Für immer beste Freunde - Jim Bradford - E-Book

Für immer beste Freunde E-Book

Jim Bradford

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Beschreibung

Eines Samstagmorgens beobachtet Jim Bradford in einem Diner einen kleinen Junge, der sein Ohr fest an ein schwarzes Radiogerät mit verbogener Antenne presst. Lange, weiße Plastikschienen bedecken seine Beine. Diese Begegnung verändert gleich zwei Leben, das von Jim Bradford und das von HK, der seine Tage in dem Diner verbringen muss, in dem seine Oma arbeitet. Jim wird unwiederstehlich von diesem seltsamen Kind angezogen, das trotz mehrfacher Behinderungen und einem Leben voller Hindernisse voller Neugier ist auf das Leben. Er wird zu HKs Freund und Mentor und zeigt ihm die Welt. Und HK erklärt sie ihm und lehrt ihn das Staunen.

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Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7386-5 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5781-0 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:CPI books GmbH

© der deutschen Ausgabe 2017

SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: The Awakening of HK Derryberry

© 2016 Jim Bradford

Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollins

Christian Publishing, Inc.

Cover art used by permission of Thomas Nelson Publishers

All rights reserved. This work published under license.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006

SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Übersetzung: Anja Schäfer

Umschlaggestaltung: Sophia Wald

Titelbild: © Thomas Nelson

Bilder im Innenteil: S. 1 rechts unten und S. 8 links unten © Michelle Morrow, restliche Bilder © Jim Bradford

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

INHALT

Über den Autor

Vorwort – Ein trauriges Dasein

1  Eine Tasse Kaffee für 25 Cent

2  Der kleine Taschendieb

3  Und täglich grüßt das Murmeltier

4  »Ich werde Sie mein Leben lang nie mehr vergessen«

5  Die wundervolle Pearl und ihr Stammbaum

6  Feierabend

7  Eine lebensrettende Entscheidung

8  Das Wunderbaby

9  Sonntagskind

10  Die Wirklichkeit kehrt ein

11  Mit meinen Augen sehen

12  Herausforderungen in der Schule

13  Brendas Überraschung

14  Kein Baum, kein Licht, kein Weihnachtsmann

15  »Mit Daten kenne ich mich einfach aus«

16  »Bleibst du noch hier, bis ich gebetet habe?«

17  »Keine Sorge, Mr Bradford ist ein guter Fahrer«

18  Bluegrass und Freunde

19  Die Titelstory

20  »Sie wissen ja, ich bin berühmt«

21  Der weltbeste blinde Pilot

22  Stolz, Rotarier zu sein

23  Göttliches Eingreifen

24  William kehrt zurück

25  Am Steuer und auf dem Pferderücken

26  Football-Rivalitäten

27  Das Spielertrikot

28  Große Träume

29  Der 16. Geburtstag

30  Auftritt vor großem Publikum

31  Die Flut

32  Die Erinnerungsgabe

33  König des Abschlussballs

34  »Ich glaube, sie hätte mich geliebt«

Nachwort – Zu neuem Leben erwacht

Danksagung

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über den Autor

Dieses Buch erzählt die inspirierende Geschichte von Jim Bradford, der bereitwillig aus seinem komfortablen Leben trat, um die Welt von HK Derryberry zu teilen, einen kleinen Jungen mit mehrfachen Behinderungen und einer düsteren Zukunft. Es ist die Chronik ihrer Freundschaft und der Entdeckung von HKs herausragendem Gedächtnis.

Wirf dein Herz über den Zaunund der Rest folgt von selbst.

Norman Vincent Peale

»Ich führe Blinde einen neuen Weg,einen Weg, den sie nicht kannten, lasse ich sie gehen.Ich werde die Dunkelheit vor ihnen hell machenund den holprigen Weg vor ihnen ebnen.Diese Dinge werde ich ausführen und nicht davon ablassen.«

Jesaja 42,16

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

VORWORT – EIN TRAURIGES DASEIN

Der kleine neunjährige Junge saß dort, wo er jedes Wochenende saß: am immer selben Fenstertisch eines Fast-Food-Restaurants. Er hockte zusammengekauert da, sein Ohr an ein altes, kaputtes Radio gepresst, das mit drei Streifen silbernem Klebeband zusammengehalten wurde und einen von zwei Sendern spielte: entweder Sportnachrichten oder Predigten von Pfingstpastoren. Wie das Schlappohr eines alten Hundes ragte oben aus dem Gerät eine krumme Antenne heraus.

Pearl Derryberry, die Oma des Jungen, musste ihrer Teilzeitstelle bei Mrs Winner’s Chicken & Biscuits nachgehen, erst recht seitdem ihre Stelle im Gaswerk nach 31 Jahren einer Kürzung zum Opfer gefallen war. Die bescheidene Abfindung samt Sozialleistungen reichte gerade eben für sie und ihren Enkel, den sie alleine aufzog. HK war blind, litt an Zerebralparese, umgangssprachlich auch Kinderlähmung genannt, und konnte daher seine Gliedmaßen auf der rechten Seite nicht bewegen. Unter der Woche besuchte er die Blindenschule, aber ohne eine bezahlbare Betreuungsmöglichkeit am Wochenende blieb Pearl keine andere Wahl, als ihn mit in die Imbissstube zu nehmen.

