Für eine feministische Internationale - Verónica Gago - E-Book

Für eine feministische Internationale E-Book

Verónica Gago

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Beschreibung

Verónica Gago, eine der wichtigsten Vertreterinnen der lateinamerikanischen Frauenbewegung, entwirft in diesem Buch ein radikales Konzept feministischer Ermächtigung (»potencia«) und eine neue Theorie der Macht, die den brennenden Wunsch widerspiegelt, alles zu verändern. Fast überall auf der Welt haben in den letzten Jahren große feministische Mobilisierungen die patriarchalen gesellschaftlichen Verhältnisse und repressive Gesetzgebungen ins Wanken gebracht. Überzeugend und mit kenntnisreichem Blick auf die entstandene feministische Internationale analysiert Verónica Gago diese Mobilisierungen sowohl als Konzept als auch als kollektive Erfahrung, die in weltweiten Frauen*streiks ihren Höhepunkt findet. Basierend auf den eigenen reichhaltigen Erfahrungen der Autorin in radikalen Bewegungen und aktuellen Debatten der feministischen und marxistischen Theorie, ist "Für eine feministische Internationale" nicht nur fesselnde politische Analyse und aktivistisches Manifest zugleich, sondern auch ein eindringlicher Appell, die Rhetorik der Viktimisierung aufzugeben und stattdessen sowohl die neoliberale Herrschaft als auch die konservative Gegenoffensive frontal herauszufordern.

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Seitenzahl: 413

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Verónica Gago

Für eine feministische Internationale

Wie wir alles verändern

Aus dem Englischen von Katja Rameil

Für Raquel, Nati und Luci

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Verónica Gago:

Für eine feministische Internationale

1. Auflage, März 2021

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2021

ISBN 978-3-95405-101-4

Copyright der Originalausgabe

© 2020 Verso, London

Aus dem Englischen: Feminist International:

how to change everything

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

unter Verwendung eines Fotos von Mujeres de Artes Tomar

(www.mujeresdeartestomar.com.ar), Acción Artivista Tembladeral,

Internationaler Feministischer Streik am 8.3.2017 auf dem Platz der

Mairevolution, Buenos Aires, Argentinien.

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

EinleitungFeministische Handlungsmacht – oder: Der Wunsch, alles zu verändern

Kapitel 1#WirStreiken: Annäherung an eine politische Theorie des feministischen Streiks

Kapitel 2Gewalt: Wird »auf« den Körpern von Frauen und »gegen« die Körper von Frauen ein Krieg geführt?

Kapitel 3Körper-Territorium: Der Körper als Schlachtfeld

Kapitel 4Eine feministische Ökonomik der Ausbeutung und Extraktion

Kapitel 5Die Versammlung als situiertes Gefüge kollektiver Intelligenz

Kapitel 6Die Feministische Internationale

Kapitel 7Gegenangriff: Das Gespenst des Feminismus

Kapitel 8Acht Thesen zur Feministischen Revolution

Danksagungen

Anmerkungen

Habent sua fata libelli – Bücher haben ihre Schicksale.

Nach einem Zitat von Rosa Luxemburg

Einleitung

Feministische Handlungsmacht – oder: Der Wunsch, alles zu verändern

In den letzten Jahren hat die feministische Bewegung die ganze Erde zum Beben gebracht. In Argentinien entstand als Reaktion auf die vielfachen und spezifischen Formen der Gewalt gegenüber Frauen und feminisierten Körpern die Bewegung Ni Una Menos, die umgehend eine neue Organisations- und Aktionsform erfand: den feministischen Streik. Eine halbe Million Frauen, Lesben, Transpersonen und Travestis beteiligte sich an den Demonstrationen zum Internationalen Frauen*streik 2017, und am Internationalen Frauentag 2018 und 2019 gingen rund 800.000 Frauen auf die Straße. Zudem waren in den Jahren 2018, 2019 und 2020 massive und anhaltende Mobilisierungen für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen im Gange.

Dieser Text entstand inmitten dieser Welle von Ereignissen zu einer Zeit, als die feministische Bewegung eine neue Art von Protagonismus entwickelte. Und er wurde aus einer konkreten Position heraus verfasst: inmitten dieser organisatorischen Dynamik. Er veranschaulicht die Diskussionen, die stattfanden, während wir uns auf die Streiks vorbereiteten, auf die Straße gingen, in Versammlungen debattierten, Dutzende von Treffen abhielten, Hunderte Gespräche führten und uns mit Compañeras auf der ganzen Welt koordinierten und austauschten. Er beschreibt einen politischen Prozess, der auch weiterhin offen ist. Vor diesem Hintergrund ist mein Text zu lesen. Und er ist Teil einer militanten Forschungsarbeit.

Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert, weil dies die Anzahl der kollektiven Forderungen des ersten Internationalen Frauen*streiks ist, den wir zum 8. März 2017 organisierten.[1]

Auch wenn diese Festlegung zunächst zufällig war, bringt es diese Zahl wie auf magische Weise auf den Punkt. Denn tatsächlich passt sie auf eine Reihe von Problemen, um die sich dieser Text rankt. Jedes Kapitel ist mit einem Problem überschrieben, doch gleichzeitig wiederholen sich die Fragen auch, tauchen erneut auf, bestehen fort und springen von einem Kapitel zum nächsten. Obwohl sie als verschiedene Probleme bezeichnet werden, zeigen sich, je mehr man sich ihnen nähert, ihre engen Verflechtungen auf. Man könnte auch sagen, dass die Fragen im Kern dieselben sind, sich aber durch einen Ton, eine Schattierung und eine Geschwindigkeit voneinander unterscheiden.

Das Konzept der feministischen Handlungsmacht (Potentia) spiegelt diese Art von Bewegung wider, weil es auf eine alternative Auffassung von Macht verweist.[2] Wenn wir von der feministischen Handlungsmacht ausgehen, erkennen wir an, dass die Möglichkeiten – unsere Möglichkeiten zu handeln – unbestimmt sind und wir nicht wissen, wozu wir in der Lage sind, bis wir die Verschiebung der Schranken erleben, die man uns anzunehmen und einzuhalten gelehrt hat. Es handelt sich dabei nicht um eine naive Auffassung von Macht, weil sie die Formen der Ausbeutung und Dominanz, durch die Macht strukturiert wird, nicht außen vor lässt; vielmehr reichen ihre Vorschläge bis ins Innere der Subjektivitäten, die sich bestehenden Mächten entgegenstellen. In diesem Sinne ist Handlungsmacht als Gegenmacht zu verstehen. Letztlich liegt darin die Bekräftigung einer anderen Art von Macht: die der gemeinsamen Erfindung gegen die Enteignung, des kollektiven Genusses gegen die Privatisierung und der Ausweitung dessen, was wir uns im Hier und Jetzt als möglich wünschen.

Was ich hier zu konstruieren versuche, ist eine Analyse, die in einer Folge von Kämpfen, Straßenpartys, erlebten Erschütterungen und dem Widerhall der Rufe »Ni una menos!« (»Nicht eine weniger!«) situiert ist. Dieser Arbeits- und Schreibmethode liegt eine Prämisse zugrunde: dass dem Wunsch ein kognitives Potenzial innewohnt. Ich verwende den von der feministischen Bewegung geprägten Slogan »Uns bewegt der Wunsch«, um dieser Bewegung als kollektivem intellektuellen und mannigfaltigen Ausdruck einer laufenden Recherche Rechnung zu tragen – mit ihren Momenten des Aufrüttelns und ihren Momenten des Rückzugs, mit ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Intensitäten.

Die Potentia – ein Konzept, das in den Schriften von Spinoza, Marx und anderen entwickelt wurde – lässt sich niemals losgelöst von ihren Wurzeln betrachten, also von dem Körper, in dem sie enthalten ist. Deshalb ist die feministische Handlungsmacht die Potentia des Körpers, der immer individuell und kollektiv ist und der auch immer in der Variation existiert, also singulär. Dennoch erweitert die feministische Handlungsmacht den Körper auch durch die Art und Weise, wie er durch Frauenkämpfe, feministische Kämpfe und die Kämpfe von Menschen, die nicht mit Geschlechterrollen konformgehen, neu erfunden wird, weil sie diese Vorstellung der Potentia immer wieder aufs Neue aktualisieren.

