The Nightshade God - Ein Hauch von Gift - Hannah Whitten - E-Book

The Nightshade God - Ein Hauch von Gift E-Book

Hannah Whitten

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Beschreibung

Kann Lore dem toxischen Einfluss der Götter entkommen, bevor er ihr Verderben wird?
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Lores Anstrengungen sind gescheitert: König Bastian erlag der finsteren Stimme der Gottheit, die seinen Verstand vergiftete, sie selbst musste ihre Heimat verlassen. Im Exil setzt sie alles ein, was ihre Vergangenheit sie gelehrt hat, um jene, die sie liebt, aus den Klauen der dunklen Macht zu befreien. Lore fasst den riskanten Plan, die verstreuten Teile eines Artefakts – angeblich die Quelle der göttlichen Kraft – zu finden und wieder zusammenzufügen. Nur so kann der zerstörerische Einfluss der Götter auf das Land beendet werden. Doch wer sich einem Gott in den Weg stellt, braucht mächtige Verbündete …

Gothic Vibes treffen auf den Trope Unlikely Allies – das Finale der opulenten Romantasy-Reihe von SPIEGEL-Bestsellerautorin Hannah Whitten bei Blanvalet.

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Seitenzahl: 707

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Lores Anstrengungen sind gescheitert: König Bastian erlag der finsteren Stimme der Gottheit, die seinen Verstand vergiftete, sie selbst musste ihre Heimat verlassen. Im Exil setzt sie alles ein, was ihre Vergangenheit sie gelehrt hat, um jene, die sie liebt, aus den Klauen der dunklen Macht zu befreien. Lore fasst den riskanten Plan, die verstreuten Teile eines Artefakts – angeblich die Quelle der göttlichen Kraft – zu finden und wieder zusammenzufügen. Nur so kann der zerstörerische Einfluss der Götter auf das Land beendet werden. Doch wer sich einem Gott in den Weg stellt, braucht mächtige Verbündete …

Autorin

Hannah Whitten schreibt, seit sie einen Stift halten kann. Kein Wunder, dass sie als Autorin des romantischen Bestsellers »Für den Wolf«, mit dem sie von 0 auf Platz 10 der »New York Times«-Bestsellerliste einstieg, heute unzählige Leser*innen zum Träumen bringt. Auch ihre »Nightshade Crown«-Trilogie wurde zu einem internationalen Bestsellererfolg. Sie lebt in Tennessee mit ihrem Mann und ihren Kindern in einem Haus, das von einer temperamentvollen Katze regiert wird.

ROMAN

Deutsch von Simon Weinert

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »The Nightshade God (The Nightshade Crown: Book Three)« bei Orbit, a division of Hachette Book Group Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlichgeschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- undData-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor.Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Das Zitat auf S. 7 stammt von Hildegard von Bingen, übersetzt von Mechthild Heieck und Barbara Stühlmeyer. In: »Das Buch vom Wirken Gottes: Liber divinorum operum«, herausgegeben von Eibingen Benediktinerinnen St. Hildegard, Beuroner Kunstverlag, Beuron 2012.

In diesem Buch werden Neopronomen verwendet. Da es zum Zeitpunkt des ersten Erscheinens für die deutsche Sprache noch keine einheitliche Regelung gibt, haben wir uns als Verlag für das Neopronomen dey entschieden.

Copyright © 2025 by Hannah Whitten

This edition published by arrangement with Orbit, a division of Hachette Book Group Inc. New York, New York, USA. All rights reserved.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Catherine Beck

Umschlaggestaltung und -motiv: © www.buerosued.de, unter Verwendung von Motiven von Getty Images (tanjica perovic photography)

Karte: © Charis Loke

SH · Herstellung: fe

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32691-3V001

www.blanvalet.de

Für alle, die in einem Ende einen Anfang gefunden haben.

Und für mich.

Und überdies für Miss Rachel, ohne die ich nicht die Zeit gehabt hätte, dieses Buch zu überarbeiten. Du bist die Beste, Rach.

Ich bin das feurige Leben der göttlichen Substanz, ich flamme über der Schönheit der Fluren, leuchte auf den Wassern und brenne in Sonne, Mond und Sternen.

Hildegard von Bingen

Die Oberfläche schien nur einen Atemzug weit entfernt zu sein. Doch zu diesem Atem schien er nie zu kommen.

Um ihn herum war nichts als Gold, als wäre er in der Sonne gefangen oder in einem Meer aus unendlichem Morgenrot. Um ihn her nichts als Macht, aber er konnte sie nicht nutzen. Er konnte sie nur spüren, sie war in dem Gott konzentriert, der ihn übernommen hatte, sie eifersüchtig hortete und ihn erstickte.

In letzter Zeit aber hatte er ein eigenartiges Ziehen wahrgenommen. Etwas zerrte sanft an dieser Macht wie an der Trense eines Pferds.

Meistens kostete ihn Nachdenken viel zu viel Energie. Auch der Versuch, den Körper zu übernehmen, der von Rechts wegen ihm gehörte, kostete zu viel Energie. Bastian hatte sich nie für jemanden gehalten, der besonders gut im Durchhalten war. Was er gut konnte, das tat er, und alles andere ließ er bleiben. Momentan war Schwimmen das Einfachste. Das Gold genießen, wenn er dafür ausreichend bei Bewusstsein war, und wieder in die Dunkelheit sinken, wenn dies nicht der Fall war. Er hatte verloren. Warum sollte er es sich nicht eingestehen?

Doch dann fiel ihm Lore ein.

Und Gabe.

Und dann versuchte Bastian wieder, ein wenig durchzuhalten. Sich noch ein bisschen mehr anzustrengen.

Zumindest, solange er konnte.

Kapitel eins

Lore

Lass meine Demütigungen dem Ruhm dienen, der Erhöhung derer, die über mir stehen.

Buch der Gebete, 367. Traktat

Lore war ein außerordentlich schlechter Sträfling.

Wenn man sie in einem Gefängnis hätte schmachten lassen, theatralisch über eine Pritsche in einer kahlen Zelle drapiert, und sie nichts anderes hätte tun müssen, als sich in der Gefangenschaft zu suhlen, dann hätte sie in ihrer neuen Lage vielleicht Großes vollbracht. Sie konnte nicht so gut vor sich hinbrüten wie Gabe – Götter, das konnte niemand –, aber sie hätte es auf einen Versuch ankommen lassen. Dann hätten wenigstens nicht immer ihre Augen getränt wegen der Asche in der Luft, sie hätte keine aufgescheuerten Blasen an den Händen gehabt und auch keinen verrenkten Nacken, von dem sie nicht mehr glaubte, dass er jemals wieder besser würde.

Nein. In derlei war Lore nicht gut.

Aber sie bemühte sich nach Kräften, es sich nicht anmerken zu lassen, denn die Wärter auf den Verbrannten Inseln wollten ihr das Dasein so schwer wie möglich machen. Und wenn Lore etwas noch mehr hasste als ihre derzeitige Lage, dann war es, jemand anders gewinnen lassen.

Sie richtete sich so weit auf, wie es ihr der schmerzende Rücken gestattete, und wischte sich mit dem Handgelenk über die Stirn. Die Riffelung ihrer Stirn überraschte sie jedes Mal aufs Neue. Eine Narbe als Andenken an den Tag, als sie das Nördliche Heiligtum hatte einstürzen lassen, um sich beinahe umzubringen und die Götter aus den Köpfen von ihr und Bastianzu verbannen.

An ihn zu denken, schmerzte. An Gabe zu denken, schmerzte ebenso. Sie versuchte, beides möglichst zu vermeiden. Zum Glück musste sie an viele andere Dinge denken, zum Beispiel daran, wie, in allen Höllen, sie von dieser verdammten Insel entkommen konnte. Wie sie in noch mehr als allen Höllen zu Apollius’ Körper auf dem Güldenen Berg gelangen konnte.

Wie sie Ihn töten konnte.

Doch obwohl sie pausenlos daran dachte, war sie der Antwort auf die Frage, wie sie es bewerkstelligen sollte, keinen Schritt näher gekommen.

Und bei all der Grübelei durfte sie trotzdem nicht vergessen, dass sie noch mindestens drei Edelsteine oder Goldklumpen finden musste, wenn sie heute Abend eine Mahlzeit und einen Schlafmatte wollte.

Wieder wischte Lore sich die Stirn ab. Ihre neue Narbe zu betrachten, war nicht so einfach, denn auf den Verbrannten Inseln gab es nur wenige Spiegel. Aber sie hatte ihr Spiegelbild immerhin in dem Trog gesehen, aus dem sie täglich viermal fünf Minuten lang mit einem Zinnbecher Wasser schöpfen und trinken durften, so viel sie konnten, ehe der Becher leer und die Zeit aufgebraucht war. Vom Haaransatz zogen sich rote Linien am Auge vorbei bis zu ihrem Wangenknochen. So schlimm war es gar nicht, aber Lore war eitel, und deshalb hätte sie am liebsten geheult.

Doch sie tat es nicht. Sie behielt das Wasser lieber bei sich.

Die Spitzhacke hatte einen gesplitterten Griff, und sie wickelte verstohlen den Stoff um ihre blutenden Handflächen, bevor sie ihn umfasste. Bastians Boxertrick stellte sich als sehr nützlich heraus. Keine der Spitzhacken war in sonderlich gutem Zustand, aber manche waren besonders heruntergewirtschaftet, und die besseren waren stillschweigend für die ältesten Häftlinge reserviert.

Allerdings war Lore überzeugt, dass sie auch nach fünfzig Jahren Haft noch die miserabelste Spitzhacke würde benutzen müssen.