In den Pausen ihrer Neun-Stunden-Schichten sah Pearl regelmäßig nach ihm und zwischendurch aßen sie meist zusammen, während Stammkunden und Fremde vorüberliefen und die beiden kaum eines Blickes würdigten. Der kleine blinde Junge, der da über seinem Radio hockte, blieb für die Welt unsichtbar und nur wenige nahmen Notiz von ihm. So sah sein Leben seit dem Unfall aus.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1EINE TASSE KAFFEE FÜR 25 CENT

Ich heiße Jim Bradford. Ich bin als mittleres von drei Kindern mitten auf dem Land im Norden Alabamas aufgewachsen. Niemals in meinen wildesten Träumen hätte ich mir ausgemalt, wie viel Segen ich in den 90er-Jahren erleben würde. Meine Frau Brenda und ich waren seit 35 Jahren verheiratet und stolze Eltern von zwei wunderbaren, gesunden Töchtern, Bridget und Julie. Ich war dankbar für meine – auch in finanzieller Hinsicht – erfolgreiche Vertriebskarriere in der Textilindustrie. Als dann die Mädchen zu unabhängigen jungen Frauen geworden waren und das Nest verließen, freuten Brenda und ich uns darauf, zu reisen und all das anzugehen, was wir nun seit Jahren aufgeschoben hatten. Rückblickend kann man sagen, dass wir unsere Idealvorstellung von einem erfolgreichen Leben erreicht hatten. Wir konnten uns beinahe alle materiellen Wünsche erfüllen und dachten ernsthaft über den Ruhestand nach.

Wegen einer Versetzung innerhalb der Firma waren wir 1975 aus Montgomery in Alabama nach Williamson County im Bundesstaat Tennessee gezogen. Williamson County taucht regelmäßig unter den wohlhabendsten Landkreisen der USA auf und gehört zu den am schnellsten wachsenden Vorortregionen. Vor allem im Norden, wo der Landkreis an den Großraum Nashville grenzt, sind große Pferde- und Rinderfarmen inzwischen bewachten Luxussiedlungen für Pendler, mehrstöckigen Bürogebäuden und ausladenden Einkaufszentren gewichen.

Unser Bungalow im Farmhaus-Stil mit Rotklinkerfassade und vier Schlafzimmern liegt in Brentwood, einem netten Pendlerstädtchen, 17 Kilometer von der Innenstadt Nashvilles entfernt. Dieses schattige, viertausend Quadratmeter große Grundstück gehörte vorher über mehrere Generationen zur Rinderfarm einer Familie, deren Geschichte bis zum Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert zurückreichte. Als wir dorthin zogen, stand weit oben auf meiner wöchentlichen Prioritätenliste, meinen restaurierten Oldtimer, einen Chevrolet Bel Air, Baujahr 1955, in Schuss zu halten – zusammen mit der Pflege des Gartens und unseres makellosen Rasens. Der Eigentümerverband kürte zwischen Mai und September jede Woche einen Garten zum schönsten der Region und mindestens einmal pro Sommer fand das Siegerschild seinen Weg auf unseren Rasen.

Wir hatten viel zu tun, aber nahmen uns Zeit, einmal pro Woche mit langjährigen Freunden Tennis zu spielen. Der Tennis- und Schwimmverein befand sich nur zwei Straßen weiter und zog uns als Familie jeden Sommer magnetisch an. In unserer Siedlung herrschte an den meisten Tagen praktisch keinerlei Verkehr, sodass Spaziergänger, Jogger, Fahrradfahrer und Mütter mit Kinderwagen die ganze Straße für sich allein hatten. Alle Hunde waren angeleint. In unserem idyllischen Vorort ohne Kriminalität hätte sich jeder Hilfssheriff wohlgefühlt.

Unser Lebensstil war schlicht und in keiner Weise ausschweifend. Wir fuhren ältere, gut gepflegte Autos. Unser Alltag drehte sich um die Gemeinde, wo man uns, wie so oft in den Südstaaten, mindestens dreimal pro Woche antraf, bei besonderen Anlässen auch häufiger. Ich hielt mich in jeglicher Hinsicht für völlig gewöhnlich, nicht besser und nicht schlechter als unsere Freunde und Nachbarn. Aber zweifellos hatte Gott unsere Familie reich gesegnet.

Mit sieben Grad Celsius war der 16. Oktober 1999 in meiner kleinen Ecke vom Paradies ein für diese Jahreszeit ungewöhnlich kühler Samstag. Vermutlich sehnte ich mich deswegen an diesem Morgen plötzlich nach einer heißen Tasse Kaffee. Normalerweise begrenze ich meine tägliche Koffeinzufuhr auf eine Tasse und dieses Maß hatte ich dank »Goldenem M« bereits erreicht. Aber heute war es anders, heute brauchte ich mehr.

