zum Leben erweckt wurden, verfolgt. Sie haben mich zum Schreiben einer Novelle über die Liebe und den Tod animiert.

Mein Dank geht an die Deutsche Oper Berlin für diese wunderbare Inszenierung von Achim Freyer und an den großen Meister Giuseppe Verdi, vor dem ich mich noch einmal tief verneige.

Außerdem bedanke ich mich sehr bei der Leiterin der Presseabteilung der Deutschen Oper Berlin, Kirsten Hehmeyer, die die Nutzung der Bilder genehmigte und mir den Kontakt zur Theaterfotografin Bettina Stöß vermittelte, die diese Aufnahmen eindrucksvoll in Szene setzte.

Zuletzt bedanke ich mich bei der Frau, der Hauptfigur dieses Buchs, die in den sechs Jahren unserer Verbindung dazu beigesteuert hat, dass diese Novelle überhaupt so existieren kann.

George Tenner

Kapitel 1

Die Frau ist kein Raubtier,

im Gegenteil:

sie ist die Beute,

die dem Raubtier auflauert

José Ortega y Gasset

Es begab sich, dass Jason Muench am 1. Dezember, einem Donnerstag, in Hamburg bei einem Totschlagsprozess aussagen musste. Die Anhörung dauerte über neunzig Minuten. Schweren Herzens gestand er sich ein, dass er nach der Konzentration, die man von ihm als Autor erwartete, im Anschluss total ausgelaugt war.

Als Muench vom Gericht entlassen worden war und gerade einige Worte mit dem diensthabenden Wachtmeister wechselte, rief ihn ein Mann, der auf einer Bank vor dem Befragungsraum saß, bei seinem Namen. Er registrierte das nur schemenhaft. Eine getroffene Verabredung, die ganze Zeit im Gedächtnis behaltend, erinnerte ihn daran, nach dem Mann Ausschau zu halten. Muench realisierte nicht, dass es sich um exakt denjenigen handelte, mit dem er vor Tagen schriftlich eine Vereinbarung zu diesem Treffen fixiert hatte. Mitte Juli traf er ihn für wenige Minuten, um von ihm Begleitumstände zu erfahren, die zu dem Mord an einer Frau geführt hatten, die ihm relativ nahestand. Muench hatte vor dem Haus gewartet, bis jemand hinauskam. Damals trug er kurze Hosen. Nun war er dick angezogen. Das veränderte Aussehen löste bei Muench keine Emotionen aus. Deshalb ignorierte er ihn. Im Nachhinein würde es ihn ärgern, denn das war der Mann, der ihn mit den Tatsachen versorgte, die er als Autor für die romanhafte Bearbeitung des Falles brauchte.

Als der Wachtmeister ihm erklärt hatte, dass er nur wenige Türen im Nebengang passieren müsse, um seine Kosten für diese Fahrt zum Strafgericht geltend zu machen, eilte er schnurstracks dorthin. In der Tat hatte er in ein paar Minuten eine Überweisung der geltend gemachten Unkosten mit der Beamtin vereinbaren können. Er wusste nicht mehr genau, wo er sich mit dem Fremden verabredet hatte. Deshalb ging er hinaus zum Eingang des Gerichtsgebäudes. Da es angefangen hatte zu regnen, stellte er sich dorthin und wartete geduldig. Nach 20 Minuten ging er davon aus, dass der Mann ihn wohl versetzt hatte. Er lief die rund hundert Meter bis zu seinem Fahrzeug im Regen und war froh, dass der Wagen nicht allzu weit stand. Bis an den Stadtrand fuhr er und darüber hinaus bis zur Auffahrt der Autobahn nach Tornesch. Im reetgedeckten Bauernkaten warteten seine Freunde Ingrid und Uwe auf ihn, bei denen er schon die letzte Nacht geschlafen hatte. Sie ließen sich von ihm genau berichten, wie die Anhörung gelaufen war.

Am Morgen darauf verließ Muench den Bauernkaten in Tornesch. Er hatte mit Uwe gefrühstückt, während Ingrid noch im Bett geblieben war. Jason war das recht, denn so konnte er ohne Verzögerung seine Utensilien in das Fahrzeug packen. Kurz darauf fädelte er sich in den laufenden Verkehr in Richtung Hamburg ein, passierte wenig später die Gabelung Hannover-Berlin-Bremen. Er entschied sich, über Bremen zu fahren, da sich die Autobahn in Hannover im Bau befand. Das hatte zur Folge, dass der Verkehr ziemlich zäh lief. Wenn Muench etwas hasste, dann war es schleppender Verkehr auf der Autobahn.