Erneut holte sie aus und ließ die Spitzhacke auf den Fels niedersausen. Sie prallte ab, ohne auch nur eine kleine Delle zu verursachen. Doch der Kratzer, den das Axtblatt hinterlassen hatte, schimmerte schwach golden.

»Dann kriegen wir heute Abend wohl doch etwas zu essen«, murmelte Lore und verabscheute ihren plötzlichen Eifer. Auf dem Boden zu schlafen, flößte ihr nach allem, was sie erlebt hatte, keinen besonderen Schrecken mehr ein, Hunger jedoch schon. In den ersten Tagen auf den Inseln, als sie kaum etwas gefunden und abends meistens kein Essen bekommen hatte, hatte sich ihr Magen in ein wildes Tier verwandelt, das sie von innen mit seinen Krallen zu zerfetzen drohte. Auch Verzweiflung besaß Krallen, und wenn sie andere Häftlinge beobachtete, die wegen eines Fundstücks, das sie gegen Rationen eintauschen konnten, übereinander herfielen, hatte sie dafür Verständnis.

Viel war hier nicht mehr zu finden – die Zweite Insel war praktisch leergeschürft worden –, aber es gelang Lore trotzdem, täglich mindestens einen Fund zu machen. Vor allem, weil sie nicht darüber nachdenken wollte, wie weit sie dieses Verständnis strapazieren konnte, ehe daraus ein Plan wurde.

Die Hauptmine auf der Zweiten Insel war im Grunde nur ein einziges großes Loch von schwindelerregender Tiefe. Nach unten verjüngte sich das Loch stufenweise, und auf der Suche nach den Edelsteinen und dem Gold, die während des Göttersturzes aus den Blutstropfen Apollius’ und Nyxaras entstanden waren, als wären es die Samen von Schätzen, gruben die Häftlinge sich immer tiefer hinab. Je tiefer man kam, desto mehr konnte man finden.

Dürftige Geländer sollten die Gefangenen vor einem Sturz in den Tod bewahren, aber sie waren genauso gesplittert wie die Axtgriffe. Es kam nicht selten vor, dass Gefangene in die Tiefe fielen, entweder aus Versehen oder weil sie geschubst wurden. Oder weil sie sich dafür entschieden.

Offenbar waren die Geländer auf der Ersten Insel besser. Dort kamen die Gefangenen mit Geld hin, die nur ein paar Jahre einzusitzen hatten und nicht das ganze Leben. Die Zweite Insel war für Giftschieber, Hinterhofmörder und einfache Diebe. Hier landete man nur, wenn man dem Gebenedeiten König egal war oder ihn äußerst wütend gemacht hatte.

Lores Ankunft war also zwangsläufig Anlass zur Belustigung.

Etwas stieß sie in den Rücken, sodass sie beinahe Kopf voraus in das Loch gefallen wäre. »Scheiße!« Lore ließ ihre Spitzhacke fallen – sofort löste sich der Stoff von ihren blutenden Händen – und hielt sich an einem Felsbrocken neben ihr fest, um nicht nach vorn zu kippen. Die Kanten, die sie heute früh geschlagen hatte, schnitten ihr in die Handflächen, und eine dünne Blutschicht überzog den ans Licht gebrachten Goldschimmer.

Unten blitzten hier und da aus den zerklüfteten Steinen Juwelen hervor. Gefangene wimmelten um sie herum wie Ameisen auf dem Weg zu ihrem Hügel. Alles leuchtete verschwommen vor Lores Augen, denn Wassermangel und Erschöpfung verwandelten das Innere der Mine in ein Kaleidoskop.

»Entschuldige, Majestät.« Götter, das musste echt Spaß machen. Lore hatte gehofft, ihre Identität geheim halten zu können, aber diese Hoffnung hatte sich als ganz besonders töricht erwiesen. Alle Häftlinge der Zweiten Insel wussten, wer sie war, und alle hassten sie. »Ich dachte, du könntest besser das Gleichgewicht halten, wo du doch in den Ballsälen geübt hast.«

»Du weißt aber schon, dass ich nur ungefähr sechs Monate meines Lebens mit Ballsälen zu tun hatte, Jilly?« Nachdem Lore sich wieder gefangen hatte, drehte sie sich um und bedachte die Frau hinter ihr mit einem finsteren Blick. »Die übrige Zeit war ich Giftschieberin. Genau wie du.«

Jilly konterte mit einem ebenso finsteren Blick. Sie war vermutlich vierzig, hatte aber von jahrelanger Minenarbeit einen krummen Rücken, und trotz der Asche und des Nebels in der Luft wirkte ihre Haut sonnengegerbt. Lore fand, dass der Griff ihrer Spitzhacke, mit der sie in ihre Richtung wedelte, geradezu seidenweich aussah. »Du warst nie genau wie ich.«

Da steckte mehr Wahrheit drin, als Jilly wissen konnte.

»Und jetzt bist du hier, mit deiner großmächtigen Todesmagie«, fuhr Jilly fort. »Aber du willst sie nicht benutzen, um uns zu befreien. Du taugst wirklich zu gar nichts, Majestät.«

Lores leinenumwickelte Finger zuckten unwillkürlich auf der Suche nach Mortemfäden, die sie herbeirufen wollte. Sie spürte die Fasern des Todes, die alles hier durchzogen, den Fels und die Erde, und in den Menschen verliefen sie näher an der Oberfläche, als sie eigentlich sollten.

Aber sie ließen sich nicht rufen. Mortem gehorchte ihr nicht.

Auch das konnte sie Jilly nicht sagen. »Wie genau sollte das denn gehen? Ich verwandle alle Wachen zu Stein, und wir kapern die Schiffe, nur um hingerichtet zu werden, sobald wir das Festland erreichen? Ich weiß, dass der viele Staub hier schlecht fürs Gehirn ist, aber du hast doch bestimmt noch eins.«

Die ältere Frau zog die Lippen zu einem höhnischen Lächeln hoch, das die von Belladonna schwarzen Zähne entblößte. »Das wäre doch was«, sagte sie leise mit einer Spur Verzweiflung. »Etwas anderes als das hier. Hauptsache Hoffnung, auch wenn sie sinnlos ist.«

»Bewegt euch!«

Die Wachen auf den Verbrannten Inseln waren in gewisser Weise noch schlimmer als die Blutmäntel in der Zitadelle. Genauso aufgeblasen, dazu aber eine ordentliche Schippe Dummheit und stumpfe Gewalt. Der hier, Fulbert, war so groß wie Gabe und vermutlich doppelt so schwer und hatte so viel gesunden Menschenverstand wie eine benommene Kuh.

»Du bist zu weit oben, Jilly. Geh runter auf deine Ebene und lass die Königin.« Fulbert grinste Lore anzüglich an und scheuchte Jilly mit einer für Faustkämpfe gemachten Hand fort. »Willst du hier Hof halten, Majestät? Fehlt dir die Aufmerksamkeit der Zitadelle?«

»Ihr solltet euch unbedingt mal ’ne neue Nummer einfallen lassen«, grummelte Lore, während sie ihre Hände wieder umwickelte und zur Spitzhacke griff.

Doch Fulbert drohte mit dem Finger und nahm ihr die Spitzhacke ab. »Für dich ist heute Schluss in der Mine, Königin. Du hast Hafendienst. Befehl von Martin.«

Ach. Dieser Scheißtag sollte also noch schlimmer werden.

Die Sonne steckte in grauem Dunst. Trotzdem kniff Lore die Augen zusammen, als sie aus dem klapprigen Aufzug stieg, der von der Hauptmine zum Strand ging – das Sonnenlicht wurde von den Partikeln in der Luft reflektiert, weswegen es draußen hell, aber nicht sonnig war, was Lore ungerecht fand. Sie blieb stehen, um sich zu orientieren, doch Fulbert war ungeduldig und stieß sie hinaus. Sie stolperte auf den steinigen Strand.

»Das hier ist kein Marmorboden, was?« Er grinste und stieß sie erneut. Seine Bajonettspitze war stumpf, tat aber dennoch weh. »Nicht wie in der Zitadelle. Kannste ohne Eisenbalken unter deinen Füßen nicht mehr laufen?«

Lore hielt den Mund. Die einzige Fähigkeit, die sie auf den Verbrannten Inseln verbessert hatte. Wenn sie ihre Hoffnung nicht aufgeben wollte, zu fliehen, den Güldenen Berg zu finden und Nyxaras unvollendete Tat zu Ende zu führen, musste sie dafür sorgen, dass sie ihrer müde wurden. Sie musste dafür sorgen, dass sie in der Menge nicht mehr auffiel.

Da er auf seine Stichelei keine Antwort erhielt, wurde es Fulbert rasch langweilig, wie es bei Männern seines Intelligenzgrades üblich war. »Martin ist im Leuchtturm«, brummte er und wandte sich zum Aufzug um. »Geh direkt zu ihm, und nimm dir einen Wischlappen.«

Lore war überzeugt, dass Martin ihr nicht nur einen Wischlappen geben wollte. Mit geballten Fäusten stolperte Lore in ihren dünnen Häftlingsstiefeln über den Strand, und an ihren Sohlen meldeten sich schmerzhafte Blasen.