Unser morgendliches Tennismatch war zu Ende und meine Gedanken schweiften zur langen Liste meiner samstäglichen Pflichten. Daher verabschiedete ich mich rasch von meinen Tennispartnern. Ohne nachzudenken, nahm ich den zeit- und streckenmäßig längsten Rückweg nach Brentwood. Ich fuhr langsam und betrachtete die charmanten, alten Anwesen entlang des Tyne Boulevard. Mein gemütliches Tempo und die charakteristische Radiostimme von Moderator Garrison Keillor verstärkten mein Verlangen nach Kaffee und so bog ich südlich in die Hillsboro Street ein. Starbucks erschien als blinkende Vision vor meinem inneren Auge.

Ich fuhr weitere fünf Kilometer und bog wie immer nach Osten in den Old Hickory Boulevard ein. An der Kreuzung Franklin Road war die Entscheidung eigentlich klar: rechts abbiegen, anderthalb Kilometer zum Starbucks fahren und zwei Dollar für eine Tasse Kaffee zahlen. Seltsamerweise bog ich spontan und ohne nachzudenken nach links ab und fuhr einen kurzen Weg über eine schmale Eisenbahnbrücke zu einer kleinen Imbissstube am Stadtrand von Brentwood. Bei Mrs Winner’s Chicken & Biscuits gab es vor allem frittiertes Hühnerfleisch, aber man konnte hier auch frühstücken. Ich hatte dort schon ein, zwei Mal etwas gegessen, kann mich aber nicht daran erinnern, dass ich jemals nur für einen Kaffee dorthin gefahren wäre.

Auf den kleinen Parkplatz passten nur wenige Autos, aber glücklicherweise fand ich einen Platz direkt gegenüber vom Eingang. Ich zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und huschte eilig nach drinnen in die Wärme, denn ein unablässiger Nordwind sorgte an diesem wolkenverhangenen Tag dafür, dass die gefühlte Temperatur noch niedriger war.

Zu meiner Überraschung war ich an diesem Samstagmorgen der einzige Gast, der sich etwas zum Mitnehmen holte. Als ich auf die Kassiererin zulief, fiel mir ein kleiner Junge auf, der allein an einem Fenstertisch saß. Ich wandte den Blick von ihm ab und konzentrierte mich auf meine Bestellung. Eine bunte Speisekarte hing hinter der Theke. Ein weiteres Schild über dem Eistee-Spender verkündete: »Maxwell-House-Kaffee hier! Lecker bis zum letzten Tropfen.«

»Ich hätte gerne eine Tasse Kaffee«, sagte ich.

»Sind Sie über 55?«, war die Antwort.

Eine reichlich merkwürdige Frage, dachte ich. Ich möchte schließlich keinen Alkohol kaufen, für den ich auf Volljährigkeit überprüft werden müsste. Dann erinnerte ich mich an Brendas häufige Bemerkungen, dass ich ein Hörgerät bräuchte, und fragte mich, ob ich sie richtig verstanden hatte. Etwas verwundert drehte ich mich um und sah nach, ob sie womöglich mit einer Person hinter mir gesprochen hatte. Aber ich war tatsächlich der einzige Kunde in der ansonsten leeren Imbissstube und sagte kleinlaut: »Ja.«

Die Bedienung, ein kleine, untersetzte Dame in meinem Alter mit kurzem, grauem Haar, erklärte mir, dass ich ab einem Alter von 55 Jahren laut Restaurantordnung zu den Senioren zähle. Die Zugehörigkeit zu diesem nicht allzu exklusiven Verein berechtige mich, so erläuterte sie mir, eine Tasse Kaffee für 25 Cent zu erwerben – plus Umsatzsteuer also satte 27 Cent! Ich erwog kurz, meine Zugehörigkeit doch zu leugnen, um mir mein jugendliches Selbstbild nicht zu zerstören, entschied dann aber, dass es an der Zeit wäre, nicht länger mit einer Illusion zu leben. Ich bedankte mich bei ihr und bezahlte meine erste Tasse Seniorenkaffee.

Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee und heißen Buttermilchbrötchen wehte durch die Imbissstube. Als ich mich umwandte und gehen wollte, blieb mein Blick erneut an der kleinen Silhouette hängen, die ich vor zwei Minuten flüchtig wahrgenommen hatte. Von hier aus konnte ich deutlich erkennen, dass es sich um einen kleinen Jungen handelte. Er aß nichts. Beim näheren Hinsehen erkannte ich, dass sein Kopf auf einem schwarzen Plastikradio mit silbernen Knöpfen und kaputter Antenne ruhte. Drei Streifen Klebeband hielten das Batteriefach an seinem Platz. Neugierig betrachtete ich die langen, weißen Plastikschienen an seinen Beinen. Selbst aus der Distanz konnte ich erkennen, dass dieser Junge Probleme hatte.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2DER KLEINE TASCHENDIEB

Ich kann gar nicht genau sagen, warum, aber der Anblick dieses kleinen Jungen weckte ganz tiefe Gefühle in mir. Obwohl ich nie jemanden mit Behinderung persönlich kennengelernt hatte, waren mir behinderte Kinder in der Öffentlichkeit immer aufgefallen. Aber ich hatte nie den Mut gehabt, sie oder ihre Begleiter anzusprechen. Zuerst hatte ich immer Mitleid empfunden, dann Erleichterung und schließlich Dankbarkeit für meine gesunde Familie. Heute führten meine Gedanken mich in eine andere Richtung, die gar nicht typisch für mich war. Statt wie so viele Male zuvor einfach weiterzugehen, spürte ich diesmal einen leichten Drang, zu diesem kleinen Jungen hinzugehen.

Ich warf mein Rührstäbchen in den nächsten Mülleimer, und als ich mich umdrehte, sah ich eine weitere Imbissangestellte. Eine schmächtige junge Frau mit feuerroten Haaren stand hinter der Theke und füllte Plastikgeschirr in einen großen Pappkarton. Laut Namensschild an ihrem roten T-Shirt, auf dem ein großes, gelbes Huhn prangte, hieß sie Helen.

»Helen, wer ist der kleine Junge an dem Tisch dort drüben?«, fragte ich zögerlich.

Sie lächelte und erwiderte: »Ach, das ist HK; er ist unser kleiner Liebling, Pearls Enkel.«

»Und wer ist Pearl?«, hakte ich nach.

»Unsere Kassiererin«, sagte Helen und deutete auf die lächelnde Dame am anderen Ende der Theke – die Dame, die mir soeben meinen ersten Seniorenkaffee eingeschenkt hatte. Es ging mich ganz und gar nichts an, aber der Anblick des Jungen, der da allein in der leeren Imbissstube saß und Radio hörte, irritierte mich und ich musste mehr erfahren.

»Was macht denn ihr Enkel hier?«, fragte ich Helen leise.

»HK lebt bei Pearl. Sie hat am Wochenende niemanden, der auf ihn aufpasst, deshalb kommt er immer mit«, gab sie geduldig zurück.

»Und wie lange sitzt er dann da?«

»Ach, meist nur von acht bis fünf.«

Ohne nachzudenken stieß ich aus: »Sie machen wohl Witze! Er sitzt da jeden Tag neun Stunden lang?«

Helens Blick und ihre Antwort waren gereizt: »Wenn Pearl in der Woche arbeitet, geht er zur Schule; er sitzt da also nicht jeden Tag!«

Ihr nächster Satz traf mich völlig unerwartet und bis ins Mark: »Er ist blind und hat Kinderlähmung.«

Mein Kinn begann zu zittern und in meinem rechten Auge sammelte sich eine große Träne. Plötzlich war die Tasse Kaffee unwichtig. Langsam und bedächtig ging ich auf seinen Tisch zu, um ihn besser sehen zu können. Er sah noch kleiner aus als vorhin und gemessen an seiner Größe wirkte er nicht älter als fünf oder sechs Jahre. Sein Bürstenhaarschnitt war schon länger herausgewachsen und er trug ein schlichtes Baumwoll-T-Shirt, das vorne offenbar mit Frühstücksresten bekleckert war. Aber am meisten schockierte mich die verknitterte kurze Kaki-Hose, die er an diesem ungewöhnlich kalten Oktobermorgen trug.

Als ich näher kam, konnte ich die weißen Plastikschienen noch besser erkennen, die beide Unterschenkel stützten. Sie waren anders als die Schienen, die ich bisher gesehen hatte. Sie steckten fest in seinen Schuhen und endeten erst kurz unter dem Knie. Lange weiße Baumwollstrümpfe reichten ihm bis über seine Unterschenkel und endeten kurz vor den Schienenrändern.

»Hey, Kumpel«, sagte ich leise, als ich seinen Tisch erreichte.

»Wie heißen Sie?«, antwortete er.

»Jim. Und wie heißt du?«

»Ich bin HK.«

»Wofür steht denn HK?«

»Für nichts, ich heiße einfach HK.«

»HK, schön dich kennenzulernen.«

»Schön, Sie kennenzulernen. Wo wohnen Sie?«

»In Brentwood.«

»In welcher Straße?«

»Im Harpeth River Drive.«

»Von wo zweigt die Straße ab?«

»Vom Old Hickory Boulevard«, antwortete ich.

»Wann sind Sie heute Morgen aufgestanden?«, fragte HK.

»Um sechs«, erwiderte ich.