Gegen Mittag hatte er die Hälfte der 460 Kilometer hinter sich gebracht. Bei der nächsten Autobahnraststätte verließ er die Fahrbahn, um seinen Wagen nachzutanken. Er parkte den Benz vor dem Eingang zum Bistro. Einen Augenblick saß er noch regungslos und dachte nach. Lange hatte er Julia nicht mehr gesehen. Er versuchte nachzurechnen, wann es das letzte Mal gewesen war. Doch er befand, dass es letztlich müßig wäre, sich darüber Gedanken zu machen, ob es diesmal zu einem Treffen kommen würde. Oder doch nicht?

Vor einem Jahr war Julias Mutter verstorben. Das war der Moment, an dem sie wieder Kontakt zu ihm aufgenommen hatte. Gänzlich unerwartet fand er eine Mail von ihr vor, in der stand:

Am 24.02.2015 küsste ich noch ihre warmen Lippen. Nur ein Tag später ihre kalten.

Sie ist völlig unerwartet in der Nacht friedlich eingeschlafen. Mein Herz wurde mir aus der Brust gerissen. Das Foto entstand nur 4 Monate vor ihrem Tod. Sie wurde nur 69 Jahre alt. Sie ist in einem Friedwald beerdigt. Ich habe das Bedürfnis, dich davon in Kenntnis zu setzen.

Julia.

Angehängt waren drei Bilder: eine Beerdigungsanzeige, das Foto eines Mannes, der an einem Baum lehnte und mit einer Hand auf den Boden zeigte, sowie das Bild ihrer Mutter, die darauf eine blaue Hose und eine rote Jacke trug und lächelnd in die Kamera schaute.

Jason musste zugeben, dass ihn die Nachricht getroffen hatte. Nicht weil er nicht mit dem Tod umgehen konnte. Am Ende eines jeden Lebens steht schließlich der Tod. Und er, der sich mit dem Schreiben von Kriminalromanen seinen Lebensunterhalt verdiente, war ständig mit Ermittlungsarbeiten oder Ergebnissen der Rechtsmedizin beschäftigt. Was also hätte ihn erschüttern können? Es war der Satz: Ich habe das Bedürfnis, dich davon in Kenntnis zu setzen.

Wie es seine Art war, antwortete er in solchen Fällen nicht sofort. Doch er dachte daran, dass der Tod einer Mutter der erste Kummer ist, den Kinder ohne sie beweinen müssen. Und er wusste, wie hart das Julia treffen würde. Er las sich die Nachricht mehrfach durch, doch einen Tag später schrieb er ihr.

Der Tod, Julia, verbreitet immer Angst und Schrecken, ganz gleich, wo er seine Ernte hält. Dass es Dich besonders hart trifft, weil sie die Einzige war, die Deine Probleme kannte, die Dir als Mutter stets verzeihen konnte und Dir immer stärkend zur Seite stand, ist mir mehr als verständlich. Sie war sicher eine Übermutter geworden, ohne die Du nun aufgerufen bist, Dein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Keine leichte Aufgabe, weiß Gott. Ich hoffe für Dich, dass Du in dieser schweren Stunde, in dieser schweren Zeit nicht allein bist, und wünsche Dir viel Kraft.

Jason

Darauf folgten ein, zwei Telefonate. Er war gewillt, sie erst einmal ihren Schmerz ausleben zu lassen. Drei Monate später schickte er ihr eine Mail.

Hallo Julia,

nur mal so … eine kleine Anfrage. Rund vier Monate sind nun vergangen, seit Deine liebe Mutter von Dir gegangen ist. Die Zeit, sagt man, heilt alle Wunden. Geht es Dir den Umständen entsprechend gut? Ich hoffe sehr. Bin bald in Deiner Nähe, Euskirchen und Pulheim.

Dir alles erdenklich Gute wünschend, und mit den besten Grüßen, Jason

Nur wenige Stunden später kam ihre Antwort:

Hallo Jason,

wenn auch eine kleine, dennoch eine inhaltsschwangere Nachricht; etwas anderes habe ich von dir nicht erwartet. Ja, der Schmerz sitzt tief, jedoch habe ich gelernt, ihn zu kontrollieren. Zumeist jedenfalls … Wann wirst du in der Nähe sein?

Herzliche Grüße, Julia

Dieses Mal fiel seine Antwort etwas länger aus.