Erst war sie schockiert darüber gewesen, wie wenig die Wachen hier … nun ja, wachten. Aber nach ungefähr einer Woche hatte es ihr eingeleuchtet. Ein paar Meilen rund um die Inseln war das Meer nahezu unbefahrbar, da die Asche so dicht in der Luft lag, dass man kaum einen Schritt weit sah. Die Gefangenenbarken gelangten nur wegen der Stahlseile hierher, die vom auverrainischen Festland zur Insel gespannt waren und von der ersten Generation von Gefangenen im Wasser installiert worden waren. Hin und wieder verschwanden Häftlinge, aber ihr Verschwinden wurde als Suizid oder Mord abgeschrieben. Es waren die beiden einzigen Möglichkeiten, von der Zweiten Insel zu entkommen.

Weil sie von niemandem gehetzt wurde, ging Lore langsam. Sie wollte im Leuchtturm so wenig wie möglich Zeit verbringen, und ihr Magen fing schon an zu knurren. Am Abend würde es noch schlimmer werden. Beim Hafendienst entschied Martin, ob man eine Ration bekam oder nicht.

Der Hafen der Verbrannten Inseln hatte seinen Namen kaum verdient. Fünf sonnengebleichte Anleger ragten in die Gischt hinaus, und ein paar Schritte weiter draußen erhob sich ein mit Krebsen verkrusteter Leuchtturm, der hinter dem Vorhang aus Asche und Nebel, der auf dem Wasser nur noch dichter wurde, kaum zu sehen war. Je nachdem, ob Ebbe oder Flut herrschte, musste man, um zu ihm zu gelangen, über kantige Felsen klettern oder durchs Meer waten und hoffen, dass man nicht hinfiel.

Heute war Waten angesagt. Lore krempelte die weiten Beine ihrer Hose hoch, die sie bei ihrer Ankunft bekommen hatte – sie war zu lang, aber an der Hüfte zu eng –, und stapfte auf den Leuchtturm zu. Sobald sie ins Wasser trat, zerrte die Strömung so kräftig an ihr, als zögen Hände an ihren Fußgelenken.

Martin erwartete sie. Der Leuchtturmwärter lungerte im Türrahmen und sah ihr entgegen. Die hochgewachsene, schlanke Gestalt wirkte wie eine Spinne, die in ihrem Netz lauerte. Ein schiefes Lächeln entblößte weiße Zähne in einem sonnenverbrannten Gesicht, und seine kurz geschorenen Haare hatten dieselbe graue Unfarbe wie der Himmel. Sein Hals war gebräunt, aber die Arme waren fast so bleich wie seine Zähne, als trüge er immer Ärmel, wenn er hinausging. »Wenn das mal nicht die Königin ist.«

Lore blieb vor dem Leuchtturm auf einem Felsen stehen, der dankenswerterweise flach war und größtenteils aus dem Wasser herausragte. Wegen des Winds presste sie die Beine aneinander. »Du hast mich rufen lassen?«

Er stieß sich vom Türrahmen ab, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen, und sein Blick glitt träge an ihr auf und ab. Ihr voriger Eindruck war falsch gewesen, er war keine Spinne, sondern eine Schlange, denn im Aschelicht wirkten seine Augen geschlitzt, und er schien jederzeit bereit zum Angriff zu sein.

»Ich habe Arbeit für dich.« Während die meisten Wachen auf den Inseln ungehobelt sprachen, befleißigte Martin sich einer hochmütig höflichen und gewählten Ausdrucksweise. »Drinnen und draußen. Was darf’s denn sein, Majestät?«

Eine scheinbar harmlose Frage. Lore hatte jedoch einen Vorteil, denn ihre Mitgefangenen hatten ihr eine einzige Freundlichkeit erwiesen und es ihr gesagt.

Die Plätze in der Schlafbaracke waren für die Gefangenen reserviert, die am Tag mindestens fünf wertvolle Fundstücke gesammelt hatten. Lore war das nie gelungen. In der ersten Nacht hatte sie eine kleine Höhle mit weichem Sandboden entdeckt, in der schon ein paar andere waren, die dieselbe Idee gehabt hatten. Eine von ihnen, ein Mädchen, das schon seit Wochen auf den Inseln war, hatte sie über die unterschiedlichen Wachen aufgeklärt.

»Gellert ist ein Esel, aber er lässt dich am Trog einen Schluck mehr trinken, wenn du dich beeilst und kein Hauptmann zuschaut. Versuch nicht, in der Mine eine Ebene weiter nach unten zu gehen, sonst fallen die Älteren über dich her, und den Wachen ist das scheißegal. Und wenn Martin dich in den Leuchtturm bestellt, dann sag nie, dass du drinnen arbeiten willst.« Ihre geröteten Augen waren schmal geworden, und sie hatte mit gerissenem Fingernagel auf niemand Bestimmtes gezeigt. »Oder tu’s – gegen einen Gefallen bin ich mir bestimmt nicht zu gut für Schweinkram –, aber stell dich schlau dabei an. Er gehört zu denen, die nicht nur das eine wollen.«

Die blauen Flecken auf ihren Wangen hatten Lore den Rest der Geschichte verraten.

Zwei Tage später war das Mädchen verschwunden gewesen. Niemand suchte nach ihr. Dann bestellte Martin neue Mädchen zum Leuchtturm.

Und es hatte nicht lange gedauert, bis er sich nach Lores Namen erkundigt hatte. Schon zum dritten Mal hatte er sie nun gerufen und stellte sie vor die Wahl, ob drinnen oder draußen. Was er damit eigentlich meinte, wusste sie so gut wie er.

Und sie wusste so gut wie er, dass sie irgendwann einmal nicht mehr den Luxus einer Wahl haben würde.

»Draußen«, antwortete Lore wie immer.

Sein Lächeln bekam in den Mundwinkeln etwas Scharfes. Martin trat einen Schritt auf sie zu, auf den Fels, auf dem sie stand. Sie musste sich beherrschen, um nicht zurückzuweichen, aber sie wusste, dass sie sonst herunterfallen würde – auf den Fels. Die Flut zog sich zurück.

»Hältst du dich für zu gut für mich?« Noch immer hatte er diesen höflichen Ton, von dem Lore Gänsehaut bekam. Ähnliches hatte sie schon zu hören bekommen, wenn sie in einer Kneipe oder Seitengasse eine Anmache abgewiesen hatte, aber diese Typen waren ihr gegenüber nicht in einer Machtposition gewesen. »Glaubst du, nur weil du zwei Minuten lang Königin warst, könnte ich dich nicht haben, wann immer ich will? Ich frage, weil ich die Mädels gern willig mag, aber am Ende kriege ich schon noch was von dem ab, was der König hatte, Todeshexe.«

Götter, wie sie es hasste, Angst zu haben. Sie hatte sich in letzter Zeit mit vielen unangenehmen Emotionen herumschlagen müssen, aber Angst war die schlimmste, weil sie sie am hilflosesten machte. Lores Finger bewegten sich vor und zurück, krallten sich im übertragenen Sinn an dem Felsen fest, auf dem sie stand, an dem Treibholz am Strand, an den Steinen des Leuchtturms.

»Draußen«, wiederholte Lore. Und setzte würgend hinzu: »Bitte.«

Inzwischen stand Martin direkt vor ihr, lächelte noch immer und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, du musst heute drinnen arbeiten, Schierlingskönigin.«

»Wie wäre es mit einem Handel?«, fragte sie so rasch, als lieferten sich die Worte ein Rennen mit ihrem Ekel, von dem sie nicht überholt werden wollten. »Ich mache etwas für dich, wenn du etwas für mich tust.«

»Etwas«, schnaubte Martin. »Sag schon. Ich will es hören.«

Sie hatten einen sauren Geschmack in der Kehle. »Ich entscheide mich für drinnen, wenn du mir ein Boot beschaffst.«

Martin starrte sie an, und seine beinahe farblosen Augenbrauen wanderten fast bis zum beinahe farblosen Haaransatz hoch. Dann stieß er ein gellendes Lachen aus. »Glaubst du wirklich, du könntest verhandeln?« Seine ledrigen Finger schlossen sich um ihr Handgelenk. Instinktiv zuckte Lore zurück und verlor das Gleichgewicht – diesen Moment nutzte er aus, um sie an seine Brust heranzuziehen, sodass ihr sein Atem heiß, grob und nach billigem Fusel stinkend ins Gesicht schlug. »Selbst wenn ich dir ein Schiff geben würde, wärst du allein gar nicht in der Lage, von der Insel herunterzukommen. Selbst mit den Stahlseilen können die Gefangenengaleeren nur schwer durch die Asche navigieren. Woher willst du das können?«

Sie konnte es nicht, aber sie war verzweifelt. Lores Finger zuckten immerzu, weil sie von Martin wegkommen und Magie weben wollte, die nicht mehr da war.

Es war in ihr gewesen, das ganze Mortem der Welt. Und jetzt war nichts mehr da.

Es war geschehen, als die Barke sich der Küste der Zweiten Insel genähert hatte, ein Reißen tief in ihrem Inneren, als würde ihr ein lebenswichtiges Organ herausgerissen. Keuchend hatte sie sich den Bauch gehalten. Nyxara?

Da war etwas, hatte die Göttin gemurmelt, ein beklommenes Summen in Lores Hinterkopf.

Noch ehe sie nach der Magie griff, wusste sie, dass sie weg war, dass ihre Hände ins Leere fassten. Keine Dunkelheit, kein Tod, nur die abgestandene Luft des Inselsmogs.

Was soll ich tun? Vor Panik raste ihr Herz, und sie keuchte schwer.

Ich weiß es nicht, antwortete die Göttin und klang genauso hilflos, wie Lore sich fühlte. Ich weiß es nicht.