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich habe geduscht.«

»Und dann?«

»Dann habe ich mich angezogen.«

»Und dann?«

»Dann habe ich mich bei McDonald’s mit meinen Tennispartnern getroffen.«

Wie ein hartnäckiger, erfahrener Polizeibeamter führte er das strikte Verhör weiter. Nachdem er mich ein paar Minuten lang ununterbrochen ausgehorcht hatte, dachte ich: Wow, das ist ja mal ein lustiges Kind!

Er traktierte mich weiter mit Fragen und ich antwortete. In einer kurzen Pause nahm er meine Hand und befühlte sie, als begutachtete er ein besonderes Kunstobjekt. Dann hob er sie an seine Nase, wie ein Welpe, der spielerisch seinen Besitzer beschnüffelt, und prägte sich meinen typischen Geruch ein. Eine Viertelstunde später wollte ich los.

»Ich habe mich gefreut, dich kennenzulernen, HK. Ich hab heute noch einiges zu erledigen und muss jetzt gehen.«

»Ich hoffe, ich sehe Sie bald wieder«, sagte er zögernd.

»Ich auch«, antwortete ich mit einem gehörigen Knoten im Hals.

Als ich mich umwandte und meinen neuen Freund zurückließ, wurde ich Opfer des größten Diebes der Stadt. Wie ein Taschendieb, der unter ahnungslosen Touristen in den Kneipen Nashvilles sein heimliches Handwerk betreibt, hatte HK Derryberry das perfekte Verbrechen begangen: Er hatte mein Herz gestohlen.

In Gedanken ging ich die lange Liste mit Erledigungen durch, die mir an diesem Samstag bevorstanden. Die meisten davon hatte Brenda mir aufgetragen. Ich lief sehr viel langsamer als auf dem Hinweg. Das Wetter, der Verkehr, die Tageszeit traten in den Hintergrund. Ich rollte vom Parkplatz bei Mrs Winners, aber dieser kleine, blinde Junge ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Mir fiel ein, dass ich den verlockend heißen Becher Kaffee gar nicht angerührt hatte, aber das war nun egal.

Den ganzen restlichen Tag über gingen mir Fragen durch den Kopf. Beim Gedanken an das gründliche Verhör musste ich grinsen. Dabei hatte ich selbst auch so einige Fragen: Wo waren seine Eltern? Wie groß waren seine gesundheitlichen Probleme? Wo wohnte er? Ich merkte, dass ich beim Versuch, meine To-do-Liste abzuarbeiten, ziellos durch die Gegend fuhr. Der Gedanke an seinen leeren Blick, seine dreckige Kleidung und die weißen Beinschienen nagte an mir. In Ermangelung von Taschentüchern mussten die Ärmel meiner Trainingsjacke für meine tränenden Augen herhalten. Ich wusste absolut nichts über ihn oder sein Leben, außer dass er sein Wochenende im Fast-Food-Imbiss verbrachte.

Schließlich hatte ich alles erledigt und fuhr wieder nach Hause. Ich stellte die Einkaufstüten auf die Küchenarbeitsplatte und erzählte meiner Frau von der unerwarteten Begegnung. Ich schwärmte von dem lustigen, kleinen Jungen, erzählte von seinem traurigen Anblick und seinen bohrenden Fragen. Aber sie erkundigte sich nicht weiter nach ihm, also erwähnte ich ihn an diesem Wochenende nicht mehr. Die Predigt am Sonntagmorgen über tiefe Beziehungen im Leben schlug eine weitere Saite in meinem Gefühlsleben an und erneut hatte ich gegen Tränen zu kämpfen.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

3UND TÄGLICH GRÜSST DAS MURMELTIER

In der Tennishalle des Belle Meade Country Club war von Oktober bis Februar Saison. Acht enge Freunde und ich trafen uns fast jeden Samstag um halb neun, um in wechselnder Besetzung im Doppel mit zwei Gewinnsätzen zu spielen. An einem Samstag im Monat war man jeweils nicht eingeteilt und an meinem nächsten freien Samstag wurde ich von grauem Himmel und kräftigem Nordwind begrüßt, der gefühlt noch kälter war, als das Thermometer in meinem Carport anzeigte. Nach einem späten Frühstück zog ich mehrere Schichten Kleidung übereinander, fand meine Arbeitshandschuhe und eine warme Mütze und ging raus, um mein Revier zurückzuerobern, das von einem ganzen Heer verwaister Blätter heimgesucht worden war, die mein tadelloses Eckgrundstück überfallen hatten.

Beim Zusammenharken gingen meine Gedanken zu HK – wie seit unserer Begegnung jeden Tag. Ich fragte mich, wie er zu Hause lebte, ob er gerade wieder allein bei Mrs Winner’s saß und wie viele unschuldige Opfer er wohl heute Morgen schon ausgefragt hatte. Ich erinnerte mich zurück, dass es für meine Töchter in seinem Alter undenkbar gewesen wäre, länger als fünf Minuten ohne Fernseher oder andere Ablenkung ruhig irgendwo zu sitzen. Genauso gut hätte ich zwölf Runden mit einem Schwergewichtsboxer überstehen können. Und trotzdem saß dieser unerschütterliche oder unfassbar geduldige Junge jeden Samstag und jeden Sonntag neun qualvolle Stunden lang in dieser trostlosen Imbissstube, weil seine Oma am Wochenende keine andere Möglichkeit hatte. Mein Hirn konnte sein Elend einfach nicht fassen.

