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»Lassen Sie uns überlegen, was die staatliche Verwaltung von allen anderen Organisationen in der Gesellschaft unterscheidet. … Zuerst erhält jede andere Gruppe ihr Einkommen durch freiwillige Zahlungen … Nur der Staat erlangt sein Einkommen durch Zwang und Gewalt. … Ein zweiter Unterschied ist, dass, von Kriminellen abgesehen, nur der Staat seine Mittel dazu nutzen kann, gegen seine eigenen oder irgendwelche andere Menschen Gewalt anzuwenden.« Murray N. Rothbard. Im zweiten Band seiner Kritik der politischen Gewalt behandelt Murray N. Rothbard (1926-1995) die Möglichkeit, das gesellschaftliche Leben ganz ohne Staat zu organisieren (nachdem der erste Band gezeigt hat, dass die Anwendung von Gewalt zur Aufrechterhaltung der politischen Ordnung nach innen und außen ein grobes Unrecht ist). Wenn auch in der einen oder anderen Hinsicht bereits vorbereitet, ist dieser zweite Band die erste umfassende nicht-naive Darstellung einer gewaltlosen Erfüllung sozialer Funktionen samt dem Straßenverkehr, der Verbrechensbekämpfung und der Justiz. Mit »nicht-naiv« meine ich: Vor-rothbardische anarchistische Konzeptionen hatten die Tendenz, implizit, wenn nicht sogar explizit mit der naiven Annahme zu operieren, in einer freien Gesellschaft würden gesellschaftliche Probleme wie Kriminalität gar nicht erst auftreten; für andere soziale Funktionen, die der Staat monopolisiert, wie Straßenbau und Regelung des Verkehrs, gab es meist überhaupt keine Vorstellungen außer einem Hinweis auf Dezentralisierung, die dann auf eine Art Kleinstaaterei (also keineswegs auf eine Abschaffung des Prinzips territorialer politischer Gewalt) hinauslief. Aufgrund jener Naivität und aufgrund des Fehlens realistischer Alternativen blieb vom Anarchismus nach jugendlicher Begeisterung für einen radikalen Begriff von Freiheit und für kompromisslose Ablehnung von Krieg und Gewalt später meist nicht mehr viel übrig. Bezüglich aller gleichsam 'reiferen' Beschäftigungen musste doch auf staatlich-gewaltsame Lösungen zurückgegriffen werden. Aus diesem Grunde ist Murray Rothbards »For A New Liberty« von 1973 ein Meilenstein und für die Entwicklung einer zukunftsträchtigen anarchistischen Kritik der Gewalt kaum zu unterschätzen. Der parallel erscheinende erste Band enthält die ethische Kritik der politischen Gewalt, die unabhängig von Erwägungen der Nützlichkeit und Durchführbarkeit Gültigkeit beansprucht.
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Seitenzahl: 403
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Schriftenreihe
Murray Rothbard Institut für Ideologiekritik in der edition g.
Stefan Blankertz
101 Minimalinvasiv: Acht kritische Nachträge
104 Das libertäre Manifest: Zur Neubestimmung der Klassentheorie
105 Pädagogik mit beschränkter Haftung: Kritische Schultheorie
106 Thomas von Aquin: Die Nahrung der Seele
107 Die Katastrophe der Befreiung: Faschismus und Demokratie
110 Anarchokapitalismus: Gegen Gewalt
111 Mit Marx gegen Marx
123 Die neue APO: Gefahren der Selbstintegration
Murray Rothbard
102 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt,
Band 1: Staat und Krieg
103 Für eine neue Freiheit: Kritik der politischen Gewalt,
Band 2: Soziale Funktionen
Murray N. Rothbard | 1926-1995 | Ökonom | Anti-Kriegs-Aktivist | Begründer und herausragender Theoretiker von dem libertarian movement | Autor wesentlicher Werke zur Ökonomie, Moralphilosophie und Geschichte der USA.
Die vorliegende Ausgabe von »Für eine neue Freiheit« teilt das Buch in zwei Bände. Die Gründe dafür werden in der Einleitung dargelegt. Beide Bände erscheinen parallel.
Der 1. Band enthält die Kapitel 1(The Libertarian Heritage), 2 (Property and Exchange), 3 (The State), 14 (War and Foreign Policy), 15 (A Strategy for Liberty). Der 2. Band enthält die Kapitel 4(The Problems), 5 (Involuntary Servitude), 6 (Personal Liberty), 7 (Education), 8 (Welfare and the Welfare State), 9 (Inflation and the Business Cycle: The Collaps of the Keynesian Paradigm), 10 (The Public Sector, I: Government in Business), 11 (The Public Sector, II: Streets and Roads), 12 (The Public Sector, III: Police, Law, and the Courts), 13 (Conservation, Ecology, and Growth).
Die Übersetzung basiert auf derjenigen von Sascha Tamm aus dem Jahre 1999. Für die vorliegende Ausgabe wurde sie leicht überarbeitet.
Einleitung
Die sozialen Probleme
Moderne Knechtungen
Freiheitsbeschneidungen
Das Bildungsunwesen
Wohlfahrt
Inflation und Konjunkturzyklen
Öffentlicher Sektor 1: Geschäfte des Staates
Öffentlicher Sektor 2: Straßen
Öffentlicher Sektor 3: Recht und Ordnung
Umweltschutz
Im zweiten Band1 seiner Kritik der politischen Gewalt behandelt Murray N. Rothbard (1926-1995) die Möglichkeit, das gesellschaftliche Leben ganz ohne Staat zu organisieren (nachdem der erste Band gezeigt hat, dass die Anwendung von Gewalt zur Aufrechterhaltung der politischen Ordnung nach innen und außen ein grobes Unrecht ist). Wenn auch in der einen oder anderen Hinsicht bereits vorbereitet, ist dieser zweite Band die erste umfassende nicht-naive Darstellung einer gewaltlosen Erfüllung sozialer Funktionen samt dem Straßenverkehr, der Verbrechensbekämpfung und der Justiz. Mit »nicht-naiv« meine ich: Vor-rothbardische anarchistische Konzeptionen hatten bis hin zu derjenigen Paul Goodmans (1911-1972) die Tendenz, implizit, wenn nicht sogar explizit mit der naiven Annahme zu operieren, in einer freien Gesellschaft würden gesellschaftliche Probleme wie Kriminalität gar nicht erst auftreten; für andere soziale Funktionen, die der Staat monopolisiert, wie Straßenbau und Regelung des Verkehrs, gab es meist überhaupt keine Vorstellungen außer einem Hinweis auf Dezentralisierung, die dann auf eine Art Kleinstaaterei (also keineswegs auf eine Abschaffung des Prinzips territorialer politischer Gewalt) hinauslief. Aufgrund jener Naivität und aufgrund des Fehlens realistischer Alternativen blieb vom Anarchismus nach jugendlicher Begeisterung für einen radikalen Begriff von Freiheit und für kompromisslose Ablehnung von Krieg und Gewalt später meist nicht mehr viel übrig. Bezüglich aller gleichsam »reiferen« Beschäftigungen musste doch auf staatlich-gewaltsame Lösungen zurückgegriffen werden. Aus diesem Grunde ist Murray Rothbards »For A New Liberty« von 1973 ein Meilenstein und für die Entwicklung einer zukunftsträchtigen anarchistischen Kritik der Gewalt kaum zu unterschätzen.
Der wesentliche Verdienst von Rothbards Beitrag zu der anarchistischen Theorie besteht darin, das ökonomische Defizit überwunden zu haben, indem er die radikalliberale Ökonomie seines Lehrers Ludwig von Mises (1881-1973) aus ihrer nachtwächterstaatlichen Zwangsjacke befreite und zum Anarchokapitalismus ausbaute. Derart konnte er nicht nur die bis dahin für die anarchistische Theorie unlösbaren Probleme der Organisation von Sozialfunktionen meistern, sondern führte jene aus ihrer verhängnisvollen und selbstwidersprüchlichen Einbettung in linken sozialromantischen Antikapitalismus heraus: Kapitalismuskritik ist darum der allumfassende Konsens von rechts bis links, weil Kapitalismus subversiv gegen die Staatsgewalt und damit gegen den Krieg wirkt. Die herrschenden Kräfte, die von der Staatsgewalt in Form von direkten oder indirekten Subventionen und von anderen Formen der Unterstützung profitieren, fürchten nichts so sehr wie eine Delegitimierung politischer Gewalt.
In seinem Wunsch, den Text als Proklamation einer neuen, aber großen Bewegung klingen zu lassen, unterschlägt Rothbard beharrlich den innovativen und originellen Charakter vieler seiner Gedanken. Stattdessen schlägt er eine leichte, oft ironische, manchmal arrogante und im schlechtesten Falle gar propagandistische Tonalität an. Wer über sie hinwegsieht, wird dieses Buch mit mehr Gewinn lesen.