Am nächsten Morgen waren die grauen Sterne in Lores Handflächen verblasst. Sie spürte das Mortem zwar noch, konnte es aber nicht mehr nutzen. Und obwohl sie sich das immer gewünscht hatte, fühlte es sich jetzt wie eine Strafe an. Und sie hatte keine Idee, womit sie diese Strafe verdient haben sollte.

Vor allem, weil die verdammte Begrabene Göttin immer noch in ihrem Kopf war.

Allerdings nicht jetzt, da die Sonne hinter der Asche hoch am Himmel stand und dieser abscheuliche Mann sie zur Tür zerren wollte und sich dabei um nichts scherte als das Zurschaustellen seiner Macht. Jetzt schwieg Nyxara. Eingeschüchtert von einem Mann, der in einer Frau lediglich ein Gefäß für seine Gewalt sah, ein Werkzeug, das er benutzen konnte. Lore versuchte, mit den Füßen Halt auf dem Fels zu finden und gleichzeitig, aber vergeblich, Martins Brust von sich wegzuschieben.

»Hör auf, dich zu wehren«, sagte Martin und versetzte ihr eine Ohrfeige, die auf der kaum verheilten frischen Narbe landete. »Du gehörst mir, Lore Arceneaux.«

Das erinnerte sie an Apollius und daran, dass sie mit Bastian verheiratet worden war, während Bastian Gefangener in seinem eigenen Bewusstsein gewesen war, und Lores Angst verwandelte sich in Wut.

Sie riss sich von Martin los, nutzte den Schwung und sprang von dem Felsen in die brausende Gischt. Die Strömung zerrte an ihren Fußgelenken, aber sie fiel nicht um. »Fass mich nicht an.«

»Hast du vergessen, wo du bist?« Er bedrängte sie erneut, kam mit dem Gesicht bis auf wenige Fingerbreit an ihres heran, und der Felsen machte ihn noch größer. »Ich kann tun, was immer ich will, und danach kann ich dich ins Meer werfen, und kein Hahn kräht danach. Niemand wird dich suchen kommen.« Er lächelte wieder, dass ihr saurer Weindunst ins Gesicht schlug. »Ich bringe dich dazu, mich Majestät zu nennen, während ich deine Kehle mit …«

Vielleicht war es die Erinnerung an Bastian. Vielleicht war es etwas, das in ihr gärte, seit sie den Fuß auf die Inseln gesetzt hatte, so nahe am Güldenen Berg und an der Quelle, die die Götter zerstört hatten.

Vielleicht war es aber auch nur die schiere Verzweiflung, dass sie etwas ausprobierte, von dem sie nicht wusste, ob es funktionieren würde.

Sie rechnete nicht wirklich damit, dass sie noch Spiritum nutzen konnte. Schließlich war ihr das Mortem bei ihrer Ankunft entzogen worden. Deshalb ging sie davon aus, dass es mit der Kraft des Lebens dasselbe war. Vor allem, da sie nun getrennt von Bastian war und das Gesetz der Gegensätze nicht mehr zur Anwendung kam. Magie einzusetzen, passte eigentlich nicht zu ihrem Vorhaben, zu einem bedeutungslosen Gesicht unter vielen zu werden, so wenig hervorzustechen, dass sie sich eines Tages irgendwie würde davonstehlen können.

Doch als sie nach den Spiritumfäden griff, die in Martins Haut, Knochen und Blut ruhten, sprangen sie ihr entgegen, als hätten sie nur darauf gewartet.

Lore kanalisierte sie durch sich hindurch, als wäre es ihr angeboren. Sie zupfte an einem Faden, worauf Martins Herz schneller schlug und hinter seinen Rippen anfing zu galoppieren. Er wich zurück, hielt sich die Brust, bekam ein rotes Gesicht, und seine Adern schwollen an wie Blutegel.

Martin taumelte auf dem Fels, keuchte, kroch auf den Leuchtturm zu. Als er dort ankam, zog er sich hinauf, und sein Gesicht war gefährlich rot.

Langsam ließ sie den Faden los, damit er sich aus ihr herauswand und Martins Herz wieder zu seinem Rhythmus zurückfand und die Adern auf normale Dimensionen schrumpften.

»Pass auf, Martin«, sagte Lore leise. »Du scheinst ein schwaches Herz zu haben. Für ein paar Tage solltest du Aufregungen vermeiden.«

Martin erwiderte nichts, sondern japste weiter, und der Türrahmen war das Einzige, was ihn aufrecht hielt. Er sah sie an, als wäre sie nun die Spinne und er die Fliege.

Es war dumm von ihr gewesen, mit ihm verhandeln zu wollen. Aber ihre Erfolgschancen waren ohnehin schon gering und wurden immer geringer.

Martin schloss die Tür. Fürs Erste würde er sie in Ruhe lassen.

Das war alles schön und gut, aber sie brauchte trotzdem einen Wischlappen.

Seufzend stakste Lore um den Leuchtturm herum zum Hintereingang. Die Wellen schwappten über ihre Stiefel und durchnässten die zu langen Beine ihrer Hose.

Gleich hinter der Tür standen Wischlappen und Eimer, mit denen die Gefangenenschiffe geschrubbt wurden. Lore trat ins Haus und schnappte sie sich, genoss kurz die Kühle, in der sich ihre Augen von dem andauernden Jucken und Blenden erholen konnten.

Im Dunkeln bewegte sich etwas. Wahrscheinlich eine Gefangene. Eine, die das Risiko von Martins Aufmerksamkeiten eingegangen war im Tausch gegen leichtere Arbeit. Lore machte die Augen auf und war überzeugt, dass sie hinausgescheucht würde.

Von der Wendeltreppe, die hinaufführte, starrte ihr ein bekanntes Gesicht entgegen. Blondes Haar. Blaue Augen. Eine Schönheit.

Für einen Augenblick glaubte Lore, es wäre Amelia, die als Geist zurückgekehrt war, um sie zu verfolgen.

Nein, es war nicht Amelia, sondern ihre Schwester.

»Dani?«, keuchte Lore, doch die andere Frau war bereits verschwunden.

Kapitel zwei

Gabe

Wenn du keine Liebe findest, dann suche Streit.

Caldienanisches Sprichwort

Er wurde besser darin, Schläge einzustecken.

Sein Gegner war kleiner, aber stämmiger und kämpfte schon deutlich länger als Gabe. Gabe krümmte sich, drückte sich den Rücken des Handgelenks auf die blutige Nase und ahnte, dass es ein Fehler war, innezuhalten, um sich zu orientieren. Denn schon trat ihm der kräftige Caldienaner in den Bauch.

Gabe stürzte, dabei knisterte Hitze in seinen Fingerspitzen. Der Aufprall auf dem Boden wurde durch schmutziges Stroh abgedämpft. In den Augenwinkeln sah er Flammen züngeln.

Nein, fauchte Gabe innerlich. Aufhören.

Und es hörte auf.

Kurz erwog er, aufzustehen, sich aus reinem Trotz nicht geschlagen zu geben. Aber er hatte Tränen in den Augen, sein Bauch schmerzte, und am kommenden Tag, wenn er entweder hierher zurückkehren oder irgendwo auf dem Markt eine Arbeit finden musste, würde ihm alles höllisch wehtun. Die Miete war fällig.

Er machte die Augen zu, und das Herunterzählen des Schiedsrichters schrillte ihm in den Ohren. Die Menge johlte, stampfte auf dem Stroh und drängte sich um den Mann, der gewonnen hatte.

Gut für dich, dachte Gabe. Er hievte sich auf die Beine. Sei froh, dass ich nicht alle meine Tricks angewendet habe.

Er hatte einen versengten Geruch in der Nase, wie von Holzfeuer.

Die Menge beachtete ihn nicht. Das unterschied die Kampfarenen hier von denen in Auverraine. In Caldiena wurde nicht viel gebuht. Hier begnügte man sich damit, die Gewinner zu feiern, ohne den Verlierern das Leben schwerer zu machen.

Das stand in eigenartigem Gegensatz dazu, dass die Kämpfe hier viel brutaler waren. Hier wurde nicht vornehm geboxt, man kämpfte nicht mit umwickelten Fäusten und festgelegten Regeln. In Caldiena prügelten sich die Kontrahenten einfach grün und blau.

Seiner Gemütsverfassung kam das entgegen. Denn Gabe fand, dass er es verdient hatte, grün und blau geprügelt zu werden.

Dabei entging ihm nicht die Ironie, dass er auf dieselbe Weise reagierte wie seinerzeit Bastian, als dieser … nun ja, als dieser noch Bastian gewesen war. Gabe wollte nicht daran denken, was das zu bedeuten hatte oder weshalb er sich besser fühlte, wenn er sich auf dieselbe Weise demütigen ließ. Auf verquere Art waren sie sich ähnlich.

Er wünschte sich, er würde etwas finden, was ihn Lore auch nur unwesentlich näherbringen würde.

Wieder aufgerichtet, humpelte Gabe an den Rand des Rings, wo er sich am Holzpfosten festhielt. In Caldiena fanden die meisten Kämpfe in umgebauten Scheunen statt, weil draußen ständig Regen drohte, wenn es nicht gerade regnete. Das war wohl gar nicht so schlecht für Gabe. Das Wetter in Caldiena war Feuer nicht gerade zuträglich.

Der Schiedsrichter kam mit einem kleinen Beutel voller klimpernder Münzen zu ihm. Beinahe mitleidig überreichte er ihn Gabe, bevor er sich dem nächsten Kampf widmete. Gabe steckte den Beutel weg, ohne seine Einnahmen zu zählen. Er wollte nicht unbedingt die Aufmerksamkeit der Leute darauf lenken, dass er gegen sich selbst gesetzt hatte. Seine Würde hatte ohnehin schon genug gelitten.