Die Potentia existiert nicht im Abstrakten (sie ist nicht mit dem »Potential« von Aristoteles gleichzusetzen). Vielmehr wohnt der feministischen Handlungsmacht der Wunsch nach Fähigkeit inne. Das impliziert, dass der Wunsch dem Möglichen nicht entgegengesetzt ist, sondern er ist vielmehr die Kraft, die antreibt, was als möglich wahrgenommen wird, kollektiv und in jedem Körper. Dieses Buch soll ein Manifest dieser unbestimmten Handlungsmacht sein, die sich als Wunsch äußert, alles zu verändern.

Was ich hier schreibe, ist eng verknüpft mit den politischen und theoretischen Anliegen und Debatten, die mich schon seit Langem beschäftigen und in einem sehr weitläufigen Netzwerk von Freund*innen- und Kompliz*innenschaften stattfinden – und natürlich mit entsprechenden Auseinandersetzungen und Kontroversen. Dieses Buch ist das Ergebnis von Gesprächen mit Compañeras, Erfahrungen und Texten unterschiedlichster Herkunft und aus vielen Bereichen. Wie in jedem Text können darin verschiedenste Stimmen agieren und gehört werden.

Zu Beginn möchte ich auf einige methodische Fragen zu meiner theoretischen Herangehensweise eingehen, insbesondere was das situierte[3]Denken betrifft.

Situiertes Denken ist unweigerlich feministisches Denken: Wenn die Geschichte dieser Kämpfe mit all ihren Erfolgen und Niederlagen uns etwas gelehrt hat, dann dass die Handlungsmacht des Denkens immer einen Körper hat. Dieser Körper ist eine konstante und kollektive Komposition (auch wenn sie individuell ist), die Erfahrungen, Erwartungen, Ressourcen, Werdegänge und Erinnerungen zusammenfügt.

Situiertes Denken ist unweigerlich partiell. Damit ist kein kleiner Teil, kein Fragment oder Splitter gemeint. Vielmehr wird damit ein Element in einem Puzzle beschrieben, einer spezifischen Zusammensetzung. Als solches dient es als Eintrittspunkt, als Perspektive, die die Einzigartigkeit einer Erfahrung zeigt.

Situiertes Denken ist ein Prozess. In diesem Fall ist es die Welle des feministischen Streiks, der als politischer Prozess eine Landschaft geformt hat, die in der Lage ist, neue existenzielle Territorien zu tragen.

Situiertes Denken ist unweigerlich internationalistisches Denken. Somit ist der feministische Internationalismus weder abstrakt noch nimmt er einen Panoramablick ein. Jede Situation ist eine Abbildung der Welt, eine Gesamtheit, die für das unendliche empirische Erleben der Details und der Textur eines Konzepts offen ist. Ausgehend von diesen Situationen webt er einen Transnationalismus, erschafft eine praktische Kartografie, die ein globales Echo aus dem Süden erzeugt. Seine Stärke basiert auf seiner Verwurzelung in Lateinamerika, auf diversen Ebenen von Aufstand und Rebellion. Und er befeuert ein situiertes Denken, das die Maßstäbe, Reichweiten und Erfindungen einer sich stets ausdehnenden Bewegung herausfordert, ohne die Kraft einzubüßen, die er aus seiner Einbettung bezieht und aus der Anforderung, konkret zu sein.

Ich schreibe aus Argentinien, wo die Bewegung ihre eigenen charakteristischen Merkmale aufweist. Eine der primären Hypothesen dieses Buches lautet, dass die feministische Bewegung hier die bemerkenswerte Fähigkeit besitzt, zwei Eigenschaften zusammenzuführen, die häufig als Gegensätze betrachtet werden: Masse und Radikalität.

Die Verschmelzung dieser Dimensionen war alles andere als spontan. Sie wurde geduldig herbeigeführt, indem Massenereignisse auf den Straßen mit dem täglichen Aktivismus verwoben wurden, der in seinem Umfang gleichermaßen monumental ist. Ihre Geschichten und Genealogien passen allesamt nicht sauber in den jüngsten Mobilisierungskalender, weil sie genau das sind, was diese Öffnung der Zeit im Hier und Jetzt unter der Oberfläche ermöglicht hat.

Der feministische Streik soll mir als Katalysator dienen, als Eintrittspunkt in einen Prozess, der politisch, subjektiv, ökonomisch, kulturell, künstlerisch, libidinös und erkenntnistheoretisch zugleich ist. Mit »Prozess« beziehe ich mich nicht auf eine deskriptive Neutralität, die den Streik »begründet«, sondern ich sehe den Streik selbst als Prozess der Erfindung, des Bruchs und gleichzeitig der Akkumulation von Kräften.

In diesem Sinne schlage ich vor, den Streik als Linse zu betrachten, als spezifischen Blickwinkel, um einige der aktuellen Probleme, die die feministische Bewegung anspricht, zu lesen und einzuordnen. Wie ich im ersten Kapitel erörtern werde, inspiriert mich die Vorstellung Rosa Luxemburgs, dass jeder Streik seine eigene Form politischen Denkens hat und dass unsere historische Aufgabe darin besteht, den von uns geführten Streik theoretisch zu erfassen. In diesem Sinne agiert der internationale feministische Streik als Schwelle, als »Erfahrung« – etwas, das überschritten wird, woraufhin es unmöglich ist, zur vorherigen Beziehung mit Dingen und anderen Menschen zurückzukehren. Viele von uns wurden in diesem Prozess und durch ihn verändert.

Ich werde die Idee des Streiks in einem doppelten Sinn als Linse verwenden:

In einem analytischen Sinn. Mithilfe des Streiks können wir erkennen, wie bestimmte Formen der Arbeit und Wertproduktion in einem heterogenen Spektrum von Territorien unsichtbar gemacht werden. Er konstruiert eine Diagnose der Prekarität auf der Grundlage unserer Strategien zum Widerstand und zur Politisierung von Trauer und Leid. In diesem Sinne wird diese Diagnostik heute zu einem antifaschistischen und anti-neoliberalen Instrument.

In einem praktischen Sinn. Weil wir uns weigern, die Unsichtbarkeit all unserer Formen von Arbeit zu akzeptieren, ermöglicht uns der Streik, die Schranken dessen, was wir sind, was wir tun und was wir uns wünschen, zu hinterfragen und zu überwinden. Damit konstruieren wir hinsichtlich der Position von Opfern und Ausgeschlossenen einen historischen Wandel. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Praxis des Streiks die Neudefinition einer kraftvollen Form des Kampfes in einem neuen historischen Moment. Wir haben das politische Vermögen des Streiks, seine Sprachen und seine geografischen Räume gegenüber dem engen Modell, dem zufolge nur weiße, gewerkschaftlich organisierte Lohnarbeiter streiken können, erweitert. Daraus ergeben sich Fragen, die ihn in komplett neuer Form entstehen lassen: Welche Arten von Körpern, Territorien und Konflikten passen in den Streik, wenn er feministisch wird? Welcher Art von Allgemeinheit ist er verpflichtet?

Und daraus folgen noch viele weitere Fragen. Kann der feministische Streik den Klassenbegriff auf der Grundlage von Bewegungen und Kämpfen, die dieses Vokabular nicht verwenden, neu definieren?

Wenn wir den Klassenbegriff über Subalternität, Kolonialität und Differenz umformulieren – wie es bedeutende Theoriebildungen und Kämpfe aus verschiedenen Regionen des globalen Südens getan haben –, bedeutet das auch, wieder einmal eine lange marxistische Geschichte infrage zu stellen, die Homogenität als zentrale Eigenschaft von Klasse definiert und als objektives Ergebnis der Entwicklung des Kapitalismus die »Einheit« annimmt. Feminismen stellen durch den Streik die Grenzen dessen infrage, was als Arbeit definiert wird – und damit auch die Arbeiter*innenklasse. So öffnen sie die Kategorie wieder für neue Erfahrungen und zeigen ihre historisch ausschließende Bedeutung. Mehr noch: Der Streik erweitert feministische Erfahrungen und trägt sie in Räume, Generationen und Körper, die früher nicht Teil der feministischen Praxis waren. Darüber hinaus verweist er auf etwas, das über das »Patriarchat des Lohnes« und seine heteronormativen Spielregeln hinausreicht.

Als wogender, langwieriger Prozess kartografiert der Streik Konflikte, welche die starren Grenzen zwischen Leben und Arbeit, Körper und Territorium, Gesetz und Gewalt aufweichen. Der Streik wird zum praktischen Instrument der politischen Forschung und zu einem Prozess, der in der Lage ist, Transversalität zwischen sehr verschiedenen Körpern, Konflikten und Territorien zu konstruieren.

