LUCs Tod auf der Insel - George Tenner - E-Book

LUCs Tod auf der Insel E-Book

George Tenner

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Beschreibung

Als die Leiche des Lucas Scholz 2011 auf einer illegalen Müllhalde in Swinemünde gefunden wird, gibt es für die polnischen Ermittler keine Frage, es ist ein alter Bekannter. Es gibt ein Tauziehen zwischen polnischen und deutschen Behörden, denn es ist weder bei den Polen noch bei den Deutschen erwünscht, dass die Öffentlichkeit vom tatsächlichen Geschehen Kenntnis erhält. Lasse Larsson erhält den Auftrag, in Polen nachzuforschen, wer für den Tod des ermordeten Sportlers verantwortlich ist. Die Verbindungen zwischen dem Opfer und dem vermeintlichen Mörder reichen bis tief in die DDR-Zeit hinein, und haben das Ende der DDR überstanden. Doch die Einlassung mit der ‘Ndrangheta haben die Kooperation auf eine drastische Weise beendet.

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George Tenner

LUCs Tod auf der Insel

Lasse-Larsson-Usedom-Kriminalroman

Als die Leiche des Lucas Scholz wird 2011 auf einerillegalen Müllhalde in Swinemünde gefunden Weder bei den Polen noch bei den Deutschen ist erwünscht, dass die Öffentlichkeit vom tatsächlichen Geschehen Kenntnis erhält. 

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

Impressum

Prolog

Freitag, 10. Juni 2011

Um vier am Nachmittag war Larsson fertig mit der Vorbereitung in seinem Haus und Garten, um sein altes Ermittler-Team, mit dem er sieben Jahre erfolgreich gearbeitet hatte, zu empfangen. Am Vormittag hatte er einen großen Kartoffelsalat angerichtet. In Lagen waren die geschnittenen, gekochten Kartoffeln und verschiedenen rohen Gemüse in einer großen Schüssel aufeinandergeschichtet worden, jede Lage gewürzt und dann vorsichtig untereinander gehoben. Unweit auf dem Rasen rauchte leicht die Holzkohle, die er vorsorglich vor einer Viertelstunde angezündet hatte, damit sie gleich, wenn die Gäste eintrafen, mit dem Grillen beginnen konnten.

Vom Eingang des Hauses kam das Geräusch anfahrender Autos und das Klappen der Türen.

»Bist du fertig?«, fragte er Monika, die noch die letzten Handgriffe beim Eindecken des ovalen Tisches machte.

»Natürlich«, sagte sie.

Dann an Elīna gewandt, die an einem Kindertisch mit dem Ausmalen von Bildern beschäftigt war: »Fein machst du das, mein Schatz«, sagte er und streichelte ihr über den Kopf.

Larsson eilte zur Tür. Zwei Fahrzeuge standen hintereinander. Vorn Inge Mohaupts Wagen, die mit einem Ford älteren Baujahrs angekommen war. Sie hatte offensichtlich die Marke nicht gewechselt. Der hintere Wagen entsprach der Person Karl Simons. Vor neun Jahren hatte der einen alten, getunten, gelben Opel mit schwarzem Vinyldach gefahren, der eine Menge Krach gemacht und damit mehr Kraft vorgetäuscht hatte, als er tatsächlich besaß. Simons hatte Larsson damals schon mit seiner sicheren, aber nicht immer mit der Straßenverkehrsordnung konformen Fahrweise beeindruckt. Den Opel hatte er nun gegen einen flachen, taubenblauen Z4 von BMW getauscht. Na ja, dachte Larsson, der Wagen ist ein anderer. Die Hochglanzfrisur, die Karl mit 28 getragen hatte, war unverändert geblieben.

Er ging den beiden entgegen.

»Hallo Inge.« Er umarmte sie, küsste flüchtig ihr Wangen. »Lange nicht gesehen.« Dann drehte er sich Simons zu. »Karl, noch immer der Alte.«

»Nicht ganz, ich habe eine neue Karre!« Simons grinste Larsson herausfordernd an. »Wir können ja mal ein Stück fahren.«

»Ein anderes Mal gerne, Karl«, sagte Larsson. »Wo habt ihr die anderen gelassen?«

»Möller vom Erkennungsdienst ist heute in Rostock zu irgendeiner Weiterbildung, und unser Kriminaltechniker ist im Urlaub.«

»Schade, ich hätte Paul schon wegen seiner flotten Sprüche gern dabeigehabt.«

»Ach, was muss man oft von bösen Kindern hören oder lesen! Wie zum Beispiel hier von diesen, welche Max und Moritz hießen.« Karl Simons machte gekonnt die Stimme vom Kriminaltechniker Paul Maier nach.

Sie lachten.

Inge Mohaupt hielt ihm eine Flasche Wein entgegen. Sie war eingepackt, nur der Hals, der die Verkorkung freilegte, zeigte Larsson, dass sie nicht ganz billig war.

»Danke, Inge. Aber es war nicht ausgemacht, dass ihr etwas mitbringt. Schon gar nicht Rotwein.«

»Kein Rotwein. Es ist ein mindestens 3 Jahre lang in Eichenfässern gereifter Tariquet Bas-Armagnac Classique VS«, sagte Inge Mohaupt. »Ich kenne deinen ausgefallenen Geschmack, Lasse, doch die weißen Kreationen von Winzer Yves Grassa sind mittlerweile weit über die Grenzen der Gascogne hinaus bekannt, denn er scheut sich nicht, Ungewöhnliches zu kombinieren. So wie du auch.«

»Nun sind von fünf Gästen nur zwei übrig geblieben. Das ist nicht fair«, begehrte Larsson, ohne auf Inge Mohaupt einzugehen. »Monika wird enttäuscht sein.«

»Drei«, widersprach Simons. »Ich habe heute mit Andresen telefoniert. Er arbeitet momentan der Staatsanwaltschaft in Stralsund zu und kommt etwas später.«

Sie gingen ins Haus, begrüßten Monika und Elīna.

»Schau, ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte Simons zu dem Mädchen. Er beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr ein kleines Buch, das er unter seinem Jackett hervorzog.

»O Karl. Die Kinder aus Bullerbü«, sagte Monika sichtlich erfreut. Sie nahm das Buch mit dem roten Einband und den sieben Kindern darauf an sich.

Elīna reckte protestierend die Arme hoch. Sie war nahe an einem Wutanfall und wollte das Buch, das ihr sichtlich gefiel, wiederhaben.

»Alle Astrid-Lindgren-Bücher sind für 4- bis 10-Jährige absolut geeignet, übrigens auch für Erwachsene, was man an dir sieht, Monika«, sagte Simons.

Larsson zog Simons mit zum Grill. »Du kannst dich gleich nützlich machen, Karl. Es ist doch deine Spezialität.«

»Gib deiner Tochter endlich das Buch zurück«, sagte Inge Mohaupt zu Monika.

Während Simons die ersten groben Bratwürste und einige Scheiben Nackensteaks auf den Grill legte, holte Larsson eine Flasche gut gekühlten Sekt aus der Küche.

»Kommt, nehmen wir einen Willkommenstrunk«, sagte er und dachte kurz an die Kriminalfälle, die er mit den wenigen Kollegen, die die Polizeidirektion Anklam ihm zur Verfügung stellte, lösen konnte. Die Jagd auf einen wahnsinnigen Inselmörder, sein erster Fall auf Usedom, hatte seinem Team und ihm einiges abverlangt. Die Einsicht, dass sie nur zusammen und nicht gegeneinander erfolgreich sein würden, war die erste Erkenntnis, die sie aneinander geschmiedet hatte. Er hielt Inge Mohaupt ein gefülltes Glas hin.

»Willkommen an Bord, liebe Inge … Karl. Monika, komm bitte, Elīna wird wohl einen Augenblick ohne dich auskommen.«

»Vor allem mit dem tollen Astrid-Lindgren-Buch«, sagte Inge Mohaupt stichelnd und lächelte Simons zu.

»Trinken wir auf die Zeit, in der wir gemeinsam die bösen Buben zur Strecke gebracht haben.« Larsson erhob sein Glas.

Monika sah, dass Elīna sich mit dem Buch befasste. Doch die Buntstifte lagen in beängstigender Nähe. Sie war jetzt vier und verdammt selbstständig. Aber das Kind war klug genug, das Buch beiseitezulegen, ohne den hübschen, bunten Umschlag mit den Bullerbü-Kindern aus den Augen zu lassen.

»Mich hat das so manches Mal sehr mitgenommen«, sagte Simons.

»Wird bei uns allen Spuren hinterlassen haben«, sagte Larsson. »Was hat dich denn am meisten beeindruckt?«

»Die verschwundenen Kinder auf deutscher, aber auch auf polnischer Seite unserer Insel, und das blutige Chaos auf der Morning Star.«

»Ja, das war frustrierend«, ließ Inge Mohaupt vernehmen.

»Vergessen wir heute einfach einmal die Arbeit«, sagte Larsson. Er nickte allen zu. »Prost, auf schöne Stunden bei uns.«

»Ja, darauf wollen wir trinken«, sagte Monika und lächelte hintergründig ihrem Mann zu.