Nachdem sie nach siebentägiger Seereise vor zwei Wochen in Caldiena angekommen waren, hatte Val in einem Schuppen in Hafennähe eine Unterkunft für sie gefunden. Sie kannte den Besitzer vom Giftschieben. Schmuggler waren jedoch keine besonders herzlichen Zeitgenossen, und Bekanntschaft bedeutete keineswegs kostenlose Miete. Malcolms Freund an der Universität, ein Bibliothekar namens Adrian, hatte angeboten, ihnen bei der Wohnungssuche zu helfen, aber es gab keine billigeren Zimmer, und Adrians eigene Bleibe war zu klein, um sie alle unterzubringen.

Und da sich in der ganzen Stadt Wachen aus der Zitadelle herumtrieben, war es wohl keine schlechte Idee, möglichst nahe am Fluchtweg unterzukommen.

Deshalb versuchten sie, auf jede erdenkliche Weise Geld zu verdienen. Mari hatte eine Pistole verkauft, trug aber immer noch einen Patronengurt mit Munition für zwei Waffen. Malcolm besorgte für den Vermieter die Buchhaltung.

Und Gabe setzte in den Kampfarenen gegen sich.

»Schon wieder, Gabe?«

Das war Michal. Gabe war klar gewesen, dass er hier war. Michal sah sich die Kämpfe an. Gabe vermutete, dass es aus Nostalgie geschah. Sie erinnerten ihn daran, wer er gewesen war, bevor er in Götterintrigen hineingeraten war.

»Du hast nur ein Auge«, erklärte Michal, der an einem der Stützpfeiler der Scheune lehnte. »Du solltest besser auf dich aufpassen.«

Das gemeinte eine Auge schwoll bereits zu und war schmerzempfindlich. »Ich opfere mein Auge, damit wir nicht im caldienanischen Wetter draußen schlafen müssen.«

Michal sah hinaus an den Himmel. Regnerisch wie immer, und es schien ein regelrechter Sturm aufzuziehen. »Es gibt andere Möglichkeiten, Geld zu verdienen.«

»Keine, für die ich tauge.«

Doch es gab noch andere Gründe, die Gabe vermutlich nicht halb so gut zu verbergen vermochte, wie er meinte. Wenn er sich jeden Tag windelweich prügeln ließ, konnte er an etwas anderes denken als an die Patsche, in der sie saßen. Sein schmerzender Körper ließ alle anderen Gedanken wenn auch nicht verschwinden, so doch in den Hintergrund treten.

Gedanken wie der, dass Bastian Apollius war. Dass die Rückkehr des gütigen Gottes, auf der ihre gesamte Religion – Gabes ganzes Leben – beruhte, tatsächlich auf ein Reich abzielte, in dem alles unter heiliger Knute zermalmt würde.

Wie als Antwort auf diesen Gedanken setzte der drohende Sturm endlich ein, Donner krachte, während endloser Regen aus den Wolken stürzte. Ein Blitz zerteilte den Himmel.

»Du bist zu auffällig«, sagte Michal leise. »So werden sich alle an dich erinnern.«

Das war freilich ein Risiko. Gabe hatte zwar nicht munkeln hören, dass die Zitadelle nach ihnen suchen ließ, aber da an jeder Ecke Farramarks Blutmäntel herumhingen, war es sehr wahrscheinlich. Er und Malcom hatten sich angewöhnt, fingerlose Handschuhe zu tragen, unter denen sie ihre Tätowierungen verbergen konnten, aber seine Augenklappe konnte er nicht verbergen.

Er nickte. »Hab verstanden.«

Aber er würde nicht aufhören, und Michals verkniffene Miene machte deutlich, dass dieser es merkte.

Sich verprügeln zu lassen, fühlte sich richtig an. Buße dafür, dass er sie nicht hatte retten können, für seinen mehrfachen Verrat. Er war der Liebe nicht würdig, die er empfand, und auch wenn sie sich nicht aus ihm herausprügeln ließ, vermochte er so doch wenigstens den Schmerz zu spüren und sich daran zu erinnern, wie sehr er versagt hatte, sodass er es vielleicht, hoffentlich, nie wieder tun würde.

»Eine Myriade Höllen.« Die Gewinnerin eines früheren Kampfes ging mit in die Hüften gestemmten Händen und blauen Flecken an den Schultern auf die Scheunentür zu. Das Schimpfwort klang wegen ihres breiten Akzents etwas weicher. »Im Spätherbst ist das Wetter immer scheiße, aber solche Stürme gibt’s doch eigentlich nur im Sommer.«

»Wir haben Mäntel«, bemerkte ihr Freund, der es eilig zu haben schien, die Scheune zu verlassen. »Wir kommen klar.«

Die Kämpferin schnaubte. »Regenkittel sind genauso nutzlos wie die Rotunda, wenn es so schüttet.«

Ihr Freund schmunzelte. »Vielleicht stimmen sie bei der nächsten Sitzung über das Wetter ab. Das würde genauso viel bringen wie bei dem andern Scheiß, über den sie sonst abstimmen.«

Die Kämpferin lachte, und dann zogen sie sich wieder ins Innere der Scheune zurück, vermutlich, um den Sturm auszusitzen.

»Malcolm will, dass du dich in der Pension mit ihm triffst«, erklärte Michal, als die beiden außer Hörweite waren. »Er hat etwas gefunden.«

Von Gabes blutiger Nase tropfte Wasser. »In einem von Adrians Büchern?«

Michal zuckte mit den Schultern, ohne zu antworten, und spähte zu der dicht stehenden Menge hinüber. »Das sollten wir nicht unter Leuten besprechen.«

Gabe verteilte eine weitere Handvoll Wasser in seinen Haaren. Es war länger, als ihm recht war. Er müsste es sich mal wieder von Mari schneiden lassen. »Dann bring mich hin.«

»Willst du dich nicht erst um deine Nase kümmern?«

»Wozu?«

Michal seufzte und zog, schon als er auf die Tür zuging, in Erwartung des Regens die Schultern ein. »Manchmal kann ich nicht glauben, dass du der Erhabene Priester warst.«

Gabe konnte das manchmal auch nicht.

Der Sturm war fast vorbei, als sie an der Pension ankamen. Pension war eine sehr freundliche Bezeichnung, denn es war eher ein Verschlag mit zwei Schlafzimmern. Zwar war es nicht ganz so baufällig wie einige der Reihenhäuser im auverrainischen Teil des Hafens, aber beinahe.

Val wartete gleich hinter der Tür auf einem Stuhl und putzte sich mit einem Messer die Fingernägel. Als sie eintraten, blickte sie auf. Regenwasser tropfte von ihren Schultern und bildete Pfützen auf dem Boden. Sie sah Gabe fragend an. »Hast du mal wieder verloren?«

»Vielleicht.«

»Du würdest mehr verdienen, wenn du zwischendurch auch mal gewinnen würdest.«

Gabe neigte jedoch nicht dazu, auf sich selbst zu setzen. In keiner Hinsicht.

Eine kleine Kammer gleich neben dem Hauseingang diente als Malcolms Arbeitsstube und war mit wasserfleckigen Papierstapeln vollgestopft. Offenbar hatte der Vermieter die Buchhaltung ziemlich lange liegen lassen, bevor Malcolm sich ihrer angenommen hatte. Mit dunklen Augenringen saß er am Tisch. »Habt ja ganz schön lange gebraucht.«

»Er wurde mal wieder halb totgeschlagen«, erklärte Michal und setzte sich neben Malcolm. Wenn die beiden in einem Raum waren, steckten sie immer zusammen.

Gabe hatte jedoch keinerlei Interesse daran, seine Aktivitäten zu verteidigen. Vielmehr interessierte ihn der Mann, der vor Malcolms Schreibtisch stand.

Für das Elendsviertel war er zu gut gekleidet, aber nicht so gut, dass er sofort herausgestochen wäre. Er sah stattlich und gepflegt aus, hatte kurzes dunkles Haar und einen dazu passenden, sauber gestutzten Bart. Das Funkeln in seinen grünen Augen wies ihn als guten Zechgenossen, aber auch als einen Angst einflößenden Gegner in einer dunklen Gasse aus. Unter dem weißen Leinenhemd schimmerte der Umriss einer dunklen Tätowierung hervor, und er hatte eine lässige Haltung, die Gabe an Bastian erinnerte.

Der geheimnisvolle Mann betrachtete Gabes Auge, das inzwischen vollkommen rot sein musste. Dann zog er eine Braue hoch.

»Ich wünschte, du …« Doch Malcolm brachte den Gedanken nicht zu Ende, sondern schüttelte den Kopf. Ohne aufzustehen, deutete er auf den Gast. »Das ist Finn Lucais.«

»Und?« Sämtliche Umgangsformen, die man Gabe als Adelsspross beigebracht hatte, waren vergessen.

Finn schien jedoch keinen Anstoß daran zu nehmen. Vielmehr wirkte er entzückt. »Und«, erwiderte er, »ich glaube, ich kann euch mit eurem Blutmantelproblem helfen.«

Jetzt sagte Gabe der Name plötzlich etwas, und sogleich spannten sich seine Muskeln für einen weiteren Kampf an. Finn Lucais, der ehemalige Pirat. Der caldienanische Marineoffizier.