In Kapitel 2 analysiere ich die Diagnose, die aus der Verknüpfung unterschiedlicher Arten von Gewalt mit den aktuellen Bedürfnissen der Akkumulation von Kapital entsteht. Auf diese Weise versuche ich zu beschreiben, wie die Frage der Gewalt ihrer »Umzäunung« unter dem Konzept der »häuslichen Gewalt« und den Modi ihrer Hausfrauisierung durch die Reaktionsversuche von Institutionen, Nichtregierungsorganisationen bzw. philanthropischen und paternalistischen Umgangsformen entkommen ist. So wird es durch die von jenen Institutionen kritisierte Methode, »alles zu vermischen«, überhaupt erst möglich, die Beziehung zwischen sexueller Gewalt und finanzieller Gewalt, zwischen Gewalt am Arbeitsplatz und rassistischer Gewalt, zwischen Polizeigewalt und geburtshilflicher Gewalt nachzuzeichnen. Vor allem ist es diese Diagnose, die eine strategische Verschiebung erzeugt: ein Entkommen aus der Opferrolle, aus dem permanenten Klagen oder dem nekropolitischen Zählen von Femiziden, wie es uns auferlegt wird.

Dieser Argumentation folgend widme ich mich in Kapitel 3 der Vorstellung des Körper-Territoriums, einem Konzept, das von Compañeras aus Mittelamerika entwickelt wurde, um die Kämpfe gegen den Extraktivismus zu benennen, die mit dem Widerstand von Frauen begannen – insbesondere mit den Kämpfen von indigenen Frauen, Schwarzen Frauen und Frauen mit afrikanischen Vorfahren sowie Frauen aus verschiedenen feministischen Kollektiven. Außerdem nutze ich das Konzept, um zu analysieren, wie der Kampf in Argentinien für die Legalisierung der Abtreibung diese spezielle Forderung und ihre globalen Auswirkungen in der lateinamerikanischen Bewegung für die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen überströmt hat (Marea Verde – Grüne Flut[4]), und um zu verstehen, was zur Diskussion gestellt wurde, als sich die Töchter früherer Offiziere, die Massenmorde begangen hatten, von ihren Familien lossagten, während die Töchter und Nichten politischer Aktivist*innen ihrer Herkunft in einem rebellischen Verständnis treu blieben.

Kapitel 4 taucht in eine andere Genealogie ein – die Kämpfe der Erwerbslosen in Argentinien – und widmet sich der Frage: Was wurde von diesen Kollektiven erfunden, als sie inmitten der Krise 2001 reproduktive Aufgaben aus den vier Wänden des eigenen Haushalts nach draußen holten und mit ihren Töpfen und Pfannen auf die Straßen gingen, nicht um damit Lärm zu machen, sondern um gemeinschaftlich Mahlzeiten zu kochen und an die Hungrigen zu verteilen? Ausgehend davon umreißt das Kapitel eine Kritik der politischen Ökonomie aus feministischer Sicht, um einen wesentlichen Punkt zu diskutieren: die historische Affinität zwischen der popularen Ökonomie[5] (all jenen wirtschaftlichen Tätigkeiten, die über die sogenannte formale Wirtschaft hinausgehen) und der feministischen Ökonomik sowie die Arten, wie der Streik ihre gegenseitige affektive Verbindung unterstützt. Eine Debatte über Aspekte der Werttheorie aus der Perspektive der feministischen Ökonomik ist in diesem Schritt ein grundlegendes Element und erlaubt die Definition, dass sich die Bewegung als antikapitalistisch, antipatriarchal und antikolonial konstruiert hat. Außerdem ermöglicht sie die Verknüpfung der Kritik des Extraktivismus, der auf die Ausbeutung gemeinschaftlicher Ressourcen in unseren Regionen abzielt, mit einer Kritik des finanziellen Extraktivismus, der als allgemeine Verschuldung ausgeweitet wird.

Kapitel 5 widmet sich der Küche, in der der Streik zubereitet wurde: der Versammlung als Raum, in dem politische Vielfalt ihre Unterschiede ausarbeitet, in dem das Zuhören für Nähe sorgt, in dem der Rhythmus des Denkens das Atmen und die Gesten des Zusammenseins strukturiert.

Kapitel 6 entfaltet die These einer Feministischen Internationale: Welche Art Transnationalismus von unten baut die Bewegung auf? Was sind vielsprachige, migrantische, bewegliche Territorien, die den Internationalismus ausgehend von jedem Kampf zu einer konkreten Kraft verknüpfen? Die Verwurzelung der Feminismen, die kommunitäre Neuerfindung, der Feminismen Räume eröffnen, und die geografische Vorstellungskraft, die sie nähren, sind Teile einer Kartografie, die kontinuierlich erweitert wird.

Auf jeden Fall scheint der neofaschistische Gegenangriff, der auf die jüngste Allianz zwischen Neoliberalismus und Konservativismus zurückgeht, eine Reaktion auf diese spezifische Kraft zu sein. Kapitel 7 untersucht, wie die kirchliche Kampagne gegen die sogenannte »Gender-Ideologie« diese Kraft ins Visier nimmt, ebenso wie der moralische und ökonomische Kreuzzug, der zu massiver Verarmung führt und zugleich propagiert, der Anti-Neoliberalismus bestehe aus einer Rückkehr zur Familie und zur Arbeit für einen Chef.

Jedes dieser Kapitel schließt mit einem Exkurs: einer theoretischer orientierten Exkursion in Debatten, Ideen und Polemiken, die in irgendeiner Weise mit dem fraglichen Problem in Zusammenhang stehen. Doch kann dieser Exkurs auch für sich gelesen werden.

Abschließend setzt sich Kapitel 8 aus acht Thesen zusammen, die eine Synthese in Form eines Manifests bilden.

Beim Schreiben dieses Buches sind verschiedene Zeitlichkeiten eingeflossen, die einander überschneiden: Viele Passagen wurden geschrieben, während die Ereignisse stattfanden, weshalb der vereinheitlichende, retrospektive Blick fehlt. Doch wurde es in einem Rhythmus vorangetrieben, der entsteht, wenn wir den kollektiven Wunsch nähren, alles zu verändern.

Kapitel 1

#WirStreiken: Annäherung an eine politische Theorie des feministischen Streiks

Seit 2016 hat der Streik sukzessive verschiedenste Namen angenommen: »Nationaler Frauen*streik«, »Internationaler Streik der Frauen, Lesben, Travestis und Transpersonen«[6], »Internationaler und plurinationaler feministischer Streik« und sogar »Feministischer Generalstreik«.

Er wurde zu einer Erzählung verwoben, die ein bisschen verrückt ist und in ihrer Kraft und Kontinuität unermüdlich. Der Streik ist kein isoliertes Ereignis; er ist als Prozess strukturiert. In diesem Sinne ist er weiterhin im Gange und sein Ende bleibt offen. Innerhalb von weniger als drei Jahren (von Oktober 2016 bis März 2019) wurde der Streik zu einem Instrument, das der Bewegung von Frauen und widerständigen Körpern auf internationaler Ebene eine neue Richtung gegeben hat, die bis heute anhält.

In Argentinien wurde diese Bewegung von einem Slogan angetrieben – »Ni una menos« (»Keine weniger«) . Unter diesem Motto fand im Juni 2015 die erste Massenmobilisierung gegen Femizide statt. Ein knappes Jahr später mündete diese Mobilisierung im Streik mit dem Ruf: »Wir wollen lebendig und frei sein!«. Doch hat der Streik auch eine historische Akkumulation früherer Kämpfe auf die Bühne gebracht. Aus genealogischer Sicht ist hier auf vier Entwicklungen zu verweisen. Die erste ist die Frauenbewegung, deren wichtigste Referenz die Nationale Frauenkonferenz (Encuentro Nacional de Mujeres) ist, die in Argentinien bereits seit 1986 stattfindet. Dazu kommen Initiativen wie die Nationale Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung, die 2005 ins Leben gerufen wurde. Die zweite ist die Menschenrechtsbewegung, angeführt von den Müttern und Großmüttern vom Platz der Mairevolution (Plaza de Mayo) mit ihrer Kampagne für Wahrheit und Gerechtigkeit für jene, die in der Militärdiktatur der 1970er- und 1980er-Jahre »verschwanden«. Die dritte ist die lange Geschichte sexueller Emanzipationsbewegungen, angefangen bei der Front für Homosexuelle Befreiung (Frente de Liberacion Homosexual) über die lesbische Militanz der 1970er für den unabhängigen Zugang zu Abtreibungen bis hin zum Aktivismus von Transpersonen, Travestis, Intersexuellen und Transgendern. Die vierte ist die Entwicklung sozialer Bewegungen, insbesondere der Erwerbslosenbewegung, in denen die Beteiligung von Frauen im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte von grundlegender Bedeutung war. Im Verlaufe dieses Buches werde ich aus feministischer Sicht jede dieser Entwicklungen untersuchen und die Formen beleuchten, wie sie miteinander verbunden sind, einander kontaminieren und radikalisieren. Weil er auf diesen Kämpfen aufbaut, hat der Streik einen qualitativen Sprung bewirkt: Er hat die Mobilisierung gegen Femizide, die vormals auf die alleinige Forderung fokussiert war: »Hört auf, uns zu töten!«, zu einer radikalen Massenbewegung gemacht, die in der Lage ist, die Ablehnung von Gewalt auf neue Weise zu vernetzen und zu politisieren.