»Woran arbeitet ihr denn gerade?«, fragte Larsson, als er sein Glas abstellte.

»Lasse!«, tadelte Monika.

»Gut, ihr habt die Wahl zwischen Feldsalat mit Honigchampignons, Spargelsalat mit Kapern und Estragon oder Tomaten-Avocado-Salat mit gebratenen Garnelen. Dazu habe ich einen sauleckeren Kartoffelsalat zubereitet«, sagte Larsson und schaute Inge Mohaupt an.

»Es steht doch in den Zeitungen«, sagte Simons. »An dem toten Boxer, den man auf polnischer Seite der Insel gefunden hat.«

»Und?«, fragte Larsson, während er auf Inges Salatteller vorlegte.

»Elīna, das ist doch nicht zum Ausmalen!« Monika Larsson nahm ihrer Tochter das neue Buch aus der Hand. »Ich lese dir an den Abenden daraus vor, in Ordnung?«

Elīna protestierte dieses Mal nicht. Sie liebte es, wenn sie beim Zubettgehen vorgelesen bekam. Meist von ihrer Mutter. Aber wenn es der Vater ermöglichen konnte, machte sie das glücklich. Schließlich nahm sie die Buntstifte und das Ausmalbuch einer deutschen Autorin, das sie mit Inbrunst malträtierte.

»Und du, Karl?«

»Du weißt, ich kann dir nicht darauf antworten«, sagte Simons, stellte das Glas ab und ging zum Grill, um das Fleisch zu wenden.

»Was für Salat?«, rief Larsson ihm nach.

»Ich koste den mit Spargel.«

»Karl, was ist los? Ich habe nicht vor, eure Arbeit zu machen. Inge?«

Inge Mohaupt hob die Schultern.

»So, du also auch.«

»Rolf kommt doch noch. Vielleicht sagt er dir etwas. Er ist näher am Fall dran.«

»Was soll das heißen?«

»Liest du keine Zeitungen?«

»Ich war eine gute Woche in Schweden und bin mit der Nachtfähre aus Ystad gekommen.«

Ystad ist seit Beginn der 1990er-Jahre ein Pilgerort von Fans der Kriminalromane von Henning Mankell, die in der Stadt spielen und europaweit bekannt sind. Inge erinnerte sich daran, dass Larssons Wurzeln in Schweden lagen.

»Es zieht dich immer nach Schweden«, stellte sie fest. »Manchmal habe ich schon gedacht, du holst dir Rat bei Mankells Wallander.«

»Unfug. Die Schwester meines Vaters, Ada Nilsson, liegt im Sterben. Sie wollte mich noch einmal sehen. Unser letztes Zusammentreffen liegt wohl 40 Jahre zurück. Also, worum dreht es sich?«

»Um einen Mann von der Insel, der auf einer Müllkippe auf polnischer Seite aufgefunden wurde. Die Polen mauern. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Die Polen mauern? Was ist das für eine Aussage?«

»Es ist einfach so, dass sie die deutsche Staatsanwaltschaft auflaufen lassen. Uns in Anklam sind da die Hände gebunden.«

Larsson goss Inges Glas auf und sein eigenes ebenfalls. Er schaue Monika fragend an, die sich wortlos abwandte.

»Ich weiß nicht, was mit euch los ist. Wir hatten doch wirklich einen guten Draht zu den polnischen Kollegen.«

Simons brachte die ersten zwei Teller mit Fleisch an den Tisch. »Monika, hast du einen besonderen Wunsch?«

»Für mich nur ein kleines Nackensteak, bitte.«

»Was wollt ihr trinken?«, frage Larsson.

»Ich nehme ein Wasser. Du weißt ja, das Auto«, sagte Inge Mohaupt.

»Da schließe ich mich an«, sagte Simons. Er ging zum Grill, um weitere zwei Teller mit Fleisch zu bestücken – einen für Monika, einen zweiten für Inge – und brachte beide an den Tisch.

Monika trollte sich zur Küche.

»Na, dann probiere mal von meinem Kartoffelsalat zu dem Fleisch, Inge.« Larsson legte vor.

Monika kam mit zwei Flaschen Gerolsteiner zurück, stellte sie neben die Angebote, die Larsson vorbereitet hatte.

Simons stellte das Fleisch für Monika an ihren Platz. Nun saßen sie am Tisch und probierten von allem, was ihnen angeboten wurde.

Während sie aßen, hörte Larsson, wie ein weiteres Auto vor sein Haus fuhr.

»Rolf Andresen«, sagte er lakonisch und stand auf, um seinem Gast entgegenzugehen.

»Er kann es einfach nicht lassen«, stellte Monika fest. »Immer muss er sich um Dinge kümmern, die ihn nichts angehen.«

»So ist er nun mal. Ihm geht es wie einem Jagdterrier, immer daran interessiert, irgendein Wild zu reißen.« Inge Mohaupt lächelte Monika aufmunternd zu. »Nimm es gelassen.«

»Was soll ich auch anderes tun?«

Die beiden Männer kamen aus dem Entree des Hauses, gingen durch das Wohnzimmer und standen wenige Sekunden später neben dem Tisch.

»Ich habe es nicht eher geschafft«, sagte Andresen in die Runde. »Man könnte meinen, der Oberstaatsanwalt würde allzu gern am Frankendamm 17 übernachten.«

»Setz dich erst einmal, Rolf. Was möchtest du essen?«

»Es steht genügend da, Lasse. Ich bediene mich selbst.«

Karl Simons schob Andresen einen Teller mit Fleisch zu, das er gerade vom Grill geholt hatte.

»Ist das nicht für dich?«

»Jetzt nicht mehr. Aber es gibt gleich noch einmal Nachschub«, sagte er, zwinkerte und machte sich Sekunden später wieder am Grill zu schaffen.

»Habe ich irgendetwas etwas verpasst?«, fragte Larsson.

Rolf Andresen, der Larsson lange genug kannte, wusste sofort, worauf er anspielte.

»Nicht wirklich. Am Montag fand man die Leiche eines 49-jährigen Mannes in einem Wald auf der polnischen Insel Wollin in der Nähe von Swinemünde. Offenbar ist er Opfer eines Tötungsverbrechens geworden.«

»In Polen. Na ja, da sind die polnischen Behörden zuständig. Was sonst?«, warf Larsson ein.

»Der Tote ist deutscher Staatsbürger, also hat die Staatsanwaltschaft Stralsund formell ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Man geht bislang davon aus, dass Fundort und Tatort identisch sind«, erklärte Rolf Andresen. »Nach dem Tatortprinzip sind damit die Polen zuständig, doch wir werden die polnische Seite unterstützen und kommen jedem Hilfeersuchen nach.«

»Das ist normal«, sagte Larsson.

»Nicht normal ist, dass unsere Kollegen in Stettin blocken. Es gibt nicht einmal eine Andeutung. Als hätte das Ganze nicht stattgefunden. Liest du keine Zeitung?«

Larsson dachte daran, dass er die letzten Tage mit etwas beschäftigt gewesen war, was andere Menschen viel öfter machten als er selbst: Urlaub. Seine letzte Aufgabe für das BKA hatte er einige Monate zuvor in Potsdam erfüllt. Seither sortierte er die eingehenden Angebote, die ihn als Privatdetektiv anzuheuern gedachten. Einer suchte sein hochwertiges Fahrzeug, einen 160.000 Euro teuren Bentley Continental GT. Der Wagen war nachts aus einer Garage in Karlshagen entwendet worden und nicht wieder aufgetaucht. Er vermutete, dass das Fahrzeug aller Wahrscheinlichkeit länsgt über Polen nach Weißrussland oder in die Ukraine unterwegs war. Wenn jemand überhaupt in der Lage war, das Fahrzeug aufzuspüren, dann die Polizei dieser Länder.

Larsson wurde aus seinen Gedanken gerissen.

»In der Zeitung stand Anfang der Woche, ein Taxifahrer habe den Mann auf einer Müllkippe östlich Stettins mit einem Loch im Kopf gefunden, wonach man verbreitete, er sei mit einem Kopfschuss getötet worden. Doch die zuständige Bezirksstaatsanwaltschaft in Stettin dementierte bereits am Nachmittag die Spekulationen über einen Kopfschuss. Genauere Hinweise zur Todesursache erhoffte sich die Stettiner Behörde von der Obduktion der Leiche«, sagte Andresen.

»Und?«

»Zu den möglichen Motiven der Tat gibt es bisher keine Hinweise. Nach Medienberichten soll das Auto von Scholz, so heißt der Tote, mehrere Tage ungenutzt auf dem Parkplatz eines Supermarktes in Ahlbeck gestanden haben. Am Mittwoch haben wir das Fahrzeug vor dem Sky Markt in Ahlbeck sichergestellt. Das ist alles, was wir bisher haben. Jedenfalls offiziell.«

Simons kam mit einer Platte aus Edelstahl, auf der er das Grillgut, eingerahmt von verschiedenfarbigen Paprikastreifen und Champignons, drapiert hatte, und stellte sie auf den Tisch. Jetzt legte auch er für sich etwas auf einen der bereitgestellten Teller.

»Es gibt da noch ein Gerücht«, sagte Rolf Andresen.