Nur einmal war es dem kirytheanischen Reich beinahe gelungen, Caldiena zu überfallen, und zwar über den Ourishpass. Seine Rettung hatte das Land Finn Lucais zu verdanken. Unter Kaiser Ouran hatte Kirythea angefangen, nach und nach den ganzen Kontinent zu erobern. Finn war Gesetzloser gewesen, doch seine Piratenbande hatte vor allem kirytheanische Schiffe angegriffen, und zwar mit solchem Erfolg, dass keines davon bis zur caldienanischen Küste gelangt war. Deshalb hatte Ouran am Pass keinerlei Verstärkung und Proviant erhalten. Nach der Schlacht hatte man Finn vom Vorwurf der Piraterie freigesprochen und ihn ehrenhalber zum Offizier ernannt. In der Flotte war er sehr beliebt. Und wenn man sah, wie er selbst in einer winzigen Kammer vor einem ihm feindlich gesinnten Publikum Charme verströmte, begriff man auch, warum.

Gabe jedoch hatte keine Geduld für Charme. Mit zwei großen Schritten war er bei Finn und packte ihn an der Kehle.

»Unser Blutmantelproblem?«, höhnte er. »Momentan haben wir keins, aber wahrscheinlich bist du hier, um uns eins zu machen, falls wir nicht zahlen?«

»Gabriel!«, rief Malcolm und stand so hastig auf, dass sein Stuhl umkippte. »Hör ihn doch an …«

»Scheiß drauf!« Gabes Fauchen ging in Finns Kichern fast unter.

Die Tatsache, dass der Kerl kicherte, obwohl Gabe ihm beinahe die Luftröhre abdrückte, ließ ihn die Finger nur noch mehr anspannen.

»Natürlich können wir uns über eine Bezahlung unterhalten«, röchelte Finn. »Ich dachte aber eher daran, euch den Schutz des Premierministers angedeihen zu lassen.«

Gabes Hand entspannte sich ein wenig. Malcolms Augen verschossen tödliche Kugeln, und auch Michal und Val sahen Gabe alles andere als erfreut an. Mit fürchterlichem Stirnrunzeln trat Gabe zurück und verschränkte die Arme. »Ich höre.«

Finn grinste und strich demonstrativ sein makelloses Hemd glatt. »Im Verlauf meines Dienstes als Offizier wurde der Premierminister zu meinem Liebhaber. Im Bett lässt sich leicht so mancher Vorschlag platzieren. Es überrascht mich angesichts deines Titels jedoch nicht, dass du das nicht weißt.« Er sah ihn schief an. »Was das angeht, habe ich interessante Gerüchte gehört.«

Spitze Andeutungen auszutauschen, war noch nie Gabes Sache gewesen. Er setzte sich schwer auf einen der Stühle am Tisch.

»Finn«, sagte Malcolm und rieb sich müde die Augen. »Könntest du Gabe bitte erzählen, was du mir erzählt hast? Ich weiß, dass er ein Esel ist. Daran arbeiten wir noch.«

»Oh, tut das nicht.« Noch immer grinsend, ließ sich Finn auf einen anderen Stuhl fallen. »Mir gefällt das.«

»Bei den toten und sterbenden Göttern«, murmelte Val.

»Also.« Finn verschränkte die langen, bleichen Finger und legte sie auf einen Stapel Mietbelege. An beinahe jedem Finger glänzte ein Ring, ein besonders protziger mit glitzerndem Smaragd am Daumen. »Eoin – der Premierminister – war ein Verbündeter von König August, aber seit dessen Sohn den Thron bestiegen hat … überdenkt er so manches.«

Gabe knirschte mit den Zähnen. Malcolm sah ihn drohend an. »Und warum?«

»Vor allem wegen der strengen Religiosität des neuen Königs.«

»Ich dachte immer, die Caldieaner wären nicht religiös?«, sagte Michal. »Was kümmert’s sie dann?«

»Das sind wir auch nicht, zumindest nicht im Vergleich zu Auverraine. Aber das heißt noch lange nicht, dass Eoin nicht fasziniert von den Göttern ist«, fuhr Finn fort. »Er und eine Handvoll anderer verfolgen eifrig … andere Pfade, wie man wohl sagen könnte.«

»Dann mag er Apollius also nicht«, sagte Gabe unumwunden.

Finn tippte sich an den Kopf. »Ich würde nicht sagen, dass er Ihn nicht mag. Er ist einfach skeptisch und mehr am restlichen Pantheon interessiert. Und das findet der neue König von Auverraine nicht so gut.«

Malcolm starrte Gabe durchdringend an, als wollte er ihn beschwören, genau zuzuhören.

»Besonders angetan haben es ihm die Elementargötter«, schloss Finn.

Gabe verzog keine Miene, aber seine Hand zuckte. Diese Richtung würde zu Fragen führen, die er nicht beantworten wollte. Deshalb wechselte er das Thema. »Und wie genau soll uns diese Information mit unserem Blutmantelproblem helfen?«

»Sie suchen nach euch.« Finn lehnte sich zurück und klopfte mit einem seiner Ringe auf einen wässrigen Tintenfleck in einem der Kontenbücher. »Angeblich weil ihr Eoins Faszination teilt.«

So konnte man es auch ausdrücken.

»Momentan«, fuhr Finn fort, »würde ich davon ausgehen, dass Eoin euch Glaubensasyl gewähren würde, wenn ihr ihn darum bitten würdet.«

Gabe und Malcolm warfen sich über den Tisch berechnende Blicke zu. Sie waren hierher geflüchtet wegen des Wunsches, Hilfe gegen Apollius zu finden und Caldiena zu warnen, dass Auverraine früher oder später einmarschieren würde. Wenn sie beim Premierminister eine Audienz bekommen, ihn warnen und sich unter seinen Schutz stellen könnten …

»Warum hilfst du uns?«, fragte Val, die noch immer mit finsterer Miene an der Tür stand. »Woher weißt du überhaupt, dass wir Hilfe benötigen?«

»Wie gesagt, ich habe interessante Gerüchte über ihn gehört.« Dabei zeigte Finn auf Gabe. »Die Augenklappe und die Tätowierungen in der Handfläche sind unverwechselbar. Er passt auf die Beschreibung, die bald die Runde machen wird, sobald Auverraine offiziell einen Haftbefehl gegen dich ausstellt.«

Angst lief wie ein Schauer durch die Kammer, und alle Wirbelsäulen richteten sich ein bisschen auf.

»Eoins Schutz würde verhindern, dass man euch ausliefert«, erklärte Finn. »Und wie mir scheint, werdet ihr das brauchen.«

»Und was sollen wir tun?« Michal sprach leise und machte große Augen. Er war es gewohnt, vor Gesetzeshütern davonzulaufen, aber die Vorstellung, geschnappt zu werden, schien ihn beinahe zu würgen. »Um seinen Schutz zu bekommen?«

»Ich kann euch zu ihm bringen.« Finn zuckte mit den Schultern. »Vielleicht nur zwei von euch, sicherheitshalber.« Er zeigte auf Gabe und dann auf Malcolm. »Ihr beide würdet reichen. Ihr könntet um Schutz für euch alle bitten.«

»Wann?«, fragte Gabe.

»Sagen wir morgen Abend.« Finn stand auf und streckte sich, als hätte er von dem vielen Reden Rückenschmerzen bekommen. »Ich klopfe viermal. Das ist das Signal.« Er grinste. »Tragt eine Kapuze.«

Dann schlenderte er zur Tür hinaus, als ginge es zu einer Party.

Niemand sagte etwas, bis seine Schritte nicht mehr zu hören waren. »Nun«, sagte Val. »Das ist verdächtig. Ich bin doch wohl nicht die Einzige, die das verdächtig findet?«

»Das bist du nicht«, erwiderte Gabe. »Aber uns bleibt wohl kaum eine Wahl. Wir werden uns mit ihm treffen.«

»Und wenn er lügt?«, fragte Michal.

Gabe seufzte. »Dann trifft es wenigstens nur uns beide. Ihr anderen könnt dann immer noch fliehen.«

Michal fasste nach Malcolms Hand. »Ich gehe mit dir.«

»Nein, das tust du nicht«, sagte Malcolm, auch wenn er Michals Hand nicht abschüttelte. »Im schlimmsten Fall ist es Erpressung. Damit kommen Gabe und ich klar.«

Gabes Fingerspitzen wurden warm. O ja, er würde klarkommen.

»Wenn wir bis zum Morgen nicht zurück sind«, fuhr Malcolm zu Val gewandt fort, »dann nimmst du mit Michal und Mari das Schiff.«

Vals Lippen waren zu einem blutleeren Strich zusammengekniffen, aber sie nickte.

Und damit war es abgemacht.

Auf dem Schreibtisch lag ein Buch, das Malcolm aus der Universität von Farramark herausgeschmuggelt hatte. Gab deutete mit dem Kinn darauf, weil er dringend das Thema wechseln wollte. »Hast du da drin was gefunden?«

»Möglich.« Malcolm deutete mit einem Wink auf seine Aufzeichnungen. »Es geht um die Bruchstücke der Quelle, wie man die wieder zusammensetzt. Könnte etwas sein, vielleicht aber auch nicht.«

Wieder hatte Gabe Brandgeruch in der Nase. Er beäugte Malcolms Aufzeichnungen, und in den Augenwinkeln züngelten Flammen – drei Bruchstücke, die mit einem Mond, einer Sonne und den Zeichen der Elemente gekennzeichnet waren. Versteckt, hatte er notiert, vor aller Augen und in der Tiefe …

»Ich brauche was zu trinken«, murmelte Malcolm.

Gabe klappte das Buch zu, sodass die Aufzeichnungen darin verschwanden. »Mir geht es genauso. Komm. Wenn es etwas in dieser Stadt gibt, dann einen Überfluss an Kneipen.«

Kapitel drei

Alie

Halte deine Liebhaber an kurzer Leine

Und deine Feinde nahe an deinem Herzen.