Bis zum Nachmittag hatte ich 40 große Säcke mit Blättern gefüllt und ordentlich am Straßenrand aufgereiht. Vereinzelt lagen noch Blätter auf dem Rasen und trotzten mir, aber ich fror, war müde und hatte genug. Ich stellte den Rechen weg, zog mich um, tauschte die Mütze gegen meine blaue Baseballkappe der Auburn-Uni und sagte Brenda Bescheid, dass ich noch einen Kaffee trinken ging. Ich glaube nicht, dass ich Mrs Winner’s erwähnte.

Die Fahrt dorthin dauerte nur zehn Minuten. Als ich auf den Parkplatz fuhr, sah ich HK schon allein am Fenster sitzen, genau da, wo ich mich letzte Woche von ihm verabschiedet hatte. Allein nur seinen kleinen Kopf wiederzusehen, berührte mich schon innerlich. Ich war erleichtert, dass er da war, und seltsam aufgeregt bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen. Was erwartete ich von diesem Besuch? Was war meine Absicht? Ich hatte keine wirkliche Ahnung. Ich wusste nur, dass es mich innerlich drängte, zu diesem Jungen zu fahren und ihn wiederzusehen. Aber ich beschloss, dass diesmal ich die Fragen stellen würde.

Ich eilte hinein, um einem weiteren kalten Windstoß zu entfliehen, bestellte meinen Seniorenkaffee und schlenderte zu den Tischen. Als ich HK näher kam, schien mir, dass er dieselbe Kleidung trug wie in der letzten Woche: ein ausgeleiertes weißes Baumwollshirt und ausgewaschene Cargo-Shorts, die eine Nummer zu klein waren. Vervollständigt wurde seine Garderobe von den weißen Plastikschienen und komischen schwarzen Schuhen, die aussahen, als stammten sie direkt aus dem Kleiderschrank meiner Großmutter.

Als ich mich näher heranpirschte, entdeckte ich einen feuchten, handbreit großen Fleck mitten auf seinem schmuddeligen T-Shirt, der zweifellos vom Mittagessen stammte. Er lauschte völlig gebannt seinem ramponierten Radio. Sein Oberkörper lag quer über dem Tisch, sein Kopf war zur Seite gedreht und er bemühte sich, mit einem Ohr Radio zu hören, während er mit dem anderen die Gespräche an den Nachbartischen verfolgte. Sein Radio war so leise, dass die Kunden nicht gestört wurden, aber als ich näher kam, erkannte ich den rhythmischen Singsang eines Pfingstpredigers. Diese typischen Geräuschwellen aus den Untiefen irgendeines Kellerstudios in Tennessee zogen den empfindsamen Jungen ganz in ihren Bann. Er wiegte sich im völligen Einklang mit dem Auf und Ab der Stimme des Evangelisten und verinnerlichte jedes »Preist den Herrn!« und »Halleluja!«, das aus dem Lautsprecher drang.

In dieser einen Woche war sein Haar so sehr gewachsen, dass sein winziges Gesicht noch kleiner wirkte, als ich es ihn Erinnerung hatte. Er hätte leicht als Fünfjähriger durchgehen können, obwohl er mir beim letzten Besuch erzählt hatte, dass er im Juli neun geworden war. Er hörte mich kommen, aber bevor ich etwas sagen konnte, begann mein Kinn zu beben, während ich tapfer gegen meine inneren Gefühlsstürme ankämpfte. Er hob den Kopf und schien mir in die Augen zu blicken.

»Wie heißen Sie?«, fragte er mit seiner hohen, piepsigen Stimme.

»Ich bin Jim«, antwortete ich.

»Der Jim, mit dem ich letzten Samstag gesprochen habe?«

»Ja genau, der bin ich; du hast aber ein gutes Gedächtnis.«

»Wo wohnen Sie?«

»In Brentwood.«

»In welcher Straße wohnen Sie?«

»Im Harpeth River Drive.«

»Von welcher Straße zweigt die ab?«

»Vom Old Hickory Boulevard.« (Später wurde mir klar, dass er, wenn er eine Straße nicht kannte, so lange nach Abzweigungen fragte, bis er eine erkannte. Erst dann wandte er sich den nächsten Fragen zu.)