»Raus damit. Meist ist an Gerüchten auch ein Körnchen Wahrheit«, drängte Larsson.

»Es gibt möglicherweise ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau.«

»Das soll vorkommen«, griente Larsson.

»Na ja, Luc Scholz war ein sehr bekannter Mann auf der Insel, nicht nur als Detektiv und Tänzer in der Diskothek Roter Hahn. Wir haben jemanden aus der Gemeindeverwaltung befragt. Derjenige meinte, der Boxer habe ein sauberes Image, sei freundlich zu jedermann, würde aufpassen, dass die Frauen, die den Roten Hahn verließen, nicht belästigt werden.«

»Der Boxer?«, fragte Larsson.

»Das verbreitete er ebenso dezent wie geschickt, schließlich habe er 1980 zusammen mit Henry Maske zusammen im gleichen Stall geboxt«, sagte Andresen.

»Mit Maske? Unfug, Bubi Scholz kann es nicht sein. Der hat seine Frau im Affekt erschossen und ist längst verstorben. Axel Schulz kanns auch nicht sein. Da fiele mir nur noch der Name Olaf Scholz ein, der diesen März Erster Bürgermeister von Hamburg geworden ist. Und ob der boxen kann, wage ich zu bezweifeln.«

»Man weiß es nicht genau. Aber ich verrate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass Scholz zwar auf Usedom gewohnt hat, seine Meldeadresse aber noch immer in der Hansastraße in Frankfurt an der Oder ist.«

Larsson ging einige Sekunden in sich. »Hast du schon mal daran gedacht, den polnischen Kollegen zu fragen, der mit uns ganz zu Anfang zusammengearbeitet hat? Du hast ihn damals ins Spiel gebracht.«

»Stanischewski«, sagte Andresen.

»Ja, so hieß der wohl.«

»Der ist kurz davor, in den Ruhestand zu gehen.«

»Dann ist er genau der richtige Ansprechpartner. Hast du seine Telefonnummer noch?«

Andresen lachte auf. »Du hast sie doch auch.«

»In meinen Unterlagen. Und die sind bei meinem Ausscheiden in der Dienststelle zurückgeblieben.«

»Ich habe sie nicht mit«, log Andresen.

»Gib sie mir.«

Als Inge Mohaupt, Karl Simons und Rolf Andresen sich kurz vor neun verabschiedeten, sagte Andresen leise zu Larsson: »Ich schicke dir die Telefonnummer auf dein Handy.«

1. Kapitel

Sonnabend, 11. Juni 2011

Larsson musste sich eingestehen, dass der monatelange Leerlauf ihn seit einiger Zeit nervte. Irgendetwas musste er wieder unternehmen.

Der erste Weg am Sonnabendmorgen führte ihn zur Seebrücke nach Heringsdorf, wo er im Presse-Shop Mellenthin sämtliche Zeitungen erwarb, die sich mit dem Fall Luc Scholz befassten. Damit zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, las jede der Zeitungen, die im nahezu gleichen Wortlaut den Fall in groben Zügen darstellten, machte sich Notizen.

Was, in Gottes Namen, interessiert dich so, dass du dich damit beschäftigst?, dachte er. Bei genauer Betrachtung musste er sich eingestehen, dass er ausschließlich seiner Langeweile nachgegeben hatte. Das war ein völlig neuer Zustand, den er für sich ausmachte. Eigentlich hatte er auf einen Nachfolgeauftrag vom BKA in Berlin gewartet. Doch der blieb bisher aus. Schorn meldete sich nicht, und er fühlte sich nicht veranlasst, Niclas Schorn anzurufen.

Das Klopfen an seiner Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Monika kam herein.

»Willst du dich den ganzen Tag vergraben? Draußen scheint die Sonne. Komm doch raus«, bettelte sie.

»Gleich.«

»Es ist Mittagszeit. Was möchtest du essen? Wir haben eine Menge von gestern übrig.«

»Das können wir am Abend essen. Mir ist nach einem sehr einfachen, leichten Essen.«

»Eine Gemüsesuppe? Davon wirst du doch nicht satt.«

»Oder eine Kartoffelsuppe mit einem Würstchen.«

»Eine Kartoffelsuppe. Etwas anderes kann dir wohl nicht einfallen? Und Würstchen, du meinst sicher Wienerle oder so …«

Larsson nickte und grinste breit.

»Habe ich nicht im Haus. Lass dich einfach überraschen.« Monika ging in die Küche.

»Dein Vater will uns aufs Eis führen«, sagte sie zu Elīna und streichelte über das Haar des Kindes. In ihrem rosa Blüschen und dem wilden Lockenschopf, der linksseitig durch eine Spange gehalten wurde, damit ihr die Haare nicht immer ins Gesicht fielen, sah sie bezaubernd aus, dachte Monika. »Willst du mir helfen?«

Elīna machte ihre Begeisterung deutlich.

Monika holte eine Zucchini, vier Frühlingszwiebeln, eine rote Paprikaschote, wusch das Gemüse und würfelte es klein. Alles zusammen gab sie in einen beschichteten Topf, dünstete es mit ein wenig Rapsöl an. Aus der Speisekammer holte sie ein Glas mit Kürbiskonzentrat, das sie selbst letzten Herbst eingemacht hatte. Sie löschte mit Brühe das angedünstete Gemüse ab und rührte das Kürbisinstant vorsichtig unter. Während zehn Minuten, in denen sie immer wieder etwas Brühe nachgoss, ließ sie die fast fertige Suppe etwas einkochen. Aus der Tiefkühlung holte sie eine kleine Partie in Scheiben geschnittene Champignons, die sie dazutat, und etwa die Hälfte von einem griechischen Feta, der aus biologischer Haltung kam und die Suppe etwas sämiger und würziger machte. Sie drehte den Herd ab. Durch die Restwärme würde das Süppchen noch etwas nachziehen.

»Jetzt gehen wir den Papi holen«, sagte Monika.

Zusammen liefen sie zu Larsson.

»So, mein Gebieter«, sagte sie aufreizend lächelnd. »Jetzt kannst du kommen und dein leichtes Süppchen einnehmen. Elīna freut sich auch schon darauf.«

Er stand auf, als sein Smartphone piepte. Larsson schaute auf das Display. Andresen hatte ihm die Telefonnummer des polnischen Kollegen zugeschickt. Dazu schrieb er: Ich habe mit Ryszard Stanischewski telefoniert. Du kannst ihn anrufen. Rolf.

»Hast du was Wichtiges bekommen?«, stichelte Monika.

»Geht schon vor. Ich komme sofort nach.«

Monika ging zusammen mit ihrer Tochter zurück in die Küche. Sie goss jeweils etwas von der leckeren Speise in kleine Suppenschalen, die sie auf einem Tablett hinaus auf die Terrasse brachte. Dann ging sie zurück, holte Löffel, Servietten und aufgeschnittenes Baguette.

Als sie damit auf die Terrasse zurückkam, war Larsson gerade dabei, sich mit Elīna zu unterhalten. Gemeinsam standen sie vor dem kleinen Fahrrad, das das Mädchen zum Geburtstag erhalten hatte. Es war ihr erstes Rad.

»Ich werde dir nach dem Essen die Stützräder etwas nachstellen, Elīna. Sonst fällst du noch um«, sagte Larsson lachend.

Sie setzten sich an den Tisch. Noch brauchte Elīna den Kinderhochstuhl, um ihr Suppenschälchen zu erreichen. Das würde nun sehr bald anders werden. Wie schnell doch die Zeit vergeht, dachte Larsson.

»Ich sehe, du hast deine gute Laune wiedergefunden«, stellte Monika zwischen zwei Bissen nüchtern fest. »Das bedeutet, dass dich die Nachricht auf deinem Handy erfreut hat. Wie heißt die Frau?«

»Du weißt doch, dass ich mich sehr um andere Frauen kümmere, die sich ebenso um mich reißen.«

»Typisch Mann. Davon träumt ihr Burschen bloß. Andere Dinge kommen euch nicht in den Sinn. Wüsste ich nicht, dass zwischen uns alles in Ordnung ist, würde ich dir glatt den Hals umdrehen. Also, was ist es?«

»Eine Verabredung mit einem polnischen Kollegen, der mir etwas unter die Arme greifen will.«

»Sicher?«

»Nicht ganz. Doch er ist bereit, sich mit mir zu treffen. Was genau er hat, weiß ich noch nicht. Nicht einmal, ob ich es gebrauchen kann.«

»Hat das etwas mit deiner gestrigen Neugier zu tun, mit denen du deinen Kollegen den Abend verdorben hast?«

»Monika, ich kann einfach nicht hier herumsitzen. Was ich aus den Zeitungen herausgefischt habe, klingt sehr nach Organisierter Kriminalität. Aber keiner nennt das Kind beim Namen, und das lässt auf zwei Möglichkeiten schließen.«

»Gleich auf zwei«, sagte Monika lapidar.

»Dass sie nichts wissen. Oder dass sie etwas wissen, das ihnen aber zu heiß ist, es öffentlich zu machen.«

»Warum sollte es das sein?«, fragte Monika.