Die Übersetzung stammt von Sascha Tamm, 1999. Die Ausgabe damals gelangte vermutlich nur zu einem kleinen Teil in den Buchhandel. Für die vorliegende Neuauflage wurde die Übersetzung leicht überarbeitet. Sehr herzlich danke ich Sascha Tamm, dass er der Verwendung seiner Übersetzung zugestimmt hat.
Ich danke Dietmar-Dominik Hennig für die Anregung, dieses wichtige Buch erneut herauszubringen, und dafür, mir sein rares deutsches Exemplar fürs Einscannen zur Verfügung zu stellen. – Und dem Ludwig von Mises Institute danke ich dafür, mir großzügig die Rechte zum Abdruck überlassen zu haben.
Stefan Blankertz
¡VENCEREMOS, ROTHBARDEROS!
1 Die Kapitel 4 bis 13 aus der amerikanischen Originalaussage von »For A New Liberty« (1973/78). [Hg.] Anmerkungen des Autors sind mit [R.], die des Herausgebers mit [Hg.] gekennzeichnet.
Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf die wichtigsten Problemfelder unserer Gesellschaft2 werfen und sehen, ob wir einen »roten Faden« finden, der sich durch sie alle zieht.
Hohe Steuern. Hohe und steigende Steuern haben fast alle Bürger gelähmt und behindern die Produktivität, verringern die Anreize und die Sparsamkeit genauso wie sie die freie Energie der Menschen eindämmen. Auf Länderebene gibt es vermehrt Widerstand gegen die Last der Einkommensteuer. Es gibt eine blühende Steuer-Widerstandsbewegung3 mit ihren eigenen Organisationen und Zeitschriften; diese weigert sich, Steuern zu zahlen, die sie für konfiskatorisch und nicht verfassungsgemäß hält. Auf der Ebene der Einzelstaaten und auf der lokalen Ebene kommt es immer öfter zur Empörung gegen drückende Vermögenssteuern. So unterzeichneten 1,2 Millionen kalifornische Wähler eine Petition für die Jarvis-Gann-Initiative bei den Wahlen von 1978. Diese Initiative schlug vor, die Vermögensteuer drastisch und dauerhaft um zwei Drittel auf ein Prozent zu senken und eine Höchstgrenze für die Bewertung von Eigentum einzuführen. Weiterhin forderte die Jarvis-Gann-Initiative, die Erhöhung der Vermögensteuer über die Ein-Prozent-Marke von der Zustimmung von zwei Dritteln aller registrierten Wähler in Kalifornien abhängig zu machen. Um außerdem sicherzustellen, dass der Staat nicht einfach mit einer anderen Steuer Ersatz schafft, forderte die Initiative außerdem eine Zwei-Drittel-Mehrheit, um irgendeine Steuer erhöhen zu können. Im Herbst des Jahres 1977 beteiligten sich Tausende Hauseigentümer in Cook County, Illinois, an einem Steuerstreik gegen die Vermögensteuer, die sich aufgrund von neuen Bewertungsgrundlagen dramatisch erhöht hatte. – Es muss noch einmal unterstrichen werden, dass die Besteuerung von Einkommen, Eigentum oder was auch immer das ausschließliche Monopol des Staates ist. Kein anderes Individuum und keine andere Organisation hat das Privileg der Besteuerung, also einer Generierung von Einkommen durch Zwang.
Städtische Finanzkrisen. Überall in der USA haben Einzelstaaten und Gemeinden Schwierigkeiten, Zinsen und Tilgung für ihre aufgeblähten öffentlichen Schulden zu zahlen. New York City kann seinen vertraglichen Verpflichtungen schon teilweise nicht mehr nachkommen. Die städtische Finanzkrise ist einfach ein Zeichen dafür, dass die Stadtverwaltungen zu viel Geld ausgeben, sogar mehr, als sie durch hohe Steuern aus uns herauspressen. Um es noch einmal zu sagen: Wieviel Stadtverwaltungen und Landesregierungen ausgeben, liegt bei ihnen, sie sind die Schuldigen.
Vietnamkrieg sowie weitere Interventionen im Ausland. Der Krieg in Vietnam war ein vollständiges Desaster für die amerikanische Außenpolitik. Nachdem zahllose Leute den Tod gefunden hatten, das Land verwüstet und eine enorme Menge an Ressourcen eingesetzt worden war, brach die von Amerika gestützte Regierung schließlich Anfang des Jahres 1975 zusammen. Das Desaster des Vietnamkrieges stellte die Fortdauer interventionistischer amerikanischer Außenpolitik ernsthaft in Frage und war teilweise dafür verantwortlich, dass der Kongress die militärische Intervention der USA in Angola bremste. Die Außenpolitik ist selbstredend ein ausschließliches Monopol der Unionsregierung. Der Krieg wurde von den Streitkräften geführt, die wiederum ein Zwangsmonopol eben dieser Unionsregierung sind. Somit ist die Unionsregierung voll verantwortlich für das militär- und außenpolitische Problem als Ganzes und in all seinen Aspekten.
Kriminalität in den Straßen. Beachten Sie: Die in Diskussion stehenden Verbrechen werden auf den Straßen begangen. Die Straßen gehören fast immer dem Staat, der damit praktisch ein Monopol auf das Eigentum an Straßen hat. Die Polizei, die uns vor diesen Verbrechen schützen soll, ist ein Zwangsmonopol des Staates. Die Gerichte, deren Geschäft es ist, die Kriminellen zu überführen und zu bestrafen, sind auch ein Zwangsmonopol des Staates. So ist der Staat für jeden einzelnen Aspekt der Kriminalität in den Straßen verantwortlich. Dieses Problem muss wie der Krieg in Vietnam ausschließlich dem Staat zugeschrieben werden.
Der militärisch-industrielle Komplex. Dieser »Komplex« ist vollständig eine Schöpfung der Unionsregierung. Es ist der Staat, der entscheidet, zahllose Milliarden für die Waffenarsenale mit Overkill auszugeben, es ist der Staat, der die Aufträge verteilt, der die Ineffizienz durch Kostenzuschlags-Garantien subventioniert. Der Staat baut Fabriken und vermietet oder verschenkt sie vollständig an Auftragnehmer. Selbstredend leisten Unternehmen Lobbyarbeit für diese Privilegien, aber nur durch den Staat kann der Mechanismus dieser Privilegien sowie die verheerende Fehlleitung von Ressourcen überhaupt existieren.
Verkehrsstaus. Diese betreffen wiederum ausschließlich die Straßen im Eigentum des Staates.
Transportwesen. Die Krisen des Transportwesens umfassen nicht nur verstopfte Straßen, sondern darüber hinaus auch verfallende Eisenbahnen, überteuerte Ticketpreise, Flughafenverstopfung zu Spitzenzeiten und U-Bahnen (z.B. in New York City), die unter Defiziten leiden und sichtbar in den Zusammenbruch steuern. Jedoch: Aufgeblähte zentralund einzelstaatliche sowie kommunale Verwaltungen haben im 19. Jahrhundert ein Überangebot an Eisenbahnen geschaffen und diese waren die längste Zeit amerikanischer Geschichte der am stärksten regulierte Wirtschaftszweig. Die Fluggesellschaften werden durch die Regulierungen der Zivilluftfahrtsverwaltung zur Kartellbildung gezwungen und durch diese Regulierungen, Postverträge und praktisch kostenlose Flughäfen subventioniert. Die Flughäfen für kommerzielle Fluglinien sind alle im Besitz staatlicher Verwaltungen, zumeist auf lokaler Ebene. Die U-Bahn von New York City gehört seit Jahrzehnten der Stadtverwaltung.
Verschmutzung der Flüsse. Die Flüsse sind praktisch niemandes Eigentum, d.h. sie gehören als »öffentlicher Bereich« dem Staat. Außerdem sind die mit Abstand größten Verursacher der Wasserverschmutzung die gemeindeeigenen Abwasserbeseitigungssysteme. Also ist der Staat gleichzeitig der größte Verschmutzer und der sorglose »Eigentümer« der Ressource.
Wassermangel. Der Wassermangel ist in einigen Gebieten des Landes chronisch und in anderen zeitweilig, wie etwa in New York City. Der Staat ist (1) über sein Eigentum am »öffentlichen Bereich« Eigentümer der Flüsse, aus denen der Großteil des Wassers kommt, und (2) praktisch der einzige kommerzielle Verteiler von Wasser, Reservoire und Wasserleitungen gehören ihm.