Als inmitten einer großen hitzigen Versammlung die Idee aufkam, einen »Streik« auszurufen, erkannten wir die Handlungsmacht einer Aktion, die es uns ermöglichte, aus der Trauer herauszutreten und dazu überzugehen, unsere Wut auf die Straßen zu tragen. Mit dem Wort »Streik« verbanden wir die Stärke, all unsere Stimmen zusammenführen und mit ihnen sprechen zu können: als Hausfrauen, Beschäftigte in der formellen und informellen Wirtschaft, Lehrer*innen, Mitglieder von Kooperativen, Erwerbslose, Teilzeit-Selbstständige, Vollzeitmütter, Aktivist*innen, Hausangestellte, Studierende, Journalist*innen, Gewerkschafter*innen, Beschäftigte im Einzelhandel, Frauen, die in ihrer Nachbarschaft Suppenküchen organisierten, und Frauen im Ruhestand. Wir kamen auf der Grundlage unseres Handelns zusammen und wurden in unserer Vielstimmigkeit als gemeinsame Basis zugänglich.

Durch den Streik begannen wir, praktische Zusammenhänge zwischen den Formen von Gewalt herzustellen, die in sexistischer Gewalt gebündelt sind: der ökonomischen Gewalt im Lohngefälle und in den unzähligen Stunden nicht anerkannter, unbezahlter Hausarbeit sowie der Disziplinierung, die aus fehlender ökonomischer Autonomie resultiert, der Gewalt der Ausbeutung und ihrer Übertragung in den Haushalt als männliche Impotenz, die in Situationen »häuslicher« Gewalt implodiert, der Gewalt der Mittelkürzung und des Raubbaus an öffentlichen Dienstleistungen, die zu Belastungen in Form von zusätzlicher Gemeinschaftsarbeit führen. Auf diese Weise haben wir gezeigt, wie machistische Gewalt weit über den Gender-Aspekt hinausreicht.

Indem wir das Wort »Streik« verwendeten, begannen wir, Verbindungen zu knüpfen zwischen der Führungsrolle von Frauen in popularen Ökonomien (wo sie ebenso kriminalisiert wie hyper-ausgebeutet werden), in Konflikten über die Nutzung urbaner Räume und Kämpfen gegen die extraktivistischen Megaprojekte, die in indigene und kommunitäre Territorien vordringen, begleitet von Gewalt gegen jene Frauen, die diese Bewegungen zur Verteidigung ihrer Territorien anführen. Die Verknüpfung des Streiks mit diesen Themen verschafft uns auch Zeit für uns selbst: zum Nachdenken und Handeln, zum Trauern und Kämpfen; damit wir sagen können: Es reicht! – und damit wir einander finden.

In diesem Kapitel betrachte ich den Streik als neue Form einer praktischen Kartografie der feministischen Politik, die heute massenhaft auf die Straße drängt. Weil sich der Streik als praktischer Horizont und zugleich als analytische Perspektive aus dem Kampf ergibt, konnte er einen breiten und anti-neoliberalen Feminismus von unten hervorbringen, der vernetzte Systeme ökonomischer Gewalt mit der Gewalt in Verbindung bringt, die auf Frauenkörper und feminisierte Körper abzielt.

Wie konnte eine Bewegung, die von Subjekten und Erfahrungen geleitet wurde, die nicht in das traditionelle Arbeitskonzept passen, den Streik neu erfinden und transformieren? Warum übersetzt der Streik, wenn wir ihn uns von der Arbeiter*innenbewegung zurückholen, neue Grammatiken der Ausbeutung in neue Grammatiken des Konflikts im Hier und Jetzt? Wie kann der Streik in seinen erweiterten Bedeutungen den Zusammenhang zwischen häuslicher Arbeit und finanzieller Ausbeutung herstellen? Warum ermöglichte der Streik eine neue Art der internationalen Koordination?

Als Prozess verwebt der Streik die sich intensivierende Auflehnung zu vielseitigen Formen: unterschiedliche Arten von Protest und Versammlungen, variierende Verwendungen des Streiks oder auch Besetzungen diverser Arbeits- und Nachbarschaftsräume. Auf der Grundlage dieser Vielfältigkeit nimmt das Konzept des Generalstreiks eine andere Bedeutung an, was weitere Fragen aufwirft: Wie zeigt die Vielfalt von Aktionen in Verbindung mit der Streikidee aus feministischer Sicht Formen der Ausbeutung und Wertextraktion, die heute nicht mehr ausschließlich in Bereichen konzentriert sind, die als »Arbeit« anerkannt werden, und sabotiert sie? Wie bringt der Streik eine Art der politischen Subjektwerdung zum Ausdruck, eine Möglichkeit, Grenzen und die Schranken des Möglichen zu überschreiten?

An diesen Fragen zeigt sich, dass die Sichtweise durch die Linse des feministischen Streiks auch dazu dient, die Umgestaltung des heutigen Kapitalismus mit seinen spezifischen Arten der Ausbeutung und Wertextraktion zu verstehen, ebenso wie die Dynamiken, die ihm Widerstand leisten, ihn sabotieren und infrage stellen. Der Streik ist ein Weg, die Kontinuität der Produktion von Kapital zu blockieren, die als gesellschaftliche Beziehung verstanden wird. Der Streik ist auch ein Akt des Ungehorsams gegen die konstante Enteignung unserer Lebensenergien, die uns durch ermüdende Routinen geraubt werden. Somit ergeben sich noch weitere Fragen: Was ergibt sich für die Streikpraxis selbst, wenn der Streik auf der Grundlage von Empfindungen verstanden und umgesetzt wird, die nicht von vornherein als einer Klasse zugehörig anerkannt sind und deshalb genau das Konzept von Klasse hinterfragen? Wie kartografiert diese »Verschiebung« des Streiks, seine Verwendung an anderer Stelle, die Räumlichkeiten und Zeitlichkeiten von Produktion und Antagonismus neu?

Eine feministische Sichtweise auf die Heterogenität von Arbeit

Der Streik wird zu einem konkreten Gefüge um die Gewalt gegen Frauen und feminisierte Körper zu politisieren, weil er sie mit der Gewalt der heutigen kapitalistischen Akkumulation in Zusammenhang setzt. In diesem Sinne erzeugt der Streik eine Weltkarte: Er macht grenzüberschreitende Kreise und organische Beziehungen zwischen Akkumulation und Gewalt sichtbar. Um den Streik einzuberufen, haben wir den Slogan #NosotrasParamos (#WirStreiken) eingeführt. Damit haben wir dieses traditionelle Instrument der organisierten Arbeiter*innenbewegung zur Mutation gezwungen. Durch seine neue Zusammensetzung, Einordnung und Nutzung kann der Streik nun auch jenseits des Handlungsrahmens von Gewerkschaften (und ihrer Ökonomie der Sichtbarkeit, Legitimität und Anerkennung) Leben und Arbeit widerspiegeln.

Der Streik in seiner durch den gegenwärtigen Feminismus neu erfundenen Form zeigt, wie Prekarität ein gemeinsamer Zustand ist, aber auch einer, der durch Klassendiskriminierung, Sexismus und Rassismus differenziert wird. Er wird zu einem Instrument, mit dem wir verstehen können, wie eng Gewalt und die Ausbeutungsformen des heutigen Kapitalismus beieinander liegen, und er verwandelt den Feminismus heute in eine Organisationsform, eine Praxis von Allianzen und ein transversales und expansives Narrativ.

