Das Lächeln der Mona Lisa - George Tenner - E-Book

Das Lächeln der Mona Lisa E-Book

George Tenner

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Beschreibung

Mitte des Jahres 1994 findet die Haushälterin Roswitha Färber die Leiche des Kunstmalers Helmut Müller-Karsten in dessen Wohnzimmer im Dresdner Künstlerhaus in Loschwitz. Aufgrund des verwüsteten Zustands, in der sich die Wohnung des Malers befindet, stuft der Notarzt ihn als "ungeklärten Todesfall" ein. Damit wird die Dresdner Mordkommission um Leiter Barneby Kern auf den Plan gerufen. Bei ihren umfänglichen Ermittlungen in der Dresdner und internationalen Kunstszene stoßen sie immer tiefer in einen Strudel von Korruption, illegalen Gemäldehandel, Geldwäsche und politischen Verstrickungen. Zunächst gerät Müller-Karstens Stiefsohn Vester in Verdacht, etwas mit dem Tod des Malers zu tun zu haben. Dabei spielen spezielle Frauenbildnisse eine Rolle, hinter denen nicht nur Vester, sondern auch Galeristen, die Stasi, Kunsthändler und die russische Mafia her sind. Der Krimi führt in die Welt der Mondänen und Lasziven und deckt auf, wie "hohe Tiere" der Stasi Geld beiseite schafften und dabei Verbindungen in die BRD zu nutzen wussten. Der komplexe Fall bleibt lange undurchsichtig, weitere Morde geschehen, aber das Team Kerns bleibt hartnäckig und kann am Ende einen Fall ungeahnten Ausmaßes aufklären.

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George Tenner

Das Lächeln

Impressum

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

Epilog

Danksagung

Impressum

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in Der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet überhttp://dnb.ddb.deabrufbar.

Coverbilder von Helmut Schmidt-Kirstein, Dresden

Aquarelle von 1943, Frauenkirche und Brühlsche Terrasse

Copyright© 2020George Tenner Bernau

Tel.: 03338-9090917

Handy:0157 844 951 28

Email:[email protected]

Homepage:www.george-tenner.de

Wikipedia:https://de.wikipedia.org/wiki/George_Tenner

Lektorat: Gabriele Raetzer

George Tenner

Das Lächelnder MonaLisa

Statt eines Vorworts

Wenngleich die in diesem Buch beschriebenen Städte, Örtlichkeiten, Gebäude und Personen in den Jahren 1948 bis 1995 in der Regel den tatsächlichen Gegebenheiten der Handlung entsprechen, werden teilweise die Namen verändert wiedergegeben, um noch lebende Personen nicht zu kompromittieren.

Dabei sind aus Gründen der Dramatik bestimmte Geschehnisse geringfügig verändert und dabei zeitlich oder lokal versetzt worden.

Sollten Sie dennoch Ähnlichkeiten erkennen, so sind diese teilweise in der Tat beabsichtigt.

George Tenner

Prolog

Die Farbe Gelb

Auf dem Weg von ihrem Laubengrundstück in Dresden-Coschütz, das sie von ihrem Vater übernommen hatte und auf dem sie, so oft es ging, im Sommer ihre Zeit verbrachte, zu ihrer Arbeitsstelle nach Loschwitz dachte die Frau daran, wie gut es war, dass sie die Betreuung des alternden Kunstmalers übernehmen durfte. So hatte sie zu ihrem kleinen Hartz-IV-Einkommen immer noch ein kleines Zubrot. An diesem Tag erschien Roswitha Färber ihre ganze Umgebung in Gelb. Die drei Kerzen auf ihrem Couchtisch in der Form gelber Eier, die von Ostern übrig geblieben waren und die sie bisher nicht abgebrannt hatte, um ihren Anblick noch lange genießen zu können. Das Sommerkleid, das sie nun trug. Die Butterblumen auf der Wiese, an der sie vorbeigehen musste.

Noch niemals hatte sie Vergleiche der Deutungen zwischen den Farben Rot, Blau und Gelb angestellt. Aber irgendwie hatte sie eine Intuition, mit den Farben zu spielen. Rot stand für das Hier und Jetzt, Blau für die Vergangenheit und Gelb … Gelb für die Zukunft. Rot für aktiv, Blau für reflexiv, Gelb für passiv. Rot für Härte, Blau für Kontrolle, Gelb für Gutmütigkeit. Eine kurze Zeit brachte sie es fertig, ihre Gelbgedanken zu verdrängen, doch dann stutzte sie. Stand Gelb nicht für Missgunst und Hass? Für Neid und Streit? Hieß es nicht im Volksmund, dass Gelb die Farbe der Eifersucht sei?

Die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt Dresden trugen die Farbe Gelb. Sowohl die Straßenbahn, die sie benutzte, als auch der lange Gliederbus, der sie über die Brücke brachte, die man das Blaue Wunder nannte und die Blasewitz mit Loschwitz verband, waren gelb. Als sie vor dem Künstlerhaus in der Pillnitzer Landstraße in Loschwitz ausstieg, leuchtete ihr der 1898 entstandene, imposante Bau des Architekten Martin Pietzsch mit seinen gläsernen Ateliers und den Vorbauten am Haupteingang entgegen. Sie erschrak. Auch das Künstlerhaus hatte man in gelber Farbe gestrichen. Noch kurz nach der politischen Wende in Deutschland starrte das Haus grau und ungepflegt gen Himmel; wer immer für die Erneuerung des Hauses plädiert hatte, wusste, dass Dresden eine Stadt der Kunst war. Und dass die Kunst auch durch die hier arbeitenden Menschen in alle Welt exportiert wurde und das Ansehen der Stadt mehrte, war unbestritten.

Einen Augenblick nur dachte sie an diesen Kunstexport, an die Komponisten, Dirigenten und Sänger, die an der Städtischen Oper gearbeitet hatten; Carl-Maria von Weber, Karl Böhm und Joseph Keilberth gehörten dazu, der Tenor Rudolf Dittrich und der Bass Kurt Böhme, die Kammersängerin Erna Sack und die Sopranistin Elfriede Trötschel. Auch Dresdner Maler waren weltweit ein Begriff; Robert Sterl und Josef Hegenbarth, Wilhelm Lachnit, Helmut Schmidt-Kirstein und Karl Kröner, der Bildhauer Herbert Volwahsen, die Grafiker Hans Theo Richter und der Leipziger Max Schwimmer, der nach Dresden an die Hochschule für Bildende Künste ging, wo er zum Leiter der Grafikabteilung avancierte.

Sie überquerte die Straße und ging zum Hintereingang des Hauses. Schon die schwere Haustür, die sonst verschlossen war, ließ sich ohne Schlüssel öffnen. Sie registrierte das unsicher. Helmut Müller-Karsten war ein überaus zurückgezogen lebender Mann, der sich nach dem Tod seiner Frau geradezu einigelte. Niemals zuvor hatte sie die Tür unverschlossen vorgefunden. Sie ging die wenigen Stufen zum Hochparterre und klopfte an die Wohnungstür, so wie sie es immer gemacht hatte. Als keine Antwort kam, kramte sie den Schlüssel hervor, den ihr der überaus vorsichtige Maler anvertraut hatte, und schloss auf. Sicher war er gerade im hinteren Zimmer, das das Ehepaar als Schlafzimmer genutzt hatte.

Ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase. Vorsichtig schob sie den schweren Brokatvorhang beiseite und erstarrte. Vor dem Schlafzimmereingang lag der Mann, den sie nun seit fast einem halben Jahr betreut hatte. Sie versuchte zu schreien. Als aber kein Laut aus ihrem geöffneten Mund kam, begriff sie, dass hier der Tod geerntet hatte. Sie ging näher heran und betrachtete die Leiche. Der Mann war abgemagert, sah fast durchsichtig aus. Um ihn herum bemerkte sie noch nicht ganz eingetrocknete Flüssigkeit, die er im Todeskampf verloren haben musste. Sie dachte an das letzte Zusammentreffen mit dem Maler, der ihr eine schöne Zeit auf ihrem Wochenendgrundstück gewünscht hatte. Das war vor vier Tagen gewesen. Und da war er überaus fröhlich gewesen. Sonst still und in sich gekehrt, hatte er sogar kleine Witze gemacht und ihr Aussehen gelobt. Fast hatte sie den Eindruck, dass er in ihr mehr sah als eine Hartz-IV-Empfängerin, die froh sein musste, ein wenig dazuzuverdienen. Dann fiel ihr Blick auf den heruntergerissenen Vorhang, der sonst vor der Schlafzimmertür hing. Er zeigte in schwarzer Farbe ein halb nacktes Mädchen zwischen Blumen und Krügen in einer italienischen Landschaft. Die Grundfarbe des seidenen Vorhangs war gelb.

Sie forderte über die 112 einen Notarzt an. Es dauerte keine fünfzehn Minuten, bis der Rettungswagen eintraf. Der Mediziner, ein relativ junger Mann, konnte nur noch den Tod des Malers feststellen. Auf dem Totenschein kreuzte er ungeklärte Todesursache an. Das würde unweigerlich eine Obduktion nach sich ziehen. Dann fuhr er wieder ab.

1. Kapitel

Dresden, im Juli 1994

Der Notruf erreichte die Zentrale um 9 Uhr 56. Eine Frau meldete den Fund einer Leiche. Die Leitstelle der Polizei schickte einen Streifenwagen zu der angegebenen Adresse. Die Beamten wiederum verständigten die Kripo, weil der Notarzt auf dem Totenschein ungeklärte Todesursache angekreuzt hatte.

»Wir haben eine Leiche. Der Arzt hat Zweifel an einem natürlichen Tod«, sagte Kriminaloberkommissar Thomas Lenz. »Wir sollen uns das anschauen, Barny.«

Hauptkommissar Barnaby Kern war mit seinen zweiundfünfzig Lenzen ein alter Hase in der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Sein Ruf ging weit über die Grenzen Dresdens hinaus. Und so war er nicht nur ein gern gesehener Gastdozent an der Humboldt-Universität in Berlin; für ein Vierteljahr war er auch am Institute of Criminology der Cape Town University in Kapstadt in Südafrika tätig gewesen. Die Kollegen dort hatten ihn mit einer gewissen Hochachtung Barny genannt, und diese Abkürzung seines Namens hatten sich dann auch die Kollegen in Dresden zu Eigen gemacht.

»Wo?«

»In Loschwitz.«

Barnaby Kern stand auf, schob umständlich seinen Stuhl wie-der an den Schreibtisch. Lenz stand schon an der Tür. Sie fuhren von der Polizeidirektion in der Schießgasse über die Steinstraße direkt zum Käthe-Kollwitz-Ufer und dort an der Elbe entlang. Der Ausflugsdampfer Cosel fuhr eine kurze Zeit neben ihnen flussaufwärts. Dann hatten sie ihn überholt. Sie nahmen die neue Umfahrung und kamen von der Rückseite über die Kretschmer und Tolkewitzer Straße zum Schillerplatz. Als sie das Blaue Wunder überquerten, konnten sie linksseitig die Cosel wieder sehen. Vor dem Körnerplatz staute sich der Verkehr, und Thomas Lenz stellte das Blaulicht aufs Dach. Das zuckende Licht brach sich in den Schaufenstern der Geschäfte und wurde mehrfach wiedergegeben. Die Ermittler preschten die Pillnitzer Landstraße entlang und waren nach wenigen Minuten vor dem großen gelben Haus Nr. 57/59 angekommen, in dem seit vielen Jahren ein Teil der Dresdner Künstler wohnte und arbeitete. Zwei Funkwagen standen in der Durchfahrt zum Hintereingang des Gebäudes. Lenz hatte Mühe, den Wagen so zu parken, dass er nicht auf die viel befahrene Pillnitzer Landstraße hinausragte. Den Beamten, der neben einem der Wagen stand, kannten sie nicht. Zu groß war der Apparat in Dresden, um alle zu kennen.

Barnaby Kern zog den Dienstausweis, fragte nur: »Wo?«

»Im hinteren Eingang, Hochparterre.«

Thomas Lenz und Barnaby Kern strebten dem Eingang zu. Die Kollegen der Schutzpolizei des Reviers Nord hatten den Eingang schon mit einem rot-weißen Band abgesperrt, sodass Unbefugte keinen Zutritt zum Tatort hatten. Dennoch war die Neugier der Mitbewohner unübersehbar. Einige schauten ungeniert aus dem Fenster, andere versuchten, dicht an der Absperrung stehend, einige Blicke zu erhaschen und etwaige Neuigkeiten via Zuruf nach oben zu verbreiten.

Die beiden Beamten betraten die Wohnung. Auf dem Sofa saß Roswitha Färber, die nun still vor sich hin weinte. Neben ihr stand einer der Polizisten in Uniform und redete beschwichtigend auf sie ein. Der Hauptkommissar kannte ihn. Es war Polizeiobermeister Östergard.

Also dann, dachte Barnaby Kern, fangen wir an. Jetzt geht es los. Er nickte kurz Thomas Lenz zu und sagte dann zu dem Polizisten in Uniform: »Danke, Kollege. Wir übernehmen das jetzt.« Er sah, wie der Mann wegging, und schaute taxierend die Frau an, die vor ihm saß und ihn mit Tränen in den Augen musterte.

Der Tote lag noch da. Man hatte ihn mit einem Bettlaken zugedeckt. Thomas Lenz war hingegangen, hob das Laken hoch, schaute zum Hauptkommissar hinüber und schüttelte den Kopf.

»Mein Name ist Barnaby Kern. Ich bin Hauptkommissar bei der Mordkommission Dresden. Sie haben ihn gefunden?«

»Ja.«

»Wie heißen Sie?«

»Roswitha Färber.«

»Was haben Sie hier gemacht, Frau Färber?«

»Ich komme zweimal pro Woche, halte dem alten Herrn die Wohnung sauber und kaufe für ihn ein. Er ist nicht mehr so gut zu Fuß.«

»Dann haben Sie einen Schlüssel?«

»Ja. Aber in der Regel brauchte ich ihn nur, um die Haustür zu öffnen. An der Wohnungstür habe ich eigentlich immer geklopft, und Herr Müller-Karsten hat mir geöffnet oder gerufen, ich solle hereinkommen. Diesmal aber war es anders.«

Als die Frau nicht weitersprach, ermunterte er sie: »Was war anders als sonst?«

»Die Haustür war unverschlossen.«

»Vielleicht hatte es der Mann ja vergessen?«

»Seit dem Tod seiner Frau schloss er die Tür immer ab. Er litt so stark unter dem Alleinsein, dass er mit niemandem mehr redete. Mit Ausnahme von Herrn Vester und mir.«

»Wer ist Herr Vester?«

»Sein Sohn.«

»Wieso heißt der Vester?«

»Es war wohl ein Sohn aus der ersten Ehe der Frau.«

Barnaby Kern betrachtete die Frau. Obwohl sie schon um die vierzig war, schien sie unverbraucht. Ihr Gesicht zeigte kaum Falten, und in dem gelben Kleid sah sie hübsch aus. »Sein Sohn? Haben Sie ihn schon verständigt?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Er ist nicht da. Ich habe bei ihm geklopft. Aber er hat nicht aufgemacht, und da ist mir eingefallen, dass er nach Bischofswerda gefahren ist.«

»Was macht er dort?«

»Die Müller-Karstens besaßen dort einen Garten mit einer Laube, die die Frau von ihren Eltern geerbt hatte. Der Vater war vor dem Krieg Fabrikant.«

Thomas Lenz, der hinausgegangen war, um mit einem der Polizisten zu sprechen, die den Eingang sicherten, kam zurück. »Barny, hier hat ein Vester gewohnt. Unten im Souterrain. Der soll mit dem Toten verwandt gewesen sein.«

Barnaby Kern antwortete nicht darauf, sondern fragte die Frau: »Warum sagen Sie nicht gleich, dass Vester hier gewohnt hat?«

»Es waren die Arbeitsräume von Helmut Müller-Karsten. Er hat Thomas Vester dort wohnen lassen, weil der keine Wohnung hatte.«

»Aber heute gibt es doch wirklich genügend Wohnungen auf dem freien Markt«, warf Thomas Lenz ein.

»Der Junge war wohl ein Trinker, der sich für einen Künstler hielt, aber wohl keiner war und nie Geld hatte. Er segelte immer im Windschatten seines bekannten Vaters.«

»Der Junge? Wie alt war denn der Junge?«, fragte Barnaby Kern.

»Wir haben kürzlich seinen neunundvierzigsten Geburtstag gefeiert.«

Thomas Lenz prustete los: »Und da sagen Sie – der Junge?«

Barnaby Kern schaute seinen Kollegen an und schüttelte tadelnd den Kopf. »Na ja, das müssen Sie uns erklären«, sagte der Hauptkommissar.

»Seine Mutter sagte immer »Der Junge braucht unsere Hilfe.« Und da er lebensuntüchtig war, hieß er auch bei mir so.«

»Wieso war er lebensuntüchtig?«, bohrte Kern nach.

 »Wenn er einmal Arbeit hatte, flog er gleich wieder raus, weil er nie pünktlich war und ständig eine Alkoholfahne hatte. Wie gesagt, er war Trinker.”

»Aber er muss doch von irgendwas gelebt haben.«

»Helmut Müller-Karsten malte manchmal an einem Tag mehrere Aquarelle. Meist welche, die junge Frauen in allen Lebenslagen zeigten. Seine Frau reklamierte dann regelmäßig die schönsten Bilder für sich. Aus diesem Fundus bediente sich Vester mit Wissen der Mutter, denn er kannte immer Leute, die ihm die Bilder unter Wert abkauften.«

»Also war eigenes Arbeiten und Verdienen gar nicht zwingend nötig«, stellte Kern fest.

»Nicht wirklich.«

»Sehen wir uns das Untergeschoss an. Haben Sie einen Schlüssel?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe nur hier oben sauber gemacht. Aber der Schlüssel müsste auf dem Spiegeltisch liegen.

Thomas Lenz ging zu dem rotbraunen Barockspiegel. Die geschweiften Beine waren goldüberzogen, die Tischplatte aus weißem Marmor. Den Spiegel selbst hatte man auf diesem Tisch aufgesetzt. Er reichte bis fast an die Decke. Unten schloss er mit der Wand ab, während er oben etwa zwanzig Zentimeter in den Raum hinein abstand. Beidseitig hingen Putten an der Wand. Diese kleinen, meist nackten Kinder- oder Engelsfiguren, die in der Frührenaissance aufkamen, wurden dem Höhepunkt des Barocks zugeschrieben. Lenz fragte sich, ob das alles echt war, kannte sich aber zu wenig aus, um eine Antwort zu finden. Dann sah er den Schlüssel liegen. Gemeinsam gingen sie die beiden Halbtreppen hinunter zum Souterrain.

»Sie bleiben bitte hier«, sagte Barnaby Kern zu der Frau, während Lenz aufschloss.

Der Anblick, der sich ihnen bot, war gespenstisch. Bilder lagen verstreut auf dem Boden. Eine Druckplatte zur Herstellung von Lithografien hatte man zum Teil zerschlagen. Die Wände waren mit roter Farbe beschmiert. »Ich weiß nicht, welcher Teufel hier gewütet hat«, sagte der Hauptkommissar zu Thomas Lenz, »aber es sieht nach einer Verwüstungsorgie aus. Ruf die Spurensicherung an und die Rechtsmedizin. Das volle Programm.

Als Thomas Lenz zum Wagen ging, um in der Zentrale anzurufen, begab sich Kern mit der Frau wieder hinauf zur Wohnung. »Brauchen Sie mich noch? Mir ist der Aufenthalt in dieser Wohnung unheimlich«, sagte sie.

»Tote beißen nicht mehr, Frau Färber«, sagte Barnaby Kern. »Ich habe noch einige Fragen.«

Während sich die Frau wieder dort hinsetzte, wo sie zuvor gesessen hatte, schaute Kern ins Schlafzimmer. Es war unaufgeräumt. Das Bett schien schon seit Tagen nicht mehr gemacht worden zu sein. Man hatte es auch nicht bezogen. Rot und anklagend leuchtete das Inlett. Kern drehte sich um und fragte die Frau: »Das Bett ist nicht bezogen. War das hier so üblich?«

»Seit dem Tod seiner Frau hat Müller-Karsten das Schlafzimmer nicht mehr benutzt. Die Frau ist in diesem Zimmer verstorben.«

Die Luft war drückend. Kern stellte fest, dass hier nichts durchwühlt schien. Aber richtig würde er es erst wissen, wenn die Spurensicherung ihre Arbeit verrichtet hatte. Er schloss die Tür wieder und ging zurück zum Tisch. »Wo wohnen Sie eigentlich?«, fragte er unvermittelt.

»Auf der anderen Elbseite in Blasewitz.« Sie wartete einen Augenblick, und als der Kommissar nichts sagte, fuhr sie fort: »In der Sebastian-Bach-Straße, Ecke Tolkewitzer Straße. Aber im Sommer bleibe ich meist tagelang auf meinem kleinen Laubengrundstück in Coschütz. Ich habe einen schönen Garten mit vielen Blumen. Das ist mein Hobby.«

»Oh, Sie haben ein Laubengrundstuck?«

»Mein Vater hat es mir hinterlassen. Es ist zwar nur gepachtet, aber der Pachtzins ist so niedrig, dass ich es mir gerade noch leisten kann. Dafür muss ich nicht verreisen.«

 »Sind Sie nicht verheiratet?”

»Geschieden.«

Er dachte kurz daran, dass es eine Vergeudung weiblicher Ressourcen sei, wenn eine solche Frau allein lebte. Normalerweise war es nicht seine Art, weitere Fragen zu stellen, die in das Privatleben eines Menschen eingriffen. Aber hier ging es um mehr. Vielleicht sogar um Mord, und da schob er seine Zurückhaltung beiseite. »Haben Sie einen Lebensgefährten?«

»Ist es wirklich nötig, eine solche Frage zu stellen?« Roswitha Färber war pikiert. Genau so hatte er sie eingeschätzt.

Barnaby Kern nickte.

»Nein, ich lebe allein. Im Augenblick jedenfalls.«

»Ich werde einen Streifenwagen nach Bischofswerda schicken, um diesen Vester zu holen. Wissen Sie, wo sich das Grundstück befindet?«

»Irgendwo im Drebnitzer Weg oder im Anschluss daran. Da sind noch einige Gartenanlagen. Aber fragen Sie mich nicht, wie es genau heißt.«

»Das klingt, als wären Sie schon einmal dort gewesen.«

»Mein Bruder hat ein Auto. Wir haben die Müller-Karstens einmal hingefahren, weil sie kein eigenes Fahrzeug hatten.«

»Würden Sie das Grundstück wiederfinden?«

»Bestimmt.«

»Wäre es zu viel verlangt, Sie zu bitten, uns kurz den Weg zu zeigen?«

Die Frau überlegte einen Augenblick: »Na ja, dann wäre es mir zu spät, um nach Coschütz zu fahren. Aber ich kann ja auch eine Nacht in meiner Wohnung verbringen.«

»Das ist kein Problem. Wir können Sie im Streifenwagen rausfahren. Sie würden uns wirklich sehr helfen.«

Barnaby Kern zeigte ihr mit einer Handbewegung, dass sie warten möge, und ging hinaus. Östergard stand mit einem anderen Polizisten an der Absperrung. Sie stellten ihr Gespräch ein, als sie den Hauptkommissar auf sich zukommen sahen. »Sie fahren jetzt nach Bischofswerda. Dort holen Sie einen Mann ab und bringen ihn in die Schießgasse. Damit Sie den Weg finden, wird Sie eine Zeugin begleiten.«

Während der Polizeiobermeister zu seinem Streifenwagen ging, um die Zentrale von seiner Fahrt zu informieren, holte Kern die Frau. Auf der Treppe trafen sie auf Thomas Lenz, der von dem Gespräch mit der Zentrale zurückkam. »Die Kollegen sind unterwegs. Den Doktor mussten sie aus seiner Wohnung holen.«

Kern brachte die Frau zum Streifenwagen. Thomas Lenz ging wieder hoch in die Wohnung mit dem Toten. »Wenn wir Glück haben, wissen wir heute Abend mehr«, sagte Kern, als er in der Wohnung ankam.

Thomas Lenz hatte sich Latexhandschuhe übergezogen und machte sich an einem alten Schreibschrank mit Aufsatz zu schaffen. Es war kein besonders gearbeitetes Stück, strahlte dennoch Behaglichkeit aus.

»Ich habe hier einen interessanten Briefwechsel mit einem gewissen Dieter Schubert aus Stuttgart aus dem Jahr 1979. Da heißt es unter anderem: Lieber Helmut Müller-Karsten, ich bin bemüht, eine Ausstellung für Sie hier in Stuttgart zu organisieren. Das Problem ist nur, dass der staatliche Kunsthandel der DDR Ihre Bilder nicht aus dem Land lassen will. Ich werde versuchen, mit Verantwortungsträgern Ihres Landes Verbindung aufzunehmen, um doch noch eine Ausstellung zustande zu bringen. Wie geht es Ihrer charmanten Frau Ursula? Blablabla … Ihr Dieter Schubert. Glaubst du, dass das was mit dem Fall zu tun hat?«

»Spekulation, Thomas. Aber wir müssen allen Spuren nachgehen.«

Kurze Zeit später traf die Spurensicherung ein. Hauptkommissar Maximilian Slupinski, der Leiter der Truppe und ein gewiefter Kriminaltechniker, streckte den Kopf zur Tür herein und nickte den beiden zu.

»Ich weiß nicht, ob der alte Mann eines unnatürlichen Todes gestorben ist«, teilte Kern ihm mit. »Die Arbeitsräume sind verwüstet, und da solltet ihr anfangen.« Er nahm den Schlüssel, den er ordnungsgemäß auf den Spiegeltisch zurückgelegt hatte, und ging mit Slupinski die beiden Halbtreppen hinunter.

»Wer ist der Tote?«, fragte Slupinski.

Barnaby Kern hob die Schultern, sagte: »Ein Kunstmaler. Helmut Müller-Karsten.«

Slupinski stieß einen leisen Pfiff aus.

»Kennst du ihn?«

»Du nicht? Ich habe vor der Wende nach einer Ausstellung zwei Bilder direkt von ihm erwerben können. Ein Aquarell, Blumenstrauß in meinem Garten, und ein Litho, das eine Katze zwischen Blumen zeigt. Ich hab es für Monika gekauft. Sie hat es mit Katzen.«

Sie waren vor der Tür zum Arbeitsraum des Künstlers angekommen. Kern fragte: »Was war das für ein Mann?«

»Er war ein sehr bescheidener Mann. Während der gesamten Vernissage saß er ruhig auf einem Stuhl in einer der Ecken des Raumes. Man hatte den Eindruck, er würde sich fast bedanken, wenn einer sich mit ihm über eines der Bilder unterhielt.«

»Sind die Dinger etwas wert?«

Slupinski lachte: »Die Bilder sind heute ein Vielfaches wert.«

Barnaby Kern öffnete die Tür. Slupinski blieb einen Augenblick bewegungslos im Eingang des Raumes stehen. Nur seine Augen wanderten von einer Ecke zur anderen, nahmen die Verwüstungen auf. »Was denkst du?«, drängte er.

»Dass jemand etwas gesucht haben könnte. Aber noch weiß ich es nicht genau.«

Zwei seiner Leute kamen in ihren weißen Schutzanzügen, grüßten, blieben einen Augenblick stehen und gingen, nachdem ihr Chef sie mit einem Nicken aufgefordert hatte, an die Arbeit.

Als Kern wieder in die Wohnung im Hochparterre kam, war Thomas Lenz noch immer dabei, die Privatpost des Malers zu sichten. »Ich habe einen Brief ohne Absender, aber mit einem Ort vor dem Datum gefunden, der offensichtlich von seinem Sohn stammt, denn er beginnt mit Lieber Vater, wie Du siehst, ist aus mir auch etwas geworden. Kein Maler, denn dazu fehlt mir jedes Talent. Aber ich denke, ich bin ein brauchbarer Journalist und Buchautor geworden. Es ist mir gelungen, mit einem Diplomaten meinen ersten Roman für Dich mit nach Dresden zu geben. Blablabla … Dein Sohn. Der Brief kommt aus Öhningen.«

»Wo in Gottes Namen liegt Öhningen?«

»Am Bodensee.« Die Stimme kam von Johannes Bahrmann, dem Rechtsmediziner, der in der Tür stand.

»Hallo Doktor«, sagte Lenz.

»Ich hörte, man hat Sie aus der Freizeit gerissen«, stellte Kern fest.

»Genau gesagt, man hat mich wieder einmal um meinen frei-en Tag beschissen.«

Der Doktor ging schnurstracks zu dem abgedeckten Toten, stellte seine Tasche daneben ab und zog das Laken weg. Dann machte er sich an der Leiche zu schaffen.

Kern und Lenz hatten sich wieder den Briefen zugewandt. »Oh, da ist noch ein Brief von diesem Schubert«, sagte Thomas Lenz. »Hier steht Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, wie wir Ihre Bilder, ganz offiziell mit staatlicher Genehmigung der Behörden der DDR hier ausstellen können. Ich werde Sie bald besuchen und Ihnen die Möglichkeit in allen Einzelheiten erläutern. Stellen Sie, lieber Helmut Müller-Karsten, nur schon Bilder für eine Ausstellung zusammen, damit wir dann zügig zu Werke gehen können. Blablabla … Ihr Dieter Schubert.«

»Du mit deinem ewigen Blablabla«, sagte Barnaby Kern unwirsch.

»Ich kann auf Anhieb keine Verletzungen feststellen und, wenn ich mich nicht ganz irre, auch keinerlei toxische Einwirkungen. Aber Genaues erst nach der Obduktion.«

»Todeszeit?«

»Die Leichenstarre ist fast vorüber … Vor ungefähr drei Tagen plus minus.«

»Wie stellen Sie das so genau fest, Doktor?«, fragte Lenz.

»Etwa ein bis zwei Stunden nach dem Tod werden die Muskeln unbeweglich. Ihre Energiespeicher sind nahezu aufgebraucht.

Ohne Blutzirkulation und damit ohne Sauerstoff können sie nicht neu aufgefüllt werden. Die Muskelfasern verhaken sich, die Totenstarre, Rigor mortis, setzt ein. Die Leichenstarre beginnt beim Menschen an den Lidern, der Kaumuskulatur und den Muskeln der kleinen Gelenke. Dann breitet sie sich innerhalb von etwa acht Stunden über Kopf, Rumpf und Extremitäten fortschreitend nach unten aus. Die Starre hält bis zu vier Tagen an und löst sich dann wieder. Die Muskeln erschlaffen in der gleichen Reihenfolge, in der sie erstarrt sind.«

Der Doktor telefonierte nach einem Leichenwagen, der den Toten ins Rechtsmedizinische Institut in die Fetscherstraße 74 brachte. Dann verabschiedete er sich und war ebenso schnell verschwunden, wie er gekommen war.

»Willst du nicht die Tatortgruppe des LKA benachrichtigen?«, Lenz.

»Nein. Wir haben einen alten Mann, der wahrscheinlich eines natürlichen Todes gestorben ist und durchgewühlte Arbeitsräume, die darauf hinweisen, dass irgendwer irgendwas gesucht hat, möglicherweise, um sich daran zu bereichern. Warten wir, was die Spurensicherung ergibt.« Die Männer verließen die Wohnung.

»Wir werden jetzt Klinkenputzen gehen«, sagte Barnaby Kern. »Alle, die nach der Seite oder hinten raus wohnen, müssen befragt werden, ob ihnen in den letzten Tagen etwas aufgefallen ist. Oft stehen Menschen am Fenster, weil sie nicht schlafen können oder neugierig sind, wenn sich etwas Ungewöhnliches an ihrem Haus tut.« Er wies beim Rausgehen einen der Polizisten an, dafür zu sorgen, dass niemand die Wohnung zu betreten hatte, während sie im Haus arbeiteten. Dann verschwanden die beiden Männer im Vordereingang.

Als sie am Nachmittag wieder im Präsidium in der Schießgasse waren, meldete sich der Streifenwagen aus Bischofswerda per Funk. »Östergard. Herr Kern, es ist niemand auf dem Grundstück in Bischofswerda anwesend. Auch die Nachbarn haben seit dem Wochenende niemanden mehr gesehen.«

 »Fahren Sie bitte die Frau nach Dresden-Coschütz. Ich darf mich bedanken und wünsche Ihnen einen schönen Feierabend.”

Einen Augenblick dachte Kern nach. Bis Montag würde er warten. Tauchte dann dieser Vester nicht auf, müsste nach ihm gefahndet werden.

2. Kapitel

Der neue Tag schien Barnaby Kern Recht zu geben, die Ermittlungsgruppe des LKA nicht alarmiert zu haben. Zuerst brachte Hauptkommissar Maximilian Slupinski den Bericht der Spurensicherung. Obwohl der Anblick in den Arbeitsräumen des Malers grauenvoll schien und er im ersten Augenblick geneigt war, an eine Verwüstungsorgie zu glauben, musste er sich revidieren. Die Schäden hielten sich in Grenzen. Die Bilder hätten zwar wild durcheinander auf dem Boden gelegen, aber nur ein einziges davon sei vorsätzlich zerstört worden. Slupinski legte ein Foto vor. Es zeigte eine zerstörte Lithografie. Auf ihr war das Bildnis einer Frau sichtbar, deren Gesicht herzartig unter einem Hut hervorlugte. »Es sind zwei Dinge zerstört worden, die unmittelbar miteinander zu tun haben«, sagte Slupinski, »diese Lithografie und«, er legte ein zweites Foto auf den Tisch, »diese Druckplatte.« Als Barnaby Kern fragend die Schulter hob, ergänzte er: »Die Druckplatte diente zur Herstellung genau dieser Lithografie.«

»Und so eine Platte kann man so einfach zerbrechen?«

»Sie ist nicht aus Metall, Barny. Das Wort Lithografie kommt aus dem Griechischen und heißt nichts anderes als Steinschrift. Die Technik wurde von Senefelder 1798 erfunden. Das Bild wird mit fetthaltiger Farbe auf den Lithografiestein aufgetragen, die Partien des Steins, die keine Zeichnung enthalten, werden so präpariert, dass sie keine Farbe annehmen. Meister der Lithografie waren Goya oder Géricault mit seinen imposanten Pferdebildern, Eugéne Delacroix, Daumier, der bekannte Impressionist Manet, Toulouse-Lautrec …«

»Das ist der mit den Cancan-Mädchen?«

»Richtig Barny, genau der. Bonnard und der Norweger Edward Munch – um nur die bekanntesten von ihnen zu nennen.”

»Wie lässt sich denn ein Stein so einfach zerbrechen?«

»In der Regel besteht dieser Stein aus kohlensaurem Kalk-schiefer. Wird er kräftig über eine Kante geschlagen, bricht er leicht auseinander. Es kommt auf die Stärke des Steins an.«

»Schön. Aber was schließt du daraus?«

»Nachdem ich alles analysiert habe, sämtliche Schäden, die rote Farbe an den Wänden, die so aufgebracht war, dass nicht wirklich etwas zerstört wurde, das Gesamtbild und die Tatsache, dass eine Briefbörse mit einer erheblichen Summe unangetastet blieb, obwohl diese nicht zu übersehen war, glaube ich, dass hier etwas vorgetäuscht werden sollte. Ich weiß nur nicht, was.«

»Wie viel war in dem Portemonnaie?«

»Achthundertzweiunddreißig Mark und vierundvierzig Pfennige. Und einige Münzen aus Polen«, sagte Slupinski, nachdem er in seine Unterlagen geschaut hatte.

»Vortäuschung einer Straftat.« Kern rieb sich das Kinn. »Wer kommt da infrage? Zum Beispiel der Stiefsohn des Malers, dieser Vester, der wie vom Erdboden verschwunden scheint?«

Kurz nachdem Slupinski wieder gegangen war, wählte Kern die Nummer der Medizinischen Fakultät der TU Dresden und ließ sich mit Rechtsmediziner Dr. Johannes Bahrmann verbinden. Von ihm erfuhr er, dass Helmut Müller-Karsten eines natürlichen Todes gestorben war. Seine Diagnose lautete Tod durch Entkräftung. Allerdings habe der Mann aufgrund eines Oberschenkelhalsbruches wahrscheinlich einige Tage ohne Hilfe auf dem Erdboden verbracht. Unfähig, sich fortzubewegen, war er praktisch verdurstet. Nur diese Tatsache wäre untersuchungswürdig.

Barnaby Kern war sich klar darüber, dass er bei Thomas Vester ansetzen musste. Das war der Schlüssel, um Klarheit über den Zustand des Fundortes zu erlangen. Mord schien nach erstem Augenschein ausgeschlossen. Nur wenn man dem Mann nachweisen könnte, dass er Müller-Karsten mit Absicht dort liegen gelassen hatte, ohne ihn zu versorgen, wäre das eine Straftat,

vielleicht sogar vorsätzlicher Mord. Und was die Unordnung, die Zerstörung des Bildes und des Drucksteins anging, daraus ließ sich keine Straftat konstruieren, die mit einem nicht stattgefundenen Mord in Verbindung gebracht werden konnte. Aber wenn Thomas Vester diese Unordnung herbeigeführt hatte, wenn er voraussetzte, dass diese Unordnung von der Polizei in Augenschein genommen würde, dann wollte er eine Spur legen. Die Frage war, ob Vester, von dem die Putzfrau behauptete, er sei ein Trinker, intellektuell überhaupt in der Lage war, eine solche Tat zu begehen.

Mit diesem Gedanken verbrachte er an diesem Vormittag mehr Zeit als mit dem dringend notwendigen Papierkram, der sich beängstigend auf seinem Schreibtisch staute. Ich brauche Zeit zum Überlegen. Und Luft brauche ich. Barnaby Kern beschloss, für einige Zeit hinunter zur Elbe zu gehen. Zehn Minuten später stand er auf der Brühlschen Terrasse. Der Wind wehte nur ganz schwach. Der blaue Himmel zeigte kaum ein Wölkchen. Hitze hatte sich schon breitgemacht.

Unterhalb der Brühlschen Terrasse waren die Liegestellen der Fahrgastschiffe. Die Dresden hatte gerade abgelegt und fuhr flussabwärts. Zischend fuhr der Dampf aus der Signalpfeife, gab einen krächzenden Ton von sich, der langsam klarer wurde. Der Dampf entwich in einer kleinen Wolke, bevor er sich ins Nichts auflöste. Das Schiff war in den Zwanzigerjahren gebaut worden und immer noch sehr schön. Kern liebte die historischen Dampfer mehr als die neuen, riesigen Schiffe, die aus anderen Ländern zum Besuch der Stadt für kurze Zeit hier anlegten. Einer dieser Riesenkästen lag direkt vor ihm. Die Swiss Coral zeigte die Flagge der Schweiz, Heimathafen Basel. Sicher war eine solche Flussfahrt interessant, und man konnte eine Menge sehen. Aber ebenso sicher war, dass diese Reisen verdammt teuer waren. Ein Hauptkommissar müsste eine ganze Zeit sparen, um sich einen solchen Luxus leisten zu können. Der kleine Luxus aber, die Fahrt mit einem der historischen Schiffe nach Wehten zum Schloss Pillnitz oder Rathen, war für jedermann erschwinglich.

Die Gedanken an den Kunstmaler, die Eindrücke und Fakten, die er gesammelt hatte, holten Barnaby Kern wieder ein. Eigentlich müsste er den Fall abgeben. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass Helmut Müller-Karsten eines natürlichen Todes gestorben war, gab es keinen zwingenden Grund für ihn, weiter zu ermitteln. Ein anderes Kommissariat wäre nunmehr für die Ermittlungen zuständig. Aber irgendetwas hielt ihn zurück, den Fall so schnell abzugeben. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Wenn dieser Thomas Vester tatsächlich ein trunksüchtiger Mann war, der nie Geld hatte, wieso fand sich dann bei der Durchsuchung ein Betrag von über achthundert Mark an? Wem gehörte das gefundene Geld? Dem Maler? Wenn der tatsächlich diesen Vester in seinem Atelier wohnen ließ, weil der Sohn seiner verstorbenen Frau nie über Geld verfügte, dann doch wohl kaum, indem er ihm noch eine Geldreserve in aller Heimlichkeit zuschob. Und selbst wenn er das gemacht hätte, wann hatte er das Geld im Atelier deponiert? Nach dem Sturz war das ja wohl kaum möglich. Und vor dem Sturz? Hätte es da Vester nicht mit auf die Reise genommen? Also hätte er es dem Vester möglicherweise oben in der Wohnung gegeben. Gut, vielleicht war es ja so. Aber warum lag es dann in diesem verwüsteten Raum?

Ein Mann auf einem Jetski fuhr schnell elbaufwärts, wendete vor der Carolabrücke und raste mit dem laut brummenden Gerät an der Anlegestelle der sächsischen Dampfschifffahrt vorbei bis zur Augustusbrücke, um dann abermals zurückzukommen. Offensichtlich interessierte er sich für die lange und für die Elbe mächtige Swiss Coral. Diese kleinen einsitzigen Dinger wären vor der Wende undenkbar gewesen. Aber es war schon erstaunlich, was die politische Veränderung alles in Gang gesetzt hatte.

Kerns Handy machte sich bemerkbar. Es war Thomas Lenz. »Einer der Bewohner des Künstlerhauses hat angerufen«, sagte er. »Thomas Vester ist nach Hause gekommen. Der Mann habe zufällig aus dem Fenster geschaut, als Vester aus einem Auto stieg.«

»Schick einen Streifenwagen hin, und lass den Mann holen.«

»Schon geschehen.”

Barnaby Kern unterbrach die Verbindung, warf noch einen langen Blick auf das herrliche Elbflorenz-Panorama und machte sich auf den Rückweg zur Schießgasse. Es war kurz vor Mittag. Er ging zur Kantine. Wenn ich jetzt nicht auf die Schnelle einen Happen zu mir nehme, kann es sein, dass ich überhaupt nicht mehr zum Essen komme. Er war glücklich, dass er in der Schlange seine Kollegin Silke Fritsche aus seinem Kommissariat ausmachen konnte. Er ging zu ihr, bat sie, ihm etwas leicht Verdauliches mitzubringen. Sie wusste um seinen nervösen Magen und deutete auf den Reis mit Hühnerfrikassee. Kern nickte und machte sich auf die Suche nach einem geeigneten Platz.

»Da haben Sie wieder einmal Glück gehabt, Hauptkommissar, dass Sie jemanden gefunden haben, der Sie bedient.« Sie lächelte ihn freundlich an und stellte das Tablett mit dem Hühnerfrikassee vor ihm ab.

»Auf die Frauen in meiner Truppe ist doch immer Verlass«, konterte Barnaby Kern. Lustlos begann er, in dem Essen herum zu stochern.

»Schon gehört, Thomas lässt diesen Vester gerade holen. Ich habe den Computer noch einmal strapaziert. Es gab mal eine Anzeige wegen Betrugs gegen den Mann.«

»Haben Sie den Vorgang ausgedruckt?« Barnaby Kerns Interesse war augenblicklich geweckt.

»Ja. Aber Sie werden enttäuscht sein. Ein Mann hatte ihn an-gezeigt, er habe etwas über hundert Ostmark unterschlagen, die sie gemeinsam vertrunken hätten. Auf Befragung sagte der Beklagte, er könne sich nicht mehr an einen solchen Vorgang erinnern. Schließlich hätten sie über Stunden den Geburtstag des Klägers gefeiert. So stand Aussage gegen Aussage. Und die Summe schien dem Gericht zu unbedeutend, um eine große Sache daraus zu machen. Vester sollte dem Kläger die Hälfte des Geldes, also fünfzig Mark, zurückzahlen.«

»Peanuts«, sagte Barnaby Kern enttäuscht. »Sonst nichts?«

 »Da war irgendetwas mit Hehlerei. Aber auch da konnte ihm nichts nachgewiesen werden.”

»Peanuts, alles Peanuts.« Er schob angewidert seinen Teller weg. »Ich muss jetzt«, sagte er, legte einen Fünfmarkschein auf den Tisch, lächelte der Frau noch einmal zu und ging, noch ehe er den Protest bezüglich der Überzahlung des Essens entgegennehmen konnte.

Als er in das Büro der Kommissare kam, empfing ihn Thomas Lenz mit den Worten: »Der Vester ist gerade eingetroffen. Ich habe ihn in den Vernehmungsraum bringen lassen.«

»Lass ihn noch einen Augenblick schmoren. Silke hat mir gesagt, es gäbe etwas über den Mann in den Akten.«

Lenz schob Barnaby Kern eine Handakte hin. »Das ist alles, was über den Mann aktenkundig ist.«

Der Hauptkommissar las, was Silke Fritsche ihm schon berichtet hatte und auch über die Hehlerei einer Musikanlage, die ihm aber letztlich nicht nachgewiesen werden konnte. Darüber hinaus gab es eine Notiz des Ministeriums für Staatssicherheit über die Einbindung des Mannes als informeller Mitarbeiter. Thomas Vester hatte eine dahin gehende Verpflichtung unterschrieben.

»Na endlich«, sagte Kern. »Endlich mal ein brauchbarer Hin-weis.«

Als Silke Fritsche in den Raum kam, sagte Barnaby Kern: »Das Wichtigste haben Sie mir unterschlagen, Frau Kommissarin, die Verpflichtung Vesters als IM bei der Staatssicherheit.«

Die Frau zwinkerte ihm zu und sagte: »Sie lassen einen ja nicht einmal zu Wort kommen, Herr Hauptkommissar. Als ich es Ihnen sagen wollte, waren Sie schon wieder auf dem Weg ins Büro. Offensichtlich haben Sie Angst, etwas zu verpassen, und das Essen haben Sie auch stehengelassen.« Sie kam zu ihm und gab ihm den Rest des nicht verbrauchten Essengeldes.

Wenig später standen sie hinter der durchsichtigen Scheibe zum Vernehmungsraum. Der Mann, der an dem Tisch saß, rauchte, und so wie er rauchte, wirkte er nervös. Er war relativ klein, dunkelhaarig und ungepflegt. »Was hältst du von der Person, Thomas?«

Lenz hob die Schultern. »Ich sehe, was du siehst, Barny. Und das lässt sich nur mit einem eingedeutschten Wort beschreiben: Loser!«

Die beiden Kommissare gingen in den Vernehmungsraum. Während sich Thomas Lenz an die Seite neben den Beamten stellte, der auf Vester aufzupassen hatte, setzte sich Barnaby Kern an den Vernehmertisch und schaltete das Diktafon ein.

»Machen Sie bitte die Zigarette aus. Hier wird nicht geraucht.« Kern wendete sich zu dem Obermeister des Fachdienstes Gewahrsam und rügte, dass er das Rauchen gestattet hatte. Dann drehte er sich dem Mann zu, der dabei war, die Glut der Zigarette zwischen den Fingern auszudrücken und den Stummel mangels eines Aschenbechers in die Tasche steckte.

»Freitag, der 15. Juli 1994«, sagte Barnaby Kern. »Vernehmung des Thomas Vester in der Angelegenheit des Ablebens des Kunstmalers Helmut Müller-Karsten und des mutmaßlichen Einbruchs in dessen Atelier.«

»Ihr Name?«

»Vester, Thomas.«

»Sie wohnen?«

»Pillnitzer Landstraße 57 bis 59.«

»Ist es ein besonderes Haus?«

»Sie wissen doch, dass es das Künstlerhaus ist.«

»Ah, Sie sind Künstler.«

Als Vester nichts sagte, fragte Barnaby Kern: »Was ist Ihre Tätigkeit?«

»Ich bin Lithograf.«

»Lithograf? Also Steindrucker? Das ist, soviel ich weiß, ein Ausbildungsberuf.«

Thomas Vester hob die Schultern und machte ein verblüfftes Gesicht.

»Ein Ausbildungsberuf ist ein Beruf, dessen Ausbildungsinhalt und -dauer gesetzlich geregelt sind. Die Ausbildung oder die

Lehre besteht in der Regel entweder aus praktischer Ausbildung im Betrieb, ergänzt durch Unterricht an einer Berufsschule, oder findet an Berufsfachschulen statt. Welche der unterschiedlichen Möglichkeiten trifft für Sie zu?«

»Keine.«

»Keine? Ich verstehe Sie nicht.«

»Ich bin Autodidakt«, sagte Thomas Vester.

»So, Autodidakt. Also Laie.«

»Ich ziehe den Begriff Selfmademan vor.«

»Selfmademan.« Genüsslich langsam ließ der Hauptkommissar dieses Wort auf der Zunge zergehen, während er daran dachte, dass dieser Loser versuchen würde, seine Tätigkeit so aufzuwerten, dass seine Kenntnisse und die damit verbundenen Tätigkeiten glaubhaft erschienen.

»Sie brauchen es nicht ins Lächerliche zu ziehen. Ein Autodidakt ist jemand, der außerhalb des üblichen Studienganges durch eigene Bemühung Bildung erworben hat, Kommissar.«

Barnaby Kern blätterte in dem Dossier über Vester, das Silke Fritsche aus dem Polizeicomputer gezogen hatte, und stellte fest: »Auch ein Selfmademan muss sich seine Erkenntnisse, die ihm die Befähigung zur Ausübung des Berufes geben, ja irgendwo herholen.«

Vester nickte. »So ist es.«

Kern schaute Thomas Lenz fordernd an und lächelte, als er Vester fragte: »Haben Sie Ihre Erkenntnisse bei den Saufgelagen mit Martin Hild erhalten, der Sie wegen Betrugs anzeigte?«

Vester schien seine Ruhe wiedergefunden zu haben, als er antwortete: »Sie wissen genau, Kommissar, dass das Verfahren wegen fehlender Beweislage eingestellt wurde. Wir hatten zusammen Geburtstag gefeiert, und es ist nun einmal üblich, dass ein Geburtstagskind einlädt. Wer die Einladung ausgesprochen hat, zahlt. Und dass wir ein wenig über den Durst getrunken hatten … Na ja, ist Ihnen das noch nicht passiert?«

»Nun ist es aber so, dass das Gericht Sie dazu verdonnert hat, die Hälfte der Kosten zu übernehmen. Also war es kein astreiner Freispruch, sondern eher der Geringfügigkeit zu verdanken, dass man das Verfahren damit beendet hat.«

»Wie auch immer. Daraus lässt sich kein Strick drehen, an dem Sie mich aufknüpfen können.«

»Nein.« Kern blätterte in der Akte, als müsse er nachlesen. Der Mann vor ihm war zwar schmierig und sicher nur bedingt kultiviert, aber nicht ohne eine gewisse Intelligenz. Intelligenz und Bildung sind zwei unterschiedliche Dinge. Die flüssigen, widerlegenden und durchaus plausiblen Antworten, die der Mann gab, waren nicht die eines Dummen. Vielmehr ließen sie zwar auf eine beschränkte Bildung, nicht aber auf einen fehlenden Verstand schließen. »Was war eigentlich mit der Pioneer-Anlage, die Sie unter die Leute bringen wollten und die, nachgewiesener Weise, aus einem Einbruch stammte? Sind Sie ein Hehler?«

»Ich habe das Ding, ebenfalls nachgewiesener Weise, auf dem Flohmarkt am Körnerplatz gekauft, zusammen mit ein paar Stücken Meißner Porzellan.«

»So ganz eindeutig geht das hier nicht hervor. Dafür gibt es eine unterschriftliche Erklärung von Ihnen, künftig als informeller Mitarbeiter der Staatssicherheit …«

Thomas Vester lachte laut auf. »Wenn Sie alle, die einmal diesen Wisch unterschrieben haben, ans Kreuz nageln wollen, haben Sie Mühe, einen Platz zu finden, der groß genug dafür wäre.

Ja, so war das wohl, dachte Barnaby Kern. Aber diese Burschen haben dafür gesorgt, dass die Hehlerei unter den Ladentisch fiel. »Wie bekamen Sie Kontakt zur Staatssicherheit?«

»Ein Mann namens Josef Gretschko, der zuständig für den Export von Kunst der DDR war, stand in Verbindung zu den Künstlern. Er bezog sich auf Josef Hegenbarth, dessen Bilder auch im Westen gezeigt wurden. Er kam zu uns ins Atelier, und er versprach, ein paar Bilder Helmut Müller-Karstens für eine Ausstellung nach Stuttgart freizugeben. Einige Tage später wurde ich in der Straßenbahn von einem Mann angesprochen, der mich in eine Wohnung nach Dresden-Neustadt brachte. Das Haus in der Timaeusstraße hatte eine Wohnung, in der die Wände rosa gestrichen waren. An der Wand hingen ein Bild des Staatsrates und eines von Minister Mielke. An den Wänden liefen irgendwelche Telefondrähte lang. Im Durchgangszimmer stand eine Tischtennisplatte. Als wir kamen, spielten dort zwei Männer Tischtennis, ein weiterer schaute gelangweilt zu.«

Barnaby Kern notierte sich den Namen Josef Gretschko und fragte: »Sie meinen, es war eine konspirative Wohnung?«

Thomas Vester hob die Schulter und machte ein vielsagendes Gesicht.

»Kommen wir auf Ihre Ausbildung zum Lithografen zurück.« »Aber gerne doch, Kommissar. Was genau wollen Sie wissen?«

»Wo Sie diese Fähigkeit erlernt haben.«

»Mein Stiefvater Helmut Müller-Karsten, der ja ein nicht ganz unbekannter Dresdner Maler und Lithograf war, hat mir diese Fähigkeit beigebracht. Und die nötige Begabung dazu hatte ich seit meiner Kindheit praktisch mit der Muttermilch eingesogen.«

»Der Maler führte Sie also an die Technik heran?«

»Die ich so beherrschte, dass ich das Drucken für ihn über-nahm. Die Bilder entstanden nahezu immer in Kooperation. Ein Litho von Helmut Müller-Karsten und mit dessen Unterschrift wertvoll gemacht, war allezeit auch ein Teil von Thomas Vester.«

»Sie haben Lithos von Müller-Karsten verkauft?«

»Natürlich. Er war nicht mehr so gut zu Fuß und beauftragte mich, die Bilder unter die Menschen zu bringen.«

»Unter die Menschen?«

»An Galerien meist.«

»Meist?«

»Ich kannte auch einige Sammler, die direkt kauften.«

»Auch an Falconettis Galerie?«

»Natürlich, auch an Falconettis, Giovanni Fuoli war immer ein aufgeschlossener Abnehmer, und an die Galerie Kühl.«

 »Wenn Sie die Bilder zusammen herstellten, soll das dann heißen, Sie reklamierten immer fünfzig Prozent der eingenommenen Summe für sich?”

»Nicht immer fünfzig Prozent, aber einen Teil davon. Es war keine Summe ausgemacht. Er gab mir freiwillig, was er wollte.«

»Und was Sie brauchten, um zu überleben. Warum hausten Sie im Atelier von Müller-Karsten?«

»Wohnte, Herr Kommissar. Ich wohnte dort, weil Wohnungen zu DDR-Zeiten knapp waren. Ein einzelner Mann hatte kaum eine Möglichkeit, eine angemessene Wohnung für sich zu bekommen. Darüber hinaus hatte ich die Möglichkeit, meine gemeinsame Arbeit mit meinem Stiefvater intensiv zu betreiben.«

Barnaby Kern dachte daran, wie schwer es damals tatsächlich war, eine vernünftige, zentralbeheizte Wohnung zu bekommen. Er konnte sich aber für seine Person nicht vorstellen, bis zum neunundvierzigsten Lebensjahr mit seinen Eltern zusammen gewohnt zu haben. Auch wenn die Wohnung noch so bescheiden gewesen wäre, er hätte das kleinste Zimmer genommen, nur um eigenständig zu leben. Was also war es, das Vester davon abgehalten hatte, diesen Weg zu gehen? »Wo waren Sie in den letzten vier Tagen?«, fragte Kern unvermittelt.

»In den letzten vier Tagen, warten Sie. Vor vier Tagen war Montag, der 11. Juli. Ich bin am 9. Juli nach Bischofswerda gefahren. Meine Mutter hat dort ein Grundstück von meinem Großvater geerbt.«

»Wie hieß Ihre Mutter mit Geburtsnamen?«

»Ursula Reseigennak.« Thomas Vester grinste den Kommissar herausfordernd an und sagte: »Lesen Sie den Familiennamen einmal rückwärts!«

Barnaby Kern schrieb den Namen auf und las ihn so, wie ihn der Mann aufgefordert hatte, es zu tun.

»Sie sind ein Spaßvogel, Vester. Wie also hieß Ihr Großvater wirklich?«

»Reseigennak. Er war Fabrikant.«

»Wie sind Sie gefahren? Mit dem Auto?

»Mit der Bahn.”

»Waren Sie allein in Bischofswerda?«

»Zuerst ja.«

»Zuerst ja. Lassen Sie sich nicht jeden Satz aus der Nase ziehen.«

»Ich war mit der Bahn hingefahren, weil ein Bekannter am

Sonnabend noch arbeiten musste. Er kam dann am Sonntag mit dem Auto nach.«

»Wie hieß der Bekannte?«

»Martin Hild.«

Kern blätterte zurück. Hild war der Mann, der Vester wegen Unterschlagung der hundert Ostmark angezeigt hatte. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, dachte er. »Hild?«

»Ich weiß, was Sie jetzt denken, Kommissar. Aber man muss auch verzeihen können.«

»Kam er allein?«

»Ja. Derzeit hat er keine Freundin.«

»Und Sie? Haben Sie eine Freundin?«

Die Frage kam so schnell, dass Vester überrumpelt war. »Ich, ich … hatte eine Freundin. Es ist schon Jahre her. Aber als sie starb, habe ich mir vorgenommen, mit keiner Frau mehr zusammenzuleben.«

»Warum? Warum nahmen Sie sich das vor?«

»Weil es keine so selbstlose Frau mehr geben wird. Und ich möchte die guten Erinnerungen an sie behalten.«

»Wie hieß die Frau?«

»Viola Tillack. Ich habe eine Zeit lang mit ihr zusammen-gewohnt.«

Barnaby Kern notierte sich den Namen der Frau und fragte: »Woran ist Viola Tillack gestorben?«