Luftverschmutzung. Auch hier »gehört« dem Staat über sein Eigentum am »öffentlichen Bereich« die Luft. Außerdem waren es die Gerichte, die nun mal dem Staat gehören, die in überlegter Weise über Generationen versäumt haben, unsere Eigentumsrechte an unseren Körpern und unseren Gärten gegen die Verschmutzung zu schützen, die die Industrie erzeugt. Große Teile der direkten Verschmutzung stammen aus Fabriken, die dem Staat gehören.
Energiemangel und Stromausfälle. Überall im Land haben die staatlichen und lokalen Verwaltungen Monopole für Gas und elektrische Energie geschaffen und dann die Monopolprivilegien privaten Versorgungsunternehmen übertragen. Diese wurden dann Regulierungen unterworfen, ihre Gebühren wurden von Verwaltungsstellen festgelegt, um ihnen einen dauerhaften und festen Gewinn zu garantieren. Der Staat war wiederum die Quelle dieses Monopols und dieser Regulierungen.
Telefondienstleistungen. Zunehmend sich verschlechternde Telefondienstleistungen werden ebenfalls durch einen Versorger erbracht, der sein Monopolprivileg vom Staat erhielt und seine Gebühren sich durch den Staat vorgeben lässt, um seinen Gewinn zu garantieren. Wie im Falle von Gas und Elektrizität ist es niemandem erlaubt, mit diesem Monopolunternehmen zu konkurrieren.
Postdienst. So wie er im Verlaufe seiner gesamten Existenz unter starken Defiziten gelitten hat, sind die Leistungen des Postdienstes – im schroffen Gegensatz zu Dienstleistungen und Gütern, die von der Privatindustrie in einem freien Markt produziert werden – immer teurer und qualitativ schlechter geworden. Die Post ist wiederum seit dem späten 19. Jahrhundert ein Zwangsmonopol des Staates. Immer wenn es privaten Firmen möglich war, in den Wettbewerb der Postverteilung einzutreten, haben sie, sogar wenn es illegal geschah, bessere Leistungen zu niedrigeren Preisen angeboten.
Fernsehen. Fernsehen besteht aus belanglosen Programmen und entstellten Nachrichten. Die Rundfunk- und Fernsehkanäle wurden vor einem halben Jahrhundert verstaatlicht von der Unionsregierung, die die Kanäle an privilegierte Lizenznehmer vergibt und diese Gabe zurücknehmen kann und das auch tut, wenn ein Sender die Federal Communications Commission verärgert. Wie kann es unter derartigen Bedingungen eine wirkliche Redefreiheit geben?
Wohlfahrtssystem. Die Wohlfahrt liegt ausschließlich im Bereich des Staates, vor allem der einzelstaatlichen und lokalen Verwaltung.
Städtisches Wohnen. Zusammen mit dem Verkehr ist das unser auffallendstes städtisches Problem. Es gibt nur wenige Wirtschaftszweige, die so eng mit staatlicher Verwaltung verwoben sind. Stadtplanung kontrolliert und reguliert die Städte. Raumordnungspläne belegen Ansiedlung und Landnutzung mit unzähligen Beschränkungen. Die Vermögenssteuern bremsen die städtische Entwicklung und fördern den Abriss von Häusern. Baugesetze beschränken den Hausbau und machen das Bauen teurer. Stadtsanierung verschafft Immobilienbesitzern massive Subventionen und forciert den Abriss von Wohnraum und Mietshäusern, das Angebot an Wohnungen wird verringert und Rassendiskriminierung verschärft. Hohe staatliche Kredite fördern die übergroße Bautätigkeit in den Vororten. Mietkontrollen erzeugen den Mangel an Wohnraum und sie verringern das Angebot an Wohnhäusern.
Gewerkschaftsmacht. Die Gewerkschaften wurden zu einer Plage mit der Macht, die Wirtschaft zu lähmen. Das geschah aber nur, weil der Staat ihnen bestimmte Privilegien verlieh, so etwa verschiedene Immunitäten wie dem Wagner-Act von 1935,4 das noch in Kraft ist und die Arbeitgeber zwingt, mit den Gewerkschaften zu verhandeln, wenn sie eine Mehrheit in einer Gruppe von Beschäftigten erhalten, die vom Staat selber willkürlich festgelegt wird.
Bildungswesen. Die öffentliche Schule, die in der Meinung der amerikanischen Bürger einst so verehrt und heilig war wie die Mutterschaft oder die Flagge, ist in letzter Zeit in das Kreuzfeuer der Kritik aus dem ganzen politischen Spektrum geraten. Selbst ihre Unterstützer würden nicht behaupten, dass die öffentlichen Schulen heute viel lehren. Wir haben in letzter Zeit extreme Fälle gesehen, in denen die Handlungen der öffentlichen Schulen gewaltsame Reaktionen in unterschiedlichen Gebieten wie South Boston und Kanawha County, West Virginia, ausgelöst haben. Die öffentlichen Schulen gehören vollständig der staatlichen und lokalen Verwaltung und werden von ihr betrieben – mit wesentlicher Unterstützung und Koordination durch die Unionsregierung. Die öffentlichen Schulen werden getragen durch Gesetze, die alle Kinder zwingen, bis zum Highschool-Alter eine Schule zu besuchen, entweder eine öffentliche oder eine private, die durch die staatliche Verwaltung genehmigt werden muss. Die höhere Bildung wurde in den letzten Jahrzehnten immer stärker mit dem Staat verwoben: Viele Universitäten gehören dem Staat, die übrigen sind notorische Empfänger von Stipendien, Subventionen und Aufträgen.
Inflation und Stagflation. Die USA leiden wie der Rest der Welt seit vielen Jahren an einer chronischen und sich beschleunigenden Inflation, die von hoher Arbeitslosigkeit und zugleich von anhaltenden Rezessionen begleitet wird (»Stagflation«). Eine Erklärung dieser unerwünschten Phänomene wird weiter unten gegeben, hier soll nur gesagt werden, dass ihre Wurzel in der fortgesetzten Ausweitung der Geldmenge liegt, in einem Zwangsmonopol der Unionsregierung. (Jeder, der versucht, mit der Unionsregierung in der Herausgabe von Geld zu konkurrieren, wandert für Geldfälschung ins Gefängnis.) Ein großer Teil der Geldmenge des Landes wird als »Buchgeld« über das Bankensystem herausgegeben, welches sich unter der vollständigen Kontrolle der Unionsregierung und des »Federal Reserve Systems« befindet.
Watergate. Zum Schluss zu einem traumatischen Syndrom, unter dem die Amerikaner leiden und das als »Watergate« bekannt ist. Watergate bedeutete die völlige Entheiligung des Präsidenten und von bis dahin sakrosankten Institutionen wie CIA und FBI. Die Eingriffe in das Eigentum, die Polizeistaatsmethoden, die Täuschung der Öffentlichkeit, die Korruption, die vielfältigen und systematischen Straftaten, die vom selbstherrlichen Präsidenten begangen wurden, führten zu einem bis dahin undenkbaren Amtsenthebungsverfahren gegen einen Präsidenten und zum weitreichenden und gerechtfertigten Vertrauensverlust in alle Politiker und alle Regierungsbeamten. Das Establishment hat oft diesen neuen, so verbreiteten Vertrauensverlust beklagt, es jedoch nicht geschafft, das naive öffentliche Vertrauen aus der Zeit vor Watergate wiederherzustellen. Cecilia Kenyon, eine [links-]liberale Historikerin, bezeichnete einst [1955] die »Anti-Föderalisten«, die Verteidiger der Konföderationsartikel und Gegner der Verfassung, als »Leute mit wenig Vertrauen« in die Institutionen des Staates.5 Es ist zu vermuten, dass sie nicht so naiv gewesen wäre, hätte sie diesen Artikel in der Zeit nach Watergate geschrieben. Watergate ist offensichtlich in klarer und ausschließlicher Weise ein staatliches Phänomen. Der Präsident ist der oberste Leiter der Unionsregierung, die »Installateure« waren seine Werkzeuge, FBI und CIA sind ebenso staatliche Institutionen. Und es ist verständlicherweise das Vertrauen in den Staat, das durch Watergate erschüttert wurde.
Wenn wir uns in den wesentlichen Problembereichen unserer Gesellschaft umsehen, in den Bereichen der Krisen und Fehlentwicklungen, dann finden wir in jedem Falle einen »roten Faden«, der sie alle miteinander verbindet – den Faden des Staates. In jedem dieser Fälle führt die Aktivitäten der Staat entweder vollständig selber durch oder beeinflusst sie stark.
In seinem Bestseller »Gesellschaft im Überfluss« stellt John Kenneth Galbraith fest,6 dass der staatliche Sektor das Zentrum von allen Fehlentwicklungen in der Gesellschaft war.