Was bedeutet es, die Gewalt durch den Streik zu politisieren? Zunächst heißt das, den Streik als Aktion zu verstehen, die uns als politische Subjekte gegenüber einem systematischen Versuch situiert, unseren Schmerz auf die Position eines Opfers zu reduzieren, dem Wiedergutmachung zusteht (in der Regel durch den Staat). Ein Opfer zu sein, erfordert daher einen Glauben an den Staat und setzt Erlöser*innen voraus. Der Streik versetzt uns in eine Kampfsituation. Er vergisst die Bedeutung von Trauer nicht, entlässt uns aber aus dem »Zustand« des Trauerns.

Zweitens ist der Streik eine Übung der massenhaften Aussetzung und Sabotage der politischen und ökonomischen Ordnung (in Argentinien waren bei jeder der Demonstrationen nach den Streiks im Oktober 2016 und März 2017 eine halbe Million Frauen mobilisiert; im März 2018 beteiligten sich rund 800.000 Frauen und im März 2019 war es im Anschluss an noch größere Mobilisierungen für die Legalisierung der Abtreibung eine ähnliche Zahl). Aber wer trat da eigentlich in Streik und mobilisierte? Das waren nicht jene Arbeiter*innen, die traditionell als solche anerkannt werden, sondern es war vielmehr die Heterogenität der historisch unsichtbar gemachten Arbeit. Die Kartografie des Streiks wird damit zu einem Instrument, das Hierarchien der Arbeit aus einem feministischen Verständnis heraus sichtbar macht und Formen prekärer, informeller, häuslicher und migrantischer Arbeit Sichtbarkeit und Wert verleiht. Damit wird eine solche Arbeit nicht mehr als ergänzend oder subsidiär zur Lohnarbeit betrachtet, sondern es wird aufgezeigt, wie sie für heutige Formen der Ausbeutung und Wertextraktion grundlegend und zudem für den prekären und eingeschränkten Zustand kollektiver Versorgung konstitutiv ist.

Drittens hat der Streik einen organisatorischen Horizont geschaffen, der verschiedenste Realitäten beherbergen kann, die im Zusammenspiel die Dynamik dessen, was wir als Streik bezeichnen, umgedeutet, hinterfragt und aktualisiert haben.

In Argentinien spielen die Gewerkschaften eine sehr wichtige Rolle: Rund zwei Drittel der Lohnarbeiter*innen im Land sind gewerkschaftlich organisiert. Vor diesem Hintergrund wurde die historische Bedeutung des Streiks durch seine feministische Neuerfindung transformiert. Erstens wurde revolutioniert, wer einen Streik einberufen konnte: Er war nicht länger eine Anordnung von oben (seitens der gewerkschaftlichen Hierarchie), der sich Arbeiter*innen einfach nur anschlossen oder die sie erfüllten. Stattdessen ist der Streik heute zu einer konkreten und situierten Fragestellung geworden: Was bedeutet es, aus jeder einzelnen Position heraus zu streiken? Eine erste Phase dieses Narrativs besteht in der Erklärung, warum Frauen nicht zu Hause in Streik treten können oder als Straßenverkäuferin oder Gefangene oder Freiberuflerin (indem wir uns also als diejenigen identifizieren, die nicht streiken können). Schließlich gibt es keinen eindeutigen oder benennbaren Vorgesetzten, niemanden, mit dem wir unmittelbar verhandeln könnten, und keine klar definierten Arbeitszeiten, in denen wir streiken könnten. Doch ergibt sich aus dieser Unmöglichkeit auch eine Stärke: Durch diese Erfahrungen sind wir gezwungen, dem eine neue Bedeutung zu geben und das auszuweiten, was suspendiert wird, wenn der Streik diese Realitäten unterbringen muss. Damit wird der gesellschaftliche Bereich ausgeweitet, in dem der Streik eingeschrieben ist und in dem er Auswirkungen zeigt.

In einer kollektiven Forschungs- und Aktionsintervention fragte das Madrider Kollektiv Precarias a la Deriva 2005: Was ist dein Streik?[7] Wir knüpfen an diese Frage an, nun jedoch massenhaft, und radikalisieren sie im Widerstand gegen die Offensive sexistischer Gewalt, die uns in einen Zustand der Versammlung und des dringlichen Handelns versetzt. »Wie streiken wir?« – ist eine konkrete Frage, die den Streik multipliziert: So wurde der Aufruf in Paraguay für den Protest gegen die Vergiftung von Communitys mit Pestiziden genutzt. In Honduras und Guatemala fand er intensive Unterstützung im Aufruf gegen »territoriale Femizide«, die auf Community-Aktivist*innen abzielten. In Kolumbien griffen Frauen der FARC-Guerillabewegung den Aufruf in einem Kommuniqué auf, das sie mit #NosMueveElDeseo (#UnsBewegtDerWunsch) unterzeichneten und in dem sie ankündigten, im Dschungel zu streiken. In Brasilien beleuchteten die Forderungen der Streikenden die Vorstöße der Kirche gegen Kämpfe für körperliche Autonomie. Dieser organisatorische Horizont, der dieser Dynamik offener Konflikte innewohnt, rückt die Dimensionen von Klasse, Antikolonialismus und Masse des Feminismus wieder in den Mittelpunkt, denn die Situationen, die das Instrument des Streiks von innen heraus revolutionieren, sind jene, die der Streik nicht berücksichtigen würde, wenn er nur für freie, bezahlte, gewerkschaftlich organisierte, maskuline Arbeitskräfte mit definiert begrenzten Aufgaben Gültigkeit hätte.

Mit seinem Vermögen zur Abweichung und seinen örtlichen Verschiebungen hat der Streik ermöglicht, Formen der Ausbeutung der Arbeitskraft aus Sicht der Auflehnung zu kartografieren. So werden durch den feministischen Blickwinkel Territorien und essenzielle Netzwerke sichtbar gemacht und mit Wert versehen. Diese Sichtweise wurde auf der Grundlage einer gemeinsamen und transnationalen Aktionsart ausgearbeitet und hat eine Analyse in Form einer Diagnose hervorgebracht, die in der Versammlung entsteht und nicht rein analytisch ist. Die praktische Übung, die Frage der situierten Recherche, bestand und besteht darin, die nicht anerkannten und unbezahlten Arten zu kartografieren, wie wir Wert produzieren, und ein vielseitiges kollektives Bild dessen zu zeichnen, was wir Arbeit, Territorium und Konflikt nennen.

Dem Streik von Frauen, Lesben, Travestis und Transpersonen wohnt eine Kraft inne, die über den Lohnarbeitsbereich hinausgeht, denn was durch die Sabotage paralysiert und infrage gestellt wird, ist weit mehr als nur ein Job. Zumindest für ein paar Stunden wird eine Lebensweise nicht anerkannt, in der dieser Job ein Element von vielen ist, die Rollen der geschlechtlichen Arbeitsteilung werden lahmgelegt, die politische Willkür, die die Grenzen zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit zieht, wird beleuchtet und die historischen Kämpfe zwischen Eingesperrtsein und Autonomie, zwischen Anerkennung und Bruch werden aufgezeigt.

Der Streik reicht über die Arbeitsfrage hinaus und integriert sie. Er lässt sie nicht außen vor, sondern definiert sie neu und bringt sie zugleich auf den aktuellen Stand; er problematisiert und kritisiert sie in Beziehung zum Gehorsam. Der Streik multipliziert die Reichweite dieser Frage, ohne ihre historische Intensität zu verwässern. Er geht über sie hinaus, weil er die Wirklichkeiten nicht-entlohnter, nicht anerkannter, unbezahlter Arbeiten einschließt, die mit Formen häuslicher, reproduktiver, obligatorischer und unentgeltlicher Arbeit zu tun haben, aber auch mit Arbeit im Zusammenhang mit popularen Ökonomien und selbstorganisierten Formen der Reproduktion des Lebens. Der Blick auf die Arbeit aus feministischer Sicht ermöglicht uns daher, über eine Politik dieser Reproduktion nachzudenken, die an die häuslichen, sozialen, nachbarschaftlichen, ländlichen und suburbanen Territorien und ihr hierarchisiertes Zusammenspiel mit dem als »Arbeit« anerkannten Territorium anknüpft und sie durchdringt.