Sie führen alle Messer bei sich.

Auszug aus Mutter sagt der kirytheanischen Dichterin Honora Torlius

»Alie.«

Sie überhörte ihn. Sie war sehr gut darin geworden, ihn zu überhören. Vor allem, wenn er die Kurzform ihres Namens benutzte, als ob sie befreundet wären. Als wäre diese Verlobung etwas anderes als eine Strafe.

»Alienor.«

Nein. Sie überhörte ihn immer noch. Auch wenn sein Tonfall etwas Flehentliches hatte und obwohl sie unter Leuten waren. Früher war ihr ihr Ansehen am Hof wichtig gewesen. Sie hatte sich alle Mühe gegeben, ihren Part perfekt zu spielen. Die gute Tochter zu geben, auch wenn sie und ihr Vater fast nie miteinander sprachen. Eine geistvolle Salonlöwin, die die besten Partys für die richtigen Leute schmiss. Eine loyale Freundin.

Jetzt war sie die Verlobte des kirytheanischen Kaisers, die Halbschwester des Gebenedeiten Königs. Alie wusste nicht, wie sie diese Rollen spielen sollte. Sie taumelte auf derselben Bühne herum, ohne Text und ohne Einsatz.

Jax saß mit erwartungsvollem, begierigem Gesicht neben ihr. Es verunsicherte sie, wie begierig er immer dreinsah, wenn er versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Wenn er versuchte, so zu tun, als wäre es echt.

Da war es einfacher zu glauben, dass er eine Rolle spielte, genau wie sie. Alie wollte sich die Alternativen gar nicht vorstellen. Aber er war zweifellos der bessere Schauspieler.

Schließlich riss sie den Blick von dem halb vollen Weinglas und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Kaiser. Leider sah er gut aus. Nicht nach ihrer eigenen Vorliebe, kantig und düster, sondern sauber und gepflegt.

Seine blonden Haare waren immer auf die gleiche Weise nach hinten gebunden. Sein Rücken war immer gerade.

»Ja?«, fragte Alie und merkte, dass sie überhaupt nicht mitbekommen hatte, auf was sie reagieren sollte.

Er entspannte sich ein wenig. Jeder Wortwechsel zwischen ihnen schien ein Spiel zu sein, bei dem man wie beim Croquet Punkte machte. »Lady Villiers hat gefragt, ob du deinen Nachmittagsspaziergang heute wegen des starken Winds abkürzen musstest.«

»Es hat fürchterlich geblasen.« Die nämliche Lady zitterte theatralisch in ihrem Sessel, damit es auch bestimmt alle sehen konnten. Heute war der lange Tisch in dem Innenhof mit den Rosenstöcken dicht mit Höflingen besetzt, und die Lady genoss es sichtlich, so nahe an der Stirnseite zu sitzen. So nahe beim König.

»Der Herbst war so angenehm«, fuhr Lady Villiers fort und zerpflückte den gebratenen Fasan auf ihrem Teller. »So schön und warm, dass ich vergessen habe, dass der Winter im Anmarsch ist.« Ein hohes, klimperndes Lachen. »Der Wind heute hat es mir wieder ins Gedächtnis gerufen.«

Alies Hand schloss sich fester um den Kelch, so fest, dass sie überzeugt war, der Verlobungsring würde schrill am Kristall entlangkratzen. Der Ring war hübsch, ganz schlicht, einfach nur ein eckig geschliffener Diamant an einem Goldreif. Nur war er zu groß, sodass er sich immer in Richtung Handfläche drehte. »Den habe ich wohl verpasst«, sagte sie. »Ich kann mich an keinen Wind während meines Spaziergangs erinnern.«

Zumindest keinen natürlichen Wind. Keinen, den sie nicht selbst heraufbeschworen hätte. Sie musste vorsichtiger sein, weil es für die Jahreszeit ungewöhnlich warm gewesen war. Die starke Sommerhitze hatte zwar nachgelassen, aber wie Herbst fühlte es sich noch nicht an.

Ihr Blick glitt kurz an die Stirnseite des Tischs, zu dem Mann, der dort saß. Dann sah sie wieder weg.

»Na, da hattest du ja Glück«, erwiderte Lady Villiers leichthin. »Ich habe schon fast die Pelze herausgeholt!«

Die Höflinge ringsum kicherten lauter als nötig, damit diejenigen am unteren Tischende sie hörten und hoffentlich glaubten, sie lachten gemeinsam mit dem König über einen Witz. Alie stimmte nicht darin ein. Stattdessen leerte sie ihr Weinglas und wünschte sich sehnlichst etwas Stärkeres.

Sein Blick lag auf ihr. Sie spürte ihn, das lodernde Gold eines verhungernden Wolfes, hinter dem Bastians dunkle Iriden verbannt waren. Falls es jemandem von den Höflingen aufgefallen sein sollte, behielt die Person es offenbar für sich.

Alie hatte es das ganze verdammte Dinner über fertiggebracht, nicht zum Gebenedeiten König hinüberzusehen, aber irgendwann würde sie es tun müssen. Deshalb konnte sie es genauso gut auch jetzt tun.

Sie sah auf. Begegnete seinen goldenen Augen. Weigerte sich, den Blick abzuwenden.

Apollius grinste.

Die Anpassung des Gottes an Bastian war übergangslos vonstattengegangen, und derweil hatte Er die Bürgerzahlungen wieder abgeschafft, und die Kunstwerke, die Bastian zugunsten der Staatskasse versteigert hatte, wieder zurückgekauft oder durch Schikane zurückerlangt. Die Höflinge liebten Ihn wieder, sogar diejenigen, die vor Kurzem noch wütend auf Ihn gewesen waren. Denn Er wollte nicht mehr das Steuergesetz ändern, Er wollte gar nichts mehr ändern.

Zumindest, soweit es ihnen bekannt war.

Hinter den Kulissen wurde Ihm nach und nach das kirytheanische Reich überlassen, täglich übertrug Jax Ihm weitere Befugnisse. Das ging wie üblich nur beschwerlich vonstatten: mit Geld und Papierkram, so wie Kriege tatsächlich gewonnen wurden, nachdem die Schlachten geschlagen waren, falls sie überhaupt stattgefunden hatten.

Der Plan sah so aus, dass sie noch etwas warten und den Gebenedeiten König am Tag von Jax’ und Alies Hochzeit als Kaiser ausrufen wollten, und dann würde Jax zum Statthalter von Auverraine ernannt werden.

Alie, deren königliche Abstammung das erst möglich machte, würde keine weitere Macht erlangen.

Das alles sollte sie jedoch gar nicht wissen. Ihre Winde hatten ihr diese Geheimnisse während der langen Nachmittagsspaziergänge zugetragen, wenn sie den Park der Zitadelle umrundete, eine Hand an der kühlen Mauer, die andere zuckend die schillernden Luftfäden dirigierend.

Heute hatten Jax und Apollius eine Meinungsverschiedenheit gehabt. Vermutlich war Jax deshalb so auf Alie fixiert und nicht auf den König, seinen Gott.

»Noch ist es nicht so weit«, hatte Jax gesagt. »Ich verspreche Dir, dass Du die Verehrung erhalten wirst, die Dir zusteht, Heiliger. Der ganze Kontinent wird sich vor Dir beugen und nicht nur vor Deinen Abbildern. Du wirst sie anweisen, Dich so zu verehren, wie Du es willst …«

»Ja, das ist Mir klar«, zischte Apollius und betonte jede Silbe. »Aber Ich erkläre dir gerade, Kaiser, dass Ich ihnen sagen werde, wer Ich bin. Nicht erst, wenn alles vorbei ist. Nicht erst, wenn Ich alle Länder eingenommen habe.«

»Ich halte das für keine gute Idee.« Jax sprach mit festem Ton, das musste Alie ihm lassen: Er hielt an seinen Überzeugungen im Angesicht eines Gottes fest, alle Achtung. Auch wenn seine Überzeugungen völlig verkehrt waren. »Damit lädst Du Dir nur Meuchelmörder ins Haus …«

Apollius’ Lachen schmerzte in Alies Ohren, sodass sie fast ihre Windfäden eingezogen hätte. »Sie sollen es ruhig versuchen.«

»Du bist unsterblich, Heiliger. Aber der Körper, in dem Du steckst, nicht. Und auch wenn Du Dich heilen kannst, könnte ein Punkt kommen, wo der Schaden zu groß ist.«

Eine Lüge und eine Wahrheit. Apollius war nicht unsterblich. Das war die unangenehme Tatsache, die den ganzen Albtraum ausgelöst hatte.

Bastian jedoch war sterblich.

Von der Mauer der Zitadelle aus konnte sie den Gott nicht sehen, aber sie konnte sich Sein Gesicht vorstellen, die Gedanken, die Ihm während Seines Schweigens durch den Kopf schossen. »Ich verstehe, was du meinst.«

Sonst sagte er nichts, machte keine Versprechungen. Aber sie hatten schon das halbe Dinner hinter sich, ohne dass Er sich auf den Tisch gestellt und Seine Göttlichkeit verkündet hatte. Deshalb nahm Alie an, dass Er tatsächlich verstanden hatte, was Jax gemeint hatte.

Es war riskant. Das war ihr bewusst. Nicht nur, dass sie lauschte, sondern auch, wie sie es tat. Momentan schien es so, als wüsste Apollius nicht, dass sie Lereals Macht geerbt hatte, aber Alie konnte sich nicht so recht vorstellen, wie das sein konnte – bei den anderen war Er doch auch irgendwie dahintergekommen. Sollte Er es doch wissen, hatte Er jedenfalls nichts unternommen, aus Gründen, die Alie schleierhaft blieben.

Am Hof gab es Gerüchte über den Tag von Gabes und Malcolms Flucht. Es hieß, Alie hätte sich mit … irgendetwas verteidigt. Fetzen von Elementarmagie, glaubten die meisten, allerdings traute sich keiner der Höflinge, sie danach zu fragen.

Vielleicht hielt Apollius ihre Verlobung mit Jax für wichtiger als eine zugegebenermaßen mickrige magische Kraft und setzte sie deshalb ans untere Ende Seiner Prioritätenliste. Die Lügen, die Er gesponnen hatte – dass Gabe versucht hatte, sie zu entführen – ließen darauf schließen. Die Rolle, die sie so lange gespielt hatte, stellte sich nun als praktisch heraus. Denn Alie war eine feste Institution in der Zitadelle, und es würde gewaltige Anstrengung erfordern, den Hof dazu zu bringen, ihre Hinrichtung oder Verbannung hinzunehmen, selbst wenn bewiesen wäre, dass sie verlorene, verbotene Magie eingesetzt hatte. Vor allem jetzt, da sie eine Arceneaux war.

Doch auch wenn sie Glück gehabt hatte, durfte sie sich nicht darauf ausruhen. Apollius hatte Amelia wegen ihrer Göttermacht getötet. Was auch immer Ihn zur Zurückhaltung anhielt, würde nicht ewig gelten.

Sie musste etwas unternehmen, und Magie war das einzige Mittel, das ihr zur Verfügung stand. Man konnte ja wohl nicht von ihr erwarten, dass sie herumsaß, auf Partys ging und abwartete.

Deshalb experimentierte sie. Las alles, was in den Büchern, die Malcolm vor seiner übereilten Abreise zusammengesammelt hatte, über ihre Götterkraft und deren Anwendung zu finden war. Mithilfe des Winds zu lauschen, war eine solche Anwendung. Andere probierte sie auch aus.

Aber offenbar war sie die Einzige von den fünf, die ihre Magie benutzte, deshalb stellte es sich als schwierig heraus, in deren Träumen zu wandeln.

Sie versuchte es dennoch. Seit zwei Wochen, seit sie in alle Ecken des Kontinents zerstreut worden waren, jede Nacht.

Vielleicht hätte sie ihre Macht lieber nicht einsetzen sollen, nachdem die anderen es nicht taten. Aber wenn sie damit etwas erreichen konnte, dann wäre es egoistisch von ihr, sie nicht einzusetzen.

»Hoffentlich hält das Wetter für eure Zeremonie, Hoheit.« Eine weitere Schleimerin, Lady Beaumont. Sie hatte des Öfteren versucht, Jax zu verführen. Alie hatte es mitbekommen, als sie dem Wind gelauscht hatte. Jax war nie schwach geworden, doch Alie war sich nicht sicher, ob es daran lag, dass er gar nicht gemerkt hatte, dass er angemacht worden war, oder daran, dass er irrig ihre Verlobung in Ehren halten wollte. »Sie findet doch bald statt, oder nicht?«

»In zwei Monaten«, erwiderte Jax. Alie wurde aus seinem Ton nicht schlau. Er setzte sich etwas aufrechter hin, und seine ernsten Gesichtszüge gaben nichts preis.

»Wenn du so lange warten willst.« Endlich mischte Apollius sich von der Stirnseite des Tischs ein. Er beugte sich vor, spießte eine Kartoffel von Jax’ Teller auf und steckte sie sich in den Mund. »Ich habe Jax angeboten, dass wir die Zeremonie vorziehen können, wenn ihm das lieber ist. Ich weiß, wie hart es sein kann, auf die Hochzeitsnacht warten zu müssen.« Er zog eine Braue hoch. »Wobei Mich Meine Braut – vor ihrem Verrat – nicht hat auf die Genüsse des Ehelebens warten lassen.«

Diesmal brüllte der Tisch vor Lachen. Alie bekam heiße Wangen. Man hätte meinen sollen, dass ein sitzen gelassener Ehemann nicht viel über seine abwesende Frau reden würde, aber Apollius erwähnte Lore – und Nyxara auf eine subtile Art, die wohl nur Alie verstand – bei jeder Gelegenheit, die sich Ihm bot.

Das ärgerte die neuen Liebhaberinnen, die Er sich angelacht hatte. Auch das schnappte Alie im Wind auf. Alle, die Apollius zu sich ins Bett nahm, träumten davon, Lore zu ersetzen, aber Er suchte nicht nach einer Gattin. Es gab nur eine Person, mit der Er seinen Thron teilen würde, und die steckte in Lores Kopf auf den Verbrannten Inseln.

Auch Jax trat Farbe in die blassen Wangen. »Ich warte gern, solange ich muss«, sagte er steif.

Apollius wedelte wegwerfend mit den Händen. »Wo bleibt der unbezähmbare Wille, von dem ich so viel gehört habe, Jax? Ich hätte angenommen, dass ein Mann, der ein Kaiserreich aufgebaut hat, es schaffen würde, sich zu nehmen, was er will.«

Erneut wurde gelacht, aber manche warfen Alie verstohlene Blicke zu, diejenigen, die mit mächtigen Adligen verheiratet waren. Denn sie waren es gewohnt, wie Objekte behandelt zu werden, wie Kunstwerke, die man umstellte, begaffte und besaß.

Das war ein weiterer Grund, weshalb sie ihre Magie einsetzte. Weil sie ein Leben lang gesehen hatte, was mit den Machtlosen geschah.

»Land und Leute sind eine ganz andere Sache.« Jax sprach leise, und seine Augen funkelten beinahe gefährlich. »Ich habe festgestellt, dass sich Geduld auszahlt.«

Alie ballte unter dem Tisch die Fäuste.

Apollius’ goldene Augen wurden schmal, als wollte Er den noch nicht beigelegten Streit, den sie belauscht hatte, wieder aufwärmen. Doch Er zuckte schließlich nur mit den Schultern und lehnte sich zurück. »Ich bin es wohl zu sehr gewöhnt, Meiner Ungeduld nachzugeben. Furchtbare Angewohnheit.«

»Wer würde dich denn aber warten lassen, Bastian?« Lady Beaumont lächelte, und nur ein Blitzen in ihren Augen zeigte, wie nervös sie war, weil sie den Gebenedeiten König mit Namen ansprach. Diesen zu hören und zu wissen, dass Bastian längst nicht mehr da war, schmerzte Alie. »Bestimmt musstest du nie auf etwas warten.«

Apollius grinste mit Bastians Mund. Er hatte nur einmal mit Lady Beaumont geschlafen, worüber sie sich allwöchentlich beim Tee mit ihren Freundinnen beklagte. Alie belauschte ihre Teekränzchen jedoch nicht mehr. Die Vorstellung, dass Apollius Bastians Körper auf diese Weise nutzte, machte sie zu traurig.

»Nicht oft«, antwortete Er. »Aber wenn, dann lohnt es sich.«

Seine Stimme hatte einen leisen, nachdenklichen Beiklang. Alie starrte auf ihren leeren Teller.

»Von daher muss ich dir wohl beipflichten, Jax«, sprach der Gott. »Auf manche Dinge lohnt es sich zu warten.«

Jax’ Miene zeigte zwar keine Reaktion, aber sein Körper entspannte sich.

»Ich bin müde.« Apollius stand auf und streckte die Arme über dem Kopf. »Geht auf eure Zimmer.«

Und damit war das Dinner beendet.

Die Höflinge gingen nur zögerlich, diejenigen vom anderen Tischende näherten sich Apollius in der Hoffnung auf ein Gespräch mit ihm. Aber der Gebenedeite König war schon zur Tür hinaus und auf dem Weg zu Seinem Schlafzimmer.

Draußen brach die Nacht herein.

Das weckte einen winzigen Hoffnungsschimmer in Alie. Apollius schien nachts nicht völlig zu verschwinden – zumindest hatte Er das anfangs nicht getan. Alie hatte ihn belauscht, hatte von ihrer eigenen Wohnung aus vorsichtig die Windfäden gezupft, die von der Suite des Gebenedeiten Königs kamen. Dabei hatte sie nichts Interessantes gehört außer den Geräuschen, wenn sich der König mit jemandem im Bett vergnügte. Doch die reichten Alie, um zu merken, dass es nicht Bastian war. Bastian würde das niemals tun, zumindest jetzt nicht mehr.

In den letzten Nächten hatte Alie jedoch Krach gehört. Schimpfen. Die Geräusche einer Schlägerei, aber mit nur einem Teilnehmer.

»Jax.« Apollius drehte sich in der Tür noch einmal um. Er hatte Ringe unter den Augen, als hätten Ihn die dreißig Sekunden seit dem Aufstehen vom Tisch erschöpft. »Komm zu Mir, wenn du Zeit hast. Wir müssen etwas besprechen.«

Jax kniff den Mund zusammen, aber er nickte.

Noch immer flackerte der winzige Hoffnungsfunke in Alies Brust.

Sie stand auf und wandte sich ohne ein Wort zu irgendjemandem zur Tür. Für heute Abend hatte sie ihre Rolle gespielt, und sie hatte keine Energie mehr.

»Alie, warte.« Ihr Verlobter schloss zu ihr auf und hielt ihr den Ellbogen hin.

Sie sah ihn an, als würde er ihr ein Insekt anbieten, sagte aber nichts.