Jedoch er vertritt hiergegen die seltsame Lehre, noch mehr Mittel und Ressourcen müssten vom privaten in den öffentlichen Sektor umgeleitet werden. Er ignoriert dabei die Tatsache, dass die Rolle der öffentlichen Verwaltung in den USA, auf zentral- und einzelstaatlicher sowie kommunaler Ebene, in diesem Jahrhundert und besonders in den letzten Jahrzehnten sowohl absolut als auch proportional enorm gewachsen ist. Unglücklicherweise stellt sich Galbraith niemals die Frage: Gibt es etwas, das staatlichem Handeln notwendig innewohnt und die Fehlentwicklungen auslöst, die wir reichlich sehen? Wir werden einige der wichtigen Probleme des Staates und der Freiheit in diesem Land untersuchen, sehen, woher die Fehlentwicklungen kommen, und dann die Lösungen des neuen Libertarismus zur Debatte stellen.
2 Es handelt sich, wohlgemerkt, um einen historischen Text. Die meisten angesprochenen Probleme haben sich inzwischen in einem damals unvorstellbaren Maße vertieft; in einigen wenigen Fällen (wie z. B. Fernmeldemonopol) kam es zu gewissen Deregulationen mit den sie begleitenden positiven Effekten. Allerdings ist zu beachten, dass manche scheinbaren Privatisierungsmaßnahmen nur der Verschleierung dienten, dass in Wahrheit Regulierungen, Staatseinfluss und Korruption fortbestehen (wie z. B. im Energiebereich). [Hg.]
3 Politisch motivierte und öffentliche Steuerverweigerung (tax resistance, tax protest) gehört in den USA zum Gründungsmythos der Nation und erfreut sich, anders als in Europa, breiter gesellschaftlicher Akzeptanz. In den 1970er Jahren gab es verschiedene Initiativen, die sich entweder gegen die Höhe der Steuerlast oder gegen ihren kriegerischen Verwendungszweck (Vietnamkrieg) richteten. – Am Rande notiert: Andrew Jackson (1767-1845), von 1829-1837 Präsident, den Rothbard gern als libertären Helden stilisiert, schlug die Weigerung von South Carolina, eine 1828 eingeführte Zollbestimmung umzusetzen, mit der Drohung nieder, Militär zu schicken. [Hg.]
4 Offizielle Bezeichnung: National Labor Relations Act (NLRA). Das Gesetz verbietet Aussperrung als Antwort von Arbeitgebern auf Streik und Streikbruch und zwingt die Arbeitgeber zu kollektiven – vs. individuellen – Lohnverhandlungen (und ähnelt insofern der bundesdeutschen »Sozialoder Tarifpartnerschaft«). Die Unparteilichkeit von Rothbard ist daran ersichtlich, dass er andererseits weiter unten die staatlichen Streikverbote als ebenso verwerflich kritisiert. [Hg.]
5 Cecilia M. Kenyon, »Men of Little Faith: The Anti-Federalists on the Nature of Representative Government«, in: William and Mary Quarterly (Januar 1955), S. 3ff. [R.] N.B.: Als »Federalists« bezeichneten sich am Beginn amerikanischer Republik diejenigen Kräfte, die für die Schaffung einer starken Union eintraten. Die »Konföderationsartikel« begründeten 1776 einen losen Staatenbund, die Verfassung von 1789 einen – föderal aufgebauten und im Verhältnis zu den europäischen Ländern minimalen – Zentralstaat. [Hg.]
6 John Kenneth Galbraith (1908-2006), linksliberaler und keynsianischer amerikanischer Ökonom und Politikberater, Urheber des Satzes vom privaten Reichtum versus öffentlicher Armut. The Affluent Society (dt. Gesellschaft im Überfluss), 1958, ist sein einflussreichstes Buch. [Hg.]
Wenn es eine Sache gibt, das ein Libertärer ganz und gar ablehnen muss, dann ist es jeder Zwangsdienst, dann ist es die Knechtung, die gegen das elementarste Recht auf das Eigentum an sich selber verstößt. »Freiheit« und »Sklaverei« wurden immer als direkte Gegensätze angesehen. Libertäre sind deshalb völlig gegen Sklaverei.7 Es könnte eingewandt werden, das sei heute eine bloß akademische Frage. Aber ist sie das wirklich? Denn was ist Sklaverei anderes als a) Leute zu zwingen, nach den Wünschen des Herrn zu arbeiten und ihnen b) dafür bloß einen reinen Subsistenzlohn oder zumindest weniger zu zahlen, als sie freiwillig akzeptieren würden. Kurz gesagt, Arbeitszwang zu Löhnen unter dem Niveau des freien Marktes. Sind wir dann wirklich frei von »Sklaverei«, von Knechtschaft im heutigen Amerika? Wird das Verbot der Zwangsverdingung aus dem 13. Zusatz zur Verfassung8 wirklich befolgt?
So kann es zum Beispiel keinen offenkundigeren Fall von Zwangsdiensten geben als unser System der Wehrpflicht.9 Jeder Jugendliche wird gezwungen, sich mustern zu lassen, wenn er 18 Jahre alt wird. Er ist gezwungen, seinen Wehrpass ständig bei sich zu tragen und wenn es die Regierung für passend hält, wird er von den Behörden »gezogen« und »zum Bund« geschickt. Hier sind sein Körper und sein Willen nicht länger sein, er ist Empfänger von Befehlen des Staates. Er kann gezwungen werden zu töten und das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, wenn es befohlen wird. Was soll ein Dienstzwang sein wenn nicht die Einberufung?
Der Nutzenaspekt beherrscht das Argument für das Wehrpflichtsystem. Der Staat rechtfertigt sich folgendermaßen: Wer wird uns gegen ausländische Angriffe verteidigen, wenn wir nicht Zwang benutzen und unsere Verteidiger einziehen? Es gibt mehrerlei, was Libertäre hierauf erwidern könnten. Zuerst mal: Wenn Sie und ich und unser nächster Nachbar denken, dass wir Verteidigung brauchen, haben wir trotzdem kein moralisches Recht, Zwang auszuüben, etwa mit dem Bajonett oder dem Revolver, um jemand anderen zu zwingen, uns zu verteidigen. Die Wehrpflicht ist genauso ein nicht zu rechtfertigender Eingriff, eine Entführung oder sogar ein Mord, wie der unterstellte Angriff, gegen den wir uns ursprünglich verteidigen wollen.
Wenn wir noch hinzunehmen, dass die Eingezogenen ihren Körper und ihr Leben, wenn notwendig, der Gesellschaft übereignen, müssen wir die Gegenfrage stellen: Wer ist diese »Gesellschaft«, wer ist dieses »Land«, die als Vorwand benutzt werden, um Versklavung zu rechtfertigen? Es sind schlicht alle Individuen in einem Gebiet ausgenommen die eingezogenen Jugendlichen. »Gesellschaft« und »Land« sind in diesem Falle mythische Abstraktionen, die herhalten müssen, um den nackten Gebrauch von Gewalt im Dienst der Interessen von bestimmten Individuen zu bemänteln.
Zweitens, um auf die Nutzenebene zu kommen: Warum sieht man es als notwendig an, Verteidiger einzuziehen? Auf dem freien Markt wird niemand eingezogen, gleichwohl können die Menschen auf diesem Markt alle denkbaren Waren und Dienstleistungen durch freiwilligen Tausch und Verkauf erhalten, sogar die allernotwendigsten. Auf dem Markt bekommen die Menschen Nahrung, Unterkunft, Kleidung, medizinische Hilfe usw. Warum können sie keine Verteidiger anheuern? Tatsächlich gibt es ja viele Leute, die tagtäglich für gefährliche Dienste eingestellt werden: Feuerwehrleute, Ranger, Testpiloten und … Polizisten sowie private Wächter und Wachmänner. Warum stellt man die Soldaten nicht auch auf diese Weise ein?