Der Streik übertrifft und integriert die Arbeitsfrage auch deshalb, weil wir gegen die Strukturen und Zwänge streiken, die die Kapitalverwertung möglich machen. Diese Zwänge (von der heteropatriarchalen Familie zur erzwungenen Mutterschaft, von der illegalisierten Abtreibung zur Sexualerziehung) sind keine rein kulturellen oder ideologischen Fragen, sondern entsprechen den vielfältigen Überschneidungen von Patriarchat, Kolonialismus und Kapitalismus. Daher sind für die feministische Ökonomik als erweiterte und radikale Kritik der patriarchalen Auffassung von »Wirtschaft« genau jene Elemente wesentlich, die als »nicht-ökonomisch« gelten.

In diesem Sinne wird der Streik zu einer Triebkraft für Transversalität: Er ist nicht mehr nur ein spezifisches Instrument, dessen Legitimität und Gebrauch entlohnten und gewerkschaftlich organisierten Sektoren vorbehalten ist, verbunden mit dem »polizeilichen Materialismus« einiger Gewerkschaften (wie es Rosa Luxemburg formuliert hat), sondern wird für Realitäten und Erfahrungen, die vermeintlich aus der Arbeitswelt »ausgeschlossen« sind, zur Formel der Auflehnung. Eine solche Transversalität fordert somit die vermeintliche Unmöglichkeit des Streiks heraus und zeigt seine möglichen Einsatzgebiete, indem er in andere Territorien verlagert wird, wo er eine legitime Abweichung ist und eine neue, praktische Handlungsmacht beansprucht.

Wir könnten sagen, dass der feministische Streik drei Dimensionen zum Ausdruck bringt, die sich sequenziell von Streik zu Streik verstärkt haben. Erstens: Der Streik konstituiert sich als Prozess, nicht als Ereignis. Das impliziert, dass die Zeit des Streiks als Zeit der Organisierung, des Gesprächs, des Aufbaus eines gemeinsamen Netzwerkes, der Koordination in der Versammlung realisiert wird. Außerdem schafft der Streik Subjektivierungen, die durch die Begegnung miteinander und die Anstrengung, organisiert zu bleiben, eine neue Art von Radikalität entwickeln. Der Streik ist weder ein losgelöstes und isoliertes Datum im Kalender noch erschafft er ein Ereignis, das einem Selbstzweck dient.

Zweitens: Der Streik produziert Intersektionen zwischen Kämpfen und erzeugt transnationale Verbindungen. Dies geschieht durch die Einbeziehung einer Klassendimension, indem die Gewalt gegen Frauen und feminisierte Körper mit Formen der Ausbeutung der Arbeitskraft, Polizei- und Staatsgewalt und Angriffen von Unternehmen auf gemeinsame Ressourcen in Zusammenhang gesetzt wird. Somit erweitert der Streik die Dimensionen der Konfliktivität, indem er Identitätsfragen einschließt und zugleich über ihr neoliberales, multikulturelles Verständnis hinausgeht. Der Streik kartografiert soziale Konflikte in der Praxis neu. Durch die Deliberalisierung der Politik von Anerkennung, Quoten und identitären Fallen betrachten die popularen, indigenen, kommunitären, peripheren, in Armenvierteln beheimateten und Schwarzen Feminismen aus Lateinamerika somit die Prekarität der Existenz als eine Folge, die untrennbar mit Enteignung und Ausbeutung verbunden ist.

Drittens: Wenn wir aufgrund all dessen über die Geografie von Angst und Risiko sprechen (weil viele von uns eine Karte mit Warnungen bei sich tragen, die uns auf multiple Formen von Missbrauch und Gewalt aufmerksam machen), bezieht sich das auf eine Angst, die nicht in einen Opferdiskurs, sondern in strategische Fähigkeit übersetzt wird. Die Karte mit den Empfindungen der verschiedenen Formen von Ausbeutung, die tagtäglich in der Verbindung mit anderen erlebt werden, nährt radikale Denkweisen über das Territorium und insbesondere über den Körper als Territorium (Körper-Territorium).

Unser ‘17

Vor dem Streik in unserem Revolutionsjahr 2017 erstreckt sich serpentinenartig die Entwicklung eines Jahrhunderts. Unser Streik knüpft an den Streik vom 8. März 1917 an, als die Textilarbeiterinnen in Petrograd gegen die Härten des Krieges und das Zarenreich protestierten, und ist sein Echo. Mit der Ausweitung und Radikalisierung jenes Streiks begann die Russische Revolution. Ein weiterer Ursprung ist weniger weit entfernt. Vielleicht begann sich der Streik unseres Revolutionsjahres ‘17 in den Maquilas zusammenzubrauen, jenen riesigen Fertigungsbetrieben, die entlang der Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten verstreut sind. Dorthin haben sich viele von uns gewandt, um zu verstehen, was jedes Mal, wenn eine dieser Arbeiterinnen getötet wurde, auch in uns getötet wurde. Es waren jene ermordeten Frauen, die Ciudad Juárez als Ballungsraum einer wahren »Femizid-Maschine« berüchtigt machten.[8] Welche Art von Freiheit nahmen sich diese jungen Frauen, als sie zu jenen Produktionsstätten migrierten, die Teil einer grausamen Mordserie wurden und zugleich für das globale Kapital wesentlich sind? Diese Frage hat sich in jede von uns eingebrannt. Wir sind ihre Zeitgenossinnen, und in gewisser Weise markiert die Maquila den Beginn des feministischen Streiks, in dem wir als Streikende eine führende Rolle gespielt haben und über den wir jetzt nachdenken müssen.

Es hätte 2017 keinen internationalen Streik von Frauen, Lesben, Transpersonen und Travestis geben können ohne die erweiterte Geografie von Ciudad Juárez, ohne unsere Ängste und unsere Wünsche, die sich dort vermischt haben, im Rhythmus der flexibilisierten Produktion und der Grenze, unserer Praktiken des Entkommens und der Ausbeutungsbedingungen, die zu ertragen wir uns niemals hätten vorstellen können, aber die wir zu konfrontieren beschlossen. Wer wird in Ciudad Juárez ermordet? Julia Monárrez erklärt: »Betroffen sind überwiegend junge Frauen. Das sind Women of Color, Studentinnen, Arbeiterinnen, Mädchen, aber alle sind ökonomisch marginalisiert.«[9]

Der 8. März erinnert auch an andere junge migrantische Frauen: an jene Arbeiterinnen aus Ausbeutungsbetrieben, die beim Aufstand der Zwanzigtausend in Streik traten und später im März 1911 beim Brand in der New Yorker Bekleidungsfabrik Triangle Shirtwaist Factory ums Leben kamen. Damit bündelt dieses Datum auf diskontinuierliche Weise die Erinnerung an den Protest und die Organisation dieser Arbeiterinnen mit den Arbeiterinnen von Juárez und der Kraft, die der Internationale Frauen*streik 2017 als gemeinsame Aktion in 55 Ländern vorantreiben konnte. In ihren Wiederholungen am 8. März 2018, am 8. März 2019 und erneut im März 2020 führte diese Organisationsform noch weitere organisatorische Ebenen zusammen.

Wenn wir vom internationalen feministischen Streik sprechen, beziehen wir uns auf eine transnationale Maßnahme, die aber keineswegs abstrakt ist. Der feministische Streik folgt der Genealogie, die bei der Maquila beginnt, und bringt damit das Bedürfnis zum Ausdruck, über jene Körper zu trauern, die nur als Abfolge von Leichen sichtbar werden, von Entsetzen umgeben, stets anonym, die in jedem Femizid in Lateinamerika mitschwingen, dessen Raten sich im letzten Jahrzehnt vervielfacht haben.

In den vergangenen fünf Jahren haben feministische Kämpfe auch die Fähigkeit entwickelt, diese Morde nicht mehr als Sexualverbrechen, sondern als politische Verbrechen zu analysieren und zu verstehen.[10] Wenn wir erschüttert die Zahl der Todesfälle lesen, die sich zwischen der Fabrik, dem Nachtklub, der Akkordarbeit und der Grenze wiederholen, verstehen wir etwas, das uns mit diesen Frauen verbindet, selbst in einer Wüste, die wir noch nie gesehen haben, aber die sich für uns nahe anfühlt. Denn etwas von dieser Geografie findet sich in einer Nachbarschaft am Stadtrand wieder, in einem Armenviertel, das ebenfalls mit inoffiziellen Textilwerkstätten übersät ist, in einem Nachtklub jenseits der Stadtgrenzen, in den Wohnstätten, die durch häusliche Gewalt implodieren, in den Risiken, die Migrant*innen auf sich nehmen, und in den Communitys, die von Megaunternehmen des transnationalen Kapitals vertrieben werden. Durch die Komposition eines gemeinsamen Körpers entsteht eine Art Resonanz: eine Politik, die den Körper einer einzelnen Frau zum Körper aller macht. Das ist es, was uns zu diesem alten Slogan hinzieht, der auf keiner Demonstration fehlt: »Si tocan a una nos tocan a todas!« – »Wenn sie eine von uns anrühren, rühren sie uns alle an!« Dann verstehen wir, dass es im Leben der Frauen von Juárez etwas gibt, das in unser aller Leben existiert: den Impuls eines Wunsches nach Unabhängigkeit, eine Entscheidung, sich ein Schicksal zu schmieden und darauf zu setzen im Vertrauen auf die eigene Vitalität, die Fantasie und Verzweiflung, die Bewegung und Risiko befeuern. In unserem argentinischen Kollektiv Ni Una Menos sehen wir die Entscheidung zum Streik auch als Entscheidung, die sich auf unsere Mobilität und unseren Wunsch nach Autonomie bezieht. #NosMueveElDeseo: Uns bewegt der Wunsch. Die Entscheidung ist also politisch. Indem wir den Impuls der Bewegung benennen, explizieren wir den subjektiven Ort, an dem wir politische Kraft verorten. Die Formulierung wurde hier und da vervielfältigt, im Dschungel und in den Stadtvierteln, in den Schulen und bei Demonstrationen, zu Hause und in Versammlungen. Sie benannte eine allgemeine Wahrheit. Und sie ermöglichte es, uns von verschiedenen Räumen, Wegen und Erfahrungen aus zu koordinieren, um eine spezifische Verbindung herzustellen zwischen Bewegen und Anhalten, Blockieren und Transformieren, Streiken und dem Entfernen unserer Körper und unserer Energien aus der von täglicher Gewalt befeuerten Reproduktion von Kapital. Die Slogans, die die Streikinitiative begleiteten, fassen ein gemeinsames Gefühl zusammen, das hier und dort geteilt wird: »Wenn unsere Arbeit nicht wertgeschätzt wird, produziert doch ohne uns!« »Wenn wir stillstehen, steht die Welt still!«

Der feministische Streik antwortet – mit einer politischen Sprache und Aktionsform – auf eine Form von Gewalt gegen Frauen und feminisierte Körper, die darauf abzielt, uns politisch zu negieren und zu neutralisieren. Diese Art der Gewalt versucht, uns auf die Rolle von Opfern zu reduzieren (wobei uns zumeist auch noch indirekt die Schuld für die von uns erlittene Gewalt zugeschoben wird). Indem wir unsere Aktivitäten unterbrechen und aus unseren Rollen heraustreten, indem wir unsere Gesten aussetzen, die patriarchale Stereotype bestätigen, nutzen wir das Instrument des Streiks, um eine vielfache Gegenmacht gegen die femizidale Offensive aufzubauen, die eine spezifische Intersektion verschiedener Formen von Gewalt synthetisiert.

Daraus ergibt sich, dass femizidale Gewalt nicht allein auf häusliche Gewalt beschränkt ist. Neue Formen der Verschuldung zur Sicherung des täglichen Überlebens sind ebenso Teil der Gewalt einer Prekarität, die Gewalt in der Familie auslöst. Machistische Gewalt bringt eine Impotenz zum Ausdruck, die auf das Zurschaustellen eines Wunsches nach Autonomie (in fragilen und kritischen Kontexten) durch feminisierte Körper reagiert. Dieser Wunsch nach Autonomie wird unmittelbar als Praxis der Unterwanderung männlicher Autorität verstanden, auf die sie mit neuen Dynamiken der Gewalt reagiert, die sich nicht mehr nur auf »Gewalt in der Partnerschaft« reduzieren lassen.

Ciudad Juárez reicht auf diese Weise weit über Mexiko hinaus, weil die Stadt als eine Art Labor fungiert und vorwegnimmt, wie eine bestimmte Arbeits- und Migrationsdynamik von Frauen eine politische Dynamik (eine Reihe von historischen Kämpfen) der Flucht aus der häuslichen Verbannung zum Ausdruck bringt, die vom transnationalen Kapital ausgenutzt wird. Es ist ein Wunsch nach Entkommen, den die kapitalistische Maschinerie ausbeutet, wobei sie sich die Sehnsucht nach allgemeinem Wohlstand als Treibstoff zunutze macht, um sie in enteignende Formen von Arbeit, Konsum und Schulden zu überführen – und auf ihrem Höhepunkt zur Femizid-Maschine wird.

Anhand dieser zeitlichen und geografischen Verschiebungen möchte ich eine wichtige Neuerfindung des Streiks erklären, mit der eine neue Ursprungsgeschichte erschaffen wird, die sich auf seine Erzeugung von Nähe zwischen chronologisch und räumlich entfernt scheinenden Kämpfen bezieht. Die Bewegung geht hier in zwei Richtungen: die Herstellung von Verbindungen zwischen Kämpfen, die weder spontan noch natürlich sind und die nicht auf einer rein analytischen Ebene, sondern durch Auflehnung erzeugt werden.

Diese Dynamik, das Knüpfen von Verbindungen, wird auch in einer Fülle von Zeiten und Räumen des Schaffens sichtbar. So wird zum Beispiel in einem 2015 von inhaftierten Frauen in Mexiko verfassten Fanzine mit dem Titel Mujeres en huelga, se cae el mundo (Frauen im Streik, die Welt bricht zusammen) der Beginn des feministischen Streiks aus dem Gefängnis heraus fiktionalisiert.[11] Diese Verschiebungen des Streiks erschließen auch die Bedeutungen seiner Verortung, seiner örtlichen Politik und seiner zeitlichen Aneignung. Davon berichtet die intellektuelle Aktivistin Raquel Gutiérrez Aguilar aus ihrer Zeit im bolivianischen Gefängnis Obrajes in der Stadt La Paz, wo der Streik die Möglichkeit einer anderen Art von politischer Gemeinschaft ausdrückt.[12] Somit wird der Streik zu einem Instrument der Verweigerung und Ablehnung, das Situationen transversal durchläuft und sie gleichzeitig zusammensetzt, wobei er von Subjektivitäten ausgeht, die in den Sphären von Arbeit und Politik historisch ausgeschlossen oder untergeordnet waren.

Der erste Frauen*streik

#NosotrasParamos (#WirStreiken) war der Slogan, den wir mit Ni Una Menos aus der Taufe hoben und der später mit anderen Slogans verwoben wurde. Zu sagen, dass »wir streiken«, war eine Aufhebung und eine Befähigung zugleich. Streiken ist eine negative Geste, eine Blockade, die uns aber in einen fragenden Zustand versetzt: Was tun wir, wenn wir streiken? Was wird angehalten, wenn wir streiken? Welche anderen Dinge können wir dank dieser Form des Streikens tun?

Die feministische Bewegung hat Worte, die aber nicht starr sind, so als ob sie im Umlauf seien und hier und da Bedeutungen einsammelten. Es ist wichtig, den Streik nicht als »leeren Signifikanten« zu betrachten, wie er von jenen bezeichnet wird, die der These des argentinischen Theoretikers Ernesto Laclau zustimmen: jener Art von Begriff, dem mangels seiner Definition in einer linguistischen Deklination logischer und diskursiver Zusammenhänge alles zugeschrieben werden kann.[13] Der Streik kann transversal sein, er kann so vielen Arten von Menschen eine kollektive Stimme geben, genau weil er in der gemeinsamen Materialität unserer Prekarität verwurzelt ist. Es sind diese gemeinsamen Bedingungen, die dem Streik seine Bedeutung verleihen, und nicht umgekehrt (als ob Realitäten diesen Signifikanten erfordern würden, damit sie in ihrer gemeinsamen Komposition verstanden werden können).

Der erste nationale Frauen*streik in Argentinien fand am 19. Oktober 2016 im strömenden Regen statt, wenige Wochen nachdem Frauen in Polen für ihr Recht auf Abtreibung gestreikt hatten. Er wurde als vibrierender Klang erlebt, aus dem etwas entstand, was die Psychoanalytikerin Suely Rolnik als riesigen »Resonanzkörper« bezeichnet hat.[14] Was als Beben vernommen wurde, war der Laut, der beim Rufen durch die Bewegung der Hand über den Mund erzeugt wird. Das Heulen eines Rudels. Eine kriegerische Stimmung. Ein beschwörender Schmerz. Ein sehr alter und doch sehr neuer Ruf, verbunden mit einer bestimmten Art des Atmens.

An diesem Tag beklagten wir den – in kolonialer Manier verübten – Mord an der 16-jährigen Lucía Pérez in der Stadt Mar del Plata.[15] Sie war vergewaltigt, gefoltert und brutal ermordet worden, während zeitgleich 70.000 Frauen, Lesben, Transpersonen und Travestis bei der Nationalen Frauenkonferenz in Rosario zusammenkamen, dem größten Treffen dieser Art in seiner 33-jährigen Geschichte. Als die Konferenz im Jahr zuvor in Mar del Plata stattgefunden hatte, war es am letzten Tag zu brutalen Repressionen gekommen, und auf dem Heimweg erhielten wir Nachricht vom Travestizid an Diana Sacayán.[16]

Von dem Verbrechen an Lucía hatten wir am Abend des 12. Oktober erfahren, jenem Datum, an dem der Eroberung Amerikas »gedacht« wird. Die koloniale Symbolik schien somit zwischen den Zeilen eingeschrieben: Sowohl die Methode als auch das Datum ihrer Ermordung schienen Spuren zu enthalten, die im kollektiven kolonialen Unterbewusstsein nachklingen.

Nach einer Welle der Entrüstung in den sozialen Medien machte eine Nachricht von Ni Una Menos die Runde: »Lasst uns in einer Versammlung treffen.« Als wir das Verbrechen sahen, spürten wir die Notwendigkeit, uns von Angesicht zu Angesicht zu sehen, um dem Terror und der Lähmung etwas entgegenzusetzen. Ein Verbrechen, das als exemplarisch und instruktiv dargestellt werden sollte, ermöglichte es uns, über das virtuelle Klagen hinauszugehen. In dieser Versammlung tat sich die kraftvolle Idee des Streiks auf. Auch wenn eine solche »Kampfmaßnahme« in nur einer Woche unmöglich organisierbar schien (was vielen Menschen, die nicht anwesend waren, sogar irrational vorkam!), wurde der Streik in der Versammlung selbst als vollkommen möglich und realistisch erachtet. Die Versammlung, die in einem Lager der Konföderation von Arbeiter*innen der Popularen Ökonomie (Confederación de Trabajadores de la Economía Popular, CTEP)[17] im Stadtviertel Constitución in Buenos Aires abgehalten wurde, erzeugte eine andere Art von Rationalität und erfand ihre eigene Form der Entscheidungsfindung – und noch etwas: Sie erfand Wege, um diese Entscheidung in die Praxis umzusetzen. Ich möchte den Realismus der Versammlung als Formel vorschlagen: In diesem Raum findet eine kollektive Bewertung von Stärke statt, und hier existiert die Fähigkeit, Möglichkeiten zu entwickeln, die vor der Versammlung als Ort der Begegnung nicht existierten. Doch ist die Versammlung auch ein Gefüge, das in der Lage ist, die Risiken und Bedrohungen vorherzusehen und letztlich zu bannen, mit denen versucht werden soll, diese gemeinsame Kraft einzufangen. Auch in diesem Sinne beziehe ich mich auf einen Realismus: Die Versammlung ist nicht nur ein enthusiastisches Fest der Begegnung und damit eine »Illusion« von Stärke, sondern ein Konstrukt der Wahrnehmung-Bewertung, das Verantwortung für Schranken übernimmt, ohne sie a priori als Beschränkungen zu akzeptieren.

Was ist zu tun (und was nicht)?

Der Streik hat eine Zeitlichkeit, die eine Verweigerung wirksam in die Praxis umsetzt: Er ist eine Form, »Es reicht!« zu sagen zu der Gewalt und zu der Art, wie uns die Zeit durch die Finger rinnt; er ist eine Ablehnung der physischen und psychischen Erschöpfung, die wegen unserer Anstrengung, die Prekarität zu mildern, nie nachlässt. Er bedeutet, »Nein!« zu sagen zu der Tatsache, dass sich die Menge der von uns ausgeführten Aufgaben nicht in ökonomischer Unabhängigkeit niederschlägt, sondern stattdessen als obligatorische und unentgeltliche Arbeit verstärkt wird. Er ist eine Verweigerung der Unsichtbarkeit unserer Anstrengungen und unserer Arbeit und stützt sich auf die Erkenntnis, dass diese Unsichtbarkeit ein politisches Regime strukturiert, das auf einer systematischen Abwertung dieser Aufgaben beruht.

Der Streik bricht insofern mit seiner eigenen Zeitlichkeit als »Datum«. In der Maquila ist eine erste Vorstellung von ihm entstanden – weil sich die Imagination aus einer derartigen Enge befreien kann. Diese Vorstellung setzte sich zu Hause fort, sickerte in Versammlungen durch, wurde in Gewerkschaften und Stadtteil-Suppenküchen debattiert – und so wurde die Streikidee zum kollektiven Atem auf den Straßen. Doch gebraut wurde sie schon in früheren Zeiten der Sabotage, die in alten Erinnerungen verwahrt sind. Welche Erfahrung von Zeit hat also der feministische Streik erzeugt? In welcher Hinsicht können wir Gewalt gegen Frauen und feminisierte Körper als Angriff des Kapitals analysieren? Wie reagieren wir auf staatliche Regulierungen, die unsere Gesten und unsere Sprache einschränken? Wie können wir unsere feministischen Kämpfe innerhalb des popularen und autonomen Horizonts, den der Streik genährt hat, weiter stärken?

Der feministische Streik ist – anders als der traditionelle Arbeitskampf (der maskulinen, entlohnten und gewerkschaftlich organisierten Arbeiterbewegung) – nicht allein an »Berufe« gebunden. Er bezieht sich zur gleichen Zeit auf spezifische Aufgaben in Verbindung mit Produktion und Reproduktion und damit auf eine generische Frage: Er erklärt, warum bestimmte Aufgaben einer bestimmten geschlechtlichen Arbeitsteilung unterliegen. In dieser Hinsicht ist der feministische Streik Arbeitskampf und Existenzkampf zugleich.

Diese generische und generalisierte Aktivität, für die der Streik ausgeführt wird, bedeutet, dass er kein »identitärer« Streik ist, wie bestimmte Gewerkschaftsspitzen behaupteten, als sie ihr Streikmonopol infrage gestellt sahen. Sie halten den feministischen Streik für rein »symbolisch«, weil er die produktive Sphäre nicht »wirklich« verändere, sondern vielmehr eine Forderung nach Anerkennung sei – eine Aktion also, die einzig die Anerkennung von Identität anstrebe.

Der Schlüssel zum feministischen Streik ist Ungehorsam im weiteren Sinne, ein Ungehorsam, der über den rechtlichen Rahmen des »gewerkschaftlichen« Streiks hinausreicht, während er für bestimmte spezifische Situationen gleichzeitig seinen Schutz »nutzt«. Radikal am feministischen Streik ist, dass er die Fragen aufwirft, wem wir den Gehorsam verweigern (wenn nicht nur der Figur des Vorgesetzten), gegen was und wen wir streiken (wenn nicht nur gegen Vorgesetzte, die sich in den Führungsetagen versammeln) und wie die Unterbrechung der Gehorsamsbeziehung, die uns das Kapital auferlegt, einen Raum schafft, um über ein anderes Leben nachzudenken.

Das Streiken in diesem feministischen Sinn umfasst eine zweiteilige Bewegung, die viel klarer ist als der Streik in der Produktionsstätte – vor allem weil sich der Streik entfaltet und auf die Straße, in die Community und das Zuhause ausweitet. Somit eröffnet diese Praxis die Räume für den Streik, multipliziert sie und zeigt dabei, wie Sphären, die willkürlich segmentiert und aufgeteilt wurden, im Grunde eigentlich miteinander zusammenhängen.

Der Aktivistin und Wissenschaftlerin Silvia Federici zufolge ging es beim Streik vom 8. März 2018 darum, »jene Aktivitäten zu unterbrechen, die zu unserer Unterdrückung beitragen, und zugleich jene zu erzeugen, die den Horizont dessen erweitern, was wir uns als andere Gesellschaft wünschen.« Somit hat der Streik eine doppelte Dynamik: Bestimmte Aktivitäten werden unterbrochen, um Zeit und Energie freizumachen