»Wieder zwei Antworten. Sie haben Angst vor der Vergeltung der OK. Oder sie werden durch die Politik irgendeines ranghohen Mitgliedes der Verwaltung an einer Veröffentlichung gehindert.«

Einen Augenblick schwiegen sie, um sich dem Essen zu widmen.

Monika Larsson hoffte, er würde sich nicht schon wieder in akute Lebensgefahr begeben, nicht, nachdem er sich fürs BKA in Tschechien an den Rand des Todes bewegt hatte. Verdammt noch mal, er hat Familie, Verpflichtungen gegenüber seiner kleinen Tochter und mir. Manchmal ist er verdammt egoistisch.

Larsson hingegen fragte sich, was der polnische Kollege ihm wohl verraten könnte. Möglicherweise gar nichts. Mal abwarten, was dieser Ryszard Stanischewski überhaupt anzubieten hat. Wahrscheinlich würde er sich mit einer Ausrede aus der Affäre ziehen. Aber vielleicht …

»Sag schon, was du wieder ausgebrütet hast«, holte Monika ihn aus seiner Überlegung heraus.

»Ich fahre am Nachmittag nach Swinemünde, um mich mit dem polnischen Kollegen zu treffen. Andresen hat mir den Kontakt gemacht.«

Nach dem Essen holte Larsson aus dem Benz ein Paket mit Schraubenschlüsseln, löste zuerst das rechte Stützrad des Kinderfahrrades, dann das linke. Er veränderte die Höhen so, dass das kleine Rad völlig gerade gehalten wurde.

»Wenn Elīna jetzt ein, zwei Wochen damit fährt, ändern wir das wieder. Aber erst braucht sie ein wenig Übung.«

*

Kurz vor drei am Nachmittag erreichte Larsson die Drawska in Swinemünde. In dieser Straße stand eine Reihe von Ein- und Zweifamilienhäusern. An ihrem Ende lagen, etwas versetzt, zwei elfgeschossige Hochhäuser, die sich nordwestlich durch weitere fünf dieser Betonklötze fortsetzten. Genau gegenüber einem der Hochhäuser lag das Einfamilienhaus des polnischen Kollegen. Durch reichlich Begrünung hatten die Bewohner des Hauses versucht, eine Sichtblende zu den Wohnbunkern zu schaffen.

Er parkte seinen Wagen direkt in der Auffahrt hinter dem Wagen seines Kollegen und klingelte wenig später.

»Herr Larsson?«

Larsson war der große Mann auf Anhieb sympathisch. Er nickte.

»Guten Tag. Ich freue mich, Sie persönlich kennenzulernen. Bitte kommen Sie herein.«

»Das beruht auf Gegenseitigkeit«, sagte Larsson.

»Bisher habe ich von Ihnen hin und wieder von meinem Freund Rolf gehört. Nur Lobendes. Er sagte es mir heute Morgen, als er kurz bei mir reingeschaut hat.«

Siehe da, dachte Larsson anerkennend. Andresen war am Morgen hier gewesen. Deshalb hatte er erst am Mittag die Telefonnummer geschickt. Er hat sich persönlich für das Treffen starkgemacht. Das hätte ich nicht von ihm gedacht.

»Dann wird er Ihnen ja gesagt haben, wofür ich Ihre Hilfe gern in Anspruch nehmen würde.«

»Ja.«

»Haben Sie etwas für mich?«

»Vielleicht. Doch es ist nicht eben viel. Die Staatsanwaltschaft in Szczecin hat das Verfahren an sich gezogen, was zur Folge hat, dass alle Ermittlungen von unseren Spezialisten der Policja Kryminalna, ebenfalls in Szczecin, bearbeitet werden.«

»Das wird wohl überall ähnlich sein«, sagte Larsson. »Bei uns entscheidet immer das Landeskriminalamt, ob ihre Spezialisten unsere Kripo vor Ort unterstützen. Bei ganz hoch angebundenen Problemen mit der Organisierten Kriminalität muss sogar das LKA das Bundeskriminalamt verständigen. Dort wird dann entschieden, wer federführend die Ermittlungen leitet. Und das sind meist nicht die Beamten vor Ort.«

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

»Gern.«

Larsson hörte Stanischewski in der Küche hantieren. Während Andresen bei ihm gewesen war, dachte er, würden sie lang und breit durchgekaut haben, warum er bei der Kripo gegangen war und was er jetzt machte. Ich kann froh sein, wenn er mir überhaupt etwas an die Hand gibt, was mit dem Fall Lucas Scholz zu tun hat.

»Rolf Andresen und ich haben einige Jahre sehr gut zusammengearbeitet. Ich bin nicht mehr bei der Kripo, arbeite nur noch hin und wieder als Privatdetektiv. Jedenfalls habe ich darauf ein angemeldetes Gewerbe«, sagte Larsson und lächelte, als Stanischewski, ein Tablett vor sich hertragend, wieder im Wohnzimmer erschien.

»Ich weiß. Aber ich weiß auch, was Sie für das BKA ermittelt haben.« Er stellte den Kaffee und zwei kleine Teller mit Pflaumenkuchen auf den Tisch. »Danuta, meine Frau, meinte, Sie könnten ruhig mal ihren Kuchen probieren. Sie kann meisterlich backen.«

»Sehr freundlich«, sagte Larsson.

»Sie hätte Sie auch gern kennengelernt, muss aber arbeiten und kommt erst gegen sechs am Abend wieder. Jedenfalls hat sich Danuta sehr interessiert gezeigt, nachdem sie unserer Männerunterhaltung heute Morgen zugehört hat.«

»Glauben Sie Rolf Andresen nicht alles. Es gibt sicher nicht so viel Interessantes von mir zu berichten, was eine Frau spannend finden könnte.«

Stanischewski lächelte doppelbödig. »Sie sollten nicht so bescheiden sein, Herr Larsson. Ich habe Rolf gut zugehört.«

»Was haben Sie denn für mich?«, fragte Larsson zwischen zwei Bissen.

»Ich kann Ihnen die Auffindesituation beschreiben, und den Auffindeort werde ich Ihnen zeigen.« Stanischewski stand auf und holte von einem Buffetschrank einige Fotografien. »Sie haben die Bilder nicht von mir. Also gehen Sie nicht damit hausieren.«

Larsson hielt sich zurück. Er nickte nur, schaute auf die Fotos, die der Pole auf dem Tisch auslegte. Er waren Bilder der Ablagestelle und vom Kopf des Boxers Lucas Scholz. In dessen rechter Stirnhälfte war ein kreisrundes Loch und ein wenig verkrustetes Blut drumherum.

»Sieht aus wie ein Schussloch, ist ein Schussloch und wird auch dann ein Schussloch bleiben, wenn alle dementieren, dass es eins sei«, sagte Larsson in Erinnerung an den Artikel in der Ostseezeitung, in dem die Sprecherin der zuständigen polnischen Staatsanwaltschaft, Joanna Milowski-Tomaszewska, über Spekulationen bezüglich Schusswunden am Körper des Toten zitiert wurde.

»Es ist Zufall, dass ich die Bilder überhaupt habe. Eigentlich haben die Kollegen aus Szczecin alles mitgenommen … Vertraulich!« Stanischewski schaute Larsson eindringlich an. »Ich will meine Pension nicht verlieren.«

»Sie können sich auf mich verlassen«, sagte Larsson.

Als er den letzten Bissen von Danuta Stanischewskas Pflaumenkuchen gegessen hatte, drängte der polnische Polizist zum Aufbruch. Larsson ließ seinen Wagen stehen. Über die Grunewaldzka fuhren sie in Richtung Zentrum Swinemündes. Als sie in die Ignacego Daszyńskiego einbogen, sahen sie auf die Swina und die Einfahrt des Hafens für die Fähren der Schifffahrtslinien nach Trelleborg und Ystad. Auch die großen Frachter, die für Stettin bestimmt waren, fuhren hier ein, um über die Swina und das Stettiner Haff, Zalew Szczeciński und einen Teil der West-Oder ihren Anlegeplatz im Hafen von Szczecin anzulaufen.

An der Wodna fuhren sie auf die Fähre. Während sie sich auf der Überfahrt zum Stadtteil Warszόw befanden, passierten sie eine der weißen Fähren mit dem durchgehenden blauen Strich über der Wasserlinie und dem Namenszug der polnischen Unity-Line. Larsson war immer wieder begeistert, wenn er so nahe mit einer der Großfähren Blickkontakt hatte. Schließlich war er schon einige Male mit dieser Fährverbindung nach Ystad und zurück unterwegs gewesen, um mit dem Auto zum Ort seiner Wurzeln in Håverud im schwedischen Dalsland zu gelangen.

Sie verließen die Fähre und fuhren auf die E65 Wolińska Droga krajow 3 bis Przytór. Parallel blickten sie auf die Schienenstränge der Eisenbahn. Stanischewski bog nach rechts ab. Sie passierten die Bus-Haltestelle Sąsiedzka/Wolińska. Etwa hundert Meter weiter bog der Pole in die Ausbuchtung eines kleinen Waldweges ein. Larsson schaute auf eine Anhäufung von Altbatterien und Schrott, der hier offensichtlich illegal entsorgt worden war. Blechteile von alten Autos, darunter ein vom Rost zernagter Kotflügel eines alten Ford Taunus aus dem Ende der sechziger Jahre und Reste der Karosserie eines russischen Pobeda von 1955.

»Das ist Gruselkabinett pur«, stellte Larsson fest.

»Es ist eine der wilden Schrottablagen hier auf Wollin«, sagte Stanischewski. »Ich bekam eine Nachricht aus unserer Zentrale aus Świnoujście. Einer der Einsatzwagen unserer Polizei ist durch den Anruf eines Taxifahrers hierher gerufen worden. Er habe hier ein Paket gefunden, das wohl einen toten Mann beinhalte. Man fand die Vermutung des Mannes bestätigt und schickte mich los. Als ich ankam, hatte man den Toten, dessen Kopf aus der Umwickelung mit Kunststofffolie herausschaute, soweit freigelegt, dass man die Kopfverletzung deutlich ausmachen konnte. Sie haben das Bild von mir, das ich mit dem Smartphone machte.«

»Es ist gut aufgehoben. Wo genau lag das Paket?«

»Wenn Sie das Bild nehmen, können Sie es genau sehen. Rechts vom Weg, neben den beiden Bäumen und den Resten des Pobeda.«

Larsson sah sich das Foto an. Dort, wo es einen weißen, länglichen Gegenstand zeigte, gab es jetzt nur eine kleine Anhäufung getrockneter, blattloser Zweige sowie einen Haufen alter, durchnässter Kleidung und jede Mange Plastikflaschen jeder Größe und jeden Zustandes.

»War das das Paket mit der Leiche?«, fragte er.

Stanischewski nickte.

»Manchmal haben wir die Fundorte einer Leiche eine Weile überwacht«, sagte Larsson.

»Sie meinen, es zieht den Mörder zum Ort seiner Tat?«

Larsson nickte.

»Wie sollten wir bei unserer schwachen Besetzung dafür Beamte abstellen können? Das geht gar nicht.«

»Wir haben das eigentlich auch nur zu Beerdigungen gemacht. Ansonsten behalfen wir uns mit Wildkameras, die wir gut getarnt installiert haben.«

»Und das war erfolgreich?«, fragte Stanischewski.

»Ja, aber nur einmal.« Larsson dachte an seine Tätigkeit für das BKA in Potsdam. Dort hatte er das so gemacht. »Was hat Ihnen der Taxifahrer erzählt?«

»Er sagte, er habe hier nur einem drängenden Bedürfnis nachgehen wollen, als er plötzlich den Platz sah.«

»Das haben Sie ihm abgenommen? So nahe an Swinemünde muss doch jedem Taxifahrer dieser Ort bekannt sein.«

»Ich konnte ihm nicht das Gegenteil beweisen.«

»Und sonst? Wenn das, was der Mann sagte, nur vorgetäuscht war, könnte er etwas mit der Leiche zu tun haben«, sagte Larsson nachdenklich.

»Das Paket habe ihn durch die weiße Folie angelockt und die Form ihn an Spielfilme erinnert, in denen solch eine Auffindesituation gezeigt werde.«

Larsson machte mit dem Handy noch einige Fotos rund um den Ablageplatz, dann nickte er seinem polnischen Kollegen zu. »Wenn wir hier nichts mehr haben, können wir zurückfahren.«

»Nachdem ich mit dem Taxifahrer gesprochen hatte, schickte ich ein Foto des Toten nach Świnoujście. Keine fünfzehn Minuten später erhielt ich einen Rückruf von der Policja Kryminalna, in dem man mir sagte, die Staatsanwaltschaft habe eine Nachrichtensperre über den Fall verhängt«, sagte Stanischewski, als sie sich wieder auf der Wolińska Droga krajow 3 befanden. »Und 40 Minuten später kamen unseren Spezialisten mit einem Riesen-Tamtam – Blaulicht und Sirenen – angerauscht. Die Spurensicherung sperrte alles ab. Ein Offizier zog sofort die Ermittlung vor Ort an sich und schickte mich nach Świnoujście zurück. Ich fragte einen der Kollegen, der ein wenig abseitsstand und den ich seit langer Zeit kenne, was der Grund für diese Unruhe wäre. Er sagte, der Tote sei ein bekannter Mann aus Ahlbeck, ein ehemaliger Sportler, Boxer oder so. Als ich in mein Fahrzeug stieg, sah ich noch, wie ein forensischer Entomologe anfing, Fliegenlarven zu sichern.«

»Das ist doch schon eine ganze Menge.« Larsson lächelte das erste Mal, seit sie die Fundstelle betreten hatten. Wenig später fuhren sie auf die Fähre, die sie von Przeprawa Warszow zurück über die Swina zur City Świnoujścies brachte.

2. Kapitel

Vom Haus Stanischewskis fuhr Lasse Larsson die Wojska Polskiego entlang. Rechtsseitig lag der große Polenmarkt Swinemündes, der bis zur Grenze nach Deutschland reichte. Als er am polnischen Parkplatz vorbeikam, der kurz vor der Grenze lag, beschloss er, im Grenz-Restaurant auf deutscher Seite kurz einzukehren. Er stieg aus, als sein Smartphone klingelte. Es war eine fremde Telefonnummer, und so drückte er sie weg. Er hatte im Augenblick keine Lust, mit irgendeiner Person zu telefonieren. Er wollte das Gerät gerade einstecken, als es abermals klingelte. Dieses Mal erkannte er die Nummer sofort.

»Lasse Larsson. Was möchtest du von mir, Niclas?«, fragte er, nachdem er die Nummer auf dem Display identifiziert hatte.

»Warum hast du mich gerade weggedrückt.«

»Ich kannte die Nummer nicht.«

»Es war ein Diensttelefon.«

»Was verschafft mir die Ehre?«

Einen Augenblick schwiegen beide Männer.

»Was machst du gerade, Lasse?«

Larsson lachte auf. »Ich gehe gerade in ein Restaurant, um eine Kleinigkeit zu essen.«

»Ich meine, bist du derzeit mit irgendeiner Aufgabe beschäftigt.«

»Nein. Wieso? Hast du etwas für mich?«

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass du dich für einen Mann interessierst, der tot in Polen gefunden wurde.«

Larsson schluckte. Wer, so dachte er, hat den Mund nicht halten können? Erst gestern war die Zusammenkunft mit Inge Mohaupt, Karl Simons und Rolf Andresen gewesen. Einer von denen musste Niclas Schorn benachrichtigt haben, war das möglich? Er konnte nicht glauben, dass einer seiner Leute, denen er immer vertraut hatte, sein Interesse an Lucas Scholz an das BKA weitergeben würde. Warum auch? In Gedanken warf er die Tür des Autos zu.

»Scheiße!«

»Was ist?«, fragte Schorn irritiert.

»Ich habe den Schlüssel im Auto gelassen, und die Tür zugeschlagen.«

»Und?«

»Ich hatte vorher die elektronische Verriegelung bestätigt. Als das Telefon klingelte, habe ich den Schlüssel auf das Armaturenbrett abgelegt, um es aus dem Hemd zu nehmen.«

»Du bist ein Glückspilz«, lästerte Schorn.

»Ich werde meine Frau anrufen. Aber jetzt hänge ich hier erst einmal fest.«

»Machen wir es kurz«, sagte Schorn. »Ich bearbeite den Fall nicht. Doch die Abteilung ST51- Kriminalpolizeilicher Grundsatz/Internationale Zusammenarbeit ist da dran und hat mich angesprochen. Die Polen mauern. Die Staatsanwaltschaft Stralsund bekommt keinen Zugang zur Leiche.«

»Und was soll ich da machen?«

»Hast du irgendwelche Möglichkeiten, an die Ermittlungsarbeiten der Polen heranzukommen?«

Larsson lachte auf. »Wie stellst du dir das vor?«

»Du könntest ja mal rumhorchen.«

»Ist die Kripo aus Anklam nicht an dem Fall?«

»Nicht direkt.«

»Was heißt denn das?«

»Sie sind mit den Kollegen in Stettin in Verbindung. Die halten sich aber bedeckt.«

»Zu Deutsch: Sie kooperieren nicht.«

»Das trifft es.«

»Ein Tief in den Beziehungen auf Justizebene beider Völker«, sagte Larsson. »Bisher habe ich nur mit dir verhandelt. Angenommen, ich würde mich darauf einlassen, was würde für mich dabei herausspringen? Und wer wäre mein Gesprächspartner, auf den ich mich verlassen könnte.«

»Es ist eine BKA-Kollegin, die als Verbindungsbeamtin zur polnischen Polizei in der deutschen Botschaft in Warschau arbeitet.«

»In Warschau …«

»Sie ist in der Angelegenheit nicht weitergekommen. Irgendetwas veranlasst die Polen, bei dem Tötungsdelikt an Lucas Scholz absolut unkooperativ zu sein. Wir wollen wissen, was es ist.«

»Doch ihr habt schon irgendwelche Erkenntnisse«, stellte Larsson fest.