Andersherum betrachtet, beschäftigt der Staat viele Tausende Personen für alle Arten von Dienstleistungen, von Lkw-Fahrern bis hin zu Wissenschaftlern und Schreibkräften. Wie kommt es, dass keiner von diesen Personen eingezogen werden muss? Warum gibt es keinen Mangel bei diesen Berufen, der den Staat zwingen würde, Zwang auszuüben, um diese Stellen zu besetzen? Einen Schritt weitergedacht gibt es auch in der Armee keinen Mangel an Offizieren, niemand muss sie einberufen, niemand zieht Generäle und Admiräle ein. Die Antwort auf diese Fragen ist einfach: Es gibt keinen Mangel an Schreibkräften im Staatsdienst, weil der Staat sie auf dem freien Markt zu Marktlöhnen einstellt, es gibt keinen Mangel an Generälen, weil sie großzügig entlohnt werden, mit Gehalt und Vergünstigungen sowie Pensionsansprüchen. Es gibt einen Mangel an einfachen Soldaten, weil ihre Bezahlung miserabel und unter dem Marktpreis ist oder bis vor kurzem war. Über Jahre war die Bezahlung eines einfachen Soldaten, selbst wenn man freie Unterkunft und Verpflegung und die anderen Leistungen, die die GI’s erhalten, einrechnet, nur ungefähr halb so hoch wie der Lohn, den er im zivilen Leben hätte erhalten können. Ist es da ein Wunder, dass es einen chronischen Mangel an Freiwilligen gab? Seit Jahren ist bekannt, dass das Mittel, um Freiwillige für gefährliche Tätigkeiten zu finden, darin besteht, als Kompensation mehr Lohn zu zahlen. Aber der Staat zahlte den Männern nur halb so viel, wie sie im privaten Leben hätten verdienen können.10
Es gibt noch die besondere Schande der Ärzteeinberufung, wobei die Ärzte in einem noch viel höheren Alter einberufen werden können als alle anderen. Werden die Ärzte für ihre Berufswahl bestraft? Was ist die moralische Rechtfertigung für die besonderen Lasten, die diesem lebenswichtigen Berufsstand auferlegt werden? Ist der Weg, um dem Ärztemangel zu begegnen, jedem Menschen mitzuteilen, dass man ihn, wenn er Arzt wird, einberufen kann, und das auch noch zu einem besonders späten Zeitpunkt? Der Bedarf der Streitkräfte an Ärzten könnte leicht befriedigt werden, wenn der Staat bereit wäre, die Ärzte marktgerecht zu bezahlen und ihnen zusätzlich eine Kompensation für die gefährliche Arbeit zu geben. Wenn der Staat Strategieexperten oder Kernphysiker einstellen will, schafft er das mit extrem großzügiger Bezahlung. Sind Ärzte etwa niedrigere Formen der Gattung Mensch?
Während die Wehrpflicht in den Streitkräften eine offenkundige und schlimme Form eines Zwangsdienstes ist, gibt es eine subtilere und deshalb schwerer nachzuweisende Form: die Struktur der Armee selber. Überlegen wir: Bei welcher anderen Arbeit im Land gibt es strenge Strafen, einschließlich Gefängnis und in manchen Fällen die Todesstrafe, für »Desertion«, d.h. dafür, eine bestimmte Beschäftigung aufzugeben? Wenn jemand bei General Motors kündigt, wird er im Morgengrauen erschossen?
Mancher mag hier einwenden, dass im Falle von Freiwilligen der Soldat oder Offizier freiwillig zugestimmt habe, für eine gewisse Zeit zu dienen, und deshalb verpflichtet sei, den Dienst die ganze Zeit zu leisten. Aber der ganze Begriff der »Dienstzeit« ist das Problem. Nehmen wir zum Beispiel an, ein Ingenieur unterzeichnete einen Vertrag mit ARAMCO, drei Jahre lang in Saudi-Arabien zu arbeiten. Nach einigen Monaten entscheidet er, dass dieses Leben nichts für ihn ist und kündigt.
Das mag ein »moralischer« Fehler von ihm sein, ein Bruch seiner Selbstverpflichtung. Ist diese Verpflichtung juristisch durchsetzbar? Kann er in anderen Worten mit dem Gewaltmonopol des Staates gezwungen werden, die restliche Laufzeit seines Vertrages weiterzuarbeiten? Wenn das ginge, wäre das Zwangsarbeit und Sklaverei. Denn obwohl es wahr ist, dass er ein Versprechen über seine künftige Arbeit gegeben hat, bleibt sein Körper in einer freien Gesellschaft doch allein sein Eigentum. In der Praxis und auch in der libertären Theorie kann der Ingenieur für den Vertragsbruch moralisch kritisiert werden, er kann von anderen Ölfirmen auf die schwarze Liste gesetzt werden, er kann zur Rückgabe von Vorauszahlungen gezwungen werden, aber ARAMCO kann und wird ihn nicht drei Jahre lang als Sklave halten.
Wenn das aber für ARAMCO und für jede andere Arbeitsstelle im privaten Leben wahr ist, warum sollte dies in der Armee anders sein? Wenn ein Mann für sieben Jahre unterschreibt und dann vorher kündigt, sollte es ihm erlaubt sein zu gehen. Er wird Pensionsansprüche verlieren, er wird moralisch kritisiert, er mag bei ähnlichen Arbeitsstellen auf die schwarze Liste gesetzt werden, darf aber als Eigentümer seiner selbst nicht gegen seinen Willen versklavt werden.
Man könnte entgegnen, die Streitkräfte seien eine besonders wichtige Arbeitsstelle, die dieser Art des Zwanges bedürfe, die anderen nicht zu Gebote steht. Doch auch wenn wir die Wichtigkeit solcher Arbeitsbereiche wie Medizin, Landwirtschaft und Transport, die alle nicht über derartige Sanktionen verfügen, beiseitelassen, können wir eine vergleichbare Verteidigungsinstitution im Zivilleben betrachten –die Polizei. Sicher leistet die Polizei einen gleichermaßen wichtigen und vielleicht notwendigeren Dienst – und jedes Jahr treten Personen der Polizei bei und verlassen sie. Es gibt keinen mit Zwang verbundenen Versuch, ihre Arbeit über eine bestimmte Verpflichtungsdauer zu binden.
Zusätzlich zur Forderung nach dem Ende der Wehrpflicht fordert der Libertäre also weiterhin, das gesamte Konzept der Dienstzeit und die damit verbundene Knechtung über Bord zu werfen. Lassen wir Streitkräfte in gleicher Weise arbeiten wie Polizei, Feuerwehr, Ranger, Wachdienste usw. – frei von den schädlichen Einflüssen und moralischen Verbrechen der Zwangsdienste.
Über die Armee als Institution ist aber noch mehr zu sagen, selbst wenn sie vollkommen freiwillig wäre. Die Amerikaner haben eines der edelsten und stärksten Elemente aus dem ursprünglichen amerikanischen Erbe fast vollkommen vergessen: die Einrichtung eines »stehenden Heers« komplett entschlossen abzulehnen.
Wenn dem Staat Streitkräfte stets zur Hand gehen, wird er versucht sein, sie auch zu benutzen und sie in aggressiver, interventionistischer und kriegerischer Weise zu benutzen. Die Außenpolitik wird erst später behandelt,11 aber es ist klar, dass ein stehendes Heer eine andauernde Versuchung für den Staat ist, seine Macht zu vergrößern, andere Leute und andere Länder zu beeinflussen und das innere Leben des Volkes zu dominieren. Die Absicht der Jeffersonianischen Bewegung lautete ursprünglich, das stehende Heer und die Marine zusammen aufzulösen. Das tradierte amerikanische Prinzip bestand darin, dass bei einem Angriff auf ihr Land die Bürger zusammeneilen würden, um gemeinsam den Angreifer zurückzuschlagen. Stehende Streitkräfte könnten nur zu Ärger führen und zu einer Ausdehnung der Staatsmacht. Im Verlauf seines scharfen und prophetischen Angriffes auf die vorgeschlagene Verfassung im Ratifikationskonvent von Virginia warnte Patrick Henry [1788] vor einem stehenden Heer: »Der Kongress hat mit der Befugnis zur Steuererhebung und mit der Befugnis, ein Heer aufzustellen, sowie mit der Kontrolle über die Bürgerwehren das Schwert in der einen Hand und den Geldbeutel in der anderen. Sollten wir ohne beides nicht sicherer sein?«12
Jedes stehende Heer ist eine ständige Bedrohung der Freiheit. Sein Monopol auf Waffen, seine Tendenz zur Schaffung und Unterstützung eines »militärisch-industriellen Komplexes«, der die Armee beliefert, und nicht zuletzt, wie Patrick Henry bemerkt, die Besteuerungsbefugnis für die Finanzierung dieser Armee, bilden eine dauerhafte Gefahr der Erweiterung von Macht und Größe der Armee. Libertäre sind Gegner jeder steuerfinanzierten Institution, weil sie auf Zwang beruht. Aber eine Armee ist in einzigartiger Weise bedrohlich, weil sie die große Macht der modernen Waffen in einer Hand vereinigt.
Am 4. Oktober 1971 berief sich Präsident [Richard] Nixon auf das Taft-Hartley-Gesetz [von 1957], um per gerichtlicher Verfügung einen Streik von Hafenarbeitern der Westküste für 80 Tage auszusetzen. Das war das neunte Mal, dass eine Regierung dieses Gesetz gegen Hafenarbeiter eingesetzt hat. Einige Monate vorher ging der Vorsitzende der New Yorker Lehrergewerkschaft für einige Tage ins Gefängnis, weil er gegen ein Gesetz verstoßen hatte, das Angestellten des öffentlichen Dienstes Streiks verbietet.13 Zweifellos ist es bequem für eine leidgeprüfte Bevölkerung, mittels Aussetzung von einem Streik verschont zu werden. Aber die »Lösung« bestand klar und deutlich in Zwangsarbeit; die Arbeiter wurden gezwungen, gegen ihren Willen zurück an die Arbeit zu gehen.