»Wann sind Sie heute Morgen aufgestanden?«

»Um sechs.«

»Was haben Sie danach gemacht?«

»Geduscht.«

»Und dann?«

»Mich angezogen.«

»Und dann?«

»Dann habe ich in meinem Garten Blätter zusammengeharkt.«

»Und dann?«

Mein Vorhaben, dass diesmal ich die Rolle des Fragenstellers übernehmen könnte, löste sich in Luft auf. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, wiederholte er dieselben grundlegenden Fragen. Ich fühlte mich wie Phil Connors in Und täglich grüßt das Murmeltier, der immer und immer wieder dieselben 24 Stunden erlebt. Genau wie Phil wusste ich schon bald, dass diese monotone Übung kommen würde, und war fest entschlossen, sie zu ändern. Nach meinem zweiten oder dritten Besuch begann ich deshalb zu antworten: »Diese Frage habe ich schon letzte Woche beantwortet und mein Tagesablauf verändert sich nicht sonderlich, lass uns über etwas anderes reden.« Ich versuchte, mit ihm ein ganz normales Gespräch zu führen, an dem beide beteiligt waren, aber ich scheiterte jedes Mal.

Schließlich dämmerte es mir: HK hatte außer Pearl kaum soziale Kontakte und daher war seine Fähigkeit zur normalen Kommunikation stark unterentwickelt. In schlichten Worten: In sozialer Hinsicht war er völlig verkümmert und konnte nur über Themen reden, die Pearl in seinem Beisein besprochen oder über die er im Radio oder Fernsehen gehört hatte. Gott schien mir eine leere Leinwand zu geben und überließ es mir, ein Bild zu malen.

Wie beim ersten Mal nahm er auch bei diesem zweiten Besuch vorsichtig meine Hand, hielt sie sich nahe ans Gesicht, schnüffelte an jedem Finger, als wolle er sich meinen Duft einprägen. Mit seinem ausgeprägten Geruchssinn konnte er mich und andere Bekannte schon aus einiger Entfernung erkennen. Nervös erwartete ich schon eine ähnliche Untersuchung meines Gesichts, aber sie kam nie.

Nach kurzer Zeit erkannte er mich, sobald ich in die Nähe der Tische kam, und begrüßte mich mit: »Hi, Mr Bradford!«, bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte. Mir fiel auf, dass er mich seit unserem ersten Treffen »Mr Bradford« nannte. Alle anderen nannte er beim Vornamen, mich nicht. Ich habe keine Ahnung, warum.

Bei meinen folgenden Besuchen stellte ich fest, dass ich offenbar nicht der einzige Gast bei Mrs Winner’s war, den die Anwesenheit des kleinen blinden Jungen rührte. Hin und wieder entdeckte ich Geld, meist einen Zehn- oder Zwanzig-Dollar-Schein, den jemand sorgfältig gefaltet unter sein ramponiertes Radio geschoben hatte. Wenn ich ihn danach fragte, sagte er: »Davon weiß ich nichts. Dass da Geld auf meinem Tisch liegt, wusste ich nicht. Wie viel ist es?«

Offenbar hatten nette Menschen bemerkt, dass sich der kleine Junge hier vor aller Augen zu verstecken versuchte, und wollten ein wenig helfen. Ich fragte mich, wie viele ihn wohl sahen und weitergingen, ohne etwas zu tun. Ich gestehe sofort, dass ich selbst in dieser Hinsicht überhaupt nichts vorzuweisen hatte, bevor ich HK kennenlernte. Ich könnte die endlosen Male gar nicht zählen, die ich meinen Blick von den Obdachlosen, die in der Stadt um Geld für Essen baten, abgewandt hatte, oder an den ungepflegten Veteranen vorbeigefahren war, die mitten auf einer belebten Kreuzung in Nashville ein Schild hochhielten: »Arbeit gegen Essen«. Glauben Sie mir, ich weiß, wie es ist, die Armen zu ignorieren und meine Augen vor den Randgruppen zu verschließen, die unter uns im Verborgenen leben. Aber Gott hat mir eine zweite Chance eingeräumt und diesmal hatte ich etwas zu geben: Interesse, Unterstützung und sehr viel Zeit.

HKs trübselige Wochenenden in der Imbissstube und sein monotoner Alltag gingen mir nicht mehr aus dem Kopf und trübten die Gemütlichkeit unseres heimeligen Fleckchens Erde. Ich spürte, wie eine Hand mich behutsam anstupste, anschob und vorantrieb. Gott hatte mich genau da, wo er mich haben wollte.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

4»ICH WERDE SIE MEIN LEBEN LANG NIE MEHR VERGESSEN«

Meine Freundschaft mit dem behinderten blinden Jungen blühte trotz unseres Altersunterschieds von 47 Jahren schnell auf. Bei unseren regelmäßigen Treffen an dem mittlerweile vertrauten Fenstertisch wirkten wir wie zwei mürrische alte Farmer, die im Fast-Food-Restaurant ein Schwätzchen hielten.

Einmal ergriff HK mit der linken Hand vorsichtig meine rechte und sagte leise und ohne Vorwarnung: »Mr Bradford, ich habe Sie lieb. Sie sind mein bester Freund. Wenn Sie sterben, werde ich Sie mein Leben lang nie mehr vergessen.«

Ich wünschte, ich wüsste, wodurch diese plötzliche Bekundung ausgelöst worden war, aber sie traf mich völlig unvorbereitet. Ich war nur noch ein einziger Tränenstrom, und nachdem ich mich geräuspert hatte, antwortete ich: »Danke, HK. Ich habe dich auch lieb. Ich hoffe, dass ich noch lange lebe und wir noch viele, viele Jahre lang gute Freunde bleiben können.«

Er drehte sich und wandte mir sein Gesicht zu, auf dem sich das strahlendste, breiteste und herzerwärmendste Lächeln ausbreitete, das ich je gesehen hatte. Vielleicht spürte er, dass er zum ersten Mal in seinem Leben außer seiner Oma einen echten Freund gefunden hatte. Von da an nannte mich HK immer wieder seinen besten Freund und fügte manchmal hinzu: »Ich habe Sie lieb, Mr Bradford.«

Bald fuhr ich jeden Samstag und jeden Sonntag die vertraute Strecke und rollte auf den Parkplatz bei Mrs Winner’s. Wenn ich sein Gesicht nicht hinter der Scheibe sah, fuhr ich weiter, verzichtete auf meinen Kaffee und kehrte nach Hause zurück. Mir war klar, warum HK manchmal nicht da war: Pearl hatte nicht jedes Wochenende Dienst. Diese seltenen Tage hinterließen bei mir in mehrfacher Hinsicht ein Loch.

Wenn ich dagegen seine unverkennbare Silhouette sah, war ich beglückt. Ich freute mich immer auf unsere gemeinsame Zeit. Bei einer Tasse Seniorenkaffee für mich und süßem Eistee für ihn unterhielten wir uns über meinen Beruf, meine Reisen und meine Familie, während ich kleine persönliche Details über seine Schule, seine Freunde und Familie und seine Vorlieben erfuhr. Er erzählte beispielsweise, dass sein Lieblingsgericht bei Mrs Winner’s ein gut gebuttertes Brötchen mit Würstchen und Soße war. Normalerweise bekam man es nur während der Frühstückszeiten, aber dank seiner guten Beziehungen zur Küche konnte er sein Lieblingsgericht jederzeit bestellen. In der Folge unserer zunehmend beiderseitigen Gespräche sah ich ermutigende Zeichen in seiner Persönlichkeitsentwicklung. Je mehr wir miteinander redeten, desto mehr verbesserten sich seine kommunikativen Fähigkeiten.

Bei meinen Wochenendbesuchen vertiefte sich unsere Freundschaft und ich lernte die ganze Bandbreite seines emotionalen Spektrums kennen. Eines Samstagnachmittags erlebte ich eine Szene, wie sie vermutlich viele arbeitende Elternteile schon durchgemacht haben. Sich vor einer langen Dienstreise voneinander verabschieden und trennen zu müssen, kann brutal sein, vor allem für kleine Kinder. Manchmal lösen solche Abschiede einen emotionalen Zusammenbruch von tragischem Ausmaß aus.

Jedes Mal, wenn ich die Imbissstube verließ, umarmte ich HK fest und sagte ihm, wie sehr ich unsere gemeinsame Zeit genossen hatte. Er erwiderte diese Geste jedes Mal, aber an diesem Nachmittag schlang er seine kleinen Arme um meinen Hals und bat mich unter Tränen, nicht wegzufahren. Seine plötzliche, verzweifelte Reaktion war kaum auszuhalten und mir schossen die Tränen in die Augen. Er war untröstlich – und zwar so sehr, dass es für die Gäste an den Nachbartischen schon störend wurde. Er machte eine so herzzerreißende Szene, dass Pearl hinter ihrer Kasse hervorkommen und mir zu Hilfe eilen musste. Sie versprach ihm geduldig, dass ich nicht für immer fortging: »Mr Bradford muss jetzt los, aber er kommt bald wieder und besucht dich.«

Pearls Schicht war beinahe um, daher blieb ich noch so lange bei ihm, bis sie Feierabend hatte. Auf dem Weg nach draußen nahm ich seine linke Hand und begleitete ihn zu Pearls Pick-up, der hinter der Imbissstube parkte. Ich öffnete die Tür, hob seine knapp 25 Kilo auf den Beifahrersitz und schnallte ihn an. Da endlich ebbte seine Verzweiflung ab, als versichere ihm das Klickgeräusch, dass nicht nur seine Sicherheit gewährleistet war, sondern auch der Bestand unserer Freundschaft.

In der darauffolgenden Woche wollte Pearl mir unbedingt erklären, was hinter seinem Trotzanfall stand. »Bevor HK Sie kennenlernte, ist jeder, den er im Restaurant kennenlernte – oder überhaupt jeder –, der ihm auch nur ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit schenkte, plötzlich verschwunden und nie wieder aufgetaucht. Dazu zählen auch sein Vater und sein Großvater. Jetzt sind Sie sein bester Freund und ich glaube, er hat Angst, dass ihm mit Ihnen eines Tages dasselbe passiert.«