»Nein.«

»Aber Vermutungen.«

»Ja, nur werde ich dir die nicht nennen. Wir wollen, dass du unvoreingenommen und ohne Vorkenntnisse in die Ermittlungsarbeit eintrittst.«

Was für Pharisäer, dachte Larsson. Sie wollten nichts weiter als herausfinden, wie weit ein Außenstehender an irgendwelche Sauereien herankommen konnte, um irgendwelche Lecks abzudichten.

»Ich weiß nicht, ob euch das etwas bringt. Bisher habe ich nichts, was außerhalb der Zeitungen kundgetan wurde. Und das ist Blablabla, nichts weiter als heiße Luft und Spekulationen.« Für einen Augenblick fühlte er eine tiefe Hilflosigkeit in sich.

»Ich vertraue dir, Lasse. Bisher hast du immer das Richtige gemacht, wenn du für uns gearbeitet hast.«

»Was soll ich in Warschau?«, fragte Larsson schließlich.

»In Warschau? Nichts.«

»Warum bringst du dann die Frau ins Spiel?«

»Sie wird zu dir kommen.«

»Und die Kontaktaufnahme?«

»Sie ruft dich an. Sie heißt Weber.«

»Bleibt die finanzielle Sache.«

»Es sind die gleichen Konditionen wie bei unserer letzten Zusammenarbeit. Ich gehe davon aus, dass du akzeptierst.«

Da Larsson nicht antwortete, unterbrach Niclas Schorn vom BKA das Gespräch.

3. Kapitel

Sie waren noch nicht lange zu Hause. Gerade hatte sich die Aufregung seiner Frau bezüglich des Problems mit dem im Auto eingeschlossenen Fahrzeugschlüssel und der Abholung geregelt, als Larssons Smartphone klingelte.

»Warum gehst du eigentlich nie ans Telefon, wenn ich in der Nähe bin?«, fragte Monika Larsson.

Weil ich mich nicht mehr getraue, das Ding anzufassen, dachte er. Immer, wenn ich das tue, ärgere ich mich hinterher, wenn ich mich auf irgendeine konspirative Arbeit eingelassen habe, die ich eigentlich nicht mehr will.

Unwillig nahm er beim nächsten Klingelton das Gespräch an. »Larsson.«

»Britta Weber. Man hat mir gesagt, ich möge mich mit Ihnen in Verbindung setzen.«

Schorn hat mir den Namen genannt, dachte er. Hier konnte jeder anrufen. Doch er hat es vermieden, mir zu sagen, dass die Frau unmittelbar anrufen würde.

»Hat es einen Grund, dass Sie mich anrufen? Wenn ja, welchen?«

»Ein gemeinsamer Freund aus Berlin hat mir aufgetragen, telefonisch Kontakt zu Ihnen aufzunehmen.«

Einen Augenblick kam ihm Charlene Gruber in den Sinn. Mit der verdeckten Ermittlerin des BKA, deren Reizen er nicht widerstehen konnte, hatte er das Schicksal des Motorseglers und der vier Männer aufklären können, die spurlos in der Ostsee verschwunden waren. Er erinnerte sich hin und wieder an sie. Manchmal an das angenehme Arbeitsklima, das sie miteinander verband, und dann wiederum an die Folgen und den schalen Geschmack, den die gemeinsame Nacht im Hotel auf Rügen sicher bei beiden hinterlassen hatte. Aber Charlenes Stimme war jugendlicher gewesen als die Britta Webers.

»Aus welchem Ort kommen Sie?«

»Warschau.«

»Was ist Ihr Vorschlag.«

»Wann können Sie sich mit mir treffen?«

»Jederzeit«, hörte er sich sagen. Gleichzeitig fiel ihm ein, dass er genau das eigentlich nicht mehr wollte. Und er begriff, dass nicht er seinen Jagdinstinkt im Griff hatte, sondern der Jagdinstinkt ihn.

»Also auch heute?«

»Selbstverständlich. Wann und wo?«

»Ich schlage vor, in einer Stunde im Dorint Resort Baltic Hills in Korswandt. Ist das machbar?«

Larsson schaute zur Uhr. »Ja«, sagte er und unterbrach die Leitung.

*

Monika Larsson machte sich in der Küche zu schaffen. Sie waren spät dran. Elīna quengelte schon und biss auf einen Brotkanten herum, den ihr die Mutter zur Beruhigung gereicht hatte.

»Ich muss noch einmal los, Monika«, sagte Larsson. Er merkte, dass ihr das nicht passte.

»Wie heißt sie dieses Mal?«

»Weber«, sagte Larsson ruhig. »Und sie ist nicht das, was du dir vorstellst.«

»Sondern?«

»Es ist meist nicht das, was es zu sein scheint. Es ist immer etwas anderes, Monika. In diesem Fall besonders.«

»Du willst es mir nicht sagen?«

»Es hat mit einem Anruf zu tun, der mich erreichte, als ich den Schlüssel im Auto liegen ließ und die Türe zuschlug.«

Monika Larsson schaute ihren Mann fragend an. »Es hat mit deiner Fahrt nach Swinemünde zu tun?«

»Frag jetzt nicht. Vielleicht sage ich es dir, wenn ich zurück bin.«

*

Er entdeckte sie sofort, als er das Foyer im Dorint in Korswandt betrat. Die Frau, die intensiv mit ihrem Handy beschäftigt war, schätzte er auf Mitte bis Ende 40 und einen Meter dreiundsiebzig groß. Sie war schlank, gepflegt, trug ein leichtes Sommerkostüm, war dezent geschminkt und unterbrach sofort eine Nachrichteneingabe, als er vor ihr stand.

»Herr Larsson?«

»Wenn Sie Frau …«

»Weber«, ergänzte sie.

Er gab ihr die Hand. »Lasse Larsson.«

»Gehen wir irgendwohin, wo wir uns ungestört unterhalten können. Haben Sie schon zu Abend gegessen?«

Larsson verneinte. Die Frau ging zur Rezeption, wartete einen Moment, bis die Rezeptionistin frei war, die gerade einem anreisenden Gast eine Auskunft erteilte, dann sagte sie: »Lassen Sie uns bitte Abendessen für zwei Personen auf mein Zimmer bringen.«

»Möchten Sie warm oder kalt speisen. Ich kann Ihnen einen Zimmerkellner schicken.«

Sie wollte keinen Zimmerkellner, sondern entschied sich für die kalte Version.

Sie fuhren mit dem Lift in den zweiten Stock. Sie wohnte nach hinten heraus. Unter ihrem Fenster war der Pool des Hotels mit diversen Liegen und Strandkörben. Noch immer war Betrieb an der Badestelle. Aber angesichts der vorgeschrittenen Zeit war es ruhiger als am Nachmittag. Ging der Blick weiter nach links, sah man auf eine Wasserfontäne inmitten eines kleinen Sees, der um ein Inselchen herumführte. Larsson dachte, dass es möglicherweise eine künstliche Anlage war. Aber er fand sie dem Hotel angemessen.

»Schön wohnen Sie hier«, sagte er anerkennend. »Was wollen Sie wirklich von mir? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das BKA etwas nicht weiß, was ich erkunden könnte.«

Die Frau lächelte. »Natürlich haben wir einige Dinge, die ich befugt bin, Ihnen an die Hand zu geben. Darüber hinaus haben wir auch Erkenntnisse über den bisherigen Status des Mannes. Ich habe ein kleines Dossier für Sie vorbereitet.«

Es klopfte. Der Etagenkellner brachte einen Rollwagen mir diversen Leckereien. Eine handgeschmiedete Schüssel mit allerhand Obst und Südfrüchten. Eine Platte mit verschiedenen Fischprodukten, eine weitere mit unterschiedlichen Wurst- und Schinkensorten sowie ein Holzbrett mit vier verschiedenen Käsearten.

»Ich fahre morgen weiter nach Berlin«, sagte Britta Weber und beugte sich zur Minibar, einem kleinen 40-Liter-Kühlschrank, in dem verschiedene Alkoholika bereitgestellt waren. »Mögen Sie einen Weißwein zum Fisch oder ein Bier?«

»Lieber nicht. Aber ein Wasser wäre schön. Und wie soll ich mit Ihnen in Verbindung treten?«

»Sie werden Bescheid bekommen, wie wir das regeln. Wahrscheinlich ist, dass Sie eine Verbindung über die Abteilung OK kriegen.«

Sie gab ihm eine kleine Flasche Selters und stellte sich eine kleine Flasche Weißwein mit Schraubverschluss hin.

»Was ist Ihre Aufgabe dabei?«, fragte Larsson.

»Ich bin die Verbindung des Bundeskriminalamts zur Polizei in Polen.«

Genau das hatte Niclas Schorn auch schon gesagt. Doch etwas war faul an der ganzen Sache. Wieso kam eine Beamtin, die in Warschau ihren Job versah, nach Usedom, um einige Worte mit ihm zu wechseln, die ohne Zweifel auch die Staatsschutzabteilung oder die Abteilung Organisierte Kriminalität in Berlin mit ihm besprechen könnte und das wahrscheinlich auch noch tun würde.

»Es geht um Verbindungen, die bis weit in die Zeit der DDR hineinreichen, aber mit deren Ende wahrscheinlich nicht auch zu Ende sind.«

Sie fingen an, das Essen zu genießen. Larsson nahm als Erstes ein Stück von dem Räucheraal und eine Scheibe Schwarzbrot. Sie bevorzugte eine Scheibe geräucherten Lachs zu einem Stück Baguette.