In einer Gesellschaft, die behauptet, gegen Sklaverei zu sein, und in einem Land, das unfreiwillige Dienstleistungen verboten hat, gibt es keine moralische Entschuldigung dafür, durch irgendwelche rechtlichen Handlungen Streiks zu verbieten oder Gewerkschaftsführer einzusperren, die nicht gehorchen. Sklaverei ist nur zu oft bequemer für die Sklaventreiber.
Es stimmt, ein Streik stellt eine besondere Form der Arbeitsniederlegung dar. Die Streikenden kündigen nicht einfach ihre Jobs, sie behaupten, dass sie irgendwie, in irgendeinem metaphysischen Sinn ihre Jobs noch »besitzen« und einen Anspruch auf sie haben, und wollen zu ihnen zurückkehren, wenn die Probleme gelöst sind. Aber das Mittel gegen diese selbstwidersprüchliche Politik genauso wie gegen die zerstörerische Macht der Gewerkschaften ist nicht, Gesetze zum Verbot von Streiks zu verabschieden. Das Mittel ist, aus allen Gesetzen auf zentral-, einzelstaatlicher und kommunaler Ebene die speziellen Privilegien der Gewerkschaften zu streichen. Für die Einhaltung libertärer Prinzipien und für eine gesunde Wirtschaft ist nur notwendig, diese speziellen Privilegien abzuschaffen.
Diese Privilegien wurden in das Unionsrecht besonders mit dem Wagner-Taft-Hartley-Gesetz, das ursprünglich 1935 verabschiedet [und 1947, 1957 sowie 1959 ergänzt] wurde, und dem Norris-La-Guardia-Gesetz von 1931 eingeführt. Das zweite verbietet es den Gerichten, im Fall unmittelbarer Gewaltanwendung durch die Gewerkschaften Streikverbote zu erlassen. Das erste zwingt die Arbeitgeber, in »gutem Einvernehmen« mit jeder Gewerkschaft zu verhandeln, die die Stimmen der Mehrheit in einem vorher willkürlich von der Regierung festgelegten Arbeitsbereich erhielt, und verbietet den Arbeitgebern darüber hinaus, Gewerkschaftsmitglieder zu »diskriminieren«. Erst mit dem Wagner-Gesetz und seinem Vorgänger, dem NIRA [»National Industrial Recovery Act«, etwa: Gesetz zur Rettung der nationalen Industrie] von 1933 waren Gewerkschaften in der Lage, zu einer mächtigen Kraft im amerikanischen Leben zu werden. Danach schoss der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen Beschäftigten von 5 % auf 20 % in die Höhe. Außerdem schützen Unions- und kommunale Gesetze die Gewerkschaften oft davor, verklagt zu werden, und beschränken die Möglichkeit der Arbeitgeber, Streikbrecher anzuheuern. Die Polizei wird meist angewiesen, nicht einzugreifen, auch wenn von Streikposten der Gewerkschaft Gewalt gegen Streikbrecher eingesetzt wird. Wenn diese Privilegien und Immunitäten verschwinden, sinken die Gewerkschaften wieder auf ihre vorherige zu vernachlässigende Rolle in der amerikanischen Wirtschaft herab.
Für unsere etatistische Tendenz ist es charakteristisch, dass, als die allgemeine Empörung über die Gewerkschaften 1947 zur Ergänzung des Wagner-Gesetzes führte,14 der Staat die Privilegien nicht etwa zurücknahm. Anstelle dessen wurden den Gewerkschaften Beschränkungen auferlegt, um ihre Macht einzugrenzen, die der Staat selber geschaffen hatte. Wenn er eine Wahl hat, ist es die natürliche Tendenz des Staates, seine Macht auszuweiten, nicht, sie zu beschneiden.
So haben wir die seltsame Situation, dass der Staat erst die Gewerkschaften stärkt und dann nach Einschränkungen ihrer Macht schreit. Das erinnert an die Subventionen in der Landwirtschaft, wobei die eine Abteilung des Landwirtschaftsministeriums die Farmer dafür bezahlt, ihre Produktion einzuschränken, während eine andere Abteilung desselben Ministeriums sie dafür bezahlt, ihre Produktivität zu erhöhen. Aus der Sicht der Konsumenten und Steuerzahler mag das irrational erscheinen, ist aber vollständig rational aus der Sicht der subventionierten Farmer und der wachsenden Macht der Bürokratie. In ähnlicher Weise dient die widersprüchliche Politik in Bezug auf die Gewerkschaften erstens dazu, den Zugriff des Staates auf die Arbeitsbeziehungen zu erhöhen, und zweitens, sich gut integrierte und regierungstreue Gewerkschaften als Juniorpartner für die staatliche Herrschaft über die Wirtschaft heranzuziehen.
In gewissem Sinne stellt das ganze Steuersystem eine Form unfreiwilliger Dienstleistung dar. Betrachten wir speziell die Einkommensteuer. Das hohe Niveau der Einkommensteuer bedeutet, dass wir alle einen großen Teil des Jahres, mehrere Monate, ausschließlich für Onkel Sam arbeiten, bevor es uns erlaubt ist, unser Einkommen auf dem freien Markt zu genießen. Zum Wesen der Sklaverei gehört es, für jemanden Zwangsarbeit ohne oder mit bloß geringer Bezahlung zu leisten. Die Einkommensteuer bedeutet aber, dass wir schwitzen und Einkommen erzielen, nur um dann zu sehen, wie der Staat einen großen Brocken davon mit Zwangsgewalt wegnimmt und für seine eigenen Zwecke verbrät. Was ist das anderes als eine erzwungene Dienstleistung ohne Bezahlung?
Einbehaltung und Abführung der Lohnsteuer ist ein noch klareres Beispiel einer unfreiwilligen Dienstleistung.15 Vor Jahren [1948] wandte sich die unerschrockene Industrielle Vivien Kellems aus Connecticut dagegen, dass Arbeitgeber gezwungen sind, Zeit, Arbeit und Geld aufzuwenden, um die Steuern ihrer Arbeitnehmer einzuziehen und an die zuständigen Finanzämter zu überweisen, obwohl sie für ihren Aufwand nicht entschädigt werden. Welches moralische Prinzip gerechtfertigt es, dass der Staat Arbeitgeber zwingt, sich als unbezahlte Steuereintreiber zu betätigen?
Das Prinzip von »Einbehaltung und Abführung« ist selbstredend Stütze des ganzen unionsweiten Lohnsteuersystems. Ohne den ständigen und relativ schmerzlosen Abzug der Steuern vom Lohn des Arbeiters könnte der Staat niemals hoffen, derart hohe Steuern mit einem Schlag von den Arbeitern zu kassieren. Nur wenige Leute erinnern sich daran, dass dieses System erst im Zweiten Weltkrieg eingeführt wurde und eine Ausnahme für die Kriegszeit darstellen sollte. Wie so viele andere Merkmale des staatlichen Despotismus wurde die Notmaßnahme aus Kriegszeiten ein geheiligter Teil des amerikanischen Systems.
Bezeichnend für die Unionsregierung ist es vielleicht, dass sie die Herausforderung von Vivien Kellems, zu überprüfen, ob denn das Einbehaltungssystem verfassungsmäßig sei, nicht annahm. Im Februar 1948 verkündete Frau Kellems, eine kleine Fabrikbesitzerin aus Westport, Connecticut, dass sie das Gesetz nicht befolgen und sich weigern würde, die Steuern von ihren Arbeitnehmern einzubehalten. Sie forderte, die Unionsregierung möge sie anklagen, damit die Gerichte über die Verfassungsmäßigkeit des Systems entscheiden könnten. Die Regierung weigerte sich, das zu tun, und beschlagnahmte statt dessen die ausstehende Summe von ihrem Konto. Frau Kellems klagte vor einem Unionsgericht dann gegen die Regierung auf Rückgabe des Geldes. Als der Fall schließlich im Februar 1951 abschließend verhandelt wurde, entschied das Gericht, dass die Regierung das Geld erstatten müsse. Zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit kam es jedoch nie.16
Zu guter Letzt wird der einzelne Steuerzahler vom Staat gezwungen, wenn er die Steuererklärung ausfüllt, ohne Bezahlung an einer mühseligen und undankbaren Aufgabe zu arbeiten, um zu ermitteln, wieviel er dem Staat »schulde«. Auch hier erhält er keine Entschädigung für seine Kosten und seine Arbeitszeit. Außerdem verstößt das Gesetz, das alle verpflichtet, Steuererklärungen auszufüllen, klar gegen den fünften Verfassungszusatz, der es dem Staat verbietet, irgend jemanden zu zwingen, sich selbst anzuklagen. Aber die Gerichte, die oft eifrig bemüht sind, die Rechte aus dem fünften Verfassungszusatz in minder wichtigen Bereichen zu schützen, haben hier nichts getan, wo die ganze Existenz der aufgeblähten Struktur des Unionsstaates auf dem Spiel steht. Die Abschaffung entweder der Lohnsteuer oder der Praxis von Einbehaltung und Abführung oder des Verstoßes gegen das Verbot der Selbstanklage würde den Staat wieder auf ein Niveau bringen, wie es das Land vor Beginn des 20. Jahrhunderts genossen hat.