Liebe Julia,

recht hast du natürlich. Gute Gedanken kann man nicht erzwingen. Das Leben ist ein Darlehen vom Tode, und niemand weiß, wann dieses Darlehen zurückgefordert wird. Für jeden Menschen ist der Tod sicher eine Überraschung, für den, der 100 Jahre alt wird ebenso wie für denjenigen, der in jungen Jahren abtreten muss. Dieser Unterschied ist die einzige Ungerechtigkeit in diesem Leben.

Sollten sich also die guten Gedanken nicht einstellen, sei nicht traurig. Denn dann hoffe ich, dass wir Freunde bleiben werden.

Wenn ein kurzfristiges Treffen also nicht zustande kommt, dann werde ich in jedem Fall zwei Stunden für ein Mittagessen einplanen, wenn ich zum Bodensee fahre – entweder auf der Hinfahrt oder auf dem Rückweg, wenn ich in Pulheim übernachten werde.

Wie immer Du Dich entscheiden wirst, so wird es sein.

Also gehen wir den Tag an, wie wir es immer tun. Und denken wir daran, das Leben hat immer die eine oder andere Überraschung für uns bereit.

Dir einen wundervollen Sonntag … Jason

Jason Muench hängte ein Smiley an.

Wieder telefonierten sie miteinander, und er beschrieb Julia ein Gedicht von Erich Fried, das er versprach, ihr zuzuschicken.

Liebe Julia, guten Morgen,

ich wünsche Dir einen wundervollen Wochenbeginn, auch wenn es regnet, wir brauchen das Wasser dringend in der Landwirtschaft, denn Wasser bedeutet Leben. Und hier kommt für Dich das angekündigte Gedicht von Erich Fried.

Ich denke, es passt auch für … Dich,

Jason.

Wieder hängte er das Smiley an.

Nicht Schlafen mit dir

nein: Wachsein mit dir

ist das Wort

das die Küsse küssen kommt

und das das Streicheln streichelt

und das unser Einatmen atmet

aus deinem Schoß

und deinen Achselhöhlen

in meinen Mund

und aus meinem Mund

und aus meinem Haar

zwischen deine Lippen

und das uns die Sprache gibt

Von dir für mich

und von mir für dich

eines dem anderen verständlicher

als alles

Wachsein mit dir

das ist die endliche Nähe

des Sichineinanderfügen

der endlosen Hoffnungen

durch das wir einander kennen

Wachsein mit dir

und dann

Einschlafen mit dir

Neben ihm hielt ein großer, schwarzer Leichenwagen und riss ihn aus seinen Gedanken. Aus dem Fahrzeug stiegen zwei finstere Gestalten. Der Fahrer des Wagens war gut genährt und schob einen Bauch vor sich her, der von regem Bierkonsum und deftigem Essen zeugte. Der andere war spindeldürr. Er schaute Jason direkt ins Gesicht. Der Blick war kurz und intensiv, berührte Jason unangenehm.

Selten hat man das, dachte Jason, dass die Sekunde des ersten Blicks von Mensch zu Mensch so unangenehm ist.

Die Männer gingen in die Raststätte.

Kurz nach ihnen betrat Muench den Gastraum. Ein Hauch von Brühwurst und Sauerkraut hing in der Luft. Der Geruch erinnerte ihn fast schmerzhaft daran, dass er nur zwei Scheiben Toast am Morgen verzehrt hatte. Also ging er zum Tresen und bestellte sich eine große Bockwurst mit Kraut und Brot, die er kurze Zeit später in Empfang nahm. Bei der Suche nach einem geeigneten Platz blieb sein Blick an dem Tisch hängen, an dem die beiden Männer saßen. Es waren auch noch andere Tische frei, aber einem inneren Zwang folgend, steuerte er auf den zu, der den beiden am nächsten war. Nun saßen die Männer aus dem Leichenwagen direkt neben ihm.

Als Erstes bemerkte er, dass sie kein Wort miteinander sprachen. Diese Schweigsamkeit verwunderte ihn. Der Jüngere, der mit dem Bauch, war gerade dabei, die Hälfte eines Mettbrötchens in den Mund zu schieben. Der andere, eine weißhaarige, klapperdürre Erscheinung, eben dieser Mann, der Jason schon vor der Raststätte gemustert hatte, saß ihm nun genau gegenüber. Er hatte nur einen Pott Kaffee vor sich stehen, an dem er ab und zu lustlos nippte.

Ihre Augen trafen sich wieder, blieben für Sekunden ineinander hängen.

Jason Muench durchfuhr es kalt. Er versuchte erneut, sich von dem Blick des Mannes loszumachen, kehrte aber stets nach wenigen Sekunden zu ihm zurück. Ist es nicht Sünde, fragte er sich, einen anderen mit dieser Intensität zu mustern? Ist es nicht so aufdringlich, dass er sich verletzt fühlen musste? Aber ist er nicht ebenso aufdringlich? Einen Moment dachte er darüber nach, dass mit dem Leichenwagen der Tod zu ihm kommen könnte. Doch er musste lächeln. So etwas war für ihn unvorstellbar.

Der letzte Blick, den Jason Muench mit dem Fremden wechselte, versetzte ihn in Trance. Als er wieder zu sich kam, war den Nebentisch leer. Jason brauchte einige Minuten, um wieder klar denken zu können. Wie war er hier in dieses Restaurant gekommen? Was hatte der leere Teller mit ihm zu tun, der nun vor ihm stand. Da sein Hunger wie weggeblasen war, musste er etwas gegessen haben. Am Rand des Tellers bemerkte er die Reste vom Senf. Plötzlich schmeckte er Sauerkraut in seinem Mund. Hinter einem Backenzahn hatte sich ein kleines Krautstück festgehakt. Also habe ich hier gegessen, konstatierte er.

So sehr er sich auch mühte, er erinnerte sich nicht, was in diesem Raum geschehen war.

Als er sich wieder gefangen hatte, stand er auf und ging hinaus zu seinem Fahrzeug. Er stieg ein, fuhr an die Tanksäule, betankte den Wagen. Nach dem Bezahlen blieb noch eine Weile bei seinen Gedanken in seinem Auto sitzen. Die Philosophie sagt, dass man das Leben rückwärts anschauen muss, damit man es vorwärts leben kann, dachte er.

Muench nahm seinen Laptop von der Rückbank, den er immer mit sich führte, wenn er auf Reisen ging. Er hatte alle SMS- und WhatsApp-Nachrichten abgespeichert, die zwischen ihm und Julia in all den Jahren hin und her gegangen waren. Mehr als eintausend. Nur wenige waren verloren gegangen. Doch er entsann sich, kannte die Übergänge fast auswendig.

Er fuhr den Computer hoch, und rief die Nachricht auf, die ihn von Beginn des Dialogs an so fasziniert hatte, dass er eine der interessantesten, aber auch zehrenden Recherchen seines Lebens startete. Nur wusste er es zu dem Zeitpunkt noch nicht.

16. Juli 2011

Guten Morgen, Herr Muench,

ich freue mich sehr auf unseren Kontakt, und wir empfinden aufgrund der Liebe zur Musik und dem, was die Welt, zumindest in dem Augenblick, wenn man sie hört, besser und reiner macht. Dies ist zwar eine Illusion … was wären wir Menschen ohne Illusionen, Träume, Wünsche? Wir wären nicht mehr als ein Rädchen an einer mit Akribie erschaffenen Maschine mit der Aufgabe, zu funktionieren.

Bitter … Je öfter wir uns aber mit etwas Reinem, Wundervollem beschäftigen können, können wir in dieser Zeit wieder Kraft tanken, um den tagtäglichen Wahnsinn von Betrug, Lügen, und Gewalt »auszuhalten«. Ich sage ganz bewusst nicht den Ausdruck Leben, denn das hat Gott so sicher nicht gewollt.

Ich glaube an Gott … ich glaube daran, dass diese Sodom-und-Gomorrha-Phase unseres Existierens irgendwann durch ein großes Ereignis gestoppt wird (und ich meine nicht das »harmlose« Sodom und Gomorrha, das war ein reiner Spaziergang zu dem, was uns noch bevorsteht) … ich glaube ganz fest daran … Ich muss schon sagen, man benötigt da sehr großes Vertrauen und Geduld … aber jeder hat sich am Ende seines Lebensweges für das zu rechtfertigen, was er auch nur dem ärmsten seiner Art angetan hat. Wir alle werden nicht davon verschont … Aber ich habe keine Angst davor … Ich versuche mich, wie Luther gesagt hat, an die zehn Gebote zu halten. Wenn ich dann den Spruch höre … ja … wir sind ja alle »nur« Menschen und machen schon einmal den ein oder anderen Fehler, möchte ich mich nicht auf dieser Bequemlichkeit ausruhen.