»Es gibt den Verdacht, dass Lucas Scholz schon zu seiner Anfangszeit in einem Box-Club in Frankfurt an der Oder mit Anabolika in Berührung kam«, sagte Britta Weber zwischen zwei Bissen.

»Das verwundert mich nicht. Die DDR hat systematisch Sportler gedopt«, stellte Larsson lapidar fest. »Genauso wie der Rest der Welt.

»Sicher, doch Scholz hatte das Zeug schon vorher bekommen, wahrscheinlich aus Polen. Wir haben einen Verdacht, dass diese Verbindung bis heute besteht.«

Dann müsste Lucas Scholz Dopingmittel auf Usedom vertrieben haben, zu denen er offiziell gar keinen Zugang hatte, dachte Larsson. Aber das war in diesen Kreisen nichts Ungewöhnliches.

»In meinem Dossier für Sie steht die Adresse des Doppelhauses in Frankfurt, das heute noch der Familie gehört. Eine Hälfte gehört Lucas Scholz und seiner Ehefrau, mit der er noch immer verheiratet ist. Um gemeinsam steuerlich veranlagt zu werden, lebt er nachweisbar zwei Wochen im Jahr mit ihr zusammen in diesem Haus. Die zweite Haushälfte gehört auch einem Lucas Scholz.«

»Gibts den zweimal?«, fragte Larsson.

»Es ist der Sohn, der seinen Namen trägt. Im zweiten Namen Maximus genannt. Dessen Sohn wiederum wird Luc Remus gerufen.«

»Und der Vater unseres Lucas Scholz?«

Britta Weber lachte. »Luc Emperor …« Sie machte ein lustiges Gesicht und hob die Schultern.

»Da scheint jemand größenwahnsinnig zu sein«, stellte Larsson fest.

»Angeblich war seine Mutter eine Verehrerin der Musik Beethovens. Das Klavierkonzert Nr. 5 trägt im Beinamen Emperor – übersetzt auch Imperator, Kaiser, Herrscher.«

»Was genau erwarten Sie von mir?«, fragte Larsson.

»Alles, was Ihnen als Außenstehender, der sich für den Boxer Luc Scholz interessiert, auffallen würde, jedes Detail. Wo würden Sie mit Ihrer Recherche anfangen, Herr Larsson?«

»An der Wurzel … in Frankfurt an der Oder.« Larsson schaute die Beamtin lächelnd an, doch seine Antwort schien ihr zu gefallen.

4. Kapitel

Sonntag, den 12. Juni 2011

Lasse Larssons Neugier bezüglich der Verstrickungen der imaginären Frau zu dem getöteten Boxer wurde befriedigt, als er einen Ahlbecker Freund fragte, ob an dem Gerücht, Lucas Scholz habe eine Liaison mit einer verheirateten Frau, etwas dran sei.

Es sei eine nymphoman veranlagte, verheiratete Frau, die wohl hin und wieder mit Scholz ausschließlich zusammengetroffen sei, um Sex zu haben. Weder habe sie vorgehabt, ihren Mann zu verlassen, der ein kleines Geschäft in Ahlbeck betrieb, noch war sie bereit, auf die Sexstunden zu verzichten, die ihr nie gekannte Freunden bescherten. Man munkle, dass die Möglichkeit bestünde, Luc habe, um den Anforderungen gewachsen zu sein, zu viele der blauen Tabletten geschluckt und sei deshalb einem Herzstillstand erlegen.

Wäre das so, müsste die Frau, die an der Sex-Orgie beteiligt war, die Leiche mit ihrem Wagen zum Ablageort gebracht haben, dachte Larsson. Da stellen sich zwei Fragen. Wer hatte ihr dabei geholfen, den etwa 90 Kilogramm schweren Mann zu verladen, und wie war sie mit dieser Fracht in ihrem Auto mit der Fähre über die Swine gekommen?

»Ich habe da eine Idee«, sagte der Ahlbecker Freund. »Ich melde mich später noch einmal bei dir.« Schließlich erfuhr Larsson den Namen und den Wohnort der Frau, die in Usedom-Stadt wohnte. Bewiesen, so sagte der Freund aus Ahlbeck, sei zwar die Darstellung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs der Annabella Bauer, nicht aber irgendeine Beseitigung der Leiche des Boxers.

Neugierig fuhr Larsson am späten Vormittag zu der besagten Adresse. Vor dem Haus stand ein grüner Renault Twingo. Im Garten machten es sich mehrere Personen gemütlich. Ein Grill gab flimmernden Rauch von sich.

Larsson hatte seine Mibao-C400-Dashcam mit Ultra-Weitwinkelobjektiv und einem 170-Grad-Winkel laufen, die jede Bewegung der Personen im Garten vor dem Haus gestochen scharf aufzeichnen würde. Zum Glück kam ihm gerade ein Lastwagen entgegen, sodass es derart eng wurde, dass er mühelos und ohne Verdacht zu erregen kurz vor dem Haus stehen bleiben konnte, um einem dritten Fahrzeug Platz zu machen, das aus der Höhe des Gefallenendenkmals der Stadt Usedom gekommen war und sich nun langsam an Larssons Wagen vorbeischob.

Besser hätte es gar nicht laufen können, dachte er. Er würde schnell herausfinden, wer die eigentlichen Bewohner des Hauses waren und wer der Besuch. Und auch den Renault hatte die Kamera, einschließlich des Nummernschildes, im Bild festgehalten.

Larsson fuhr noch Loddin zurück. Monika wartete schon mit dem Essen.

»Hat du etwas erreichen können?«, fragte sie.

»Ich habe einige Aufnahmen, die ich auf den Computer übertragen und katalogisieren muss.«

»Das war keine Antwort auf meine Frage. Ich serviere auf der Terrasse.«

Während Monika nicht auf seine Antwort wartete, sicherte Larsson in aller Eile die Aufnahmen auf seinem Computer. Dann ging er nach draußen.

Seine Frau strahlte ihn an, als er völlig überrascht auf den großen Zander schaute, den sie bei Niedertemperatur im Ofen gegart hatte. »Hast du gedacht, ich lasse dich ziehen ohne ein anständiges Abschieds-Essen?«

»Nein, mein Liebes. Natürlich nicht. Aber ein Zander dieser Größe ist schon etwas Besonderes.«

»Auf das du in den nächsten Tagen verzichten musst.« Monika grinste ihn herausfordernd an. »Wie lange wirst du bleiben?«

»Vier, maximal fünf Tage. Vorsichtshalber drei Ersatzhosen, drei Oberhemden …«

»Und fünf Mal Unterwäsche«, sagte Monika Larsson.

»Ja, aber diese Größenordnung packe ich selbst.«

5. Kapitel

Montag, 13.06.2011

Am Montagmorgen war Larsson kurz vor sieben mit dem Benz bereits über Wolgast kommend in Gützkow auf die Autobahn aufgefahren. In Flieth-Stegelitz verließ er sie wieder und fuhr auf der Bundesstraße über Angermünde, Bad Freienwalde, Neu Hardenberg, Seelow und Lebus schließlich nach Frankfurt an der Oder. Die Fahrt durch das Brandenburger Land hatte er genossen. Jetzt führte ihn sein Navigationssystem zu der angegebenen Adresse im Mühlenweg. Mit einer nur vierminütigen Verspätung rief er über sein Handy den Kontaktmann an, der ihm von seinem Freund Rolf Lindbergh über die Märkische-Oder-Zeitung vermittelt wurde.

»Paul Mundt«, meldete sich sein Kontaktmann, als Larsson ihn übers Handy erreichte.

»Lasse Larsson, ich bin der Mann von der Insel Usedom, der um Ihre Unterstützung gebeten hat.«

»Sie sind in Frankfurt?«

»Vor Ihrem Haus, wenn die Wände des Hauses gelb angestrichen sind.«

»Gelb? Da sind Sie falsch.«

Larsson nannte noch einmal den Straßennamen und die Hausnummer.

»Ich komme auf den Balkon und schau mal, ob ich Sie sehen kann.«

Tatsächlich ging gegenüber von dem hauseigenen Parkplatz eine Tür im ersten Stock auf, und ein groß gewachsener Mann trat heraus und winkte, als Larsson die Lichthupe seines Wagens betätigte.

»Ich komme runter!«, rief Mundt ihm zu.

Kurz darauf sah Larsson ihn aus dem Haus kommen. Er stieg aus dem Wagen. Sie begrüßten sich.

»Da wohnt man hier und weiß nicht einmal, dass das Haus gelb ist«, sagte Mundt.

»Bei genauer Betrachtung ist es das ja auch nicht«, stellte Larsson fest. »Es hat gelbe und braune Felder. Unter Ihrem Balkon ist es gelb. Daneben braun.«

Sie stiegen ins Auto.

»Was wollen Sie zuerst sehen?«, fragte Mundt.

»Die Leistungsstelle des Armeesportklubs. Eigentlich genau dort, wo Maske, Schulz und eben auch Scholz trainiert haben.«

Larsson ließ den Wagen anziehen. Paul Mundt zeigte ihm den Weg, sagte die Strecken an.

»Maske und Schulz, später die Brüder May … Scholz … Scholz.« Paul Mundt dachte einige Sekunden nach. »Sie meinen wahrscheinlich Lucas Scholz.«

»Ja.«

»Das ist der Sohn des damaligen SED-Chefs Frankfurts, Generalmajor der VP, Günther Scholz.«

Larsson machte ein unwissendes Gesicht und hob die Schultern.

»Günther Scholz war damals 1. Vorsitzender der Bezirksleitung Frankfurt der Sportvereinigung Dynamo. Mitte der 80-er Jahre wurde er von Erich Honecker zum Generalmajor der Volkspolizei ernannt. Sein Sohn hat meines Wissens zu keiner Zeit bei Manfred Wolke trainiert. Es sei denn …« Er schien sich noch unschlüssig zu sein, sagte aber dann: »… während der Zeit, als Manfred Wolke ein Alkoholproblem hatte, bei Rot über eine Ampel gefahren ist und aufgrund dessen vom Oberstleutnant zum Major zurückgestuft wurde. Da musste er für eine ganze Zeit die normale Boxgruppe betreuen. Unmöglich, dass Lucas Scholz kurz dort bei Wolke war, ist es also doch nicht.«

»Und die Spitzensportler?«

»Die wurden so lange von anderen Trainern betreut, bis Henry Maske verlangte, wieder unter Wolkes Anleitung zu trainieren, um seine eigentlichen Leistungen abrufen zu können. Einige Männer der Leitungsebene wollten das verhindern. Doch der Chef der Armeesportvereinigung Vorwärts, Generalmajor Walter Haller, hat dem Begehren der Spitzensportler nachgegeben.«

»Ein Generalmajor als Chef eines Sportklubs? Drunter ging es wohl bei euch überhaupt nicht?«, fragte Larsson ungläubig.

»Haller hatte eine besondere Vita, war Träger des Vaterländischen Verdienstordens in Gold sowie diverser anderer Orden und Ehrenzeichen. Das ließ ihm recht viele Freiheiten. Eine davon war, dass, als Wolke ein Einfamilienhaus bezog, das nur zwei Ecken vom ASK entfernt lag, sogar eine zum Westfernsehen ausgerichtete TV-Antenne errichtet wurde.«

Larsson dachte daran, wie es wohl gewesen wäre, hätte er zu der Zeit in der DDR gelebt. Seinen Erfahrungen zur Folge, die er freilich nur aus den Vernehmungen von einigen ehemaligen DDR-Bürgern in Verbindung mit einem Verbrechen sammeln konnte, ließen ihn dunkel erahnen, inwieweit sich ein Bürger dem Staat anpassen musste, wollte er über die Runden kommen.

Mundt wiederum dachte, dass alles seine Zeit, alles Vor- und Nachteile hatte. Mit den Auslandsreisen konnte er gewisse Vorteile für sich verbuchen, die anderen Menschen verwehrt waren. Und so manches Mal hatte er sich vor allzu linientreuen Genossen vorsehen müssen. Ein einziger Satz, ja ein einziges Wort hätte genügt, und es wäre vorbei gewesen mit den Auslandsreisen. Er war immer ein zielstrebiger Mensch gewesen, der versucht hatte, es zu etwas zu bringen. Nur einmal, als er an der Sportschule in Frankfurt Oder, die auch zu DDR-Zeiten schon eine Elite-Schule war, mit Begeisterung Tischtennis trainierte und den Vorgaben, in die gerade gegründete Sparte Fünfkampf zu wechseln, eine Absage erteilte, musste er das mit einem Schulverweis bezahlen. Das hatte ihn vorsichtiger werden lassen, denn er wusste nun, dass man erst beim Zudecken merkte, ob in der Bettdecke Flöhe waren.

»Nach seiner Entlassung aus US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft siedelte Haller in die sowjetische Besatzungszone über, wurde Mitglied der KPD, später der SED«, fuhr Mundt fort. »Er ging verschiedenen Arbeiten nach, wurde Werftarbeiter und FDJ-Sekretär in Boizenburg. Später Abteilungsleiter der Landesleitung der FDJ in Schwerin. Nach dem Besuch der Parteihochschule der SED ging er zur Kasernierten Volkspolizei, wechselte vier Jahre später zu Nationalen Volksarmee, war Instrukteur der Abteilung Sicherheit des Zentralkomitees der SED. Wie üblich, wenn man etwas werden wollte, folgte die Hochschule für Offiziere. Danach stieg er zum Sektorenleiter der Abteilung Sicherheit im ZK der SED auf. Schließlich war er acht Jahre lang stellvertretender Stadtkommandant von Berlin-Ost und Leiter der Politabteilung. In dieser Funktion wurde er Ende 1969 zum Generalmajor ernannt.«

»Der hat einen Aufstieg gemacht wie ein Furz in der Badewanne«, stellte Larsson lapidar fest, als Mundt eine Pause zum Luftholen machte.

»Das ist noch nicht alles. Ab 1970 war er drei Jahre stellvertretender Chef der Grenztruppen und Leiter der politischen Verwaltung im Kommando der Grenztruppen. Drei Jahre später stieg er zum Chef des Komitees der ArmeesportvereinigungVorwärts auf. Diesen Posten hielt er bis zu seinem Tod Anfang 1989 inne.«

»Da hat er sich ja kurz vor der Wende vom Acker gemacht.«

»Für die Sportler war es eine fruchtbare Zeit. Ich zeige Ihnen, wie die Trainingsverhältnisse damals waren, wenn wir dort sind. Schauen Sie rechts rüber!«

Larsson sah einen lang gezogenen Wohnungsbau querab zur Kieler Straße.

»Dort hat Henry Maske damals seine erste Wohnung bekommen. Was war der stolz darauf. Ich habe ihn mehrfach in dieser Wohnung besucht.«

»Sie hatten öfter mit ihm zu tun?«

»Ja, ich war bei der Zeitung als Sportreporter tätig, habe die Spitzensportler auch ins Ausland begleitet. Da gab es immer Vorbereitungen oder Interviews.«

»Das war ein Privileg.«

»Absolut. Aber es wurde auch erwartet, dass man gute Kontakte zu den Sportlern pflegte und die Erfolge, die die Jungs im Ausland zu verzeichnen hatten, ins rechte Licht setzte – natürlich im Sinne des Staates. Jetzt biegen wir links in die Stendaler Straße ein.«

Am Ende der kurzen Straße parkten einige Autos. Larsson stellte sein Fahrzeug in einer Lücke ab. Sie gingen direkt zur Einfahrt, die durch einen Schlagbaum gesperrt war.

»Da drüben, wo die Einfamilienhäuser stehen, ist das Hansa-Viertel. Da waren in meiner Kinderzeit noch die Russen. Die hatten ringsherum Sicherheitsgräben angelegt, und auf der Seite, wo sie hausten, konnte man die Maschinengewehre sehen, die zu ihrer Sicherheit installiert waren. Nur uns Kinder ließen sie ohne Probleme an sich heran.«

»Das sind Erlebnisse, die behält man sein Leben lang«, wandte Larsson ein.

»Diese Schranke sperrte damals das ASK-Gelände total ab«, sagte Mundt. »Hier rechts in diesem Kabuff saß ein Unteroffizier vom Dienst.« Er zeigte auf das kleine Häuschen rechts neben der Schranke. »Bei dem musste sich jeder anmelden, der zu irgendwem auf dem ASK-Gelände wollte. Dann rief der irgendeinen Vorgesetzten an, meldete ihm, wer wohin gehen wollte und was sein Begehr war. Wir gingen nie hin, ohne vorher angemeldet worden zu sein. Es dauerte immer eine Weile, dann kam ein höhergestellter Angehöriger der NVA, ebenfalls in Uniform, der uns dann auf dem Gelände begleitete. Egal, wohin wir wollten.«

»Sie hatten also nie Gelegenheit, allein mit den Sportlern oder Trainern zu reden?«

»Hier war das schwierig. Ausnahmen gab es, wenn derjenige, der uns begleitete, durch eine andere Person abgelenkt wurde. Das war dann aber immer nur ganz kurz. Doch wenn ich zu den Sportlern in die Wohnung ging oder wir uns auf der Straße trafen, dann war das anders, oftmals geradezu freundschaftlich.«

Larsson stellte sich vor, wie es für ihn sein würde, wenn man immer unter den Augen einer restriktiven Staatspolitik sinnvolle Berichterstattung zustande bringen müsste. Nichts ging unbeeinflusst, schon gar nicht für die Presse. Der Staat achtete mit Argusaugen darauf, dass das Volk der Werktätigen nur zu lesen bekam, was für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nützlich wäre. Bei dem Wort Argusaugen musste er in Gedanken an die griechische Mythologie grinsen. Denn eine Redensart besagte, dass die Göttin Hera lo, die in eine Kuh verwandelte Geliebte ihres Göttergatten Zeus, von dem Riesen Argos bewachen ließ. Sie wollte so verhindern, dass es zu Schäferstündchen zwischen Zeus und Io, der Tochter des Flussgottes Inachos, kam.

---ENDE DER LESEPROBE---