Die Umsatz- und Mehrwertsteuern erzwingen ebenfalls unbezahlte Arbeit. Auch in diesem Fall bedeutet Einbehaltung und Abführung der Steuern an den Staat eine unbezahlte Arbeit des Verkäufers.
Die hohen Kosten der Steuererhebung haben darüber hinaus einen weiteren unglücklichen Effekt, der vielleicht nicht unbeabsichtigt ist. Diese Kosten, die die Großunternehmen bereitwillig auf sich nehmen, sind überproportional und oft lähmend hoch für die kleinen Arbeitgeber. Der Großunternehmer zahlt dann bereitwillig, da er weiß, dass sein kleinerer Wettbewerber viel stärker an der Last trägt.
Erzwungene Arbeit durchdringt unsere Rechts- und Gerichtsstruktur. So beruht ein hochverehrtes gerichtliches Verfahren auf erzwungener Aussage.17 Weil es eine Grundvoraussetzung des Libertarismus ist, dass jeder Zwang, in diesem Fall erzwungene Arbeit, für alle – ausgenommen für verurteilte Kriminelle – abgeschafft werden müsse, heißt das, auch der Zwang, für eine Zeugenaussage zur Verfügung zu stehen, sollte abgeschafft werden. In den letzten Jahren waren sich die Gerichte zwar der Bestimmung des fünften Verfassungszusatzes bewusst, dass kein Angeklagter gezwungen werden dürfe, gegen sich selber auszusagen und damit das Material für seine eigene Verurteilung zu liefern. Der Gesetzgeber hat diesen Schutz aber stark abgeschwächt, indem er Immunitätsgesetze verabschiedete, die denjenigen vor Strafverfolgung bewahren, der gegen seine Komplizen aussagt, und zusätzlich die Zeugen zwingen, dieses Angebot anzunehmen und gegen ihre Partner auszusagen. Jemanden aus irgendeinem Grund zu einer Aussage zu zwingen, ist jedoch Zwangsarbeit und außerdem nahe an der Entführung, wenn eine Person gezwungen wird, bei einer Anhörung oder einem Gerichtsverfahren zu erscheinen und dann die Arbeit einer Aussage zu leisten. Das Problem sind nicht nur die aktuellen Immunitätsgesetze, das Problem liegt darin, alle Zwangsaussagen einschließlich der Vorladungen von Verbrechenszeugen und der Erzwingung ihrer Aussagen abzuschaffen. Im Fall der Zeugen steht es nicht zur Debatte, ob sie eines Verbrechens schuldig sind. Die Verwendung von Zwangsmitteln gegen sie, die bis jetzt noch niemand in Frage gestellt hat, ist noch weniger gerechtfertigt als die erzwungene Aussage von Beschuldigten. Praktisch muss das ganze »Recht« auf Vorladung abgeschafft werden, weil es das Erscheinen bei einem Gerichtsverfahren erzwingt.
Selbst den eines Verbrechens Angeklagten darf man nicht zwingen, den eigenen Prozess zu besuchen, insofern er nicht verurteilt wurde. Wenn er wirklich, nach dem großartigen und libertären Prinzip des angelsächsischen Rechts, unschuldig bleibt, bis seine Schuld bewiesen ist, haben die Gerichte kein Recht, ihn zum Erscheinen bei seinem Prozess zu nötigen. Zur Erinnerung: Die einzige Ausnahme, die der dreizehnte Verfassungszusatz vom Verbot der unfreiwilligen Dienstleistung zulässt, ist die Arbeit »als Bestrafung für ein Verbrechen, wobei der Verbrecher rechtsgültig verurteilt sein muss«. Ein Angeklagter ist noch nicht verurteilt. Das einzige, was das Gericht tun kann, ist, dem Angeklagten mitzuteilen, dass gegen ihn verhandelt wird und ihn oder seinen Anwalt zur Verhandlung einzuladen. Wenn sie beschließen, nicht zu erscheinen, wird die Verhandlung in Abwesenheit durchgeführt. Dann kann der Angeklagte seine Darstellung des Falles nicht präsentieren.
Sowohl der 13. Verfassungszusatz [Verbot von Sklaverei] als auch die libertäre Überzeugung machen eine Ausnahme für verurteilte Kriminelle. Der Libertäre glaubt, dass der Kriminelle seine Rechte soweit verliert, wie er die Rechte anderer verletzt hat. Deshalb ist es erlaubt, verurteilte Kriminelle einzusperren, um zur Arbeit in diesem Ausmaß zu zwingen. In der libertären Welt wird aber das Ziel von Haft und Bestrafung zweifellos ein anderes sein. Es wird keinen » Staatsanwalt« geben, der sich anmaßt, einen Fall im Namen einer nicht existierenden »Gesellschaft« zu verhandeln, und dann die Kriminellen im Namen der Gesellschaft bestraft. In dieser Welt wird der Ankläger immer das individuelle Opfer vertreten, die Strafe wird festgelegt nach der Schädigung des Wohlergehens dieses Opfers. Ein wichtiger Punkt der Bestrafung ist es, den Kriminellen zu zwingen, dem Opfer Entschädigung zu leisten. Ein derartiges Modell war Praxis im kolonialen Amerika. Anstatt einen Mann, der einen Farmer beraubt hatte, einzusperren, wurde er dem Farmer zur Verfügung gestellt, also praktisch für eine Zeit versklavt, um für ihn zu arbeiten, bis seine Schuld bezahlt war. Im Mittelalter war die Schadenersatzleistung tatsächlich der vorherrschende Zweck der Strafe. Erst als der Staat dann mächtiger wurde, griffen die Regierenden, die Könige und Fürsten, immer häufiger in den Entschädigungsprozess ein, konfiszierten mehr vom Eigentum des Kriminellen für sich und ignorierten das machtlose Opfer. Als die Betonung von der Entschädigung oder Wiedergutmachung sich hin zur Bestrafung abstrakter Verbrechen »gegen den Staat« verlagerte, wurden die Strafen, die der Staat verhängte, stets schwerer.
