Schatten über der Insel - George Tenner - E-Book

Schatten über der Insel E-Book

George Tenner

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Im Sommer 2005 beschäftigt eine Serie von Brandanschlägen auf Usedom die Polizei. Was zunächst nach Vandalismus und Sachbeschädigung aussieht, erweist sich als weitaus komplexerer Fall. Hauptkommissar Lasse Larsson und sein Team werden bei ihren Ermittlungen auf eine Reihe von Vermisstenmeldungen aufmerksam, die in unmittelbarem Zusammenhang zu den Bränden stehen könnten. Einige Schülerinnen im Teenageralter verschwanden in kurzen Abständen. Ein Zufall? Haben es die Ermittler nicht nur mit einem Brandstifter, sondern vielmehr mit einem Serienmörder zu tun? Mit dem Fund einer ersten Leiche stößt Lasse Larsson auf ein Netz aus Lügen, Angst und Schweigen …

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Seitenzahl: 323

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Schatten über der Insel

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. KapitelEpilog

Prolog

Lieper Winkel, Usedom, Anfang Juni 2005

Der Juni war relativ trocken gewesen. Schon musste das Landratsamt die ersten Waldbrandwarnungen der Stufe drei auf der Insel Usedom ausrufen, und es war zu befürchten, dass die Stufe vier in den nächsten zwei Tagen folgen würde.

Der junge Mann war in der anbrechenden Dunkelheit durch das Wäldchen gekommen, hatte sich im Schutz einer kleinen Baumgruppe niedergelassen und beobachtete seine Umgebung. Auf der angrenzenden Wiese grasten zwei Pferde. Eines hatte wohl eine leichte Bewegung am Waldrand bemerkt, hatte den Kopf gehoben und stand einen Augenblick wie erstarrt da, den Wind schnaubend durch die Nüstern ausstoßend. Dann konnte es den Mann, der mit seinem Hintergrund verschmolzen war, nicht mehr erkennen. Es senkte den Kopf und begann mit dem, was einem Pferd am wichtigsten erscheint, dem Fressen des bereits angedörrten Grases. Der junge Mann wiederum lauschte den Geräuschen der anbrechenden Nacht. Das Uhh … uhhh … u uu uuuuu … eines Waldkauzes ließ ihn ein wenig erschauern.

»No stillness out here – a dream. Here where the moon rules – a dream.I hate this wood. Where there is no danger«, flüsterte er, um sich zu beruhigen.

Als hätte sie auf den Ruf des Kauzes nur gewartet, antwortete eine Eule ugrrruuuu gruuuu gruuu uuuu.

Er stand auf und bewegte sich sehr langsam auf den Saum des Waldes zu. Dicht bei den zu einer großen, länglichen Miete aufgetürmten Rundballen Stroh aus dem letzten Jahr sah er ein Rudel Rotwild äsen. Vorsichtig und äußerst misstrauisch hatten die Tiere die Wiese betreten, und wenn eins ihn entdeckte, würde das ganze Rudel zurück in den Wald flüchten. Die Pferde würden sich möglicherweise anstecken lassen. Die Unruhe der Tiere selbst war es nicht, die der Mann fürchtete. Vielmehr könnte einer der Förster oder ein Jagdpächter unterwegs sein und durch den Tumult auf den Vorfall aufmerksam werden. Eine vorzeitige Entdeckung käme einer Katastrophe gleich.

Geduldig hatte er gewartet, bis die Dunkelheit vollständig hereingebrochen war. Aufmerksam achtete er auf jedes Geräusch. Vor geraumer Zeit hatte er das Knattern eines Motorrads vernommen, das von der Straße zu ihm herübergedrungen war. Es kam selten vor, dass sich zu nachtschlafender Zeit ein Motorrad zwischen Morgenitz und Krienke verirrte. Die Wiesen und das Wäldchen lagen zu abgelegen und die Straße war zu schlecht, um einen Anreiz zur Benutzung zu geben.

Er hatte genau darauf geachtet, ob der Motor des Zweirads in der Nähe abgestellt wurde. Aber mit Befriedigung hatte er festgestellt, dass die Maschine über Krienke hinaus in Richtung Rankwitz gefahren war. Der leichte Wind hatte die Geräusche herübergetragen. Langsam schob er sich aus seiner Deckung heraus.

Er bückte sich, um zwischen den beiden elektrischen Drähten hindurch zu kriechen. Dann ging er gebückt und sehr langsam auf die Strohmiete zu.

Er stand jetzt zwischen dem Waldsaum und der Strohmiete, an die er sich nach einem weiteren Schritt nahezu anpresste. Aus seiner Umhängetasche nahm er eine Bierflasche mit Schnappverschluss und goss Flüssigkeit auf ein Polster aus Watte, das er zwischen zwei übereinander getürmte Rundballen legte. Dann nahm er ein Teelicht aus der Tasche, löste es aus der Aluminiumhülle und zündete es an. Die Aluminiumhülle steckte er in seine Hosentasche, die Bierflasche in die Tasche.

Er deckte mit seinem Körper das Licht ab und achtete genau darauf, dass der Schein der Kerze vom Wald aus nicht zu sehen war. Sehr vorsichtig drapierte er die Watte um die Kerze herum. Dabei passte er auf, der Flamme nicht zu nahe zu kommen. Das Feuer durfte nicht zu früh ausbrechen.

Leise, wie er gekommen war, schlich er zurück und verschwand zwischen den Bäumen des Waldes.

*

Als die Sirene durch den Ort hallte, war es kurz nach zwei Uhr in der Nacht. Seit er nach Hause gekommen war und sich in sein Zimmer und ins Bett geschlichen hatte, hatte er wach gelegen. Er glaubte schon, es würde nie passieren. Als die Sirene losheulte, war es wie eine innere Befreiung. Gespannt wartete er auf einen Anruf seines Freunds Justus Rieck. Sie hatten sich geschworen, beim nächsten Brand dabei zu sein. Deshalb hatten sie vereinbart, ihre Handys am Bett zu deponieren.

Der Lebensgefährte von Justus’ Mutter, Nico Horstmann, war bei der Feuerwehr in der Stadt Usedom tätig. Justus würde also merken, wenn er zu einem Einsatz gerufen wurde. Die Feuerwehr Usedom gehörte dem Kreisfeuerwehrverband Ostvorpommern an. Nico hatte versprochen, den beiden Jungen den Einstieg in die Kreisjugendfeuerwehr des Verbands zu öffnen.

Fieberhaft wartete er auf einen Anruf von Justus. Er bemühte sich, seine Ungeduld zu zähmen. Keinesfalls wollte er der Erste sein, der den Kontakt aufnahm. Sorgfältig vermied er es, aufzufallen. Ein übermäßig starkes Interesse musste zweifellos irgendwann einen Rückschluss auf seine Bemühungen geben. Zweimal hatte er schon sein Handy in der Hand gehabt. Jedes Mal siegte sein Verstand, und er legte es auf den Nachttisch zurück.

Endlich klingelte das Handy.

Justus war sehr aufgeregt, als er sagte: »Es brennt. Nico fährt gerade los. Er sagt, es sei hier ganz in der Nähe. Zwischen Krienke und Morgenitz, irgendwo auf einer Wiese im Wald.«

»Und?«

»Nico konnte nicht auf mich warten. Aber wenn es so nah ist, dann könnten wir mit dem Rad hinfahren.«

»Einverstanden. Holst du mich ab? Ich ziehe mich nur an, dann warte ich unten auf dich.« Über das Gesicht des jungen Mannes huschte ein Lächeln des Sieges.

Er sah Justus in die kleine Straße einbiegen, in der er wohnte. Das Licht des Rads leuchtete hell.

»Endlich können wir mal ein Feuer ganz aus der Nähe sehen, Jörn«, sagte Justus. »Ich bin schon ganz aufgeregt. Nico hätte uns mitnehmen können.«

»Ja, hätte er. Aber wenn es hier in der Nähe ist, sind wir doch mit den Rädern schnell dort. Und wir sind beweglich und können zu jeder Zeit fahren, wohin wir wollen.«

Die beiden machten sich auf und fuhren die wenigen Meter, bis links die kleine Straße nach Morgenitz abbog. Sie mussten nicht allzu weit fahren, als die ersten Fahrzeuge der Feuerwehr und auch Zivilautos von Mitarbeitern der Wehr, die eiligst über Telefon verständigt worden waren, am Straßenrand standen. Über der Wiese lag eine Rauchwolke, die vom Wald herkam. Sie bogen links in den kleinen Weg ein. Nur zweihundert Meter weiter sahen sie, wie die Flammen im Wald hochschlugen.

»Ihr könnt jetzt hier nicht weiterfahren«, herrschte sie der uniformierte Mann an, der den Zugang unter Kontrolle hatte.

Die beiden Jungen drehten um, fuhren einige Meter zurück und legten ihre Räder in den Straßengraben. Dann umgingen sie die Straße, um von der Seite an den Brandherd heranzukommen. Es sah gespenstisch aus, wie die Feuerwehrleute die Schläuche ausrollten. Kurze Befehle hallten zu ihnen herüber. Man war dabei, einen kleinen Zulauf zum Achterwasser zu legen. Der lag etwas über einhundertzwanzig Meter vom Brandherd entfernt, doch mit sechs Schläuchen ging das relativ zügig und war keine große Herausforderung.

Die beiden Jungen sahen mit großem Interesse zu, wie schnell die Männer die Schläuche durch den Wald verlegten. Während Justus die allgemeine Situation am Einsatzort interessierte, schaute Jörn wie gebannt auf die meterhohen Flammen. Die Faszination des gespenstischen Flackerns und die Hitze, die von dem brennenden Haufen ausgingen, fesselten ihn in ganz eigenartiger Weise. Wer ihm jetzt ins Gesicht sah, konnte die Gier in seinen Augen sehen. Er war im höchsten Maße gefangen von dieser gewaltigen bösen Gefahr, die von dem Feuer ausging. Inzwischen hatten die Flammen bereits den Wald erreicht.

Erst gegen fünf, als der frühe Morgen von Osten heraufzog, waren die Flammen soweit gelöscht, dass ein Teil der Mannschaft abziehen konnte. Dennoch blieb ein Zug der Usedomer Feuerwehr vor Ort, um einzelne kleine Brandnester zu ersticken. Auch die beiden Jungen machten sich auf den Rückweg. Vor dem Wohnhaus Jörn Spielmanns trennten sie sich, und Justus fuhr allein die wenigen Meter nach Hause. Die Rückfahrt von der Brandstelle war relativ ruhig verlaufen. Beide Jungen waren auf ihre Art mit dem Feuer beschäftigt.

Justus dachte darüber nach, wie nützlich es doch war, dass es Feuerwehren gab. Er würde mit Nico noch einmal reden, damit sie einen schnellen Zugang zur Kreisjugendfeuerwehr bekamen.

Jörn wiederum war besessen von dem Wunsch, bald wieder an so einem Feuer teilnehmen zu können. Und beim nächsten oder übernächsten Feuer würden sie vielleicht schon beim Löschen des Brands helfen dürfen und waren dann für die Bewohner echte Helden. Diese Vorstellung begeisterte ihn.

1. Kapitel

Montag, 20. Juni 2005

Direkt südöstlich des Flughafens lag die Kliffküste des Stettiner Haffs; hier waren in den letzten Jahren einige Reihen von reetgedeckten Häusern entstanden, die als Ferienobjekte für Anleger vermarktet wurden.

Die Dunkelheit war hereingebrochen. Die Lichter in den meisten Häusern der Anlage waren erloschen. Langsam quälte sich das Mondlicht durch eine dichte Wolkenbank. Es war der fünfte Tag des zunehmenden Monds, also zwei Tage vor Vollmond, da schlug der Zündler wieder zu. Und wie bei allen Bränden der letzten Zeit kam er schon weit vor Mitternacht.

Im Schutz der Dunkelheit stand die schwarz vermummte Gestalt zwischen den Bäumen und beobachtete das etwas von der Gruppe abstehende Haus mit dem Namen »Haffkieker«.

Er sah, wie das junge Mädchen zuerst etwas las und sich dann eine Sendung im Fernsehen ansah. Für ihn war nur, dass sie sicher allein im Haus war. Zwischendurch musste das Telefon geklingelt haben; sie war aufgestanden und kurze Zeit später mit dem Hörer am Ohr wieder ins Wohnzimmer zurückgekommen. Er schaute zur Uhr. Als sie den Hörer auf den Tisch legte, stellte er fest, dass sie mehr als zwanzig Minuten telefoniert hatte. Er war so dicht an dem Haus, dass er ihre Mimik analysieren konnte. Ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Freude und Entsetzen. Sie schaltete das Fernsehgerät aus.

Er sah, dass sie wieder telefonierte. Auch dieses Gespräch schien sehr intensiv zu sein, denn sie weinte.

Ich werde dich schon trösten, dachte er. Er spürte, wie der Gedanke daran ihn erregte. Er hatte noch nicht allzu viel Erfahrung mit dem weiblichen Geschlecht. Einige kleine Tändeleien hatte es gegeben. Mit Ines, einem Mädchen aus dem Rostocker Gymnasium, mit dem er sich hin und wieder traf, war er wohl etwas weiter gegangen, aber die Eltern des Mädchens hatten ihm gründlich einen Strich durch die Rechnung gemacht. Eigentlich wähnte er sie in der Premiere von »Die Maske des roten Todes«, einem Ballett von Wladimir Fedianin, die im Großen Haus stattfand. Doch gerade als sie sich ausgezogen hatten und in gesteigerter Erregung dem Ziel ihrer Wünsche näherkamen, ging die Tür auf, und die Mutter kam wie eine Rächerin ins Zimmer gestürmt. Direkt hinter ihr war der Vater und wenige Minuten später fand er sich splitternackt vor der Haustür wieder. Erst nach einer Weile ging die Tür noch einmal auf und seine Kleidung wurde auf die Straße geworfen. Es war ihm immer noch peinlich, wenn er daran dachte. Sein ganzes Leben würde er an diese Schmach denken, die man ihm zugefügt hatte.

Mit dem Mädchen in diesem Haus wird es einen anderen Verlauf nehmen, dachte er. Langsam löste er sich aus dem Schatten des Baums und ging auf das Haus zu.

*

Kurz nach vier hatte er sein Werk endlich vollendet. Von Osten, über den Stettiner Hafen, zog schon der neue Morgen herauf. Es war nicht so leicht gewesen, wie er gedacht hatte. Mit einer Sprühflasche hatte er einen Benzinfilm über einen Teil des Reetdachs gezogen. Das Mädchen war schon vor Stunden ins Bett gegangen. Er musste sehr leise sein, um sie nicht aufzuwecken. Doch jetzt kam der große Moment. Er entzündete sein Gasfeuerzeug und hielt genüsslich die Flamme an das Reet. Dann zog er sich schnell in den Schatten des Baums zurück. Fasziniert und gebannt sah er zu, wie die Flammen sich an der rückwärtigen Seite des Hauses ausbreiteten und langsam größer wurden. Es war ihm klar, dass er nicht lange bleiben konnte, um sich dieses aufregende Schauspiel anzusehen. Zu gefährlich wäre es, wenn man ihn hier entdeckte. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich von dem Anblick zu lösen und am Rande des Kliffs zu seinem Fahrrad zu gehen. Dann machte er sich auf, die rund fünfzehn Kilometer zu seinem Heimatort zurückzulegen. Bewusst nahm er nicht die Straße über Zirchow, denn er würde dort schlecht ausweichen können, wenn ihm ein Fahrzeug entgegenkam. Er fuhr parallel zur Kante des Kliffs in Richtung Dargen, nahm die Abzweigung nach Görke und fuhr ein Stück auf der B 110 bis zur Abzweigung der L265 nach Neppermin.

In seiner Hosentasche vibrierte sein Handy. Jörn zog es heraus und sah auf das beleuchtete Display. Es war Justus, der ihn sicher von dem Einsatz der Feuerwehr Zirchow verständigen wollte. Er nahm den Anruf nicht an und steckte das Telefon wieder in die Tasche.

Kurz vor der Abzweigung nach Mellenthin sah er, wie ein Kleinwagen, der aus Neppermin kam, ins Schleudern geriet und krachend gegen einen Baum fuhr. Der Wagen fing sofort Feuer. Wie in Trance trat er in die Pedale, die Augen fest auf das Feuer gerichtet. Doch was war das? Als er näherkam, sah er, dass es der kleine Opel eines Bewohners seines Ortes war. Er hielt an und sah zu dem brennenden Wagen hin.

Ich müsste ihn herausziehen, dachte er. Aber wenn ich das tue, wird man mich fragen, was ich mitten in der Nacht auf der Straße zu suchen habe. Irgendein findiger Polizist könnte darauf kommen, dass ich etwas mit dem Brand in Zirchow zu tun habe. Außerdem gehört der Opel jemand, mit dem ich schon einigen Ärger hatte. Es ist nur gerecht, wenn er bestraft wird. Er sah, wie aus Richtung Usedom kommend ein Fahrzeug auf die Straße nach Neppermin einbog. Hastig schwang er sich auf sein Rad, fuhr die wenigen Meter bis zur Abzweigung nach Mellenthin und verschwand im Zwielicht des anbrechenden Morgens.

Als er in seinem Zimmer war, gab das Handy wieder diesen unterdrückten Scharrton von sich, den er extra so eingestellt hatte. Dieses Mal nahm er den Anruf an.

»Was ist mit dir los?«, fragte Justus aufgeregt. »Ich hab schon einige Male versucht, dich anzurufen. Es brennt in Zirchow!«

»Ich hatte mein Handy an der Ladestation in der Küche. Wo brennt es in Zirchow?« Obwohl Jörn aufgeregt war, versuchte er einen relativ ruhigen Ton anzuschlagen.

»Nico sagt, in einem der neuen Häuser, die am Kliff gebaut worden sind.«

»Du meinst, oberhalb des Kliffs, wo wir geangelt haben?«

»Genau dort!«

»Das ist ja ein Ding. Und wie kommen wir jetzt dorthin?« Jörn Spielmann wusste, dass er jetzt die Nerven behalten musste. Auf der einen Seite zog es ihn magisch zu dem Ort des Geschehens, andererseits musste er sehr vorsichtig sein, um nicht durch seine Begeisterung aufzufallen. »Also? Wie kommen wir jetzt dorthin?«

»Ich habe schon meine Mutter gefragt, ob sie uns fahren würde«, sagte Justus. »Aber sie muss morgen arbeiten und sagt, dass sie zu müde ist.«

»Meine jagt mich auch zum Teufel, wenn ich sie jetzt störe.« Es ist besser, dachte er, wenn wir dort nicht auftauchen. »Wir können ja später hinfahren und uns ansehen, was dort übrig ist.«

»Gut mein Freund, dann bis später«, sagte Justus.

Jörn merkte, dass sein Freund etwas geknickt war. Allzu gern wäre er nach Zirchow gefahren, um der Feuerwehr bei der Arbeit zuzusehen.

Er suchte einen DIN A4 Zettel und riss ihn von einem linierten Block auf seinem Schreibtisch ab.Er lächelte, alserschrieb: Brucia in coloro che non hanno alcun affare qui!E ascoltare coloro che non vogliono sentirsi!Dann faltete er das Papier zu einem kleinen Boot und malte mit Rotstift einen Pfeil darauf, der zum Auseinanderfalten des Boots ermunterte.

Als er endlich ins Bett ging, war es bereits hell. Er lächelte immer noch.

2. Kapitel

Mittwoch, 6. Juli 2005

Lasse Larsson bummelte die Heringsdorfer Friedensstraße entlang. Zurzeit hatte er etwas Luft. Die Aktenberge waren soweit abgearbeitet, dass Kriminalhauptkommissarin Inge Mohaupt mit ihrer Tochter in Urlaub fahren konnte. Nächste Woche würden die beiden an einen schönen Sonnenstrand nach Bulgarien fliegen. Larsson konnte das nicht verstehen. Für ihn gab es keinen besseren Strand mit viel Sonne, als den auf Usedom. Vor der Buchhandlung blieb er wie angewurzelt stehen. Die Gorki-Buchhandlung verkaufte auch Zeitungen. Er schaute auf das Bild, das ihn von einem der Blätter entgegenstarrte und auf die Bildunterschrift: »Das beweist auch diese Satellitenaufnahme des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde.« Die gesamte Ostsee war abgebildet. Man konnte deutlich die grünen Schlieren sehen, die die Quallenbedrohung deutlich machten.

»Wegen des warmen Wassers entstehen erste giftige Algen«, las Larsson weiter, »und aufgrund der anhaltenden Hitze dürfen die Wälder bei Warnstufe 4 auf Darß und Zingst nicht mehr betreten werden. Die für Usedom zuständige Landrätin Dr. Barbara Syrbe erwägt, diesem Schritt zu folgen. Ein riesiger Algenteppich, der inzwischen so groß ist wie Deutschland, hat auch Usedom erreicht! Droht Badeverbot in der Ostsee?«

Als Larsson aufschaute, sah er, wie eine Frau auf der anderen Straßenseite ihn interessiert beobachtete. Obwohl er ihr eine ganze Zeit den Rücken zudrehte, hatte er ihren Blick instinktiv gefühlt. Bevor er die Straße überquert hatte, war ihm die brünette Frau schon einmal aufgefallen. Sie mochte Mitte vierzig sein, sah gepflegt und ordentlich gekleidet aus. Was sie von anderen Leuten unterschied, war die etwas laute Sprechweise, die sie zu ihrem Begleiter pflegte. Sie schienen einen Meinungsunterschied auszutragen. Larsson hatte das nicht sonderlich interessiert. Aber nun stand die Frau auf der anderen Straßenseite und starrte ihn unvermittelt an.

Larsson ging einige Schritte weiter. Als er sich wieder nach der Frau umdrehte, sah er, dass sie über die Straße auf ihn zukam. Er blieb stehen und wartete. »Sie meinen nicht etwa mich?«, fragte Larsson und lächelte ihr entgegen.

»Ich habe eine Empfehlung von einem Freund erhalten, der mir sagte, dass sie ziemlich erfolgreich Fälle aufklären. Sie sind doch Kriminalhauptkommissar Larsson?«

»Ja, das bin ich. Sieht man mir das an?«

»Haben Sie einen Moment Zeit für mich?«, fragte die Frau in dringlichem Ton, ohne auf seine scherzhafte Frage einzugehen.

Larsson taxierte sie noch einmal. Obwohl er nach wie vor den Eindruck hatte, dass sie zu laut auftrat, hatte sie nun sein ungeteiltes Interesse. »Wer bitte hat mich Ihnen empfohlen?«

»Der Direktor des Flughafens.«

»Hans-Jürgen Markmann?«

»Ja, wir kommen immer mit dem Flugzeug aus Köln. Einmal hatte ich ein Problem mit verloren gegangenem Gepäck und war völlig verzweifelt. Da hat er mir sehr geholfen. Wir hatten uns ein Haus gekauft, das unmittelbar am Flughafen lag. Es ist im vorigen Monat leider abgebrannt.«

Larsson dachte an die Brandserie, die Usedom seit einiger Zeit heimsuchte. »Die Brände werden von den Anklamer Kollegen bearbeitet. Damit haben wir in Heringsdorf nichts zu tun.« Aus den Augenwinkeln heraus sah er, dass ihnen der Mann, der mit der Frau gekommen war, in einigem Abstand folgte. »Gehe ich recht in der Annahme, dass der Mann zu Ihnen gehört?«

»Ja.«

»Und warum reden Sie dann allein mit mir?«

»Weil er mir davon abgeraten hat, mit Ihnen zu sprechen.«

Sie gingen langsam in Richtung des Maritim Hotels Kaiserhof, das nun nur noch wenige Meter entfernt vor ihnen lag.

»Haben Sie Zeit auf einen Kaffee?«, fragte die Frau.

»Ja, ich würde allerdings gern wissen«, sagte Larsson, »wer mit mir so unbedingt sprechen will.«

Die Frau lächelte ihn an. »Entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Inka Schröder.«

Sie gingen durch den Eingang in die Halle des Kaiserhofs. Die Tische im Foyer waren nur mäßig besetzt, sodass sie einen für sich allein hatten.

Kurze Zeit später kam ein Kellner an den Tisch.

»Nun, was für einen Kaffee möchten Sie, Frau Schröder«, fragte Larsson.

»Einen Cappuccino, bitte.«

Larsson gab die Bestellung auf. »Einen Cappuccino, bitte, und einen ganz normalen Kaffee.«

Der Direktor des Hotels ging durch das Foyer, sah zu Larsson herüber und nickte ihm grüßend zu. Die beiden Männer kannten und mochten sich.

»Sie hatten also ein Haus in der Nähe des Flughafens«, sagte Larsson, auf den Anfang ihres Gesprächs zurückkommend.

»In Zirchow, direkt am Haff. Eines dieser wunderschönen Reetdachhäuser. Wir haben es als Ferienhaus gekauft und für die Zeit, in der wir es nicht selbst bewohnten, zur Vermietung freigegeben.«

»Und das lohnt sich?«, fragte Larsson.

»Na ja. Wir hatten einen Teil der Kaufsumme finanziert. Und es reichte für die Zinsen und einen großen Teil der Abzahlung.«

Der Kellner kam und brachte den Kaffee.

Als er wieder weg war, sagte Larsson: »Diese Ferienhäuser kosten eine Menge Geld. Das kann sich nicht gleich jeder leisten.«

»Das Haus war versichert. Und wegen des Brandes will ich auch nicht mit Ihnen reden.«

»Wie ich schon sagte, für die Brandermittlung ist auch die Kriminalpolizei in Anklam zuständig«, betonte Larsson noch einmal.

»Damit hätte ich Sie auch nicht belästigt. Ich habe ein anderes Problem. Seit dem Brand ist meine Tochter Liisa verschwunden.«

Larsson dachte eine Sekunde nach. »Sie war nicht im Haus, als es brannte?«

»Nein, man sagte uns, im Haus waren zur Brandzeit allem Anschein nach keine Menschen.«

»Und das haben Ihnen die Ermittlungsbehörden gesagt?«

»Ja.«

»Wie hat man reagiert, als Sie sagten, dass Ihre Tochter seit dem Brand verschwunden ist?«

»Man hat gefragt, wie alt meine Tochter ist. Als ich sagte, dass sie gerade siebzehn geworden ist, hat man eine Vermisstenanzeige aufgenommen. Der Beamte meinte nur, dass Mädchen in diesem Alter sich des Öfteren selbstständig machen.«

»Hat Ihre Tochter einen Freund?«, fragte Larsson.

»Genau das hat Ihr Kollege Schubert auch gefragt.«

»Und, hatte sie?«

»Ja, aber der konnte nicht mit auf die Insel fliegen, weil er im Außenhandel arbeitet. Er ist zurzeit in den Staaten. Für Liisa ist das der erste Freund.«

»Und das wissen Sie sicher?«

»Ganz sicher«, sagte die Frau. »Wir haben vom Flughafen mit ihm in seinem Hotel in Boston telefoniert. Man hat uns auf sein Zimmer verbunden, und Liisa hat lange mit ihm gesprochen.«

»Ich kann ja in Anklam noch einmal nachfragen. Aber sonst kann ich leider nichts für Sie tun. Wo kann ich Sie denn erreichen?«

Die Frau nahm eine Visitenkarte aus der Tasche und sagte: »Über meine Handynummer erreichen Sie mich zu jeder Zeit. Wir haben uns eine Ferienwohnung in der alten Schule in Neu-Sallenthin genommen.«

Larsson winkte dem Kellner und verlangte die Rechnung. Obwohl sich die Frau dagegen wehrte, bezahlte Larsson die beiden Tassen Kaffee. Dann gingen sie gemeinsam zum Ausgang. Vor der Tür trafen sie auf ihren Mann, der sich in der Zwischenzeit wohl irgendwie die Zeit vertrieben hatte.

»Der Kommissar kann auch nichts machen«, sagte die Frau zu ihm.

»Das habe ich dir ja gleich gesagt. Du hättest den Mann damit nicht belästigen sollen. Schließlich haben die ja ihre Vorschriften.«

Mit einem »Einen angenehmen Aufenthalt noch!«, drehte sich Larsson um und ging die wenigen Meter zur Kriminalaußenstelle in der Seestraße. Kurz bevor er den Eingang zum Polizeirevier erreicht hatte, meldete sich sein Handy. Es war der Direktor des Heringsdorfer Flughafens.

»Weshalb ich dich anrufe, Lasse, ich habe dich einer Bekannten empfohlen, deren Tochter verschwunden ist. Vielleicht kannst du ja irgendetwas für sie tun.«

»Die Frau hat bereits mit mir gesprochen. Aber ich sehe eigentlich gar keine Möglichkeit, ihr zu helfen. Zuerst muss sie eine ordentliche Vermisstenanzeige aufgeben. Dann wird das von der zuständigen Fachabteilung in Anklam bearbeitet. Mehr kann ich dir gar nicht dazu sagen.« Larsson merkte, dass seine Antwort den Anrufer nicht richtig zufriedenstellte. Aber was sollte er machen? Nach einigen lapidaren belanglosen Sätzen über eine Flugvorführung des Clubs, die am Wochenende stattfinden sollte, beendeten sie das Gespräch.

In seinem Büro angekommen, wählte er die Telefonnummer Inge Mohaupts.

»Was machen die Urlaubsvorbereitungen«, fragte Larsson, nachdem sie sich gemeldet hatte.

»Sie laufen noch. Aber deshalb rufst du doch wohl nicht an«, lachte Inge.

Larsson fühlte sich ertappt. »Nein, nicht wirklich. Ist Schubert da?«

»Er ist beim Chef.«

»Ihr habt in eurer Abteilung den ersten Brand der Serie bearbeitet … Es geht um ein Haus in Zirchow.«

Inge Mohaupt holte sich die Informationen zu dem Fall auf den Bildschirm ihres Computers. »Ja. Wieso interessierst du dich dafür?«

»Dabei ist ein junges Mädchen verschwunden«, sagte Larsson lakonisch.

»Liisa Schröder. Der Fall ist abgeschlossen, Lasse.«

»Ich weiß. Die Mutter hat heute mit mir gesprochen. Sie ist aber immer noch auf der Suche nach ihrer Tochter.«

»Eine Ausreißerin, wahrscheinlich eine Ausreißerin, wie viele Mädchen in diesem Alter.«

»Daran glaubt die Mutter nicht.«

»Sie ist vielleicht mit irgendeinem Jungen durchgebrannt. Ich muss dir ja wohl nicht sagen, dass das vorkommt.«

»Nein, sie hat einen Freund, der gerade in Amerika ist, und sie ist sehr verliebt, sagte die Mutter. Sie würde keinesfalls mit irgendeinem Jungen durchbrennen.«

Inge Mohaupt überlegte einen Augenblick, dann sagte sie: »Du weißt, dass wir ohne die Genehmigung des Chefs die Ermittlungen nicht wieder aufnehmen können, wenn sie bereits abgeschlossen sind.«

»Wer sagt dir, dass ich irgendetwas aufnehmen will. Ich würde mir nur allzu gern mal den Bericht anschauen. Kannst du ihn mir mailen?«

»Ich müsste Schubert erst fragen. Er war der Leiter der Ermittlung.«

Larsson lachte gequält auf. »Du weißt, wie er zu mir steht.«

»Das beruht ja wohl auf Gegenseitigkeit«, stellte Inge Mohaupt fest. »Vielleicht fragst du ihn ja selbst.«

»Vergiss es, Inge. Danke für deine Hilfe.« Larsson legte den Hörer auf. Dass Frauen sich immer so unkooperativ verhalten müssen, dachte er ärgerlich.

Dann durchdachte er noch einmal das Gespräch mit dieser Inka Schröder. Sie machte nicht den Eindruck einer Mutter, die sich grundlos über das Verschwinden ihrer Tochter aufregt. Und der Mann, mit dem sie da war? Larsson hatte nicht gefragt, ob es sich um den Vater des Mädchens handelte, aber er nahm an, dass er der Ehemann oder der Liebhaber war. Schön, er hatte keinen Auftrag, zu ermitteln. Allein auf den Wunsch der Frau hin, ohne jeglichen Tatverdacht, konnte er kaum ermitteln.

Gerade als er den Hörer des Telefons aufgenommen hatte, um Inka Schröder anzurufen, bemerkte er den Eingang einer E-Mail. Sie kam von Inge Mohaupt. Inge hatte ihm die komplette Ermittlungsakte im Fall des Hausbrands zugeschickt. So sehr er sich auch bemühte, eine Fahndungslücke in den Unterlagen zu finden, musste er sich bald eingestehen, dass Schubert ordentlich gearbeitet hatte. Was die Anzeige der Frau wegen des Verschwindens ihrer Tochter betraf, so hätte er selbst auch nicht anders gehandelt. Larsson fischte die Visitenkarte von Inka Schröder aus seiner Tasche und begann die Nummer zu wählen. Bevor er die letzte Zahl eingab, legte er wieder auf. Dafür aber wählte er die Nummer Inge Mohnhaupts.

»Bist du allein?«, fragte er, als sie den Hörer abnahm. »An Schuberts Untersuchung ist nichts auszusetzen. Aber dennoch«, er lachte, und sie hörte sein Lachen mit dem besonderen Unterton, den sie kannte, wenn er einen Fehler entdeckt hatte, »ihr habt einen Schreibfehler in der Akte, der sich dauernd wiederholt.«

Inge Mohnhaupt wusste sofort, worauf Larsson hinauswollte.

»Du meinst Liisa?«

»Ihr habt sie mit zwei i geschrieben. Liisa, das habe ich so noch nie gehört.«

»Tja, mein lieber Lasse, einmal ist immer das erste Mal. Der Name ist richtig, denn ihr Vater ist ein Finne und dort schreibt man den Namen so.«

»Aus Finnland?« Sie hörte seine leichte Verärgerung darüber, dass er das nicht selbst erkannt hatte.

»Na ja, Holopainen wollte sie nach der Trennung ihrer Eltern nicht heißen …«

Er ging ins Büro der Kommissare. Andresen und Simons unterhielten sich über einen Sexskandal, an deren Aufdeckung sie beteiligt waren. Ein vierundvierzigjähriger Mann befand auf einem Campingplatz in Zempin und wollte über ein ungesichertes W-LAN-Netz ins Internet. Dort geriet der Urlauber durch Zufall auf die Festplatte des Notebooks eines anderen Urlaubers. Er fand kinderpornografisches Material. Es waren acht bis vierzehnjährige Jugendliche beider Geschlechter zu sehen. Weil Larsson zu einer Dienstbesprechung in Schwerin war, hatte Andresen den Einsatz geleitet. Sie konnten einen Mann aus Bayern festnehmen und seinen Rechner beschlagnahmen. Beim Verhör musste der Mann zugegeben, mehr als fünfzig kinderpornografische Dateien zu besitzen. Sie wurden eingezogen und eine Wohnungsdurchsuchung in seinem Heimatort veranlasst.

»Ich bin mal für eine halbe Stunde außer Haus«, sagte Larsson. »Ihr könnt mich übers Handy erreichen. Wer hat den Autoschlüssel?«

Simons nahm den Schlüssel aus seiner Schreibtischschublade und hielt ihn Larsson hin. »Fahr bitte vorsichtig, wir brauchen den Wagen noch.« Dabei kniff er ein Auge zu.

Larsson wandte sich ab. Er winkte seinen Männern noch einmal zu, verließ das Büro und ging hinunter zum Dienstwagen. Im Frühjahr hatte man eine Reihe neuer Dienstfahrzeuge angeschafft. Im Gegensatz zu früher leaste die Polizei die Fahrzeuge nun und erneuerte sie bei Bedarf. Das war ein wesentlicher Vorteil, der sich nun auch für seine Ermittlungsgruppe auszahlte. Langsam fuhr er vom Hof, bog rechts in den Setheweg ein, um nach wenigen Hundert Metern auf die Neuhoferstraße einzubiegen. Zehn Minuten später hielt er vor der alten Schule in Neu Sallenthin. Vor dem Eingang des Hauses stand eine hölzerne Sitzgruppe, auf der sich ein älteres Ehepaar niedergelassen hatte.

Larsson stieg aus dem Wagen und ging auf das Haus zu. »Guten Tag. Mein Name ist Larsson, ich suche eine Frau Schröder. Können Sie mir weiterhelfen?«

»Wenn Sie am Haus hier vorbeigehen und über die Wiese, dann sehen Sie unten den Steg am großen Krebs-See. Da wollte sie hingehen. Wir haben dort ein Boot liegen.«

Larsson ging am Haus vorbei zwei Stufen hoch und sah vor sich eine lange, abschüssige Wiese bis zum See hinunter. Auf der linken Seite, etwas weiter unten, standen mehrere Gartenstühle unter einer großen Eiche. In einem davon saß Inka Schröder und las ein Buch. Sie schien ihn nicht kommen zu hören, denn sie sah nicht auf, als er näherkam.

»Entschuldigen Sie, Frau Schröder, darf ich mit Ihnen noch einmal kurz sprechen?«, sprach er sie an.

Die Frau hob den Blick und klappte das Buch zu. Larsson konnte sehen, dass es Max Frischs Roman »Montauk« war.

»Haben Sie schon etwas herausgefunden?«, wollte sie wissen.

»Nein.«

»Und dann kommen Sie bis hierher?«

»Ich habe mir die Unterlagen von der Brandermittlung kommen lassen«, begann Larsson, während er sich auf einen der Stühle am Tisch setzte. »Nur so viel dazu: Die Polizei hat bisher formal ordentlich gearbeitet. Anders hätte ich auch nicht verfahren können, wenn Sie zuerst zu mir gekommen wären. Bei dem Brand ist ein Brandbeschleuniger benutzt worden. Die Analyse hat ergeben, dass es Benzin war.«

»Und meine Tochter?«

»Eine Leiche wurde ja in dem Haus nicht gefunden. Das hatte man Ihnen doch schon gesagt. Also ist das eine zweite Baustelle«, stellte Larsson fest. »Sie müssten jetzt noch einmal telefonisch nachfassen, damit eine Fahndung nach Ihrer Tochter herausgegeben wird.«

»Können Sie das nicht für mich erledigen?«, fragte die Frau.

»Nein, in diesem Fall müssen Sie das selbst machen. Ich bin nicht offiziell hier, aber da Sie mich angesprochen haben, möchte ich mir ein Bild von Ihrer Tochter machen.«

»Warum? Wenn Sie ja doch nichts unternehmen können.«

»Ich kann zumindest einmal mit dem für diese Ermittlung zuständigen Beamten sprechen. Aber erst wenn Sie die Vermisstenanzeige aufgegeben haben, wird eine Bearbeitung in der dafür zuständigen Fachabteilung stattfinden. Das ist das offizielle Prozedere und das gilt auch für mich.«

Inka Schröder lud Larsson mit einer Handbewegung zum Sitzen ein. »Und wie sieht das offizielle Prozedere in der Praxis aus?«, fragte sie.

»Ihre Tochter geht in die Fahndung. Haben Sie, als Sie mit den Kollegen sprachen, ein Foto Ihrer Tochter abgegeben?«

»Nein.«

»Können Sie auf die Schnelle eins besorgen?«

»Natürlich. Wir haben eine ganze Serie Fotos auf dem Laptop.«

»Dann sollten Sie die Erneuerung Ihrer Vermisstenanzeige mittels einer SMS nach Anklam schicken. Da können Sie gleich ein Bild anhängen. Mit Bild sind die Chancen besser, Ihre Tochter zu finden.« Larsson erklärte ihr in wenigen Sätzen die Arbeit der Kollegen bei der Suche nach einer vermissten Person. Man würde alle Kontakte nutzen, die ins Rotlichtmilieu gehen, um zu sehen, ob dem Mädchen etwas in dieser Art zugestoßen war. Aber es gab auch andere Kontakte, die man nutzen konnte. Vor allem war es nötig, das Umfeld des Mädchens zu beleuchten. Mit wem hatte sie Kontakt, zu Hause am Rhein und auch hier auf der Insel. Aber das würden die Kollegen erst machen, wenn eine ordnungsgemäße Anzeige bei ihnen vorlag.

»Das Entscheidende dabei«, sagte Larsson, »sind die Details. Wenn man die übersieht, ist man verloren, und wenn man sie nicht versteht zu interpretieren, wird man auch nichts finden.«

Die Frau erkannte, dass Larsson recht hatte. Es gab nichts, was es in dieser Welt nicht gab. Und einem jungen Mädchen konnte alles passieren.

»An wen soll ich die SMS schicken?«

»Sie haben mit Hauptkommissar Schubert gesprochen?«

»Ja.«

»Dann sollten Sie ihm diese schriftliche Vermisstenanzeige direkt schicken. Er wird das dann an die Abteilung Personenfahndung weitergeben.«

Inka Schröder bedankte sich für sein Kommen und das Gespräch.

Larsson stand auf und gab ihr die Hand. »Ich möchte noch eine persönliche Frage stellen.«

Die Frau sah ihn irritiert an. »Bitte?«

»Der Mann in Ihrer Begleitung, ist das der Vater Ihrer Tochter?«

»Er ist mein Lebenspartner. Und nein, Martin Horowitz ist nicht der Vater meiner Tochter. Ich lebe von meinem Mann getrennt. Jeder geht seine eigenen Wege.«

»Was für ein Verhältnis hat Ihre Tochter zu Ihrem Lebenspartner?«

»Sie hat ihn mehr oder weniger akzeptiert.«

»Und er? Was für ein Verhältnis hat Ihr Lebenspartner zu Ihrer Tochter?«

Die Frau lachte auf. »Sie glauben nicht etwa daran, dass Martin etwas damit zu tun haben könnte?«

»Es geht nicht darum, was ich glaube. Bei Ermittlungen zählen immer nur die Fakten. Und da wird das gesamte Umfeld von Ihrer Tochter, von Ihnen, von Ihrem Lebenspartner und ganz sicher auch von Ihrem Mann überprüft.«

»Da liegen Sie sicher ganz falsch. Wir sind eine glückliche Familie. Auch wenn mein Mann aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen ist. Wir haben uns eingerichtet. Meine Tochter lebt in der Hauptzeit bei uns, und hin und wieder fährt sie mit ihrem Vater mit seiner Jacht den Rhein entlang. Und es hat deswegen noch nie Krach gegeben.«

»Sie haben gesagt, dass Sie nicht glauben, Ihre Tochter sei weggelaufen. Fast hoffe ich aber für Sie, dass es so ist …«, schloss Larsson das Gespräch.

Larsson ging zurück zu seinem Wagen. Vor dem Eingang der alten Schule saßen noch die beiden älteren Leute. Er winkte ihnen zu und der Mann winkte zurück. Rückwärts ließ er den Wagen aus der Einfahrt gleiten und fuhr den Berg hinunter durchs Dorf Neu Sallenthin. Er wählte die Handynummer Inge Mohaupts.

»Ich habe noch eine Frage, Inge« sagte er.

»Im Augenblick habe ich keine Zeit für dich, Mutter«, antwortete Inge Mohaupt. »Ich rufe dich später zurück.«

Larsson verstand, dass sie im Augenblick nicht allein im Büro war. Wahrscheinlich saß ihr gerade Schubert genau gegenüber, und es war schlau von ihr, das Gespräch auf diese Weise zu beenden.

*

Kurz vor zwei meldete sich Inge wieder.

»Ich war vorhin nicht allein, Lasse.«

»Ich weiß.«

»Es war nicht nur Schubert, auch der Kriminaloberrat war hier im Raum.«

»Verstehe.«

»Es gibt einen Bekennerbrief zu den Bränden.«

Larsson stieß einen leichten Pfiff aus. »Einen Bekennerbrief. Und was gedenkt Schubert damit anzufangen?«

»Das ist es, was mich aufregt. Er weiß es nicht. Schubert überlegt, ob er ihn veröffentlichen soll.«

»Aber doch wohl nicht zu diesem Zeitpunkt, immerhin wird auch noch ein Mädchen vermisst«, warf Larsson ein.

»Ich habe ihm das auch gesagt.«

»Was steht in diesem Brief?«

»Das ist ja das Kuriose. Er ist in Italienisch verfasst.«

»Und? Habt ihr schon die Übersetzung?«

»Brucia in coloro che non hanno alcun affare qui! E ascoltare coloro che non vogliono sentirsi!Es brennt bei denen, die hier nichts zu suchen haben! Und jene, die nicht hören wollen, müssen fühlen«, sagte Inge Mohaupt.

»Kannst du mir das jetzt mailen?«

»Ich schicke es dir gleich rüber.«

»Sieh zu, dass Schubert erst einmal in dieser Frage gar nichts unternimmt.«

»Hast du eine Idee?«

»Ich denke schon. Aber schick es her.«

Sie beendeten das Gespräch, als Schubert, der scheinbar im Haus unterwegs gewesen war, wieder zu seinem Arbeitsplatz zurückkehrte und Inge auflegen musste.

Kurze Zeit später war die E-Mail mit der Kopie des Briefs eingetroffen. Larsson druckte die Nachricht aus und legte sie vor sich auf den Schreibtisch.Er las eswiederund wieder:Bruciain coloro che non hanno alcun affare qui!E ascoltare coloro che non vogliono sentirsi! Es brennt bei denen, die hier nichts zu suchen haben! Und jene, die nicht hören wollen, müssen fühlen.

Larsson versuchte, ein erstes Täterprofil aus dem kurzen Text zu erstellen, und die erste Einsicht war schnell gewonnen: Es war eindeutig keine Beziehungsangelegenheit. Als Tatmotiv schied also verletzte Eitelkeit und Eifersucht aus. Es war eine Warnung für all diejenigen, die keine Einheimischen waren, aber hier Häuser als Geldanlage aufkauften und dann nur selten nutzten.

Aufgrund der Schrift schätzte er das Alter des Schreibers zwischen sechzehn und zwanzig. Höchstwahrscheinlich entstammte der Verfasser der Mittelschicht und verfügte über eine angemessene Bildung. Darauf ließ jedenfalls die Wortwahl schließen. Er legte das Papier in die obere Schublade seines Schreibtischs und verschloss sie sorgfältig. Nichts ist interessanter, dachte er, als dem Code des Bösen zu folgen und aus diesem erfolgreich Schlüsse ziehen zu können. Neuerdings interessierte sich Lasse sehr für Profiling. Aber das behielt er erst einmal für sich.

3. Kapitel

Montag, 11. Juli 2005

Die Tagesarbeit hatte die Kommissare in der Außenstelle Heringsdorf wieder eingeholt. Routinefälle meist, die Larsson langweilten und ermüdeten.

An diesem Montag änderte sich das schlagartig. Gleich am Morgen hatten Angler einen grausigen Fund gemacht. Ein menschlicher Arm, der durch das Aufwirbeln des Wassers durch die Schiffsschraube an die Oberfläche gekommen war, wurde vom Eigner des Boots sichergestellt. Dieser hatte dann auch über die 110 in der Notrufzentrale in Anklam Bescheid gesagt. Die Notrufzentrale schickte sofort einen Streifenwagen. Die beiden Polizisten nahmen eine Reihe von Aussagen auf und informierten dann die Kriminalbereitschaft. Der Kriminaldauerdienst benachrichtigte, wie es allgemein üblich ist, die Staatsanwaltschaft und telefonierte kurz mit der Rechtsmedizin in Greifswald; parallel dazu wurde der Chef der Mordkommission im Haus benachrichtigt, und Kriminaloberrat Kruse beauftragte dann seinerseits die Kriminalaußenstelle Heringsdorf mit dem Fall.

»Wir haben eine neue Leiche«, sagte Kriminalkommissar Andresen, nachdem er bei Larsson angeklopft hatte und schließlich vor dem Schreibtisch seines Chefs stand. »Na ja, keine ganze Leiche, aber einen Teil davon, nämlich einen Arm.«

»Wo?«

»Querab Ostklüne im Usedomer See.«

»Dann lass uns eben hinfahren. Sagst du Karl Bescheid?« Larsson nahm den letzten Schluck aus seiner Kaffeetasse. Er stand auf, verschloss sorgfältig die obere Schublade seines Schreibtischs und nahm sein Sakko, das über der Stuhllehne hing, während Andresen im Büro der Kommissare vorbei ging und Simons instruierte.

Sie fuhren bis Welzin, sahen die kleine Verbindung zum Wasser, fuhren aber weiter, bis nach Ostklüne, wo man den aufgetriebenen Arm aus dem Wasser gefischt hatte. Direkt am Ufer stand ein Funkwagen der Polizei, und wenige Meter im Wasser lag ein Cranchi Clipper 760, ein schnittiges Boot mit 280 PS. Die beiden Polizisten des Streifenwagens waren im Gespräch mit dem Bootseigner, als Larsson auf sie zufuhr.

»Hallo Herr Larsson«, begann der ältere Polizist das Gespräch. »Das ist Herr Magnus Dollinger, der sein Boot in der Marina in Balm liegen hat. Er und seine Begleiterin haben den Arm aus dem Wasser gefischt.«

Der Fund eines Leichenteils hatte sich bereits wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Gierige Voyeure suchten Lücken in der Absperrung, um an Informationen aus erster Hand zu kommen.

»Sie müssen die Neugierigen besser zurückhalten.« Larsson sah auf das am schmalen Schilfgürtel liegende Fragment eines Armes. Er ging näher und beugte sich herab. »Sieht aus wie ein Frauenarm«, sagte er. »Jedenfalls den Fingernägeln nach.« Dann drehte er sich zu den beiden Polizisten um. »Decken Sie bitte den Arm ab, es sind schon die Fliegen dran. Haben Sie einen Bestatter mit der Abholung des Arms beauftragt?«

Einer der Männer verneinte das, und Larsson beauftragte Andresen, einen Leichenwagen zu bestellen. Dann wählte er die Nummer der Einsatzleitung, schilderte kurz den Fall und forderte die Taucher an, um nach dem Resttorso suchen zu lassen. Als er sich umdrehte, sah er den alten T4 der Spurensicherung kommen.

»Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt«, begrüßte er Paul Maier, der diese Redensart Larssons kannte und der den Satz vollendete: »Der weite Weg, Graf Isolan … ich weiß, Lasse, aber es ist heute schon unser zweiter Einsatz.«

»Warum fahren Sie eigentlich mit dem wunderschönen Boot in diesem versotteten Wasser, Herr Dollinger?«, fragte Larsson über den Usedomer See blickend mit einem Lächeln.

»Es ist kein Wunder, dass der See bei dieser Wärme blüht. Wir vermuten hier noch einige abgesoffene, alte Schiffe tauchen hin und wieder danach.«

Larsson sah die Sauerstoffflaschen für die Tauchgeräte und zwei Angeln. »Ich wette«, sagte er, »dafür gibt es sicher auch einen Verein. Für was gibt es eigentlich in Deutschland keinen Verein?« Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Maier den gefundenen Arm in Augenschein nahm und seine Arbeit begann.

Dollinger hob die Schultern und sagte: »Nicht der Verein ist das Wichtige, das Wichtige ist, dass wir ab und an etwas sicherstellen können, was der Nachwelt sonst verloren geht.«

»Wann genau haben Sie den Arm gefunden?«

»Wir waren sehr zeitig unterwegs. Ich denke, es war kurz nach sieben.«

»Wer außer Ihnen hat den Fund gesehen?«, fragte Andresen, der inzwischen den Abtransport des Armes zur Rechtsmedizin nach Greifswald organisiert hatte.

»Niemand. Wir beide waren allein. Um diese Zeit frühstücken die meisten noch«, sagte Dollinger.

»Um die Uhrzeit … noch ganz allein? Bei diesem Wetter?«, warf Andresen zweifelnd ein.

»Jedenfalls hier in dieser Ecke. Ich weiß nur, als wir den Arm herausfischten, dass eines der Fischerboote hinaus ins Stettiner Haff gefahren ist. Aber die haben sich nicht um uns gekümmert. Und wir haben uns auch nicht um andere gekümmert.«

Larsson schaute auf das junge Mädchen in ihrem äußerst knappen Bikini. Sie passt nicht ganz zum Alter des Mannes, dachte er, hütete sich aber, etwas zu sagen. Es wird zu allen Zeiten so gewesen, dachte er, dass die jungen Dinger sich einen Kerl suchen, von dem sie glauben, er könne ihre Nachzucht ernähren. Aber dann stellte er für sich fest, dass mit zunehmender Kapitalisierung die Auswahlkriterien härter geworden waren.

»Der See ist wohl nicht besonders tief«, sagte Larsson zu Dollinger.

»Ist er nicht«, bestätigte er. »Deshalb ist es auch so eine trübe Brühe. Man kann nur mit einem sehr flach gehenden Boot hier ungestraft fahren. Sonst hat man sich im Nu die Schraube abgeschert. Und das ist der ganze Spaß gar nicht wert!«

Larsson prüfte, was einer der Beamten des Streifenwagens aufgenommen hatte. »Haben Sie nicht Bedenken, einmal einer Leiche in dieser trüben Brühe zu begegnen«, fragte er Dollinger.

»Der Tod ist ein Teil des Lebens.« Dollinger lächelte überlegen. »In meiner Zeit als Oberst-Arzt bei der Bundeswehr ist mir so manche Leiche begegnet. Speziell im Auslandseinsatz.«

»Sie waren in Afghanistan?«, warf Andresen ein.

»Auch. Zuerst im Kosovo. Später auch in Afghanistan.«

»Das Leben ist ein ständiges Kommen und Gehen«, sagte Larsson lapidar.