Stephen Schafer schreibt: »Als der Staat die Institution der Bestrafung monopolisierte, wurden die Rechte der Opfer langsam vom Strafrecht getrennt.«18 In den Worten des Kriminologen der Jahrhundertwende William Tallack heißt das:
»Es ist hauptsächlich der gewalttätigen Gier der Feudalherren und mittelalterlichen kirchlichen Mächte zu verdanken, dass die Rechte der Opfer stufenweise immer mehr verletzt wurden, während sich die Herrschenden sie schließlich in großem Maße aneigneten; sie verübten doppelte Rache am Verbrecher, indem sie sich selber sein Eigentum nahmen, anstatt damit das Opfer zu entschädigen, und ihn dann noch durch Einkerkerung, Folter, Scheiterhaufen oder Galgen bestraften. Das eigentliche Opfer wurde aber praktisch ignoriert.«19
Jedenfalls beklagen die Libertären, obwohl sie nichts gegen Haftstrafen per se einwenden, gewisse Praktiken, die in dem heutigen Rechts- und Strafsystem üblich sind. Eine davon ist die lange Haft während der Wartezeit auf die Verhandlung, die »Untersuchungshaft«. Das verfassungsmäßige Recht auf eine »schnelle Verhandlung«20 ist nicht beliebig, sondern soll die Zeit der unfreiwilligen Dienstleistung vor dem Urteil über ein Delikt minimieren. Außer in den Fällen, in denen der Kriminelle auf frischer Tat ertappt wurde und eine bestimmte Vermutung über die Strafhöhe existiert, ist es praktisch unmöglich, irgendeine Inhaftierung vor der Verurteilung zu rechtfertigen. Mehr noch: Selbst wenn jemand auf frischer Tat ertappt wurde, sollte eine wichtige Reform durchgeführt werden, um das System ehrlich zu halten: Polizei und andere Behörden müssen dem gleichen Gesetz wie jeder andere unterworfen werden. Wie weiter unten [in Kapitel 9] diskutiert wird, verfügen die Behörden über eine rechtliche Erlaubnis, ständig Eingriffe zu begehen, denn sie unterliegen den für alle anderen geltenden Strafgesetzen nicht. Der Polizist, der einen Kriminellen festnimmt und inhaftiert, und die Justiz- und Strafbehörden, die ihn vor Verhandlung und Verurteilung einsperren, sollten auch dem allgemeinen Gesetz unterliegen. Wenn sie also kurz gesagt einen Irrtum begangen haben und es sich herausstellt, dass der Angeklagte unschuldig ist, dann sollten diese Beamten zu den selben Strafen verurteilt werden wie jeder andere, der einen unschuldigen Menschen entführt und einsperrt. Die Immunität bei der Erfüllung ihrer Aufgaben kann dann nicht in stärkerer Weise als Entschuldigung gelten als bei Leutnant Calley für die Grausamkeiten, die er in My Lai während des Vietnamkrieges beging.21
Die Praxis der Kautionsstellung ist ein halbherziger Versuch, das Problem der U-Haft zu entschärfen, aber es ist klar, dass dadurch die Armen diskriminiert werden. Die Diskriminierung besteht weiter, obwohl sich durch die Entstehung des Wirtschaftszweiges der Kautionsagenturen der Kreis der Leute vergrößert hat, die eine Kaution stellen können. Das Gegenargument, dass die Gerichte mit Fällen überlastet und deshalb nicht in der Lage seien, schnelle Verhandlungen zu garantieren, ist natürlich keine Verteidigung des Systems. Im Gegenteil, diese eingebaute Ineffizienz ist ein exzellentes Argument für die Abschaffung von staatlichen Gerichten.
Außerdem ist die Festlegung der Kautionshöhe willkürlich in der Hand des Richters, in dessen ausgedehnter und nicht kontrollierter Macht es steht, Menschen einzusperren, bevor sie verurteilt sind. Das ist besonders bedrohlich im Falle der Vorladung wegen »Missachtung des Gerichts«, weil der Richter eine fast unbegrenzte Macht ausüben kann, jemanden ins Gefängnis zu schicken, wobei er hierbei in Personalunion als Staatsanwalt, Jury und Richter den Beschuldigten anklagt, verurteilt und die Strafe festlegt. Dabei ist er vollkommen frei von den gewöhnlichen Verfahrens- und Beweisregeln und verletzt das fundamentale Rechtsprinzip, nicht Richter in seinem eigenen Fall sein zu dürfen.
Schlussendlich gibt es einen Eckpfeiler des Rechtssystems, der über eine viel zu lange Zeit unerklärlicherweise nicht hinterfragt wurde, nicht einmal von Libertären. Das ist unfreiwillige Dienstleistung als Geschworener in einer Jury.22 Es ist ein bloß kleiner prinzipieller, wenn auch ein großer gradueller Unterschied zwischen der Zwangsverpflichtung als Jurymitglied und als Armeesoldat. Beide sind Beispiele von Knechtung, in beiden Fällen wird das Individuum gezwungen, Aufgaben im Namen und auf Anweisung des Staates zu erfüllen. Für beide Tätigkeiten wird ein Sklavenlohn gezahlt. So wie der Mangel an Freiwilligen in der Armee eine Folge der Bezahlung weit unter dem Marktniveau ist, sorgt die geringe Bezahlung für Jurymitglieder dafür, dass, selbst wenn das möglich wäre, sich nicht viele Freiwillige für diese Aufgabe finden würden. Die Jurymitglieder werden nicht nur gezwungen, bei den Verfahren anwesend zu sein und ihren Dienst zu leisten, sondern werden darüber hinaus manchmal für viele Wochen hinter geschlossenen Türen gehalten und daran gehindert, Zeitungen zu lesen. Was ist das anderes als Haft und Dienstzwang für Nichtkriminelle?
Man mag dem entgegenhalten, dass der Dienst in einer Jury eine sehr wichtige bürgerliche Funktion sei und ein faires Verfahren garantiere, das der Angeklagte vielleicht durch den Richter allein nicht erhalten würde, zumal der Richter ein Teil des staatlichen Systems und damit anfällig für die Position des Anklägers ist. Das ist sehr wahr, aber gerade weil dieser Dienst so notwendig ist, ist es besonders wichtig, dass er von Menschen ausgeführt wird, die das mit Freuden und freiwillig tun. Oder haben wir vergessen, dass freie Arbeit glücklicher und effizienter ist als Sklavenarbeit? Die Abschaffung der Jury-Sklaverei ist ein lebenswichtiger Baustein jeder libertären Plattform. Weder die Richter noch die gegnerischen Anwälte werden zwangsverpflichtet. Auch für die Jurymitglieder sollte das gelten.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass Anwälte überall in den USA von Jurydiensten befreit sind. Ist das vielleicht ein Zeichen für Klassengesetzgebung und Klassenprivilegien, da doch die Gesetze immer von Anwälten gemacht werden?
Die verbreitete Praxis der Zwangseinweisungen und unfreiwilligen Hospitalisationen von Patienten mit Geisteskrankheiten ist einer der beschämendsten Bereiche für Knechtung in unserer Gesellschaft. In früheren Generationen wurde diese Inhaftierung von Nichtkriminellen ehrlich als Maßnahme bezeichnet, um diese Patienten von der Gesellschaft fernzuhalten. Die Praxis des [Links-]Liberalismus23 im 20. Jahrhundert ist an der Oberfläche menschlicher, tatsächlich aber viel heimtückischer. Jetzt helfen Ärzte und Psychiater beim Einsperren diesen Unglücklichen »zu ihrem eigenen Besten«. Die humanitäre Rhetorik hat eine viel weitergehende Verbreitung der Praxis ermöglicht und verärgerten Verwandten erlaubt, ihre Lieben wegschließen zu lassen und dabei kein schlechtes Gewissen zu haben.
Im letzten Jahrzehnt begann der libertäre Psychiater und Psychoanalytiker Thomas S. Szasz seinen Ein-Mann-Kreuzzug gegen die Zwangseinweisung, der zuerst scheinbar hoffnungslos war, jetzt aber zunehmend einflussreich auf dem Gebiet der Psychiatrie wird.24 In vielen Publikationen hat Szasz jene Praxis systematisch und umfassend kritisiert. Er bestand zum Beispiel darauf, dass Zwangseinweisung eine tiefgehende Verletzung der medizinischen Ethik sei. Anstatt dem Patienten zu dienen, dient der Arzt anderen, etwa der Familie oder dem Staat, dabei, denjenigen vollständig zu tyrannisieren, dem er eigentlich helfen soll. Zwangstherapie und Zwangseinweisung führen viel öfter dazu, »Geisteskrankheiten« zu verschlimmern und zu verlängern, als sie zu heilen. Viel zu oft, führt Szasz aus, ist die Einweisung ein Mittel, unangenehme Verwandte einzusperren und damit loszuwerden und keine wirkliche Hilfe für den Patienten.
Die Hauptbegründung für eine Zwangseinweisung ist, der Patient könne »gefährlich für sich oder für andere« sein. Der erste schwere Fehler dieses Ansatzes ist, dass die Polizei oder das Gesetz nicht einschreiten, wenn eine aggressive Handlung offen begangen wird, sondern wenn in irgend jemandes Einschätzung solch eine Handlung möglicherweise stattfinden könnte. Das öffnet aber die Tür für unbegrenzte Tyrannei. Jeder kann für fähig gehalten werden, irgendwann ein Verbrechen zu begehen, und deshalb könnte jeder aus diesem Grund eingesperrt werden, nicht für das Verbrechen, sondern weil jemand denkt, er könne eines begehen. Diese Art zu denken, rechtfertigt nicht nur die Haft, sondern sogar die andauernde Haft für jeden, der unter Verdacht steht. Die grundlegende libertäre Überzeugung lautet dagegen, jeder Mensch sei befähigt zu freier Entscheidung und zu freiem Willen und niemandem vorbestimmt, egal ob durch eine statistische oder eine andere Einschätzung, möglicherweise begehe er ein Verbrechen; und jedenfalls ist es unmoralisch und seinerseits kriminell, Zwang gegen jemanden anzuwenden, der kein tatsächlicher und gegenwärtiger, sondern bloß ein verdächtiger oder zukünftiger Krimineller ist.
Kürzlich wurde Dr. Szasz gefragt: »Denken Sie nicht, dass die Gesellschaft das Recht und die Pflicht habe, für die Individuen zu sorgen, die für sich selber und für andere gefährlich werden können?« Szasz erwiderte überzeugend: